Eher das böse Grinsen: Franz Lehárs „Das Land des Lächelns“ zeigt in Essen überraschend aktuelle Seiten

Für eine fröhliche Faschingsunterhaltung taugt „Das Land des Lächelns“ sowieso nicht. Aber Sabine Hartmannshenns ehrgeizige Regie-Bearbeitung macht Franz Lehárs Operette in Essen eher zum Land des bösen Grinsens.

Atmosphärisch dicht: Die erste Szene von Franz Lehárs „Das Land des Lächelns“ am Aalto-Theater Essen. Die Bühne ist von Lukas Kretschmer. (Foto: Bettina Stöß)

Während draußen unverdrossene Närrinnen und Narren den Stürmen trotzten, brauten sich drinnen auf der Bühne des Aalto-Theaters vor der Fassade eines Zwanziger-Jahre-Etablissements die braunen Stürme zusammen, die vier Jahre nach der Uraufführung von Franz Lehárs „romantischer Operette“ zahllose Künstler aus Deutschland wegfegen und der abgedreht-ironischen Gattung die kritischen Zähne glattschleifen sollten.

Die Inszenierung von Hartmannshenn, die im Dezember am Aalto Premiere hatte, schafft zunächst mit einer sorgfältig durchgestalteten Eingangsszene einen atmosphärischen Hintergrund: eilige Passanten, Zeitungsjungen, Straßenkehrer, eine etwas zu aufdringlich gestylte Schönheit und ein Flugblatt-Verteiler in SA-Uniform. Man bewundert die atmosphärische Treffsicherheit von Lukas Kretschmers Bühne. Dem Theater strebt nobel gekleidetes Publikum zu: Gegeben wird „Die gelbe Jacke“, jene China-Operette, die Lehár 1923 herausbrachte. Wenig erfolgreich, sollte sie sechs Jahre später dem Welterfolg „Land des Lächelns“ als Grundlage dienen.

Jessica Muirhead als Lea (Lisa). (Foto: Bettina Stöß)

So alltäglich das Treiben anmutet: die Atmosphäre ist lastend. Unterschwellige Aggressivität wird manifest, als ein Radfahrer einen älteren Herrn anfährt. Der Star der Abendvorstellung naht und wird vor dem Bühneneingang gefeiert. Die Menge verläuft sich, ein Herr bleibt zurück. Es ist der Darsteller des Leutnant Gustl, und er ahnt, dass seine bittersüße Sehnsucht bei der Diva nicht erfüllt wird: „Freunderl, mach dir nix draus‘“ ist ihr wohlgemeinter Rat an ihren „besten Freund“. Später, auf der Seitenbühne, als Lea, die im Stück die Lisa spielt, mit dem Gasttenor „bei einem Tee á deux“ flirtet, wird der abgeblitzte, eifersüchtig spähende Kollege beziehungsvoll eines der Flugblätter von draußen auf den Schminktisch legen: Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen…

Neuer Rahmen für die Erzählung

Es sind solche vielsagenden Gesten, Zeichen und Signale, die Sabine Hartmannshenns „Land des Lächelns“ zu einem dicht gewebten, virtuos konstruierten Theater-Ereignis machen. Details, über denen nie das Ganze aus dem Blick gerät, sondern die immer schlüssig auf den großen Bogen der Erzählung hingeordnet sind. Und die Regie zertrümmert nicht, sondern erzählt, aber in einem neuen, aus der Geschichte des Stücks und seiner Zeit entwickelten Rahmen. Nicht mehr das noble Wiener Aristokratenhaus, sondern das Theater ist der Schauplatz. Die exotische Pracht des Fantasie-Chinas aus dem zweiten Akt wird nicht dekonstruiert, sondern zitiert: als glamouröse Bühnenshow in einem Varieté, dicht an der Unterhaltungskunst der Zwanziger Jahre und näher an Lehárs originaler „Gelber Jacke“.

