Zauber des Zufalls: Christoph Biermanns erhellendes Fußballbuch „Die Tabelle lügt immer“

Was hat Christoph Biermann, gewiss einer unserer besten Fußballexperten, da im Sinn: Will er diesen Sport vollends entmystifizieren? Sollen wir denn nicht mehr in den üblichen, im Sog der Medien und Netzwerke abschnurrenden Narrativen übers Kicken reden? Nun, jedenfalls hält Biermann hartnäckig dafür, das Leistungsniveau der Fußballteams von den Resultaten zu trennen und endlich die gewichtige Rolle des Zufalls anzuerkennen.

Es gebe, so Biermann, eigentlich keine Torschüsse, in denen nicht das Rauschen des Zufalls vernehmbar sei. Kein Schuss sei zu 100 Prozent wiederholbar, somit sei auch das Ergebnis nicht vorhersehbar – und wenn man noch so viel Technik zur Spielanalyse einsetzt. Das sekundengenaue Tracking, die „Datafizierung“ des Fußballs, beispielsweise die Berechnung der „expected goals“, all das könne letztlich vieles nicht schlüssig erklären, z. B. Paco Alcacers Torflut beim BVB und seine anschließende Ladehemmung bei anderen Clubs. Und und und.

Der Buchtitel klingt steil: „Die Tabelle lügt immer“. Gerade der allzeit mitregierende Zufall bringt seinerseits Mythen hervor und sorgt immer wieder für Überraschungen; nicht nur, wenn die „eigenen Gesetze“ des Pokals beschworen werden, denen zufolge unterklassige Teams Spitzenmannschaften besiegen können. Eine „faire“, den Leistungen entsprechende Tabelle, so heißt es, komme im Ligabetrieb laut Wahrscheinlichkeits-Rechnung jeweils erst nach 19 Spielzeiten zustande. Warum, möchte man da sogleich fragen, werden dann fast immer die Bayern Meister? Tja. Wahrscheinlich Zufall, oder? Oder eben der notorische Bayerndusel alias das „Glück der Tüchtigen“?

Schon die geringe Anzahl der Tore beim Fußball (z. B. im Vergleich zum Basketball) mache ihn anfällig für Zufälle, befindet Biermann. Ein einziger Fehl- oder Glücksschuss könne ein ganzes Spiel entscheiden, von unfassbaren Torwartparaden (gängige Redensart: „Er hat auch die Unhaltbaren gehalten“) mal ganz abgesehen.

Von Stochastik und Matrix ist da die Rede, von aleatorischer und epistemischer Unsicherheit beim Kalkulieren der Chancen. Nicht-Mathematikern schwirrt da vielleicht der Kopf, altgediente Fußballfans mögen abgehobene „Spinnerei“ wittern, doch Biermann zieht unbeirrbar seine Argumenations-Schleifen, führt ungemein viele konkrete Belege an und vergisst dabei wohl kaum ein Phänomen auf dem grünen Rasen.

All diese Unwägbarkeiten: rätselhafte „Fehleinkäufe“, Verletzungen, Formschwankungen, mieses Mannschaftsklima, fatale Fehlgriffe des Trainerstabs, sodann Spieler und Teams, die plötzlich „über sich hinauswachsen“ oder unversehens kläglich versagen, sogenannte „Angstgegner“ und irrwitzige „Kacktore“, Glück und Pech bei Elfmetern, Latte, Pfosten, das wechselhafte Wirken der Schiedsrichter und der Leute im VAR-Keller, zumal bei Abseits, Foul- und Handspiel usw. Fazit: Eine unfehlbare Erfolgsformel gibt es im Fußball nicht, von der Hoffnung auf „gerechte“ oder dem Zorn über „unverdiente“ Ergebnisse müssen wir uns verabschieden.

Schließlich gilt (allen klugen Erwägungen zum Trotz) mal wieder die unverwüstliche Dortmunder Weisheit von Adi Preisler: „Grau is‘ alle Theorie, entscheidend is‘ auf’m Platz“. Und dort waltet – neben Können oder Unvermögen – eben auch der Zauber des Zufalls.

Christoph Biermann: „Die Tabelle lügt immer. Über die Macht des Zufalls im Fußball“. Kiepenheuer & Witsch, 286 Seiten, 18 Euro.




Am liebsten schön schräg und schrill: „Fast alles über 50 Jahre Bundesliga“

Wer etwas auf sich hält, bereitet Fußballhistorie längst nicht mehr bierernst mit Ergebnislisten und Tabellen auf. Die bloße Nacherzählung und die kreuzbrave 1:0-Berichterstattung sind mausetot. Erst recht ist der feierliche oder gar pathetische Tonfall passé; selbst dann, wenn bedeutsame Jubiläen anstehen.

