Im Dienste der Deutlichkeit: Christoph Eschenbach dirigiert Bruckners Siebte in der Philharmonie Essen

Anton Bruckners monumentale Sinfonien fordern neben einem souveränen formalen Überblick von Orchestern und Dirigenten, sich in der Dynamik eisern zu disziplinieren. Zu verführerisch verleiten die Blechbläser-Batterien dazu, mit Bravour und Bombast abgefeuert zu werden. Dann ist das Fortissimo schnell zu laut und verdirbt den überlegten Aufbau eines dynamischen Spannungsbogens.

Anton Bruckner auf einer historischen Photographie.

Dieser Verlockung hat Christoph Eschenbach in der Essener Philharmonie bei seinem Konzert mit dem SWR Symphonieorchester in Anton Bruckners Siebter Symphonie erfolgreich widerstanden. Auch seine Tempi bezeugen, dass er sich intensiv mit Fragen der Interpretation befasst hat.

Bruckner gibt oft eher Stimmungs-Hinweise als tatsächliche Tempoangaben, und wer „sehr schnell“ und „sehr langsam“ allzu wörtlich nimmt, gerät in Extreme, die der Musik nicht gut tun. Eschenbach neigt zum Langsamen, aber nicht, um die Musik mit Pathos aufzuladen, sondern um Bruckners Streben nach „Deutlichkeit“ zu erfüllen.

Der Klang des aufgrund heftig umstrittener, von vielen als skandalös eingeschätzter Kürzungen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk 2016 neu formierten Orchesters kommt dem entgegen: Das wundervolle Cello-Thema des Beginns löst sich aus dem sehr sachlich gefassten „Urnebel“ der Violinen schwerelos atmend, der Zwischensatz lässt plastisch kontrapunktische Arbeit hervortreten.

Die Balance zwischen den Streichern und dem ausgezeichneten, wenn auch in der Philharmonie eher hart als füllig wahrnehmbaren Blech stimmt. Bruckners thematische Scharniere bewegen sich gut geölt und sind hörend nachvollziehbar. Eschenbach nimmt immer wieder zurück, so dass der Einsatz des dritten Themas wirklich leise erfolgen kann.

Statt nebulöser Ausdrucksmusik bietet Eschenbach im „sehr feierlichen“ zweiten Satz klare Entwicklungskonturen. Die Wagner-Tuben haben ihren düster grundierten Auftritt, die Streicher zeichnen mit einem Motiv aus Bruckners „Te Deum“ ein mild-tröstliches Gegenbild. Erst jetzt, in gigantischer Steigerung nach C-Dur, entfesselt Eschenbach großartig das dreifache Fortissimo. Im dritten Satz betont er die strukturelle Funktion des Trompetensignals zu Beginn; der oft kritisierte vierte Satz zeigt in solcher Durchleuchtung, dass er sich vor den anderen nicht verstecken muss. Reizvoll ist, wie Eschenbach hier, aber auch schon am Ende des ersten Satzes, die klangliche Nähe zu Wagner demonstriert.

Eröffnet wurde das Konzert mit Mozarts A-Dur-Klavierkonzert, in dessen Allegro-Satz sich Christopher Park mit wattiertem Klang und manchmal hastiger Artikulation nicht glücklich einführt. Aber je dichter das Geflecht von Solist und angemessen luftig agierendem Orchester wird, desto klarer und klangsinniger lässt Park die melodischen Erfindungen Mozarts sprechen. Den Mittelsatz spielt er weltverloren wie ein Chopin-Nocturne, romantisch-sensibel im Anschlag, mit stets spannend erfüllter Linie. Im lebhaften Finalsatz fallen wieder nicht deutlich genug ausgeformte Passagen auf. Originell: Für die Zugabe treten zwei Musiker aus dem Orchester und spielen mit dem Pianisten zusammen einen Satz aus Mozarts „Kegelstatt“-Trio.

Bemerkungen zur Fusion der SWR-Orchester

Die von der Musikwelt heftig bekämpfte Fusion der beiden früheren SWR-Orchester in Stuttgart und Baden-Baden/Freiburg, vom 2016 wiedergewählten Intendanten Peter Boudgoust forciert und vom Rundfunkrat abgenickt, wurde koordiniert vom früheren Intendanten der Essener Philharmonie, Johannes Bultmann. Er ist seit Januar 2013 „künstlerischer Gesamtleiter“ der Klangkörper und Festivals des Südwestrundfunks.