Im Gegensatz zu Verfremdungsversuchen und Subtextlektüren, die in der Operette nicht selten desaströs ausgehen, schafft es die Essener Inszenierung, die Liebesgeschichte nicht als trivial zu denunzieren, sondern im Gegenteil in berührenden Szenen zu unterstreichen. Die Frage nach der Maske, die Menschen tragen, spielt dabei eine entscheidende Rolle, aber auch die Fremdheit, allerdings anders gefasst als von den Librettisten Ludwig Herzer und Fritz Löhner-Beda: Der Darsteller des Sou-Chong ist nicht nur Konkurrent in amourösen Dingen, sondern gerät als Fremder („Lernt erst mal richtig Deutsch“ schallt es vom Balkon) ins Fadenkreuz eines Bühnen-Publikums, das vom „Gauleiter“ bis zur graumausigen Mamsell, die sich ihr Bier selbst mitgebracht hat, durch Susana Mendozas Kostüme liebevoll charakterisiert wird.

Die China-Welt bleibt glamouröse Show: Jessica Muirhead (Lisa) und Tänzerinnen. (Foto: Bettina Stöß)

Das Klischee-China ist bunte Show, aber die Menschen, die in einer zunehmend feindlichen Gesellschaft Fremde werden, sind bitter real: Der Conférencier (im Original der chinesische Obereunuch), beschimpft als „Judenbengel“, wird hinausgeschleppt und kehrt schmerzverkrümmt zurück; der fremde Tenor schafft es gerade noch, zum Ausgang hinauszuhuschen – in Hut, Schal und Mantel wie einst der strahlende Uraufführungs-Chinaprinz Richard Tauber, den die Nazis ins Exil getrieben haben. Und wer denkt nicht an Fritz Löhner-Beda? Lehár verdankt seinem loyalen Freund fünf Libretti und hat (nach allem, was wir inzwischen wissen) nichts für ihn getan, als ihn die Nazis 1938 verhafteten, in Buchenwald erniedrigten und 1942 in Auschwitz erschlugen.

Fremd und einsam: Carlos Cardoso als Darsteller des Prinz Sou-Chong. (Foto: Bettina Stöß)

Der dritte Akt nimmt „eine neue Wendung“ nicht nur im China der Showbühne: Die frauenverachtenden Worte Sou-Chongs („Du bist hier nichts als eine Sache“) treffen mit ungedämpfter Wucht. Die Feststellung, ein Chinese könne sogar „sein Weib köpfen lassen“, quittiert der Uniformierte auf dem Balkon mit Beifall. Beim „Zig, zig, zig“-Duett reicht es den Damen im Bühnen-Publikum, viele verlassen türenknallend den Raum, während Chinamädels am Lederhalsband vorgeführt und herumgetrieben werden – Objekte der Gewalt-Geilheit, die an die Shows mit Josephine Baker in den Zwanzigern erinnern. Lisa allerdings, die beklemmend beziehungsreich in der Dirndl-Anmutung ihres Kleids von Sehnsucht nach der „Heimat“ singt, findet ihren Frieden mit dem zuprostenden Obernazi und dem in prächtigem österreichischem Rot-Weiß-Rot aufgetakelten Gustl: Auf sie wartet ein weißer Pelz. Als die Fassade des Theaters wieder auftaucht, prangen dort Hakenkreuzfahnen und ein Plakat, das „Land des Lächelns“ ankündigt…

Überraschend aktuelle Seiten

So verwebt Sabine Hartmannshenn die Geschichte der Lehár-Operette und die Zeitgeschichte ihrer Entstehungsstationen virtuos mit einem politischen Kommentar, der dem Stück keine Gewalt antut, sondern aus genau ausgearbeiteter Distanz befragt und seine überraschend aktuellen Seiten herausstellt. Dass sie dabei an die Grenzen der Gattung geht, schadet nicht, sondern lässt neu erleben, wie relevant Operette jenseits nostalgischer Unterhaltung sein kann.

Wenn dann auch die musikalische Umsetzung stimmt, wird ein spannender, berührender Abend daraus: Stefan Klingele am Pult weiß, wie weich und flexibel Lehárs Geigen geführt werden, wie sich die Bläser auf samtigem Streicherklang tragen lassen sollten statt ihn aufzureißen, wie die Balance zwischen der feinen Süße des Operetten-Sentiments und den auftrumpfend dramatischen Opern-Reminiszenzen herzustellen ist: Lehár, der Freund Puccinis, hat die China-Atmosphäre der „Turandot“ vorweggenommen. Anfangs schleppen die Tempi noch, aber in „Von Apfelblüten einen Kranz“ schaltet Klingele das Orchester auf höchste Schmeichelstufe.

