„Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“ – Christoph Marthaler mahnt auf die stille und behutsame Art

Szenenbild aus „Nach den letzten Tagen..." (Foto: Matthias Horn)

Szenenbild aus „Nach den letzten Tagen…“ (Foto: Matthias Horn)

Wieder gibt es Gott sei Dank eine neue Inszenierung des Meisters des Abwartens, Christoph Marthaler, der Chefregisseur sozusagen der Ruhrtriennale unter Stefanie Carp. Er wird uns hoffentlich auch danach mit Schöpfungen beschenken.

„Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“ ist die wohl trübsinnigste Kreation von Marthaler. Sie „spielt“ im Auditorium Maximum der Universität Bochum (die per Navi zu finden geradezu ins Leere führt).

Die Zuschauertribünen auf einer Seite ist der Ort des Geschehens, eine Art Abgeordneten-Plenarsaal, in dem sich 11 Damen und Herren einsam oder mal als Gruppe äußern. Sicht- und spürbare Leere ringsum. Seitlich befindet sich – fast versteckt – das kleine Orchester, das dann den Abend prägt.

Originaltexte von Rechtsgerichteten

Die exzellenten Darsteller sprechen leise und bedrohlich unterkühlt die Texte, die zumeist aus Originalreden von rechts-gerichteten Abgeordneten und sonstigen Menschen stammen, die meinten und oft immer noch meinen, alles Unglück käme von den Juden. Nach einer ausführlichen Abhandlung inklusive eigener Erfahrungen mit dem Begriff „Neger“, folgt als Antwort ein Jodelsolo am Rednerpult.

Klar ist, dass dies ein behutsamer Abend ist. Aktionsverwöhnte werden eher in ein Fragezeichenkoma versetzt. Auch sind die Texte nun vielen nicht ganz unbekannt und sicherlich ist diese direkte Art, uns zu sagen: „Achtung! Wehret den Anfängen!“ ein bisschen platt. Wenn es nicht so still wäre, könnte man sagen: Agitprop. Aber sicher erschrickt der eine oder andere und erwischt sich dabei, manche Idee, manchen Satz mit einem gedachten „Ja genau!“ zu begleiten. „Ach herrje, was denke ich denn da?“

Weiteres Szenenbild (Foto: Matthias Horn)

Verantwortlich zeichnen Christoph Marthaler, Uli Fussenegger, Stefanie Carp, Duri Bischoff, Sarah Schittek, Phoenix (Andreas Hofer) gemeinsam. Das Ganze ist wieder mal ein Gesamt-Kunstwerk, gewidmet den Komponisten Pavel Haas, Viktor Ullmann, Alexandre Tansman, Józef Koffler, Erwin Schulhoff, Szymon Laks und Fritz Kreisler. Sie wurden deportiert, ermordet oder gingen in die Emigration.

Weitere Aufführungen: 29.8. bis 1.9.2019 im Auditorium Maximum der Ruhr-Universität Bochum.
Informationen hier




Blickrichtung rückwärts – Ruhrtriennale 2019 mit groß angelegter Multimedia-Produktion von Heiner Goebbels

Szene aus Christoph Marthalers Audimax-Inszenierung „Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“ (Foto: Matthias Horn/Ruhrtriennale)

Bestimmt ist das völlig ungerecht, aber Assoziationen machen ja, was sie wollen: Wenn Stefanie Carp die Produktion „Everything That Happened and Would Happen“ von Heiner Goebbels erläutert, wandern die Gedanken zu Thomas Bernhard und seinem „Theatermacher“, der in Utzbach, wo man tot nicht überm Zaun hängen möchte, sein Stück „Das Rad der Geschichte“ herausbringen will.

Intendantin Stefanie Carp bei der Auftakt-Pressekonferenz der Ruhrtriennale 2019 (Foto: Daniel Sadrowski/Ruhrtriennale)

Anders als er jedoch beginnt Heiner Goebbels, der auch Ruhrtriennale-Intendant der Jahre 2012 bis 2014 war, mit dem 1. Weltkrieg und nicht schon irgendwo in der Antike. Aber dann werden Mittel nicht und Wege gescheut, das Elend der letzten 100 Jahre in einer „neuen, großformatigen Arbeit“ auf die Bühne zu stellen, „in der Musik, Licht, Performance, Sprache, Objekte und Filme zu einer multimedialen Installation vereint sind“. Als die drei wesentlichen „Inspirationsquellen“ werden erstens der Text „Europeana“ des tschechischen Autors Patrik Ourednik genannt, zum Zweiten das Bühnenbild aus Goebbels’ Inszenierung von John Cages „Anti-Oper“ „Europeras 1 & 2“ (Ruhrfestspiele 2012) und zum Dritten unkommentierte, tagesaktuelle Nachrichtenbilder des Fernsehsenders Euronews.