Teodor Currentzis in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Teodor Currentzis in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Im April 2017 ist es Bultmann gelungen, den „Dirigenten des Jahres“ 2016, Teodor Currentzis, als ersten Chefdirigenten des fusionierten Orchesters zu verpflichten. Currentzis, der von kurzem erst im Dortmunder Konzerthaus und in Baden-Baden Giacomo Puccinis „La Bohème“ dirigiert, lässt sich auf der Webseite des SWR zitieren, es sei für ihn von besonderer Bedeutung, „den Reichtum beider Ensemble-Traditionen aufzugreifen und das neue Orchester aus dem Besten der beiden Klangkörper zu gestalten“. Zu Beginn der Spielzeit 2018/19 wird er sein Amt antreten; zuvor, am 21. Januar 2018, dirigiert er in Freiburg bereits Bruckners Neunte.

Die 1945 und 1946 – wahrlich nicht in finanziell üppigen Zeiten – gegründeten Orchester hatten unter renommierten Chefdirigenten in jahrzehntelanger Arbeit unterschiedliche Profile entwickelt; das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg etwa prägte sich aus zum gefragten Klangkörper für Uraufführungen und zeitgenössische Kompositionen. Der Musikjournalist Gerhard Rohde kommentierte 2013: „Die von Intendanz und Hörfunkdirektion des Senders in die Wege geleitete Fusion mit dem Stuttgarter Radio-Sinfonieorchester wird beide Klangkörper in ihrer künstlerischen Eigenart und spezifischen Qualität auslöschen.“

Mag sein, dass Currentzis der richtige Mann ist, um aus dem traditionslosen Orchester etwas Neues zu formen, das künstlerisch Bestand hat. So scheint es jedenfalls Bultmann zu sehen: „Teodor Currentzis hat neue Ensembles gegründet, geformt und in kürzester Zeit international künstlerisch an die Spitze geführt.“




Philharmonie Essen: Klang-Erkundungen mit Wolfgang Rihms Zweitem Klavierkonzert

Wolfgang Rihm und Essen: Das ist eine ausdauernde Geschichte, die ihren Höhepunkt 2008/09 hatte, als die Philharmonie dem Komponisten von Weltgeltung mit 17 Konzerten eine umfassende Hommage bereitete. Unter anderem wurde damals sein 11. Streichquartett uraufgeführt.

Im Juni dieses Jahres dann erneut eine Uraufführung: „Verwandlung 6“, eine „Musik für Orchester“, geschrieben zum zehnjährigen Bestehen der neuen Philharmonie. Jetzt wäre es beinahe zu einer deutschen Erstaufführung gekommen: Rihms Zweites Klavierkonzert erklang im Rahmen einer Tournee des Gustav Mahler Jugendorchesters unter Christoph Eschenbach, die am Sonntag in Köln endete.

In Salzburg uraufgeführt: das Zweite Klavierkonzert Wolfgang Rihms. Auf dem Foto: Solist Tzimon Barto, Dirigent Christoph Eschenbach und Mitglieder des Mahler Jugendorchesters. Foto: Marco Borelli / Lelli

In Salzburg uraufgeführt: das Zweite Klavierkonzert Wolfgang Rihms. Auf dem Foto: Solist Tzimon Barto, Dirigent Christoph Eschenbach und Mitglieder des Mahler Jugendorchesters. Foto: Marco Borelli / Lelli

Es ist noch keine vierzehn Tage her, dass Tzimon Barto als Solist das neue Werk in Salzburg uraufgeführt hatte. Seither hatte er es in Deutschland in Hamburg, Lübeck und Dresden gespielt, gemeinsam mit den jungen Musikern des 1986 von Claudio Abbado gegründeten Orchesters. Unter ihnen sind auch zwei aus Essen: der Trompeter Lukas Müller und der Fagottist David Schumacher. Beide studieren an der Folkwang Hochschule der Künste.

Rihm nennt das neue Werk bewusst sein „Zweites Klavierkonzert“: Er komponiert mit Blick auf die Geschichte der Gattung. „Rondo“ nennt er etwa den zweiten Satz, bezieht sich damit auf ein klassisches Formmodell. Doch er ahmt nicht nach. Sondern er erfindet neu, während er zurück blickt. Das macht seine Musik zugleich fasslich und ungreifbar, vertraut und enthoben.

