Händels „Rodelinda“ als Trauma eines Kindes – und ein Ausblick auf die Frankfurter Spielzeit 2019/20

Unheimliche Bilder kindlicher Alpträume: Szene aus Händels "Rodelinda" an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Unheimliche Bilder kindlicher Alpträume: Szene aus Händels „Rodelinda“ an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Wer sich in der internationalen Opernwelt umsieht, kann nur feststellen: Du, glückliches Frankfurt, juble! Es gibt weltweit höchstens eine Handvoll Städte, deren Opernhaus eine so abwechslungsreiche, ausgiebige und kontinuierliche Pflege von Repertoire und Raritäten gleichzeitig betreibt. Dazu noch auf einem stets enttäuschungsfreien Niveau, verbunden mit vorbildlicher Ensemblearbeit.

Bernd Loebe und seine Teams erwirken diese Erfolgsgeschichte uneitel und ohne das Glamour-Getue, das sich um jede Premiere etwa in Wien oder München entwickelt. Und die Spielzeit 2019/20 verspricht eine bruchlose Fortsetzung dieser im Künstlerischen wie in der Publikumsresonanz erfolgreichen Arbeit.

Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt. Foto: Maik Scharfscheer

Bernd Loebe, Intendant der Oper Frankfurt. Foto: Maik Scharfscheer

Elf szenische, eine konzertante Premiere, davon drei jenseits des Guckkastentheaters im intimeren Bockenheimer Depot, wieder eine Uraufführung und vier ausgesprochene Raritäten, davon drei von Gioachino Rossini: Allein die pure Quantität lässt es zu, einen Spielplan flexibel und abwechslungsreich zu gestalten und auch einmal ein Risiko einzugehen.

Zum Vergleich: Das Essener Aalto-Theater ist froh, wenn es die Hälfte der Premieren realisieren kann. Loebe bindet zudem Kreativität an sein Haus und bedient sich selten aus dem inzwischen europaweit kreisenden Topf von Austausch-Inszenierungen und Koproduktionen: Nur eine, Gioachino Rossinis „Otello“ zur Eröffnung der Spielzeit, ist eine Übernahme, in diesem Fall einer Inszenierung von Damiano Michieletto aus dem Theater an der Wien.

Puccini, Wagner und Strauss erweitern das gängige Repertoire

Natürlich bedient Frankfurt auch das gängige Repertoire: Àlex Ollé setzt Puccinis „Manon Lescaut“ in Szene. Er ist einer der Protagonisten der katalanischen Theatergruppe La Fura dels Baus, die in den letzten Jahren mit virtuosen, verspielten, bildmächtig-kulinarischen Inszenierungen Furore gemacht haben. „Tristan und Isolde“ hat mit Frankfurts nun im zwölften Jahr amtierenden GMD Sebastian Weigle, Katharina Thoma (Inszenierung) und Johannes Leiacker (Bühne) ein hochkarätiges Team zu bieten. Mit Strauss‘ „Salome“ bringt Barrie Kosky nach „Carmen“ eine zweite „femme fatale“ auf die Frankfurter Bühne; am Pult steht Joana Mallwitz, die ihre Grenzen als Orchesterchefin in Nürnberg inzwischen von Oslo bis München erweitert hat.

Die Oper Frankfurt pflegt eine weltweit kaum vergleichbare Vielfalt des Repertoires. Foto: Werner Häußner

Die Oper Frankfurt pflegt eine weltweit kaum vergleichbare Vielfalt des Repertoires. Foto: Werner Häußner

Zeitgenössisches kommt in Frankfurt nicht zu kurz: Wie in den vergangenen Jahren gibt es auch 2020 wieder eine Uraufführung. Die 1963 geborene Lucia Ronchetti beschäftigte sich im Auftrag der Oper Frankfurt mit Dantes „Divina commedia“ und schuf einen Zwitter aus Oper und Schauspiel, ein „Roadmovie“, das musikalische Klanglandschaften durchkreuzt. Regie führt gemeinsam mit Marcus Lobbes der scheidende Dortmunder Schauspielintendant Kay Voges. Zwei Klassiker der Moderne sind Dmitri Schostakowitsch und Hans Werner Henze: In „Lady Macbeth von Mzensk“ verkörpert Anja Kampe die verzweifelte Mörderin in einer Regie von Anselm Weber; mit „Prinz Friedrich von Homburg“ hält Frankfurt die Erinnerung an Henze wach. Der frühere Duisburger Orchesterchef Jonathan Darlington steht am Pult; über die Szene wacht der Ex-Dortmunder Jens-Daniel Herzog.