Projekt macht neugierig

Schließlich erwähnt seien 17 Bühnenkünstler beiderlei Geschlechts, und mit einer solchen Mannschaft ist Goebbels dem Theatermacher Bruscon natürlich haushoch überlegen. Doch Scherz beiseite: Wenn Goebbels auch nicht so gefeiert wurde wie seine Vorgänger Flimm, Mortier und, mit Abstrichen, Decker, so hat er doch als Triennale-Intendant etliche sehr bemerkenswerte Produktionen zur Aufführung gebracht, aus eigener, wenn man so sagen darf, wie auch aus fremder Feder. Man muß gespannt sein, was zwischen dem 23. und dem 26. August in der Bochumer Jahrhunderthalle abgeht. Anders gesagt: Das Goebbels-Projekt macht neugierig, anders als viele andere Produktionen der diesjährigen Triennale.

Von Jan Lauwers stammt das Stück „All the Good“ (Foto: Phile Deprez/Ruhrtriennale)

Musik bis zuletzt

Gewiß, bei Christoph Marthaler wird es wieder sehr schön werden, elegisch, stimmig und traurig, auch wenn sein Spielort diesmal das Audimax der Bochumer Universität ist. Hier werden Kompositionen von aus Prag und Wien von den Nazis vertriebenen Komponisten zu hören sein, die emigrieren mußten, ermordet wurden, im Konzentrationslager Theresienstadt landeten. Hier, in Theresienstadt, fand eine schauerliche Musikproduktion statt, verzweifelt wurde musiziert und komponiert bis zum letzten Moment, der für viele der Abtransport nach Auschwitz war. Vieles blieb Fragment, in den Kapellen spielte zusammen, was nach der klassischen Lehre nicht zusammengehörte. Und doch entstand – auch – Schönheit.

Das Weltparlament schaut zu

In Marthalers Einrichtung ist das Audimax ein imaginiertes Weltparlament, das Rückblick hält auf die Zerstörungen des vergangenen Jahrhunderts. So lesen wir es in den Ankündigungen, so erfahren wir es von Stefanie Carp im Pressetermin, und sogar ohne Videoeinspieler haben wir eine Vorstellung davon, wie es wohl werden wird „Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“ (Titel der Produktion).

Auf einen schönen Abend darf sich freuen, wer Karten für György Ligetis Requiem  hat, das zwischen dem 5. und dem 14. September sechsmal zu hören sein wird; Steven Sloane dirigiert die Bochumer Symphoniker, die freie Theatergruppe Proton Theater und der Staatschor Latvija wirken überdies in „Evolution“ mit.

Manchmal auch bunt. Ebony Bones macht genreübergreifende Musik (Foto: Antonello Trio_1984 Recordings Ltd./Ruhrtriennale)

Autobiographisches Erzählen

„All the Good“ heißt das Stück von Jan Lauwers und der Needcompany, das das „autobiographische Erzählen“ pflegt und dessen Protagonist der ehemalige israelische Elitesoldat Elik Niv ist, der Tänzer wurde. Eine Chronik von Verlust und Hoffnung wird angekündigt, grundiert vom Terror in der Welt und der Kraft des Alltäglichen.

Es gibt, wie immer, Tanz, Schauspiel und Musiktheater, Angebote für Jugendliche, Installationen. 164 Veranstaltungen sind angesetzt, 35 Produktionen und Projekte, davon 16 Eigen- und Koproduktionen. Mehr als 800 Künstler und Künstlerinnen aus 35 Ländern wirken mit.

Enger Themenkanon

Alle würden sie wohl für sich in Anspruch nehmen, mit ihrer Kunst an den radikalen Rändern unterwegs zu sein, sie gar zwangsläufig oder absichtsvoll zu überschreiten. Doch drängt sich auch ein etwas lähmender Eindruck von Gleichförmigkeit auf, oder sagen wir lieber, falls es das Wort denn gäbe: Ähnlichförmigkeit. Gewalt, Emanzipation, Solidarität sind Schlüsselbegriffe des Themenkanons, ebenso Sexismus, Rassismus, Diskriminierung aller Art. Im Vergleich zu den Ruhrfestspielen, wenn der  einmal gestattet sei, wirkt die Blickrichtung stärker rückwärtsgewandt und etwas allgemeiner.

Das ungeliebte Festival

Verkauft sind derzeit, ist zu erfahren, mehr als 50 Prozent der Karten. Damit sei man „zufrieden“, doch Begeisterung sieht anders aus. Allerdings hat die Ruhrtriennale auch mit der völlig absurden Situation zu kämpfen, daß sie als Landesfestival von der Landesregierung ignoriert wird. Stefanie Carp hatte, wie bekannt, in ihrem ersten Jahr eine israelkritische Künstlergruppe engagiert, die sich bei BDS („Boycott, Divestment and Sanctions“) engagierte. Es folgten, kurz gesagt, einige wenig souveräne Diskussionen, und seitdem herrscht Funkstille. Keine gute Situation.