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Die (inzwischen etablierte) Avantgarde packt den Fußball ironisch, popkulturell und liebend gern aus schrägen Blickwinkeln an, ohne deshalb die Leidenschaft für diesen Sport aufzugeben. Im Gegenteil: Hier kommt oft erst der wahre Kult zum Vorschein, der eben auch etliche schrille Seiten hat. Den Takt geben in dieser Hinsicht derzeit das Fußballmagazin „11 Freunde“ und eine TV-Sendung wie „Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs“ vor. Sie beweisen, dass man auch intellektuelles Vergnügen am Kicken und all seinen Begleitumständen haben kann.

Im Fernsehen kredenzen uns manche Fußball-Kommentatoren, die den Schnabel nicht ein Minute lang halten können, zwischendurch als Füllmasse die absurdesten Statistik-Ergüsse – ohne jedes Gespür für die Komik solcher Mitteilungen. Christoph Biermann und Philipp Köster (beide aus der besagten „11 Freunde“-Chefredaktion) wissen hingegen genau, welche abenteuerlichen Kuriosa sie uns in ihrem Band „Fast alles über 50 Jahre Bundesliga“ mitunter vorsetzen.

Wer dieses halbe Jahrhundert allen Ernstes aufarbeiten wollte, müsste einen enzyklopädischen Vielbänder herausbringen. Im vorliegenden Buch werden zwar Dekaden und Liga-Jahrgänge kurz einordnend skizziert, doch die Autoren gehen davon aus, dass die Leser(innen) in groben Grundzügen orientiert sind und beweisen Mut zur Lücke. Deshalb picken sie unscheinbare, gleichwohl prägnante Einzelheiten auf und präsentieren sie vorwiegend in staunenswerten Listen, Grafiken, knackigen Kurztexten und Foto-Fundstücken – weit abseits jeder fanatischen „Helden“-Verehrung. Es ist eine kleinteilige, durchweg kurzweilige Lektüre, die man zwischendurch jederzeit beiseite legen kann. Doch man wird sie rasch wieder hervorholen.

Da werden beherzt so grundlegende Fragen beantwortet wie die, welche Farbe in allen bisherigen Liga-Trikots am häufigsten vorkam (Rot vor Blau), ob man mit satten 76 Punkten die Meisterschaft verfehlen kann (Ja! Schalke in der Saison 1971/72), aus welcher weitesten Distanz ein Tor direkt erzielt wurde (73 Meter) oder in welchen Bundesländern noch nie ein Erstliga-Spiel angepfiffen worden ist (Schleswig-Holstein, Thüringen, Sachsen-Anhalt).

An einigen Stellen wird es auf herrlich alberne Weise beinahe magisch: Ein gewiss mühevoll erstelltes Diagramm verzeichnet getreulich, wie viele Schnauzbartträger im Lauf der Jahre 1977 bis 2000 in der Liga aufgelaufen sind. Mit einer Art Windrose wird graphisch exakt dargestellt, in welche Himmelsrichtungen die einzelnen Stadien ausgerichtet sind; ein anatomisches Schema zeigt punktgenau und unmissverständlich an, welche Spielernamen (Gansauge, Maul, Kastrati, Woodcock) notfalls an Körperteile denken lassen.

Und natürlich purzeln Zahlen über Zahlen: Torhüter mit den meisten Gegentreffern (Eike Immel, 829), größte Stadt ohne Erstligateam (Bonn, 325000 Einwohner), effektivster Torschütze (immer noch Gerd Müller mit 0,85 Treffern pro Spiel).

Wer will die schrillsten Frisuren oder Wohnungseinrichtungen der Liga-Historie sehen? Wer will wissen, wie die größten Exzentriker, die originellsten Sponsoren und legendäre Spielerfrauen hießen? Wer mag unfreiwillig lustige Mannschaftsfotos, wer will sich bizarre Zitate von Brehme oder Matthäus und die dollsten Spieler-Doppelnamen (Jan-Ingwer Callsen-Bracker) auf der Zunge zergehen lassen?

Ja, ja und nochmals ja? Alle rufen „Hier, ich!“? Na, dann schaut doch mal in dieses Buch!

Christoph Biermann / Philipp Köster: „Fast alles über 50 Jahre Bundesliga“. Kiepenheuer & Witsch (Kiwi-Paperback), 224 Seiten, viele Illustrationen. 12,99 Euro.