In den Mini-Dialogen des Klaviers mit den wunderbaren jungen Solisten des Orchesters streifen sich Klänge wie feine Fäden von Dunst; in transparent schimmernden Flächen und delikat ausbalancierten Verdichtungen verschmelzen sie zu still tönenden Seen. Oft sagt man, die Qualität eines Orchesters zeige sich im „piano“: Mit den tausend Schatten von „Leise“ in Rihms Konzert hat sich das Jugendorchester das beste Zeugnis ausgestellt. Solist Tzimon Barto erwies exquisiten Klangsinn und die Demut, sich einbinden zu lassen in geduldige Klangerkundungen.

Barto, der in seiner Jugend gern den amerikanischen Strahlemann gab, ist zu einem höchst sensiblen Künstler gereift. Mit der geforderten Delikatesse füllt er die Bögen, die ihm Rihm im pianissimo für das Klavier schreibt. Klarinetten und Bassklarinette antworten ihm, setzen ein behutsames sforzando wie eine flüchtige Nuance auf den Ton. Rihm lässt den Klang changieren, führt ihn, getragen von schwebenden Streichern, über das Fagott zum Horn.

Erst nach 90 Takten ist ein erster dynamischer Akzent erreicht, markiert von der Posaune und beantwortet von einem glänzenden Bogen und feinnervigen Skalen des Klaviers. Und erst weitere 70 Takte später blitzt der volle Orchesterklang auf, wenn Hörner, Blechbläser, Vibraphon und Röhrenglocken, umschwirrt von der Harfe, einen dynamischen Gipfel erreichen. Nach dichten Passagen des Klaviers, teils solistisch, teils im sensiblen Dialog mit dem Orchester, verklingt das Konzert nach einer halben Stunde still: Das Pianissimo des Klaviers mischt sich mit den leisen Kontrabässen; zwei Atemzüge, dann verweht ein einsam ersterbendes „Fis“ im Raum.

Freute sich über seine Uraufführung zum Jubiläum "10 Jahre Philharmonie Essen": der Komponist Wolfgang Rihm. Mit Dirigent Tomás Netopil genießt er den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Freute sich über seine Uraufführung zum Jubiläum „10 Jahre Philharmonie Essen“: der Komponist Wolfgang Rihm. Mit Dirigent Tomás Netopil genießt er den Beifall. Foto: Volker Wiciok

Rihms Konzert prunkt nicht mit seiner technisch-kompositorischen Raffinesse. Es fordert den Hörer. Es will in seinen feingesponnenen Verästelungen, in seinem Gespinst von nuancierten Klängen erlauscht werden. Ein denkbar schroffer Kontrast zum lärmenden Gestampfe der geräuschhaften Hörverschmutzung um uns herum – und auch ein Gegenprogramm zu jenen zeitgenössischen Strömungen in der Musik, denen ein halbes Dutzend voll zuschlagender Perkussionisten noch kaum genug sind.

Dass es im Mahler Jugendorchester auch laut zugehen kann, bewies es mit Bruckners Siebter Symphonie. Hat Christoph Eschenbach sich bei Rihm mit sorgsamen Zeichen in den Dienst des delikaten Sensualismus gestellt, ließ er bei Bruckner die Zügel los: Viel zu rasch waren dynamische Höhepunkte erreicht, viel zu eilig explodierten die berühmten, von den Blechbläsern getoppten Tutti. Zudem zelebrierte Eschenbach die Tempi extrem langsam, legte etwa das „sehr schnelle“ Scherzo breit und schwer an. Und das Adagio fiel an den „schönen Stellen“ in dumpfklingende Lethargie.

Leuchtende, unangestrengte Natürlichkeit suchte man vergebens – und die majestätischen Bruckner-Apotheosen waren verschenkt, weil dem Effekt schon vorher lautstark der Druck abgelassen wurde. Am Orchester lag es nicht: Die jungen Musiker begeisterten, etwa in Celli, Violinen und Holzbläsern, mit wundervollen Details. Dass sie sich nicht zum Ganzen fügten, ist ihnen nicht anzurechnen.