Drei Mal Rossini

Eine zwischen Mythos, Symbolismus und Wagnerismus changierende Oper richtet einen fin-de-siècle-Blick auf eine der großen Frauengestalten der Literatur: Gabriel Faurés „Pénélope“ von 1913 ist ein seltenes, kostbares Juwel für Liebhaber, dessen Relevanz für das 21. Jahrhundert Corinna Tetzel in ihrer Regie erweisen soll.

Schutzlos unbehauste Menschen in Christian Schmidts Herrenhaus für Händels "Rodelinda". Foto: Monika Rittershaus

Schutzlos unbehauste Menschen in Christian Schmidts Herrenhaus für Händels „Rodelinda“. Foto: Monika Rittershaus

In Sachen Rossini wagt sich Frankfurt weit vor in ein bisher fast nur von Festivals erkundetes Terrain: „Otello“ war einst populär, bis die Oper mit den drei schwindelerregend virtuosen Tenorpartien von einer veränderten Gesangskultur und vom moderneren Drama Giuseppe Verdis und Arrigo Boitos verdrängt wurde; „Bianca e Falliero“, ebenfalls gesanglich exorbitant anspruchsvoll, verbindet politische Ranküne mit einer bedrückenden Familienfehde; „La Gazzetta“, eine neapolitanische opera buffa aus Rossinis erfolgreichem Jahr 1816, erweitert das in Frankfurt nicht eben üppige Repertoire komischer Opern.

Fortgeführt wird in Frankfurt auch eine Händel-Tradition, die seit 2012 kontinuierlich aufgebaut wird: Für „Tamerlano“ holt Frankfurt einen jüngeren amerikanischen Opernregisseur ans Haus, der bisher – außer in Spanien und England – fast ausschließlich in den USA tätig ist und dort von der New York Times bis zum Wall Street Journal mit Lobeshymnen überhäuft wird. Georg Friedrich Händels düstere, kompositorisch kühne und emotional bewegende Geschichte auswegloser Exzesse von Macht, Begehren und Verblendung ist die inzwischen achte Händel-Produktion, seit Johannes Erath 2012 einen „Teseo“ im Bockenheimer Depot realisierte. Die Folge der Opern seither, darunter „Radamisto“ (wird am 25. August 2019 wieder aufgenommen), „Xerxes“ und „Rinaldo“, machten Frankfurt in den letzten Jahren neben Göttingen, Halle und Karlsruhe zu einem Zentrum der Beschäftigung mit Händels Bühnenwerken.

Unheimlich moderne Sogwirkung

Dafür steht auch „Rodelinda“: Seit sie 1920 die Göttinger Händel-Festspiele eröffnet hatte, wurde die Händel-Oper vor allem in den Zwanziger und Dreißiger Jahren häufig und auch an kleinerer Stadttheatern gespielt – eine Serie, die erst Ende der Fünfziger Jahre endete. In Frankfurt zeigt Claus Guth in einer minutiös ausgefeilten Personenregie, wie Händels Dramen um Macht, Beziehungen und Begehren, verbunden mit dem Motiv der Wiederkehr eines Totgeglaubten eine unheimlich moderne Sogwirkung entwickeln können. Guth wertet die stumme Figur des Flavio auf: Aus der Sicht des Kindes, Sohn des verschwundenen Herrschers Bertarido und seiner zurückgelassenen, unter Druck gesetzten Frau Rodelinda, werden die Intrigen zu monströsen Alpträumen, die es mit Zeichnungen (die beeindruckenden, mit dem Medium Video virtuos spielenden Projektionen sind von Andi A. Müller) zu bewältigen versucht.

Fabián Augusto Gómez Bohórquez (Flavio) ist in seiner sprachlosen Präsenz der Dreh- und Angelpunkt der Inszenierung. Er zeigt das namenlose Entsetzen über das für das Kind unbegreifliche Geflecht der Ereignisse, die schutzlose Verlorenheit in einem unheimlichen Geisterhaus. Christian Schmidt hat in das weite Schwarz des Bühnenraums ein klinisch weißes Herrenhaus im „Georgian Style“ der Händel-Zeit gebaut, dessen Fassade repräsentativ intakt wirkt.