Sorgfältig charakterisierte Figuren

Das Arioso inspiriert Carlos Cardoso zu berückenden Lyrismen, der in der Rolle des Sou-Chong überzeugend das Fremde einfängt, musikalisch aber gern die gestemmte Höhe italienischer Provinz-Provenienz einsetzt, statt den Ton elegant in die Linie einzubinden. „Dein ist mein ganzes Herz“ also eher á la „Turandot“. Frisch genesen, mit noch etwas schnupfigen Nebenhöhlen, strahlt die Stimme von Jessica Muirhead weitgehend frei, badet in den geschmeidigen Phrasierungen, charakterisiert  die sonst oft blässlich gezeichnete Lisa mit den Mikro-Färbungen expressiver vokaler Gesten.

Exemplarisch deutlich wird das im Tonfall, mit dem sie den enttäuschten Gustl beschwichtigen will. Ein erfahrener Darsteller wie Albrecht Kludszuweit füllt diese Rolle über Buffo-Tenor-Klischees weit hinaus, rückt den scheinbar so harmlosen österreichischen Leutnant an frustrierte, verschlagene Figuren heran, wie sie bei Hans Fallada oder in Heinrich Manns „Der Untertan“ auftauchen. Christina Clark erinnert als Mi fatal an die Showgirls, wie sie in den Vergnügungszentren von Berlin damals – etwa im „Haus Vaterland“ – materiell und sexuell ausgebeutet wurden. Karel Martin Ludvik gibt den „Gauleiter“ mit der stoischen Gewissheit, dass seine „neue“ Zeit kommen wird; Rainer Maria Röhr zeichnet – mit einem Intermezzo als Eunuch – sensibel den Conferencier, der die Frage nach der Menschlichkeit der Unmenschen herausschreit, bevor er von der Menge einfach überrollt wird.

Weitere Vorstellungen in dieser Spielzeit: 1. März, 12. April, 10. Mai, 17. Juni. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/aaltomusiktheater/das-land-des-laechelns/3818/




Wunderbare Ausdrucks-Vielfalt: Tomáš Netopil dirigiert Mozarts „La Clemenza di Tito“ am Aalto-Theater Essen

Erregte Auseinandersetzung zwischen Sesto (Bettina Ranch, links) und Vitellia (Jessica Muirhead). Foto: Thilo Beu

Erregte Auseinandersetzung zwischen Sesto (Bettina Ranch, links) und Vitellia (Jessica Muirhead). Foto: Thilo Beu

Die Bewertung von Wolfgang Amadeus Mozarts „La Clemenza di Tito“ hat sich grundlegend gewandelt. Die Rezeption der in Mozarts Todesjahr 1791 uraufgeführten Oper hat in den letzten Jahrzehnten freigelegt, dass es sich nicht um ein widerwillig ausgeführtes Auftragswerk mit einem hoffnungslos veralteten Libretto handelt. Vielmehr haben Mozart und sein Librettist Caterino Tommaso Mazzolà die häufig vertonte Vorlage Pietro Metastasios zu einem erstaunlich differenzierten Stück über Menschlichkeit und Macht weiterentwickelt, dessen Offenheit für zeitgenössische Deutungen den Vergleich mit der „Hochzeit des Figaro“ oder „Cosí fan tutte“ nicht zu scheuen braucht.

Am Aalto-Theater in Essen ließ sich Tomáš Netopil nicht nehmen, diese letzte Premiere der Spielzeit 2016/17 selbst zu dirigieren und nach „Don Giovanni“, „Idomeneo“ und „Le Nozze di Figaro“ seinem Mozart-Spektrum eine neue Farbe hinzuzufügen. Mit fabelhaftem Erfolg: Netopil schwört die Essener Philharmoniker auf ein zurückhaltendes, transparentes, vielfältig aufgefächertes Piano-Klangbild ein, das den Sängern jeden Raum gewährt, sich zu entfalten, aber nicht verhehlt, welche entscheidende Rolle dem Orchester auch in dieser Mozart-Oper zukommt.