Festspiel-Passagen XI: Mozart und Strauss – Neuinszenierungen in Salzburg

Dich, düstre Halle, grüßte keiner: Rolf Glittenbergs Hotel-Einheitsbühnenbild für den Salzburger "Don Giovanni". Foto: Michael Poehn

Dich, düstre Halle, grüßte keiner: Rolf Glittenbergs Hotel-Einheitsbühnenbild für den Salzburger „Don Giovanni“. Foto: Michael Poehn

Wenn sich nach sexueller Bedrängnis und ohnmächtiger Eifersucht Zerlina und Masetto in einem Moment der Ruhe wiederfinden, wenn sie sich in Duettino und Arie der Zerlina („Vedrai carino“) nach allen emotionalen Stürmen wiederfinden, entkleiden sich Valentina Nafornita und Alessio Arduini, schlüpfen in Unterwäsche in eines der Zimmer des düsteren Hotels, entziehen sich dem Zugriff des allgegenwärtig scheinenden Don Giovanni. Und dem sehnsuchtsvoll dem Paar nachblickenden Don Ottavio zeigen sie, was die Sinnspitze sexuellen Begehrens sein sollte: die liebende Begegnung, auf die er – mit Donna Anna – vergeblich hofft.

Sven-Eric Bechtolf. Foto: Julia Stix

Sven-Eric Bechtolf. Foto: Julia Stix

Das war einer der flüchtigen Momente im Salzburger „Don Giovanni“ Sven-Eric Bechtolfs, der gezeigt hat, wohin diese Inszenierung hätte führen können. Es gab noch andere solche Augenblicke verdichteter Deutungs-Energie in der Arbeit des Salzburger Schauspielchefs: Etwa, wenn Donna Anna ein Messer in der Hand hält und Don Giovanni ihren Arm zum Todesstoß gegen den Komtur führt.

In solchen Momenten gewinnen Personen eine Dimension, die über das konkrete Spiel hinausgeht – sie werden zu Symbolgestalten des psychischen Dramas: Donna Anna befreit ihre Persönlichkeit, vom triebhaften Impuls Giovannis geleitet, aus patriarchalischen Fesseln. Dass sich dann ihre Schuldgefühle in Rachegelüsten manifestieren, für die sie Don Ottavio benutzt, bleibt in der Inszenierung unausgeleuchtet – so wie manche Ecken in der ragenden Halle eines Dreißiger-Jahre-Hotels, die Rolf Glittenberg als Einheits-Schauplatz auf die breite Bühne des „Hauses für Mozart“ gebaut hat.

Kraftlose Bühne für einen überflüssigen „Don Giovanni“

Es mag an dem unverbindlich kraftlosen Schauplatz liegen, dass Bechtolfs Inszenierung die konsequente Verortung auf der Meta-Ebene des existenziellen Dramas verfehlt hat und letztlich doch bei der Komödie um einen Testosteronbolzen hängengeblieben ist, dem der Teufel den Cocktail für die „Champagnerarie“ mixt. Es mag auch am plakativen Don Giovanni von Ildebrando d’Arcangelo liegen, der die Zwischentöne der Figur weder szenisch noch stimmlich präsent zu setzen verstand: Wenn auch von der Anlage der Rolle her Eleganz oder Subtilität nicht gefragt waren, sind doch massive Attacke im „Ständchen“ und uniformierter, klobiger Ton selbst in Rezitativen nicht angemessen.

Salzburg: Ildebrando D'Arcangelo als Don Giovanni. Foto: Michael Poehn

Salzburg: Ildebrando D’Arcangelo als Don Giovanni. Foto: Michael Poehn

Wie überhaupt die Salzburger Sängerbesetzung enttäuschte. Selbst Luca Pisaronis stimmschönem Leporello gelang es nicht, sich zu flexibler Leichtigkeit zu befreien. Die Donna Anna der Lenneke Ruiten schlug sich mit dünn-gefährdetem Timbre und verquälten Spitzentönen durch ihre Partie.

Anett Fritsch dagegen überzeugte als Donna Elvira mit substanzreichem Klang und ausgeglichenen Koloraturen. Andrew Staples gab Don Ottavio in der Tradition englischer Kathedraltenöre mit dünn-blassem Klang und substanzlos verengter Höhe; Tomasz Konieczny bewegte sich als Komtur am anderen Ende der Tonskala mit unfreiem Bass. Nur das Paar Zerlina – Masetto (Valentina Nafornita und Alessio Arduini) ließ den Reiz entspannten Singens und drucklos gebildeter Phrasen erleben.