Der Gigantenfries erklingt

Doch enden wir mit einer Installation, auf die man besonders gespannt sein kann: In der Bochumer Turbinenhalle baut Cevdet Erek „Bergama Stereo“ auf, was nichts weniger ist als, stilisiert, der in Berlin befindliche Pergamon-Altar im Maßstab 1:2. Den berühmten Gigantenfries dieses Monuments hat er durch eine Klanginstallation ersetzt, 34 Lautsprecher machen das Relief zu einem Klangerlebnis. Im kultigen Berliner Club „Berghain“ soll es Vergleichbares geben. Zweimal trommelt der Chef selbst, sonst machen andere Programm. Übrigens ist Bergama das türkische Wort für Pergamon, und gleich im Anschluß an die Bochumer Präsentation wird „Bergama Stereo“ im Hamburger Bahnhof in Berlin aufgebaut.




Leise Lieder von Abschied und Vergehen – Marthalers „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ bei der Ruhrtriennale

Ein leerer Raum mit schrägen Oberlichtern, im Hintergrund ein Personenaufzug und eine hohe Flügeltür: Das könnte ein Museum sein oder eine leergezogene Fabrikhalle, auf jeden Fall ein uneingeschränkt funktionaler Ort. Hier wirkt der Mann im grauen Hausmeisterkittel, schiebt Rollwagen herein mit undefinierbarer folienverhüllter Fracht.

Was wird das werden? Mit der Antwort kann es dauern, wie stets in den Stücken Christoph Marthalers, denen viel Gemächlichkeit eigen ist. Dieses heißt „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ und war jetzt im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) als funkelndes kleines Programmglanzlicht der Ruhrtriennale zu sehen.

Letzte Arbeit für die Berliner Volksbühne

„Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ war Marthalers letzte Arbeit an der Berliner Volksbühne. Mit dem Ausscheiden des Intendanten Frank Castorf endete auch die lange währende Kooperation, die 1993 mit „Murx den Europäer! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn! Murx ihn ab!“ ihren seinerzeit stark beachteten Anfang hatte. „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ ist deshalb ein Stück der Rückschau geworden, die einen natürlich schwermütig stimmen kann, auf der Bühne wie im Zuschauerraum.

Doch sie leben noch

Doch die gut verpackten Figuren leben noch, wenn man sie nur lässt! Und nichts anderes tut der Mann im grauen Kittel, als sie in des Wortes wörtlichem Sinn aus Folie und Holzkiste auszupacken und auf die Bühne zu stellen.

Dann bewegen sie sich, dann singen sie, dann spielen sie gar auf Klavier und Cembalo. Und unerwartet sportlich sind einige von ihnen, Damen zumal, und keineswegs ohne erotischen Reiz. Wenn das ganze kulminiert, formieren sich die Weggepackten gar zu einer Art erotisch-lüsterner Laokoon-Gruppe auf dem Rollwägelchen, und jeder möchte dabei sein. Dem Kittelmann wird das zu viel, er packt ein, rollt hinaus, die Erinnerungen kommen zurück ins Magazin. Doch die Personen kehren wieder.

Alles schon einmal gebraucht

Für Bühne und Kostüme griff Marthalers großartige Ausstatterin Anna Viebrock auf den Fundus zurück, verwendete also nur Dinge, die in seinen früheren Produktionen schon einmal eingesetzt waren. Und vielleicht sind auch alle Lieder dort schon einmal gesungen worden, die im weiteren Verlauf des Abends zu hören sind, wer will das so genau wissen? Händel, Satie, Mahler und Schubert nennt der blaue Programmzettel, der in Orange noch ungleich mehr, mit Bach beginnend und mit Wagner endend.

Eher gehaucht als gesungen

Musik – und da vor allem Gesang – findet in Marthalers Theater aber nicht als schmetternde Nummernrevue statt, sondern ist fein und leise in den Gang des scheinbar Bedeutungslosen hineingesetzt, das „Handlung“ zu nennen einem manchmal widerstrebt.

Leise, sehr leise erklingen viele Lieder, und viele werden auch nie lauter. Der feine Ton macht sie nur noch eindrücklicher, und manchmal erzählt er geradezu Geschichte – etwa, wenn „Brüder zur Sonne, zur Freiheit“ kaum wahrnehmbar, eher gehaucht als gesungen, erklingt. Ja, die donnernde Revolution ist ausgeblieben, an der Volksbühne und anderswo, und vielleicht ist es sogar gut so.

Wenn dieser vorwiegend a cappella vorgetragene Gesang in der zweiten Stückhälfte nicht so schön wäre, so filigran und sanft, dann könnte man schon trübsinnig werden ob der Inhalte, mitleiden etwa mit dem jungen Mann, dessen Freundin „In einem kühlen Grunde“ (Text von Eichendorff) die Beziehung beendet hat und der nun am liebsten tot wäre. Oder, im Kirchenlied, verzweifeln an der Aussichtslosigkeit der eigenen gottlosen Existenz.