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Bei Netopil wirken – von dieser Voraussetzung ausgehend – die Forte-Passagen auch wirklich groß, ohne lärmend zu werden, die Akzente und musikalische Ausrufezeichen markant, aber nie brutal. Die Streicher halten sich im Vibrato zurück, entwickeln expressive Klangnuancen zwischen warm-farbig und fahl-wesenlos.

Die Bläser erfüllen Akkorde plastisch und luftig, wirken in selbständigen Stimmen Wunder aus diskreter Geschmeidigkeit. Johannes Schittler und Tristan von den Driesch lassen Klarinette und Bassetthorn mit eleganter Tongebung springen und singen. Und eine Klasse für sich zeigt Boris Gurevich beim Begleiten der Rezitative am Hammerflügel: So mitatmend, flexibel und sinngebend hört man die begleitenden Figürchen, Arpeggien und Stützakkorde aus der „Schülerhand“ – wahrscheinlich Franz Xaver Sußmayr – nicht eben häufig.

Abstand vom Geschwindigkeitswahn

Netopil erliegt nicht dem Geschwindigkeitswahn, der momentan wieder von gewissen Modedirigenten angeheizt wird. Seine Tempi wirken organisch, lassen nie den Eindruck von Hetzerei aufkommen, geben der Musik den Raum, um Nuancen zu entwickeln. Netopil weiß offenbar die Polarität zwischen der Musik als „absoluter“ Größe und als Partnerin der Sprache einzuschätzen: Er gestaltet mit den Mitteln fein variierter Tempi und eines gelösten Metrums. Wenn die Rede von einem Mozart-Wunder nicht so elend abgegriffen wäre – hier könnte man sie mit Recht verwenden.

Abgelebte Metapher, aber geshicktes Raumkonzept: Der Airport in Mozarts "La Clemenza di Tito" in Essen. Foto: Thilo Beu

Abgelebte Metapher, aber geschicktes Raumkonzept: der Airport in Mozarts „La Clemenza di Tito“ in Essen. Foto: Thilo Beu

Die Sänger fühlen sich offenbar wohl, selbst wenn man sich die eine oder andere Phrasierung Netopils atmender vorstellen könnte. Das Essener Ensemble braucht sich nicht zu verstecken; Dmitry Ivanchey glänzt in der Titelrolle mit einem unerschütterlich fokussierten Tenor, der anfangs etwas festgesungen anmutet, sich aber bald als wendig und agil genug erweist, um Titus aus der farblosen Rolle als Abziehbild herrscherlicher Tugenden für Kaiser Leopold II. zu lösen – zu dessen Krönung als König von Böhmen die Oper uraufgeführt wurde – und zu einem idealistisch denkenden, aber anfechtbaren und verletzlichen Menschen zu machen.

Jessica Muirhead legt als Vitellia die äußerliche Brillanz in die Stimme, die ihr entschiedenes, aggressiv geladenes Auftreten als Gegenspielerin des Kaisers beglaubigt. Doch Mozart erschöpft diese starke Frau nicht in den eindimensionalen Zügen einer gerissenen Furie, sondern gewährt ihr im zweiten Akt in ihrem anspruchsvollen Rezitativ („Ecco il punto, o Vitellia“) und Rondo („Non piu di fiori“) eine erstaunlich modern wirkende Selbstanalyse und den Ausdruck einer seelischen Tiefe, die nicht nur Macht und Intrige, sondern auch Sehnsucht nach menschlicher Nähe und nach Liebe kennt.

Bettina Ranch als Sesto. Foto: Thilo Beu

Bettina Ranch als Sesto. Foto: Thilo Beu

Bettina Ranch singt den Sesto, diesen sich zwischen Zuneigung, Schuld, Freundschaft und (sexueller) Hörigkeit zerquälenden Charakter, mit einem schmelzenden Mezzo, ausgeglichen und klangsinnlich geführt, fähig zu schmerzvoller Innigkeit und zu loderndem Ausbruch. Eine Mozart-Stimme, die kaum einen Wunsch offen lässt – so wie auch der klare, sauber geführte Bassbariton von Baurzhan Anderzhanov als Publio.