Auch das Dirigat von Christoph Eschenbach rettete die Aufführung nicht: zu spannungslos schon das Adagio der Ouvertüre, die Tempi ohne vibrierende Brillanz, die Artikulation ohne Prägnanz. Den Wiener Philharmonikern gelangen Momente faszinierender Piano-Kultur.

Doch Festspiel-Faszination blieb aus – dafür stellt sich die Frage ein, wozu man in Salzburg nach nur drei Jahren überhaupt eine „Don Giovanni“-Neuinszenierung, einen „Da Ponte-Zyklus“ braucht. Einen echten Zyklus mit den vorzüglichen Libretti des Dichters hat es noch nie gegeben – da müssten sich Theater oder Festspiele einmal verständigen, auch diejenigen zur Diskussion zu stellen, die Antonio Salieri, Vicente Martín y Soler, Stephen Storace oder auch Francesco Bianchi vertont haben. Und Mozart – Da Ponte – Zyklen sind, mit Verlaub, überflüssig, da die drei Opern sowieso überall und ständig im Repertoire zu finden sind.

Atmosphäre des Epochenabschieds in Kupfers „Rosenkavalier“

Krassimira Stoyanova als Feldmarschallin im Salzburger "Rosenkavalier" Harry Kupfers in den atmosphärisch dichten Bildern von Hans Schavernoch. Foto: Monika Rittershaus

Krassimira Stoyanova als Feldmarschallin im Salzburger „Rosenkavalier“ Harry Kupfers in den atmosphärisch dichten Bildern von Hans Schavernoch. Foto: Monika Rittershaus

Die zweite Neuinszenierung dieser Festspiele gilt einem ihrer Mitbegründer: Richard Strauss. Zum 150. Geburtstag dieses so bedeutenden wie schillernden Komponisten des 20. Jahrhunderts hatte Noch-Festspielchef Alexander Pereira ausgerechnet das gängigste Werk gewählt: „Der Rosenkavalier“ ist als Epochen-Abschiedswerk mit Blick auf den Ersten Weltkrieg keine originelle, aber eine sinnvolle Wahl – und Altmeister Harry Kupfer vergegenwärtigte dieses unbestimmte Gefühl des Abschieds – für das die Fürstin Maria Theresia von Werdenberg steht – mit einer sich jeder plumpen Aktualisierung enthaltenden Regie.

Entscheidende Anteil an der atmosphärischen Dichte des Abends haben die Bühnenbilder von Hans Schavernoch: Raumfüllende Projektionen illustrieren beziehungsreich Schauplätze und geistige Haltungen: vergehende Barock-Herrlichkeit, aber auch zeitgeistiger Klimt-Jugendstil für die Marschallin; gusseiserne Dachkonstruktionen für den aufsteigenden Faninal, der sich freilich zu gerne im Glanz herrschaftlichen Barocks spiegeln würde. Und die Riesenrad-Gestänge des Praters drohen hinter einem Beisl, das als Illusionsarchitektur unter doppeltem Aspekt aufzufassen ist: In seinem imitierten Realismus steht es für die Kulisse des Schmierentheaters, das ebenso für den Lerchenauischen Gefoppten gespielt wird wie es der Ochs selbst als tragikomischer Wiener Vorstadt – Don Juan aufführt.

Sophie Koch (rechts, als Octavian) und Mojca Erdmann (Sophie). Foto: Monika Rittershaus

Sophie Koch (rechts, als Octavian) und Mojca Erdmann (Sophie). Foto: Monika Rittershaus

Dass sich Harry Kupfer keiner Regie-Outrierung bedienen muss, um seine Figuren in Ruhe und Tiefe zu entwickeln, wird auch sichtbar. Intensive, beziehungsvolle Momente – wie die vor dem Bild herbstlich kahler Praterbäume im Nebel in Gedanken versunkene Marschallin – entstehen nicht im unermüdlichen Drang von Regisseuren, deutungswütig auch noch die marginalste Szene mit Bewegung füllen zu müssen.

Für dieses Konzept war Krassimira Stoyanova die passende Besetzung: eine Marschallin, die in einem Moment jugendlich spontan, im anderen abgeklärt, ja melancholisch wirkt. Auch die feinen Mezzo-Lasuren ihrer positionssicheren Stimme, der ruhevolle Atem der Legati, die ausgeglichenen Register, die lyrische Innigkeit leuchten den Charakter einer Frau aus, die nicht nur die eigene Jugend im Wissen um die Zeit schwinden sieht.