Kulinarische Anmutung und Irritation

Aber die kulinarische Anmutung löst sich in Irritation auf, wenn sich der Bau dreht und ein gefährlich offenes Treppenhaus, angeschnittene Gänge und Zimmer offenbart. In diesem Bau bleiben die Menschen unbehaust; an schummrig erleuchteten Fenstern wandeln immer wieder geheimnisvolle Gestalten vorbei: Edgar Allan Poe und Alfred Hitchcock, die englische „gothic novel“ und Ambrose Bierces sinistre Kurzgeschichten lassen grüßen. Zeitweise verwandeln sich die Personen im Umfeld des Kindes in bedrohliche Spukgestalten mit riesigen Köpfen, Entsetzen bringende Vogelscheuchen, die auch das „glückliche“ Ende vergiften: Für Flavio ist das Trauma nicht zu Ende.

Auch musikalisch kann sich die Frankfurter Aufführung mit den Zentren der Händel-Pflege messen. Andrea Marcon dirigiert das vorzüglich konzentrierte, auf modernen Instrumenten spielende Frankfurter Orchester, bringt Elemente der historisch informierten Aufführungspraxis mit ein, lässt farbenreich, vor allem im Lyrischen mit viel Gespür für Phrasierung, Linie und Atem musizieren, könnte aber die dramatischen Akzente durchaus geschärfter betonen.

Lucy Crowe bleibt als Rodelinda eine starke Frau mit berührenden Momenten der Krise. Katharina Magiera und Martin Mitterrutzner demonstrieren mit disziplinierter Tongebung, dass es keiner „barocken“ Gesangstechnik bedarf, um sich Händels Stil erfolgreich anzunähern. Andreas Scholl beeindruckt mit seiner gestalterischen Erfahrung und einem stets frischem Timbre. Der Countertenor Jakub Józef Orliński singt die Rolle des Unulfo spannungsfrei und ausgeglichen. Božidar Smiljanić (Garibaldo) setzt zu sehr auf geradlinige Durchschlagskraft statt auf subtil kontrollierte stimmliche Feinarbeit. Ausverkaufte Vorstellungen und Begeisterung im Publikum.

Info: www.oper-frankfurt.de




Wenn der Minister von Wurst und Käse erzählt

Ein Minister, dessen ministrable Realexistenz mir immer erst dann wieder bewusst wird, wenn er sich zu ziemlich unwesentlichen Politikbereichen äußert (vermutlich geschieht das immer dann, wenn er sich von der allgemeinen Vergessenheit bedroht sieht); diesem Minister also (es handelt sich um einen gewissen Christian Schmidt aus der unvermeidlichen CSU) fiel es ein, dass er sich nach wiederholtem Flachsinn, den sein heimischer Ministerpräsident Seehofer von sich gegeben hat, auch mal wieder zu Wort melden musste.

Erstens, um den Nachweis zu erbringen, dass es ein Bundesagrarministerium wirklich gibt.

Natürlich künstlich: Wurst und Käse aus dem Kinder-Kaufladen. (Foto: Bernd Berke)

Natürlich künstlich: Wurst und Käse aus dem Kinder-Kaufladen. (Foto: Bernd Berke)

Zweitens, um den Nachweis zu erbringen, dass nicht nur sein Ministerpräsident in München dummes Zeug mundartlich verbreiten kann.

Drittens, um zu zeigen, dass ein deutsches Bundesagrarministerium im Themenzusammenhang mit dem TTIP – das ist ein Abkommen zwischen EU und den USA, das den freien Handel zwischen den Kontinenten nach Jahrhunderten der boshaften Vorschriftengrenzziehungen erst möglich machen soll (das war ein Scherz!), dass also dieses Bundesagrarministerium etwas zu sagen hat.

Und was sagt er Herr Schmidt? „Wenn wir die Chancen eines freien Handels mit dem riesigen amerikanischen Markt nutzen wollen, können wir nicht mehr jede Wurst und jeden Käse als Spezialität schützen!“ Seitdem ich das las, frage ich mich, ob er mit Wurst vielleicht sich selbst meinte und mit Käse das, was er da erzählt.

Aber im Ernst. Der bodenständige Bayer Schmidt will mit seinen generösen Angeboten den Amis ein Zückerchen hinwerfen, das es ihnen erleichtert, dem Abkommen zuzustimmen, dessen Verhandlungsinhalte hierzulande nur wenigen und denen auch nur rangbedingt in ausreichendem Maße bekannt sind (wird ja von der EU verhandelt).

Ob Thüringer Bratwurst, Allgäuer Emmentaler, Oude Gouda oder Schwarzwälder Schinken, das könnten doch wohl keine Hindernisse sein, bloß weil der Herkunftshinweis EU-rechtlich geschützt ist. „Es wäre unseren amerikanischen Handelspartnern schwer vermittelbar, dass sie keinen Tiroler Speck oder Holländischen Gouda zu uns exportieren dürften, wenn wir in Europa selbst den Schutz nicht konsequent durchsetzen würden“, wird er vom „Spiegel“ zitiert.