Düsternis und Heiterkeit

Die Musikauswahl, man kann es nicht anders sagen, kreist sehr um Trennung, Verlust, Abschied, Niedergang, was nach einem Vierteljahrhundert kreativer Arbeit an der Berliner Volksbühne nicht verwundern kann. Auch das Schlussbild ist kein Trost. Alle, die auf der Bühne sind, müssen ihre Schuhe abgeben, Symbole für Leben, Beweglichkeit, Erdung, ein düsterer finaler Akt.

Heiterkeit wiederum erregten manche Personenzeichnungen – alte Männer im clownesken Altmänner-Outfit mit Hosenträgern und Pantoffeln, füllige Damen in neckischer Pose; Marthaler weiß souverän mit der Spannung zwischen ernst und lustig zu spielen, um das Bühnengeschehen dramatisch zu überhöhen. Bei ihm ist gemächlich nicht das Gegenteil von kurzweilig, eher im Gegenteil.

In der großen Halle

Wenige Tage zuvor konnten Triennale-Besucher in der Bochumer Jahrhunderthalle, ebenfalls von Marthaler inszeniert, das symphonische Fragment „Universe, Incomplete“ von Charles Ives erleben, eine theatralische Materialschlacht (siehe dazu auch Martin Schrahns ausführliche Rezension in den Revierpassagen). Der Schweizer Theatermacher kann beides, große Halle wie kleine Theaterbühne. Aber dem typischen Schaffen dieses feinnervigen Musikerzählers begegnet man sicherlich eher in Produktionen wie, eben, „Bekannte Gefühle…“.

Was wird aus der Intendantin?

Wo werden wir zukünftig dieses in seiner Art einmalige Gesangstheater erleben können? Der Stuhl von Stefanie Carp, die seit vielen Jahren Marthalers kongeniale Dramaturgin und außerdem derzeit Triennale-Intendantin ist, wackelt. Sollte sie gehen, geht Marthaler – vermutlich – auch. „Froh schlägt das Herz im Reisekittel, vorausgesetzt, man hat die Mittel“, zitiert ein Mitspieler in einer der heitereren Passagen des Stücks Wilhelm Busch. Angesichts der politischen Entwicklung ist das ein geradezu seherischer Aphorismus.

Keine weiteren Vorstellungen in Gelsenkirchen

www.ruhrtriennale.de




Was soll uns der Saurier? Christoph Marthaler wagt sich bei der Ruhrtriennale an das Universum von Charles Ives

Berührende Momente und Rätselhaftes: Plötzlich schwebt ein Dino ein. Foto: Walter Mair/Ruhrtriennale

Berührende Momente und Rätselhaftes: Plötzlich schwebt ein Dino ein. Foto: Walter Mair/Ruhrtriennale

Am Beginn steht die Erschaffung der Welt. Es klingt ein Klopfen, Zischeln und Hämmern im vielfach geteilten, polyrhythmisch arbeitenden Schlagzeug, als befänden wir uns in einem Maschinenraum. Das an- und abschwellende Werkeln stammt aus Charles Ives’ unvollendeter „Universe Symphony“, die nicht weniger als die Schöpfungsgeschichte, des Menschen Erdendasein und sein Streben nach Erlösung und Erleuchtung umfasst.

Für Christoph Marthaler, den Regisseur der Langsamkeit und Verstörung, sowie für die Ausstatterin Anna Viebrock, die Schöpferin muffiger, verblichener, seelische Leere spiegelnder Interieurs, war Ives’ monumentaler Ansatz reichlich Inspiration, das musikalische Fragment zu einem Gesamtkunstwerk auszuweiten. Entstanden ist eine in ihrer riesenhaften Dimension teils faszinierende, verrätselte, teils langatmige, dramaturgisch äußerst gespreizte Triennale-„Kreation“.

Marthalers Personal rennt und tänzelt, schreit oder schaut stumm. Foto: Walter Mair/Ruhrtriennale

Sie ist in Bochums Jahrhunderthalle zu erleben, gewissermaßen in einem Maschinenraum vergangener Zeiten. Dort kommt das perkussive Tüfteln langsam zum Ende, aus der Ferne zeichnet ein Orchester feine Ornamente, bis plötzlich eine lärmende Marschkappelle alle Kontemplation ruppig zerstört. Und das elfköpfige Marthaler-Personal, das von einem Zollbeamten nach und nach in die Arena eingelassen wird, quittiert die Klangüberwältigung mit einem säuerlichen „Naja“.

Marthalers Menschen, die diese Welt bevölkern, die musikalisch angereichert ist mit Ives’ Kosmos aus Märschen, Songs, Hymnen und geschichteten polytonalen Orchestereruptionen, wirken wie verlorene Gestalten. Die Utopie des amerikanischen Komponisten von einer seligmachenden Transzendenz wird hier zur Dystopie, in der die Erdenbewohner rennen und kriechen, schreien und flüstern, sich balgen.