Kupfer deutet den Epochenabschied fein aus, wenn er es am Ende offen lässt, ob nicht der dunkelhäutige Chauffeur ihres Luxuswagens an die Stelle des Grafen Rofrano treten wird. Kupfer gibt der Marschallin so einen Zug ins Ambivalente, der sie ihrem Vetter Ochs annähert und ihre philosophische und moralische Unfehlbarkeit mildert.

Den "Walfisch" gab es wirklich. Das Traditions-Restaurant im Wiener Prater ist abgerissen; auf Hans Schavernochs Salzburger "Rosenkavalier"-Bühne ist es Schauplatz des Dritten Aktes. Foto: Monika Rittershaus

Den „Walfisch“ gab es wirklich. Das Traditions-Restaurant im Wiener Prater ist abgerissen; auf Hans Schavernochs Salzburger „Rosenkavalier“-Bühne ist es Schauplatz des Dritten Aktes. Foto: Monika Rittershaus

Mit Günther Groissböck rührt Kupfer auch an der überkommenen Konzeption des Barons Ochs auf Lerchenau: Nicht der gemütliche rotwangige Tölpel, sondern ein schneidiger, gewandter Typ, skrupellos, hochmotiviert, wenn es darum geht, die Frauenzimmer auf die vielerlei Arten, wie sie es (angeblich) wollen, zu nehmen.

Die aufgemachten Striche in diesem ungekürzten „Rosenkavalier“ verdeutlichen die aggressive Sexualität dieses Vertreters der Moderne, der Moral auf Konvention eindampft, die nur zu beachten ist, wenn sie nützlich ist oder dem adligen Blute dient.

Kupfer braucht keine Braunhemden oder Hakenkreuze, um zu zeigen, wohin der Weg dieser Moderne führt. Ochs ist einer ihrer Protagonisten, und Kupfer zeigt nach dem so wundervoll konzentriert wie virtuos inszenierten dritten Aufzug, dass der Rückzug seiner Truppe – auch die keine lerchenauischen Tölpel, sondern bedrohliche Schläger – keine Niederlage sein muss.

Melancholie des Abschieds - und eines Neubeginns? Sophie Koch (Octavian), Mojca Erdmann (Sophie) und Krassimira Stoyanova (Feldmarschallin) im Finale des "Rosenkavalier". Foto: Monika Rittershaus

Melancholie des Abschieds – und eines Neubeginns? Sophie Koch (Octavian), Mojca Erdmann (Sophie) und Krassimira Stoyanova (Feldmarschallin) im Finale des „Rosenkavalier“. Foto: Monika Rittershaus

Groissböck ist Niederösterreicher und beherrscht das Idiom perfekt, um dem Charakter seiner Figur Ausdruck zu geben; für den Sänger gibt es noch Entwicklungspotenzial, nicht nur in der Tiefe, auch in der Freiheit der Tonbildung.

Die Liste der luxuriösen Besetzung setzt sich fort mit Sophie Koch, wohl derzeit die prominenteste Darstellerin des Octavian, und Mojca Erdmann als selbstbewusst zu ihrem „Ich“ vordringender Sophie, deren kleiner Soubrettenstimme freilich blühender Glanz und eine tadellose Höhe fehlt. Adrian Eröd bestätigt als Faninal seinen Rang, für den er als Bayreuther Beckmesser die Messlatte hoch gelegt hatte.

Andere blieben hinter ihren Möglichkeiten zurück, so Silvana Dussmann als zu spitzstimmige Marianne Leitmetzerin, Rudolf Schasching als Valzacchi und Stefan Pop als italienischer Sänger mit flackerndem Legato und dünn gefüllter Höhe.

Die Wiener Philharmoniker durften im wie zu Karajans Zeiten hochgefahrenen Graben demonstrieren, wie vertraut sie mit dem Strauss’schen Idiom umgehen. Franz Welser-Möst bemüht sich, leider oft vergeblich, die Lautstärke zu zügeln, die Sänger nicht zu verdecken. Er legt offen, etwa im Vorspiel, dass die „Rosenkavalier“-Musik bei aller silbrigen Geschmeidigkeit und süßen lyrischen Verführung auch mit „Salome“ verwandt ist. Doch den schimmernden Glanz der Übergabe der „Silbernen Rose“ lässt er nicht geheimnisvoll-innig, das weltentrückte Terzett am Ende nicht ätherisch enthoben aus dem Orchester fließen. Ein handfester, kein subtiler „Rosenkavalier“: Welser-Möst hat noch einen Weg vor sich, bis er die Deutungs-Raffinesse seiner Vorgänger erreicht hat.