Au weia. Ich sehe schon die blühende Freihandelszukunft: „Original Holländischer Gouda“ aus Wisconsin. Gleichzeitig droht dem Mimolette (dem Gouda ähnlicher Festkäse aus Frankreich) die Massenvernichtung durch den amerikanischen Zoll. Oder „Original Schwarzwälder Schinken“ von Monsanto (amerikanischer Saatgutkonzern, der eigene Schweineherden weltweit patentieren lassen will, weil die Viecher so schön schnell wachsen). Oder wie wäre es mit „Original Pfälzer Saumagen“ oder „Original Thüringer Bratwurst“ aus Milwaukee? Im Gegenzug, so schwebt es dem pfiffigen Herrn Schmidt vor, könnte man seitens der USA ja auf die ominösen Chlor-Hähnchen verzichten.

Mieses Geschäft. Wie wäre es denn, wenn wir aus Sachsen „Original BigMacs“ liefern, aus Bayern mit den Produktion von „Original Kentucky Fried Chicken“ auf den Markt der noch nicht erschlossenen Märkte träten? Oder wenn wir den Bremer Labskaus in New Mexico anböten (ach nein, dem würde ja gleich wieder von der dortigen Lebensmittelaufsicht wegen seines Erscheinungsbildes das Schicksal des Mimolette-Käses angedroht).

Aber nochmal, im Ernst. Der famose Herr Schmidt schafft es mit ein paar geplapperten Sätzen, die dann auch noch todernst via „Spiegel“ breit getreten werden, die Bedrohungen des TTIP („Transatlantic Trade and Investment Partnership“) auf Chlor-Hähnchen und Bratwürste zu reduzieren. Dabei sind die ernsthaften Kritiker dieser Befreiung des Handels hin zu einer Machtübergabe an weltweit operierende Konzerne (Stichwort Investorenschutzklage) auf ganz anderen Ebenen unterwegs und haben sich ernsthaft mit den möglichen Folgen und der damit verbundenen Entdemokratisierung zugunsten einer gierigen Wirtschaft auseinander gesetzt.




Verborgener Schatz – Frederick Delius‘ „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ in Frankfurt

Zeitenthobene Seelen-Räume: Christian Schmidts Bühne für Delius`"Romeo und Julia auf dem Dorfe" an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Zeitenthobene Seelen-Räume: Christian Schmidts Bühne für Delius`“Romeo und Julia auf dem Dorfe“ an der Oper Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Es gibt Kunstwerke, die Jahre, ja Jahrzehnte unbeachtet bleiben, und plötzlich eine erstaunliche Gegenwärtigkeit gewinnen. Frederick Delius‘ „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ gehört dazu.

Diese Oper war ein verborgener Schatz für Liebhaber, hin und wieder ans Tageslicht gehoben und liebevoll betrachtet, dann wieder auf Jahre hin vergraben. Arila Siegert (Regie) und Justin Brown (Dirigat) scheinen mit ihrer gelungenen Karlsruher Produktion 2012 das Interesse an der Oper des deutschstämmigen englischen Komponisten wieder geweckt zu haben. Am entdeckerfreudigen Frankfurter Haus Bernd Loebes feierte „A Village Romeo and Juliet“ eine beeindruckende Premiere; in der nächsten Spielzeit steht Delius‘ vieldeutiges Werke in Bielefeld – der Heimat von Delius‘ Familie – im Spielplan.

Die Geschichte zweier junger Menschen, die gemeinsam in einen Liebestod gehen, ließe sich aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen. Gottfried Keller, aus dessen „Die Leute von Seldwyla“ der Stoff genommen ist, hatte sich von einer Zeitungsmeldung über den Suizid zweier Jugendlicher anregen lassen und hartnäckig auf dem sozialkritischen Aspekt beharrt: ein Schicksal armer Leut‘. Nicht ohne Basis wäre auch eine Lesart im Sinne des Fin de Siècle, zu dem Delius‘ Musik unüberhörbar tendiert: als eine psychologisch-symbolistische Studie über die innere Reifung zwischen Kindheit und Adoleszenz in einer als feindlich wahrgenommenen Umwelt.

Eva-Maria Höckmayr und ihr Bühnenteam Christian Schmidt, Saskia Rettig (Kostüme) und Olaf Winter (Licht) halten die Geschichte von allzu eindeutiger Konkretion fern, lassen sie in einem zeit- und ortlosen Seelen-Raum spielen, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander schieben. Schmidt nutzt die Frankfurter Doppel-Drehbühne aus: Die Küche eine ländlich-einfachen Hauses mit Sprossenfenster und Kaninchenstall, wiederholt als rein-weißer, reduzierter Raum (Weiß ist, so erfahren wir im Programmheft, in Japan die Farbe des Todes); ein hohes Treppenhaus; ein Fleck grüner Natur und ein Baum, umgeben von bühnenhohen Wänden.