Dieses Bewegungsvokabular ist hinreichend bekannt, auch die Langsamkeit und Wiederholungszwänge oder die teils rührenden Versuche, etwas Schönes zu bewerkstelligen. Wenn sich etwa Tanzpaare zu trostvollen Streichquartettklängen finden, aber außer Verrenkungen und Erstarrung nichts zustande bringen.

Einzug der Marsch-Kapelle. Foto: Walter Mair/Ruhrtriennale

Allenthalben Verstörung, aber auch Faszination: Erstmals wird die Jahrhunderthalle in ihrer vollen Länge und gehörigen Tiefe genutzt und scheint so geradezu prädestiniert für Ives’ (teils verborgene) Klanginseln. Die Akustik jedenfalls wirkt ausgezeichnet, entfaltet sehr präsent die Schichtungen der Musik oder wunderbar knallig die Wucht der Märsche.

Schwieriger wird’s bei der Ausstattung. Die Halle selbst, mit ihren wuchtigen Verstrebungen und der industriellen Patina, ist ja Bühne genug. Da erscheinen Anna Viebrocks riesenlange Festtafel, die ollen Kirchenbänke oder eine kitschverdächtige Brücke doch arg verloren. Besser wirken die Kostüme des Ensembles (auch von Viebrock), irgendwie auf amerikanisch getrimmt, teils wie aus dem Second-Hand-Laden, garantiert völlig unmodern.

Christoph Marthaler, Regisseur der Langsamkeit und der Verstörung. Foto: Edi Szekely

Hier das Offensichtliche, dort manches Rätsel. Was soll uns bloß der Dinosaurier mitten im Spiel? Oder der Mann mit der Tuba, der immer zu spät kommt und nicht mal weiß, zu welchem Orchester er gehört? Dazu viel Gebrabbel und manche Agitation. Das angestrebte Gesamtkunstwerk entpuppt sich als Pasticcio, zerfällt in zähe Inseln.

Am Ende sanfte Streicherharmonie, ein fragendes Fünftonmotiv der Trompete und schnatternde Antwortversuche einiger Holzbläser. Zu Ives’ „The Unanswered Question“ legt Marthalers Personal, das sich zuvor die Seele aus dem Leib gespielt hat, den Kopf auf die Schulter und blickt – ins Nichts.

Der Applaus für die famosen Bochumer Symphoniker unter Titus Engel, für die trefflichen Schlagwerkformationen aus NRW-Musikhochschulen, für Mimen und das Regieteam ist herzlich. Enthusiasmus aber hört sich anders an.

https://www.ruhrtriennale.de

(Der Artikel ist in ähnlicher Form zuerst in der WAZ erschienen).

 

 




Ruhrtriennale in „Zwischenzeiten“ – die neue Intendantin Stefanie Carp präsentiert ihr Programm

Zu den Eigentümlichkeiten der Ruhrtriennale gehört der radikale Stabwechsel, also der alle drei Jahre fällige Übergang von einer Intendanz zur nächsten. Da sitzen dann plötzlich vier fünf, neue Gestalten auf dem Podium, die alten sind weg und finden auch keinerlei Erwähnung mehr. Außerdem ändert sich das Graphik-Design alle drei Jahre so grundlegend, daß man glatt glauben könnte, einer Stunde Null beizuwohnen.

Die Intendantin und ihr Künstler: Stefanie Carp und Christoph Marthaler (Foto: Edi Szekely/Ruhrtriennale)

Beigeordneter Künstler Marthaler

Nun also saßen Stefanie Carp und Christoph Marthaler auf der Bank. Stefanie Carp, wir berichteten, ist die neue Intendantin, Christoph Marthaler „Artiste associé“, also sozusagen der beigeordnete Künstler. Im wirklichen Leben war es meistens umgekehrt, war Frau Carp Dramaturgin bei Marthaler, doch nun ist es an ihr, wichtige Worte zu sprechen. Von rasend schnell sich verändernden Lebensumständen raunt sie, von Verteilungskriegen und unvorstellbarer Grausamkeit, welche Gesellschaften und Kulturen zerstöre. Und weil das nicht lange gutgehen kann und die Forderungen der Geknechteten nach Beteiligung, Gleichheit und Freiheit eine Frage des zivilisierten Lebens seien und deshalb nicht mehr lange überhört werden könnten, befänden wir uns, bis es so weit ist, in einer „Zwischenzeit“.

Zwischenzeit? Klingt eindrucksvoll, stimmt irgendwie immer – war der Frau Intendantin dann aber wohl doch zu wuchtig, als daß sie es in Leuchtbuchstaben über ihr Festival geschrieben hätte. Aus der Zwischenzeit wurden lediglich einige Zwischenzeilen im Programmheft, was dem konkreten Angebot wohl auch eher entspricht.