Die Liebe, ein sehnsüchtiger Wunsch: Das Hamburg Ballett unter John Neumeier in Essen

Logo: Hamburg Ballett

Logo: Hamburg Ballett

Das Licht verlischt, der Horizont glüht blassblau auf. Christoph Eschenbachs Charakterkopf und der Flügel zeichnen sich scharf konturiert vor dem Hintergrund ab – wie ein Scherenschnitt des 19. Jahrhunderts. Eine Tänzerin tritt an den Flügel, ihr Kostüm ist einfach; reines Weiß.

Eschenbach beginnt zu spielen, leicht und verträumt. Schumanns „Kinderszenen“ eröffnen das Gastspiel des Hamburg Balletts in der Essener Philharmonie. Es sind stille, in sich versunkene Momente; die Tänzer bilden in fließenden Abläufen poetische Bewegungs-Bilder.

John Neumeier. Foto: Steven Haberland

John Neumeier. Foto: Steven Haberland

Eschenbachs Schumann-Interpretation, die er auch bei der Premiere des Balletts 1974 spielte, war ein Grund für die Entstehung der Choreografie, bekennt John Neumeier in seinen Lebenserinnerungen. Der Mann ist jetzt schon eine Legende: dienstältester Ballettdirektor der Welt, über 140 eigene Choreografien. Seit 1973 prägt Neumeier das Hamburg Ballett. Im September 2013 feiert die Compagnie die 40-jährige Zusammenarbeit mit dem Amerikaner, der ihr ein unverwechselbares Profil gegeben hat.

Eine Uraufführung für Essen

Pünktlich zum Jubiläum hat es die Philharmonie Essen geschafft, Neumeiers Truppe zu einem Gastspiel an die Ruhr zu bringen. Es gab auch ein Geburtstagsgeschenk: Damit ist nicht die Torte gemeint, die Intendant Johannes Bultmann am Ende der gefeierten Gala aufs Podium bringen ließ. Sondern eine Uraufführung: John Neumeier schuf unter dem Titel „Um Mitternacht“ eine neue Arbeit zu den Rückert-Liedern von Gustav Mahler, die er 1976 schon einmal choreografiert hatte. Vom „In Residence“-Künstler Christoph Eschenbach mit feinsten Nuancen begleitet, sang Matthias Goerne die ergreifend resignativen Klagen Mahlers mit seinem dumpfen, gurgelnden Timbre, prekärer Wortverständlichkeit und unklarer Vokalisierung – stets ein neues Rätsel, warum dieser Bariton zu den führenden Liedsängern zählen soll.

Edvin Revazov. Foto: Holger Badekow

Edvin Revazov. Foto: Holger Badekow

Neumeier deutet tragisches Scheitern von Liebessehnsucht, Beziehungsnot und Einsamkeit eher an, als sie allzu erzählend auszubreiten. Wenn am Ende der grandiose Solist Edvin Revazov sein Gesicht in die Hände einer der Welt enthobenen Frau in grüner Gaze legt, sich die Farbe des Kleides als Licht über die Szene legt, wird die Entrückung greifbar. In der „realen“ Welt triumphiert derweil die Kälte: Anna Laudere sitzt trotzig mit unbeteiligt gelangweiltem Blick da; Revazov legt seinen Kopf auf ihre Knie: „Liebe um Liebe“, wie sie das Lied „Liebst du um Schönheit“ erträumt, bleibt eine Vision.

Eschenbach folgt am Flügel Mahlers Anweisung, die Tempi „äußerst langsam“ zu nehmen. Dass die Spannung hält, ist seiner Kunst zu verdanken, die Töne zusammenzubinden. Die Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Balletts beherrschen die konzentrierte Bewegung so virtuos, dass sie auch in der rubatoverliebten Metrik stets mit Eschenbach zusammen auf einen Punkt kommen.