Ahnung und Erinnerung sind präsent in Eva-Maria Höckmayrs Regie in der Frankfurter Erstaufführung von "Romeo und Julia auf dem Dorfe". Foto: Barbara Aumüller

Ahnung und Erinnerung sind präsent in Eva-Maria Höckmayrs Regie in der Frankfurter Erstaufführung von „Romeo und Julia auf dem Dorfe“. Foto: Barbara Aumüller

Die Schauplätze schieben sich ineinander, wandeln sich rasch. Szenische Augenblicke wiederholen sich oder werden kontrastiert. Sali und Vreli, die beiden Liebenden, vervielfältigen sich: zwei Kinder als Braut und Bräutigam; ein altes Paar, ebenfalls in Hochzeitskleidung; zwei paradiesisch nackte Menschen auf dem Kulminationspunkt der liebenden Verschmelzung.

Es passiert viel, aber Höckmayr wehrt der Versuchung üppigen, beziehungslosen Bildertheaters. Sie bezieht die Szenen virtuos und stets inhaltlich abgesichert aufeinander, meidet aber zu eindeutige Festlegungen, die leicht ins lehrhaft Erklärende abrutschen würden. Der Ahnungsraum bleibt intakt, die Zeichen versuchen nicht vorschnell zu sprechen. Die Szene zeigt weniger „Handlung“ als Sehnsüchte, Wünsche, Imaginationen. Die atmosphärische Faszination der Bilder ist jedoch kein Selbstzweck, erschöpft sich nicht im Ästhetischen: Sie wahrt den letzten, unaufklärbaren Raum der Psyche, in dem sich Erträumtes und Erlebtes zu inneren Impulsen verbinden.

Bote der Freiheit und des Todes: der "schwarze Geiger" (Johannes Martin Kränzle). Foto: Barbara Aumüller

Bote der Freiheit und des Todes: der „schwarze Geiger“ (Johannes Martin Kränzle). Foto: Barbara Aumüller

So führt Höckmayr die Personen des Stücks ruhig und bestimmt durch die Raum gewordenen Labyrinthe ihrer Seelen – konzentriert auf das Paar Sali und Vreli und den „schwarzen Geiger“, eine ambivalente Figur, anziehend und unheimlich. Ihm wurde das Stück Natur vererbt, auf dem er beiden Kinder spielen lässt – aber die dumpf und stumm agierenden „Leute“ verdrängen ihn, weil er, der „Bastard“, auf das Brachland keinen Rechtsanspruch hat. Er öffnet den jungen Menschen die „Natur“ als Raum der inneren Freiheit, der Distanz zu den Regeln der Gesellschaft – aber wie ein „geigender Tod“ auch die Gefahr einer Abkoppelung vom Leben: Seinen Vorschlag, in sorgenfreier Anarchie mit ihm umherzuziehen, lehnen die Jugendlichen ab. Dem roten Mohn im Revers bläst der Fiedler die Blütenblätter ab: ein behutsames Zeichen für vergängliches Leben – und noch ein Hinweis, wie sorgfältig Höckmayr mit szenischen Details ihre Deutung ausarbeitet. Für Johannes Martin Kränzle ist diese vielschichtige Figur wie geschaffen: Er konkretisiert sie im körperlichen Gebaren wie im gestischen Reichtum seines Singens.

Die Bedrohung geht von den Vätern aus. Manz und Marti, wenn auch mit Sense und Bauernkluft ihrer musikalisch handfest-konkreten Zeichnung entsprechend, sind mehr als die auf Land gierigen Streithanseln, die sich prozessierend ruinieren: Sie hindern ihre Kinder an der Selbstwerdung, die sich Sali in einem Akt des Aufbegehrens erstreitet: Er schlägt dem aggressiven Marti, Salis Vater, einen Stein auf den Kopf – und es ist ein Stein, wie ihn der „schwarze Geiger“ scheinbar absichtslos hat fallen lassen, als er Verhängnis prophezeite, „wenn der Pflug das Land berührt“. Dietrich Volle ist ein ungewöhnlich strapaziert klingender Manz, der seine Höhe nicht frei, sondern erkämpft erreicht; Magnús Baldvinsson ein Marti mit passend rautonigem Bass.