Choreographin Sasha Waltz (Foto: André Rival/Ruhrtriennale)

Unvollständiges Universum

Der erste Eindruck vom neuen Programm ist, sagen wir mal, guter Durchschnitt. Namen, die nicht nur der Fachwelt ein Begriff sind, finden sich kaum. Aber immerhin gibt es zwei Produktionen von Marthaler zu hören und zu sehen, und erstmalig, man glaubt es kaum, ist die in der Tat berühmte Berliner Choreographin Sasha Waltz bei der Ruhrtriennale zu Gast.

Marthaler, um mit ihm zu beginnen, hat aus der unvollendeten „Universe Symphony“ des amerikanischen Komponisten Charles Ives (1875-1954) die auf jeden Fall durch schieren Aufwand beeindruckende Musiktheater-Kreation „Universe, Incomplete“ geschaffen. Ab 17. August wird sie das Publikum in der Bochumer Jahrhunderthalle dazu einladen, „aus einer entfernten Zukunft auf unser jetziges Leben zurückzublicken“ (O-Ton Programmankündigung). Anna Viebrock sorgt für das Bühnenbild, Titus Engel dirigiert die Bochumer Symphoniker, und fraglos wird dies die gewichtigste Veranstaltung der Triennale 2018 sein.

Warum Schauspiel?

Außerdem gibt es von Christoph Marthaler „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“ zu sehen, sein Abgesang auf die Berliner Volksbühne, wo er lange zur künstlerischen Community Frank Castorfs zählte. „Bekannte Gefühle…“ ist ein wunderschöner, lyrischer, leiser, präziser Marthaler, ein Stück, in dem gesungen wird und Choreographie eine große Rolle spielt und das einen berührt, ohne daß man sagen könnte, worum genau es eigentlich geht. Stichworte wie Abschied, Abschied von der Volksbühne, Abschied von den Idealen der Revolution, Selbstvergewisserung und so fort geben da nur Hinweise.

Kelly Cooper und Pavol Liska vom Nature Theater of Oklahoma (Foto: Ditz Fejer/Ruhrtriennale)

Stadt im Dschungel

Erstaunlicherweise läuft dieser zweite, überaus hybride Marthaler in der Abteilung „Schauspiel“, was nur deshalb geht (systematisch betrachtet), weil es „richtiges“ Schauspiel bei dieser Triennale gar nicht gibt. „Diamante. Die Geschichte einer Free Private City“ des Argentiniers Mariano Pensotti etwa wird als sechsstündiges Theaterereignis angekündigt, für das der Regisseur einen Teil der Privatstadt Diamante nachgebaut hat, welche vor 100 Jahren von einem anthroposophisch orientierten deutschen Industriellen mitten im argentinischen Dschungel errichtet wurde. Die Zuschauer sollen den Ort selbst erkunden und selbst herausfinden, warum diese sozial-kapitalistische Utopie scheiterte.

Off-off-off-Broadway

Ganz tief im Westen, in der Gladbecker Maschinenhalle Zweckel, darf möglicherweise gelacht werden. Hier hat sich nämlich die Off-off-off-Broadwaygruppe „Nature Theater of Oklahoma“ aus New York mit ihrem Stück „No President. A Story Ballet of Enlightment in Two Immoral Acts“ angekündigt. Inhalt: Zwei Sicherheitsfirmen haben arbeitslose Schauspieler bzw. Ballett-Tänzer als Mitarbeiter rekrutiert, die nun zu den Klängen von Tschaikowskis „Nußknacker“ ihrer Arbeit nachgehen. Was das genau werden wird, ist nicht ganz klar; jedenfalls werden derzeit noch Tänzerinnen und Tänzer im Ruhrgebiet gecastet. Und das ganze läuft, wie gesagt, als Theater.

Schorsch Kamerun gentrifiziert die Dortmunder Nordstadt (Foto: Michel-Bo-Michel/Ruhrtriennale)

Nordstadt gentrifiziert

Jetzt kommt Dortmund ins Spiel, der problematische Norden, genauer gesagt, dem der Künstler Schorsch Kamerun die Entwicklung zum Trendquartier andichtet. Resultat seiner Bemühungen ist ein begehbares Filmset mitten in der Nordstadt – „mit Live-Soundtrack, echten Anwohner*innen und gefakten Kulissen“. Jede Aufführung endet mit einem Konzert im hippen „Club Kohleausstieg“. Klingt gut.

Am ehesten noch Schauspiel, doch, doch, wir sind immer noch in dieser Fachabteilung, mag wohl „The Factory“ von und mit den beiden Syrern Mohammad Al Attar und Omar Abussada sein. In dem Stück geht es um die profitable französische Zementfabrik Lafarge in Syrien, die während des Krieges ungehindert weiterarbeitete, weil Schmiergeld an den IS floß.