Souveräne Bewegungs-Kontrolle

Auch in den anderen Choreografien des Abends, frühe Arbeiten Neumeiers aus den siebziger Jahren, weckt die souveräne Kontrolle fließender Abläufe Bewunderung. Neumeier fordert kaum einmal Tempo. Er lässt die Paare sensible, fast schon skulpturenähnliche Figuren bilden: präzise Abstimmung und dosierte Kraft sind bewundernswert. Beispielhaft sei der Solist Alexandre Riabko genannt: In „Vaslaw“ von 1979, einer Hommage an den Tänzer und Künstler Vaslaw Nijinski mit Musik Johann Sebastian Bachs, bildet er mit unglaublicher Körperspannung den ruhenden Gegensatz zu den ausgezirkelten Figuren der Paare und der Solistin Patricia Tichy.

Mitgebracht hatte Neumeier auch das von ihm 2011 gegründete und betreute Bundesjugendballett. Begleitet von dem beherzt zugreifenden jungen Pianisten Christopher Park tanzten drei Paare Strawinskys „Petruschka-Variationen“ (1976) mit Lust an der rhythmischen Mechanik und kraftvoller Geschmeidigkeit.

Der Abend unter dem Titel „Nirgends … wird Welt sein als innen“ ist noch einmal zu sehen: am Samstag, 22. Juni, in Hamburg.

(Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst in der WAZ erschienen).




Künstlerisches Muskelspiel zum Abschied

Die Sopranistin Anna Prohaska gastiert in Essen. Foto: Patrick Walter/DG

„Nirgends … wird Welt sein, als innen“: Das Zitat aus Rainer Maria Rilkes siebenter Duineser Elegie könnte gemünzt sein auf den Dirigenten und Pianisten Christoph Eschenbach, der sich zur kommenden Spielzeit als Residenz-Künstler der Essener Philharmonie präsentiert. Doch wir wagen es nun, diese Sentenz dem analytisch präzise, in steter Zurückhaltung arbeitenden Intendanten Johannes Bultmann zuzueignen. Weil er wahrscheinlich, nach jener für ihn letzten Saison (2012/13), seine Wirkungsstätte ohne große Geste verlassen wird. Weil er sich vorstellen kann, soviel gab er preis, während eines Sabbatjahres jenseits aller künstlerischen Betriebsamkeit zu leben. 

Noch aber, gewissermaßen zur finalen Essener Saison, lässt Bultmann die Muskeln spielen. In Form jener hochkarätigen Dirigenten, Sängerinnen oder Orchester, die für Qualität und grenzübergreifenden Ruhm stehen. Da spielen zum Auftakt im September 2012 die Münchner Philharmoniker unter Altmeister Lorin Maazel, da will die junge Sopranistin Anna Prohaska mit barocken Arien bezaubern, der hochgelobte israelische Dirigentenfeuerkopf Omer Meir Wellber romantische Glut entfachen, oder eben Christoph Eschenbach in fünf Konzerten und bei einem Lyrik-Talk seine künstlerische Visitenkarte abgeben.

Dirigent Omer Meir Wellber. Foto: Philharmonie Essen

Die Reihen Lied, Alte Musik bei Kerzenschein, Stimmen, Jazz und Jugendstil werden fortgeführt wie eben auch die für Bultmann ungemein wichtige Konzertfolge namens „Now!“. Essens Philharmonie-Intendant, seit jeher engagierter Anwalt der Neuen Musik, fragt in elf Veranstaltungen nach dem Fortschritt im avantgardistischen Komponieren. Dem voraus geht der Programmschwerpunkt „Tristan-Akkord“, jenes tönende Gebilde, das als Schlüssel gilt zur Überwindung der Tonalitätsgrenzen.

Damit verbunden ist natürlich die Würdigung Richard Wagners zum 200. Geburtstag. Höhepunkt soll die konzertante Aufführung des „Parsifal“ werden, mit Balthasar-Neumann-Chor und Ensemble unter Thomas Hengelbrock. Spannend dabei ist die Verwendung historischen Instrumentariums. Wiederum neu daran ist die Kooperation mit dem Dortmunder Konzerthaus.

Insgesamt bietet die nächste Philharmonie-Saison um die 100 Eigenveranstaltungen. Eine Zahl, auf die sich das konzertante Geschehen inzwischen eingependelt hat. Bultmann ist indes wichtiger, dass man hinsichtlich der Qualität in der oberen Liga mitspielen kann. Und dass stets neue Ideen ihr Recht auf Verwirklichung bekommen, all dies verbunden mit finanzieller Planungssicherheit.

Zum Herbst 2013 aber wird Hein Mulders seine Doppelintendanz für Philharmonie und Oper antreten. Es dürfte spannend werden, wie neu die Karten dann gemischt werden.