Dumpfer Druck des Dorfes: In dieser Gesellschaft haben die Liebenden keine Chance. Foto: Barbara Aumüller

Dumpfer Druck des Dorfes: In dieser Gesellschaft haben die Liebenden keine Chance. Foto: Barbara Aumüller

Auch das Paar Sali (Jussi Myllys) und Vreli (Amanda Majeski) zeichnet sich durch intensive Darstellung aus: kontrolliert in den statischen Momenten, aus denen sich der Bewegungsimpuls nur langsam löst; berührend sensibel in den wenigen innigen Momenten der Zweisamkeit. Die amerikanische Sopranistin hat in Frankfurt schon die „Gänsemagd“ in Humperdincks „Königskindern“ gesungen, geht im März 2015 für Mieczysław Weinbergs „Die Passagierin“ nach Chicago und kehrt im Mai 2015 als Feldmarschallin in den neuen Frankfurter „Rosenkavalier“ zurück. Darauf wird man gespannt sein dürfen, denn Majeski zeigt einen klar fokussierten Sopran mit gläserner Brillanz, aber wenig Farbenspiel. Jussi Myllys – 2015 als Tamino, Don Ottavio und als „Rosenkavalier“-Sänger an der Deutschen Oper am Rhein – ist vor allem als jungenhafter Typ eine passende Besetzung; klanglich lässt sein lyrischer Tenor ein wenig Schliff vermissen, aber der Nachdruck für die intensiv erfüllte Linie und der leidenschaftlichen Phrasierung ist da.

In besten Händen entfaltet sich die klangliche Schönheit, mit der das Frankfurter Orchester immer wieder überzeugen kann: Dirigent Paul Daniel nimmt den Anfang wohl bewusst kantig, um die Entwicklung zu den fließend-impressionistischen Klangströmen zu pointieren, mit denen Delius die Grenze zwischen Realität und Imagination, Traum und Wirklichkeit musikalisch aufweicht. Da mögen Wagner und Debussy durchklingen, da mag manches auf die Raffinesse von Schreker und Korngold hinweisen – Delius hat in Leipzig studiert und war mit Edvard Grieg eng befreundet –, aber die persönliche Handschrift des Briten geht nicht in Vorbildern auf: Delius findet, formal unbekümmert, zu eigen geprägter klanglicher Sensibilität und agogischer Geschmeidigkeit, zu oszillierenden Mikroklängen wie zu breiter lyrischer Emphase, die sich in ihrem Strömen nur unwillig eindämmen lässt.

Daniel lenkt diesen Fluss mit gestaltender Hand und gibt ihm mit den en détail aufmerksamen Musikern die klanglichen Licht- und Schattenspiele, die wie die im Licht bewegte Oberfläche eines Flusses zwischen zitterndem Verharren und schimmerndem Entgleiten changieren. – Frankfurt hat in den letzten Jahren ein schönes Repertoire aus der Zeit zwischen Gründerzeit und Zweitem Weltkrieg präsentiert. Es wird 2014/15 mit Humperdincks „Hänsel und Gretel“ und Martinůs „Julietta“ weitergeführt, und man darf hoffen, dass die nächsten Jahre der Intendanz Loebe noch einige sehenswerte Trouvaillen an den Tag bringen.




Bürgerliches Trauerspiel und symbolistisches Drama: Debussys „Pélleas et Mélisande“ in Essen und Frankfurt

Mit „Pelléas et Mélisande“ bewegen wir uns im Spannungsfeld zwischen einem bürgerlichen Familiendrama, das an Ibsen erinnert, und einem symbolistischen Mysterium, das sich in bildmächtige poetische Seelenlandschaften vertieft. Die beiden profilierten Neuinszenierungen der vergangenen Wochen in Essen und in Frankfurt nähern sich Claude Debussys rätselvoller musikalischer Fassung des Dramas von Maurice Maeterlinck mit unterschiedlicher Perspektive.

In den magischen Licht-Räumen Raimund Bauers und Olaf Freeses: Mélisande (Michaela Selinger) und Pelléas (Jacques Imbrailo). Foto: Baus, Aalto-Theater Essen.

In den magischen Licht-Räumen Raimund Bauers und Olaf Freeses: Mélisande (Michaela Selinger) und Pelléas (Jacques Imbrailo). Foto: Baus, Aalto-Theater Essen.