Wanderungsbewegungen

Größere Produktionen des Musiktheaters, die bisher unerwähnt blieben, sind „The Head and the Load“ von William Kentridge in der Kraftzentrale Duisburg und „Das Floß der Medusa“ von Hans Werner Henze in der Jahrhunderthalle. Erstgenannte Produktion befaßt sich mit der Rolle Afrikas im Ersten Weltkrieg, mit rund zwei Millionen Afrikanern, die in Europa kämpfen mußten. Ganz ähnlich gilt Henzes Oratorium als Metapher für die Unterdrückung der „Dritten Welt“, und als es 1968 (!) uraufgeführt werden sollte, kam es zu Tumulten. Die werden wohl ausbleiben, wenn jetzt Steven Sloane die Bochumer Symphoniker dirigiert und Chorwerk Ruhr, Zürcher Sing-Akademie und Knabenchor der Chorakademie Dortmund die Stimmen erheben.

Szene aus „The Head And The Load“ (Foto: Stella Olivier/Ruhrtriennale)

Zwischenformen

Ein paar Namen noch aus der Musikabteilung: Laurie Anderson wird in der Lichtburg Essen auftreten, das Ensemble Modern der britischen Komponistin Rebecca Saunders mit einem Konzert im Salzlager auf Zollverein huldigen. In der Turbinenhalle Bochum wird der amerikanische Multiinstrumentalist Elliott Sharp unter dem Titel „Filiseti Mekidesi (In Search of Sanctuary)“ „eine raumgreifende Zwischenform aus Oper und Installation, die eine Brücke zum visionären Fragment der ,universalen Symphonie’ von Charles Ives schlägt“ realisieren.

Choreographie ohne Begrenzung

Ach ja, Sasha Waltz. Die Produktion in der Bochumer Jahrhunderthalle heißt „Exodos“. Das Wort, entnehmen wir der Programminformation, bedeutet im Griechischen sowohl Flucht als auch Nacht- und Partyleben, und auf den Theater heißt es Verlassen der Bühne. Mit dieser Bedeutungsvielfalt will die Berliner Choreographin die gewaltigen Bochumer Räumlichkeiten beseelen, von einer „Choreographie ohne Bühnenabgrenzung“ ist zu lesen. Und ein bißchen hat das alles auch mit „Wanderungsbewegungen“ zu tun, wie die meisten anderen Stücke in der Abteilung Choreographie. Weitere, weniger bekannte Tanzkompagnien kommen aus Burkina Faso, Kapstadt und von den Kapverden.

Zum Schluß Mauricio Kagel

Es gibt eine junge Triennale und einige Installationen, von denen das im Bau befindliche Flugzeug vor der Jahrhunderthalle wohl am beeindruckendsten sein wird. Am Schluß dann noch einmal Chorwerk Ruhr. Der Klangkörper will Mauricio Kagels (1931-2008) „Chorbuch“ zu Gehör bringen, was nicht einfach sein soll. Singen mit geschlossenem Mund oder mit „Babystimmen“ so ist zu hören, zählten da noch zu den einfacheren Aufgaben.

Viel zu hören, viel zu sehen- und im Programm steht noch einiges mehr als das, was hier Erwähnung finden konnte. Viel gute Kunst, gar keine Frage; doch will auch das Gefühl nicht weichen, nur mehr vom immer Ähnlichen serviert zu bekommen. Gewiß ist es noch zu früh für finale Wertungen. Halten wir es also mit Franz Beckenbauer und schauen wir mal.




Ab 2018: Stefanie Carp und Christoph Marthaler sollen die RuhrTriennale leiten

Ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler beim Pressetermin in der Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: Bernd Berke)

Ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler beim Pressetermin in der Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: Bernd Berke)

Für die Kulturszene, zumal im Ruhrgebiet, ist dies eine Nachricht von größerem Kaliber: Von 2018 bis 2020 werden die Dramaturgin Stefanie Carp (Jahrgang 1956) und der Schweizer Theatermacher Christoph Marthaler (64) an der Spitze der RuhrTriennale stehen. Zwei hochkarätige Namen, fürwahr.

Die Entscheidung war gestern noch ziemlich frisch. Man hatte sie, so gut es eben ging, geheim gehalten. Und so konnte NRW-Kulturministerin Christina Kampmann in der Bochumer Jahrhunderthalle tatsächlich den allermeisten Medien eine Neuigkeit verkünden. Der zum Scherzen aufgelegte Christoph Marthaler flunkerte gar, ihm selbst sei das alles auch neu. Die Einladung nach Bochum hätte er demnach einfach mal so als schicksalhaft hingenommen…

„Das schönste aller Festivals“

Gleichfalls anwesend war der jetzige Triennale-Intendant Johan Simons, der hier – beim „schönsten aller Festivals“ (Simons) – noch zwei Spielzeiten vor sich hat. Der Niederländer versicherte glaubhaft, dass er die Entscheidung für Carp und Marthaler sehr begrüße („Eine richtig gute Wahl“), denn gerade die Mischformen zwischen Theater, Musik (und anderen Künsten), die die RuhrTriennale prägen, lägen den beiden „Neuen“ am Herzen.