Christina Clark als Servilia und Liliana de Sousa als Annio schließen an dieses Niveau an: Beide singen frei, unangestrengt und mit bezauberndem Charme. Der Essener Opern- und Extrachor, einstudiert von Jens Bingert, zeigt im Schlusschor des ersten Akts, wie Mozart über Gluck hinaus schon das edle Pathos anschlägt, das Giovanni Simone Mayr in Italien und Luigi Cherubini in Frankreich weiterführen sollten.

Dass die szenische Seite der Essener Neuproduktion von „La Clemenza di Tito“ der musikalischen nicht gleichziehen konnte, ist vor allem auf die Idee zurückzuführen, als Schauplatz eine VIP-Lounge eines Flughafens zu wählen. Thorsten Macht setzt das „Raumkonzept“ des Regisseurs Frédéric Buhr um und stellt das Ambiente standardisierter Bussiness-Zweckmäßigkeit geschickt auf die Bühne: zwei Ebenen, verbunden durch eine zentrale Freitreppe, eine Bar und eine Sitzgruppe in den Nischen, ein Panoramafenster mit Aussicht auf das Terminal als Hintergrund.

Kein Staat mit alten Römern

Reichlich Spiel-Raum für Frédéric Buhrs erste selbständige Regiearbeit also. Er macht uns auch schon in der Ouvertüre überdeutlich, dass mit der alten Römer-Oper kein Staat mehr zu machen ist: Da sitzt ein gelangweilter Darsteller im Legionärskostüm am Bühnenrand, schaut genervt auf die Uhr und zündet sich eine der im Plastikhelm versteckten Kippen an. Warum ihn dann aber irgendwelche Kumpels in Alltagsklamotten in einer Art Polonaise hinausgeleiten, erklärt sich schon nicht mehr so einfach.

Dmitry Ivanchey als Titus, im Hintergrund Baurzhan Anderzhanov (Publio) und Liliana de Sousa (Annio). Foto: Thilo Beu

Dmitry Ivanchey als Titus, im Hintergrund Baurzhan Anderzhanov (Publio) und Liliana de Sousa (Annio). Foto: Thilo Beu

Alles weitere spielt sich im Airport-Ambiente ab: Vitellia, in aggressiv rotem Kostüm, hat noch eine Rechnung mit dem milden Titus offen und nötigt den ihr verfallenen Sesto, einen graumausigen Funktionär mit Hornbrille und linkischen Bewegungen, als Instrument ihrer Rache zu dienen.

Titus und seine Entourage wirken wie südländische Politiker mit der Anmutung gegelter Mafiosi – die Kostüme von Regina Weilhart sagen mehr über die Personen als die immer wieder ins Stereotyp flüchtende Regie. Sesto lässt sich auf einen Brandanschlag aufs Kapitol und einen – scheiternden – Mordversuch ein. Da rumst es gewaltig hinter der Bühne, die Anzeigetafeln flackern und der Mörtel rieselt von der Decke. Die Wirkung freilich ist flau; seibst die Hostessen der Statisterie wirken nicht besonders beeindruckt. Die Flughafen-Metapher hat ihr kreatives Potenzial längst hinter sich, wirkt abgelebt – und Buhr kann szenisch nicht erschließen, was sie für das Stück bedeuten könnte.

Das ist schade, denn der Regieassistent am Aalto-Theater hätte das Zeug dazu, ein spannendes Kammerspiel zu erarbeiten. Das zeigt sich in Szenen, in denen er seinen Figuren wirklich nahe kommt: Vitellia etwa, die am Ende des zweiten Akts von Rot auf beruhigtes Blau wechselt, aber die flammenden Gelb-Rot-Töne unter dem eleganten Frack nicht verloren hat, punktet nicht zuletzt durch die Regie in ihrer großen Szene.