Nikolaus Lehnhoff in Essen rückt die traumverwobene Atmosphäre in den Vordergrund. Die Figuren scheinen kaum aus sich heraus zu agieren, wirken oft statisch und wie gebremst vom lähmenden Gespinst bedeutungsvoller Zeichen und Zusammenhänge. Claus Guth in Frankfurt dagegen schaut auf die Psychologie der Personen, gibt ihren Aktionen und Reaktionen etwas Welthaftes, Eindeutiges mit. Er negiert den symbolistischen Hintergrund der Oper nicht, aber er zieht sich nicht auf den Topos des Unerklärbaren zurück, sondern bindet dessen Chiffren ein in die Entwicklung des Geschehens, das zu Tod und innerem Zusammenbruch führt.

Verlöschen im Dunkel: Christiane Karg (Mélisande) und Christian Gerhaher (Pelléas) in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Verlöschen im Dunkel: Christiane Karg (Mélisande) und Christian Gerhaher (Pelléas) in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Für Guth ist Mélisande kein geheimnisvolles Undinen-Wesen aus dem Irgendwo, sondern eine offenbar traumatisierte junge Frau, die zitternd versucht, sich eine Zigarette anzustecken, als sie in den Lichtkegel der Bühne tritt. Ihre Vorgeschichte bleibt im Dunkel, ihre psychische Verfassung ist es nicht. In Zuge des Dramas verdichten sich die psychologischen Motive, für die Guth die symbolistischen Züge des Dramas einsichtig verengt: Er will nicht das wabernde Ungefähr des Ahnungsvollen bebildern, sondern die Menschen in den elegant eingerichteten Räumen des zweistöckigen Hauses auf der Bühne Christian Schmidts stringent entwickeln – allerdings ohne die komplexen und rätselvollen Seiten ihrer Psyche eilfertig wegzuerklären. Warum sich die Lichtkreise Golauds und Mélisandes schon bei ihrer ersten Begegnung nicht berühren, warum sich Pelléas und die junge Frau finden und in der undurchdringlichen Schwärze des Raums in ihren Lichtauren verbinden, bleibt letztlich ein Geheimnis.

Wie ein Puppenhaus: Christian Schmidts elegante Interieurs in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Wie ein Puppenhaus: Christian Schmidts elegante Interieurs in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Auf der anderen Seite entwickelt Guth im Spiel präzise und faszinierend die Brennpunkte, in denen die Personen des Dramas interagieren: Der Dialog zwischen dem resignativen Pelléas, der im Selbstgespräch nur punktuell zum „Du“ durchdringt, und dem nahezu perfekt verdrängenden Patriarchen Arkel ist großes, reflektiert durchdrungenes Schauspiel. Ebenso die genau beobachtete Szene, in der Golaud versucht, mit Hilfe des Kindes Yniold die Beziehung zwischen Pelléas und Mélisande zu ergründen.

Guth achtet scharfsichtig auf versteckte Motive, deutet zum Beispiel die Szene, in der Pelléas vom Haar Mélisandes in Ekstase versetzt wird, als inneren Vorgang des in sich verschlossenen Mannes, dem die Frau tiefere Schichten seines Begehrens erschließen hilft. In Christian Gerhaher hat Guth den idealen Darsteller depressiv-verschlossener Innenwelten, dessen hoher Bariton zu unendlichen Schattierungen des Ausdrucks fähig ist. Die Mélisande Christiane Kargs erschöpft sich nicht im zerbrechlich-passiven Opfer, sondern ist eine Frau, die sehr wohl versucht, im Beziehungsgeflecht von Haus Allemonde ihre Position zu finden.

Christian Gerhaher als Pelléas in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Christian Gerhaher als Pelléas in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Die mühsam unterdrückte Aggressivität, mit der Paul Gay den Golaud zeichnet, bricht sich in einem ungeschönt inszenierten Ausbruch von Gewalt freie Bahn – einer Brutalität, die Mélisande wie Golaud selbst zu Opfern macht. Arkel schaut weg: Alfred Reiter gelingt trotz eines wabernd-gedeckten Basses eine beklemmende Studie von Verdrängung und uneingestandener Einsicht. Zutiefst verunsichert durch Mélisandes geschichtslose Reinheit, erinnert Golaud an den Major in Strindbergs „Vater“, gefangen im Wahntrauma der Patriarchen von der „verbotenen“ Liebe, dem uneinnehmbaren Rest weiblicher Souveränität.

Friedemann Layer und das Frankfurter Opernorchester bestätigen den auch musikalisch führenden Rang der Rhein-Main-Oper unter den deutschen Musiktheatern. Layer ist ein Sachwalter von Debussys Modernität, entdeckt nicht nur die Raffinesse der Klänge, sondern auch ihre Reibungen, ihre herbe Würze. Doch er zwingt ihnen keine Spaltklang-Sprödigkeit auf, wie sie Propagandisten eines neuen Debussy-Bildes vertreten.