„Was wird man von mir sagen?“, fragt Vitallia sich und beginnt sich hektisch zu schminken, eine intuitive Reaktion einer auf Außenwirkung bedachten Frau, die befürchtet, nun aufzufliegen oder auf immer mit Verstellung und Lüge an der Seite des begehrten und endlich in greifbare Nähe gerückten Kaisers leben zu müssen. Ihren Entschluss zu radikaler Ehrlichkeit unterstreicht sie, als sie am Ende ihres Rondos die Handtasche ausleert und angewidert wegwirft. Buhr weiß, Zeichen en détail zu setzen. Das rettet einen Abend, der sonst an seiner verkrampften Aktualisierung erstickt wäre.

http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/titus-la-clemenza-di-tito.htm




Zur Liebe nicht mehr fähig: Mozarts „Entführung aus dem Serail“ in Essen

Weiße Räume, einsame Menschen: Christina Clark (Blondchen) und Roman Astakhov (Osmin) in der Essener "Entführung aus dem Serail"

Weiße Räume, einsame Menschen: Christina Clark (Blondchen) und Roman Astakhov (Osmin) in der Essener "Entführung aus dem Serail"

Nur einer kämpft wirklich, tobt herum, heult hemmungslos, zeigt Emotionen pur: Osmin. Und er ist der Einzige, der möglicherweise die Liebe findet: Blondchen wendet sich ihm zu, dem cholerischen, aber authentischen Mann. Die anderen singen derweil von Freud‘ und Wonne in blassen, weißlichen, leeren Räumen. „Es lebe die Liebe“, heißt es im Quartett am Ende des zweiten Aufzugs in Mozarts „Entführung aus dem Serail“, aber in der Essener Inszenierung von Jetske Mijnssen gähnt stattdessen die Einsamkeit aus der tief gestaffelten Leere der Bühne.

Es ist einiges anders als sonst in der „Türkenoper“ Mozarts – und das lässt viele Zuschauer die Premiere ordentlich ausbuhen. Mijnssen, ihre Bühnenbildnerin Sanne Danz und ihre Kostümkünstlerin Arien de Vries haben Orient-Kolorit und Türken-Mode ausgetrieben. Hier geht es nicht um ein fesches Singspiel aus dem Wien von 1782, sondern um ein psychologisch verdichtetes Kammerspiel von 2012. So zumindest ist die durchaus schlüssige Idee der neuesten „Entführung“ am Essener Aalto-Theater.

Osmin ist also kein pluderhosiger Haremsaufseher und der Bassa Selim kein Turban tragender Märchen-Nahostler, erfüllt vom großmütigen Menschen-Ideal der Aufklärung. Er feiert gerade seinen 40. Geburtstag, mit Torte und Bierdosen. Wir erleben die behutsame Annäherung von zwei Menschen. Selim möchte mit Konstanze ausbrechen aus seinem Umfeld, sinnenfällig markiert vom Rahmen der Bühne. Eine „neue, bessere Welt“ will er erreichen, in der man „wenigstens dann und wann“ glücklich sein kann.

In der Essener „Entführung“ sprechen Menschen, die innerlich ihren Ort verloren haben, die ihre erste Liebe schon lange hinter sich haben, die es verlernt haben, sich zu entscheiden, sich zu binden. Aber sie träumen sich zurück in unversehrte Räume des Fühlens. Belmonte zum Beispiel – er könnte die erste Liebe Konstanzes gewesen sein – vertieft sich in die Intensität seines Sehnens, seiner Erwartung. Wenn er vor dem Vorhang vor seinen eigenen Emotionen in die Knie geht: Ist er dann ganz bei sich? Oder nur in sich selbst gefangen?

Konstanzes Attribut ist die Reisetasche. Ein Mensch unterwegs. Wie beschwörend packt Belmonte das braune Ding, als ihm klar wird, dass ihm die Frau seiner Sehnsüchte – wieder? – entschwindet. Am Ende, musikalisch durch den wiederholten ersten Teil der Ouvertüre noch erweitert – macht sich Konstanze mit der Tasche auf den Weg. Alleine. Wohin, wird die Regisseurin in ihrer ersten Arbeit am Aalto-Theater Essen nicht verraten. „Zuletzt befreit mich doch der Tod“, singt Konstanze in ihrer zentralen Arie. In Mozarts „Entführung“, Libretto von Johann Gottlieb Stephanie, ist klar, von was: von der angedrohten Folter. In der „Entführung“, umgedichtet von Jetske Mijnssen, wird wohl erst der Tod Konstanzes innere Einsamkeit beenden.