Layer stützt in den wundervoll modellierten Akkordsäulen und den filigranen Rückungen im Klangverlauf die Statik von Debussys musikalischer Architektur und entdeckt ihre dramatische Funktion, die geschichtslosen Zustände der Bilder auf der Bühne abzusichern. Dass Guth dazu immer wieder eine Uhr ticken lässt und damit die verfließende Zeit als spannungsreiches, drängendes Element einführt, gehört zu den aussagestarken Details dieser – aus der Perspektive des bürgerlichen Dramas – modellhaft gelungenen Deutung, an der Layer mit seinen scharfsinnig beleuchteten Korrespondenzen zwischen Musik und Bühne erheblich Anteil nimmt.

In Essen sind die Perspektiven anders, aber nicht minder überzeugend. Denn Stefan Soltesz im Graben macht mit den Essener Philharmonikern schon in den einleitenden Akkorden, in den mysteriös eingefärbten Pianissimi der tiefen Streicher und den ersten, fahlen Holzbläserklängen seine ästhetische Position klar: Das soll ein Debussy der äußersten Verfeinerung, des raffinierten Details, der subtilen Klangmischungen werden. Die Verheißung wird glänzend erfüllt; der orchestrale Zauber entfaltet sich dank der vorzüglich auf ihren Dirigenten reagierenden Musiker mit aller Nuancierung in Farbe und Dynamik.

Magie des Raums: Das Licht spielt eine entscheidende Rolle. Foto: Aalto-Theater Essen

Magie des Raums: Das Licht spielt eine entscheidende Rolle. Foto: Aalto-Theater Essen

Ähnlich sensibel für atmosphärische Rückungen agiert Lehnhoff in seiner Inszenierung. Der hohe, kühl-dunkle Raum von Raimund Bauer, immer wieder neu ausgedeutet vom Licht Olaf Freeses, lässt naturalistische Anmutung bald hinter sich: Aus der hohen, dunklen Vertäfelung eines Saals mit der erdrückenden Noblesse der Villa Hügel wird ein Seelenraum, ein innerliches Gefängnis, aus dem Mélisande tastend, aber vergeblich einen Ausweg sucht, den sich nur das visionäre Licht, nicht aber die schwere Materialität der Körper öffnen kann. Das achte Bild mit seinen riesigen, nach unten führenden Treppen gemahnt an die Gefängnisse des Piranesi, tiefenpsychologisch radikalisiert und in eine schaurige Raumvision eines existenziellen Abgrunds verwandelt.

Auch Lehnhoff wirft einen Blick auf das bürgerliche Drama, inszeniert es aber weniger fest umrissen als sein Kollege Claus Guth in Frankfurt. Seine Annäherung an die symbolistischen Verdichtungen Maeterlincks bleibt allerdings oft unbestimmt – oder verliert sich, wie im siebten Bild die langen Haare Mélisandes, in zu konkret realisierten Bildern. So bleibt Michaela Selinger in der Hauptrolle ein verlorenes Wesen zwischen möglichen Konzepten, passiv und konturlos den Ereignissen ausgeliefert. Mit Vincent le Texier hat Essen einen kraftvollen, manchmal leider arg vordergründig bellenden Golaud, der seine Figur am Ende immer mehr in die Richtung des Gesellschaftsdramas entwickelt.

Konkretisierte Symbole: Die Haare der Mélisande in der Bildidee der Essener Inszenierung. Foto: Aalto-Theater Essen.

Konkretisierte Symbole: Die Haare der Mélisande in der Bildidee der Essener Inszenierung. Foto: Aalto-Theater Essen.

Auch der schönstimmige Jacques Imbrailo bleibt als Pelléas eher ein passives Wesen, unheilvoll verstrickt in die lastende Atmosphäre des Hauses. Wolfgang Schöne als Arkel und die mit grandios gereifter Stimme singende Doris Soffel als Geneviève sind die erstarrten, untoten Bewohner dieses unheilvollen Raumes; ihre Rolle wird sinnfällig unterstützt durch die Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer, die sich im historisierenden und in einem zeitlos eleganten Arsenal von Ausdruckswerten bedienen. Getragen von wunderbar geatmeten Linien, von den bis zum Verlöschen gedämpften Piano-Schattierungen der Musik und der gestalterischen Raffinesse des Dirigenten können sich die Sänger drucklos frei entfalten. Und staunend ob dieses ästhetischen Wunders gewinnt der Satz Arkels noch eine Bedeutung über das Drama hinaus: „Man bedarf der Schönheit, wenn der Tod neben einem steht.“