Mijnssen packt in ihrem „Entführungs“-Experiment so mutig wie in ihrer letztjährigen Dortmunder „Rusalka“ zu. Die weißen Räume von Sanne Danz öffnen sich weit nach hinten, reproduzieren jedoch konsequent immer wieder nur die gleiche Leere. Mijnsen will etwas über Menschen erzählen, die ungefähr so alt sind wie sie selbst. Über den Bassa etwa, der das „Chaos“ in sich fühlt. Und am Ende desillusioniert keine Großmut, sondern Wurstigkeit zeigt: Sollen sie doch gehen, die Verliebten. Ist ihm so was von egal …

Einsame Menschen: Sanne Danz' Bühne zu Mozarts "Entführung aus dem Serail" Fotos: Aalto Theater Essen

Einsame Menschen: Sanne Danz' Bühne zu Mozarts "Entführung aus dem Serail" Fotos: Aalto Theater Essen

Gedanklich ist die Inszenierung ein Wurf, szenisch nur stellenweise. Denn dem Drama fehlt der Spannungsbogen. Umgearbeitete Dialoge biedern sich der heutigen Sprache an, wirken aber manchmal banaler als die Stephanie-Reimereien. Personen wie Blonde oder Belmonte bleiben unerklärt; der Bassa des Schauspielers Maik Solbach ist bloß ein blasser Typ mit dem neudeutschen Tonfall eines Fernsehmoderators. Sicher, hier treffen Monaden aufeinander, die einer Novelle von Martin Walser oder einem Roman Michel Houellebecqs entkriechen könnten. Die Regie versucht in zerdehnten Bewegungen ihre Seelenzustände einzufangen. Aber oft bleibt das Stück auf der Stelle stehen Und die Auftritte und Bewegungen der Figuren muten an, als habe die Regie ihr Handwerk einer Idee geopfert. Konstanzes Klagen über die „Martern aller Arten“ wirkt so vor allem hysterisch: Die Figur ist nicht konsequent genug durchgeformt, dass man ihr glauben würde, von ihrer Entscheidungsangst könnte sie „nur der Tod“ befreien.

Musikalisch sorgt Christoph Poppen – erstmals am Aalto-Theater zu Gast – für eine Mozart-Sternstunde: Zwar verhetzt er die Ouvertüre á la mode, opfert dem Tempo Artikulationsfinesse und feine Detailarbeit der Geigen. Doch das gibt sich zum Glück bald: Den Essener Philharmonikern gelingen das innere Beziehungsgeflecht der Musik spannend, Einzelheiten filigran modelliert, Klangfarben sinnig ausgespielt. Auf den Zusammenhalt von Bühne und Graben dürfte Poppen allerdings noch einen Blick werfen.

Simona Saturova zeigt Beweglichkeit und Substanz. Sie hat keine Probleme damit, die Grausamkeiten auf dem Atem zu tragen, die Mozart seiner Uraufführungs-Konstanze Catarina Cavalieri in die Kehle geschrieben hat. Sie weiß zu färben und dynamisch zu schattieren. Allerdings ist ihre Stimme wenig flexibel positioniert, steckt in einem beengt wirkenden Klangraum, der sich nicht weiten will. Bernhard Berchtold verzaubert als Belmonte mit lyrischen Wundern, bis an die Grenze des Atems gehaltenen Legati, sorgsam gebildeten Schwelltönen.

Roman Astakhov ist kein idealer Osmin: zu schlank-metallisch die Stimme, ohne klanglichen Kern und gesättigten Ton. Die bezaubernde Christina Clark (Blondchen) und der fabelhaft höhensicher und tonschön singende Albrecht Kludszuweit (Pedrillo) bestätigen erneut das hohe Niveau des Aalto-Ensembles. Mit dieser „Entführung“ hat Essen eine Neuinszenierung, die viel Klugheit investiert, um das Stück ins Heute hineinzutragen. Das haben andere auch schon getan, aber – trotz aller Einwände – kaum mutiger und näher am Puls unserer Zeit und ihren psychischen Befindlichkeiten.

Information und Termine: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/die-entfuehrung-aus-dem-serail.htm