Kennzeichnend für die Triennale sind auch die teilweise monumentalen Spielstätten mit industrieller Vergangenheit. „Das ist meine Welt“, rief Christoph Marthaler aus. Er habe als Künstler in Garagen und Fabriken begonnen.

Geschichte der monumentalen Räume

Marthaler schwärmt noch heute von unvergesslichen Revier-Ortsbesichtigungen im Gefolge des Triennale-Gründungsintendanten Gerard Mortier und leidet offenbar am herkömmlichen Guckkasten-Theater: „Auf Bühnen verkümmere ich.“ Neue, ungeahnte Räume erfassen und entwerfen, darum ist es ihm zu tun. Es gelte, auch die Geschichte dieser Räume aufzunehmen und fortzuführen, die nicht zuletzt eine Geschichte der Arbeit sei.

Natürlich verrät das künftige Führungs-Duo (Carp fungiert als Intendantin bzw. Direktorin, Marthaler sozusagen als „Chefregisseur“) noch nichts Konkretes über Planungen und weitere Personalien; erst recht nicht, weil Johan Simons ja noch in seiner Festivalarbeit steht, bevor er 2018 die Leitung des Bochumer Schauspielhauses übernimmt. Carp und Marthaler betonten, sie hätten bislang nicht einmal ihre engste berufliche Weggefährtin, die Regisseurin und Bühnenbildnerin Anna Viebrock, eingeweiht. Man darf aber – bei aller Vorsicht – wohl davon ausgehen, dass sie auch bei der Triennale zum engeren Kreis zählen wird.

„Zwischenzeiten“ als Leitmotiv

Stefanie Carp, die vor allem in Hamburg, Zürich, Wien (Festwochen) sowie Berlin (Castorfs Volksbühne) gewirkt hat und mehrfach als Dramaturgin des Jahres ausgezeichnet wurde, blieb also notgedrungen eher allgemein und vage, als sie „grenzgängerische und hybride“ Produktionen als Mischformen zwischen den Künsten in Aussicht stellte. Dazu gebe es schon etliche Ideen, die aber noch reifen müssten.

Jedenfalls, so Carp, vertrage gerade die RuhrTriennale kein Verharren im Konventionellen. Gefragt seien Experimente, und zwar „im großen Format“. Ein übergreifendes Motto für die Spielzeiten 2018-2020 schwebt ihr und Marthaler auch schon vor: „Zwischenzeiten“. Das Dazwischen sei nicht nur zeitlich zu verstehen, sondern beispielsweise auch kulturell. Allerdings könne sich die Leitidee in den nächsten Jahren noch wandeln.

Große Erwartungen geweckt

In einem unscheinbaren, aber vielleicht bezeichnenden Nebensatz erklärte sich Stefanie Carp vorwiegend fürs Pragmatische zuständig, während Marthaler offenbar vor allem als künstlerischer Anreger wirken soll; was aber sicherlich nicht heißt, dass sie das Kreative allein ihm überlässt. Als Leitungsteam haben sie schon gemeinsam in Zürich bewiesen, welch reiche Früchte ihre Zusammenarbeit tragen kann. Sie sind bestens aufeinander eingespielt. Und wir wagen mal die beherzte Prognose, das vom neuen Duo tatsächlich einige Großtaten zu erwarten sind.

Kurz zurück in die Niederungen. Über die finanzielle Ausstattung der RuhrTriennale und die Dotierung der Leitungsposten mochte man im Überschwang nicht reden. Kulturministerin Kampmann sagte, das sei noch kein Thema gewesen. Christoph Marthaler gab sich unterdessen zuversichtlich: „Wir werden uns schon einigen.“

Sie freue sich besonders, dass erstmals eine Frau das renommierte Festival leiten werde, befand die Direktorin des Regionalverbands Ruhr (RVR), Karola Geiß-Netthöfel. Schmerzliche Einschränkung: 2006 war Marie Zimmermann bereits als Triennale-Chefin für 2008 bis 2010 vorgestellt worden. Sie starb im Jahr 2007. Man hat also nie erfahren dürfen, was sie bewirkt hätte.




Festspiel-Passagen IV: Sensibilität statt Sensation

Im sechsten Jahr hat es sich – um bei Richard Wagners Wortwahl zu bleiben – „ausgerast“. Die Liebe zum Tode hin ist zu einer recht langatmigen Affaire degeneriert. Christoph Marthalers „Tristan und Isolde“-Inszenierung hat für ihre letzten fünf Aufführungen am Grünen Hügel trotz penibler Einstudierung durch Anna-Sophie Mahler keine Kraft mehr. Marthaler selbst ist schon gar nicht mehr gekommen. Das „verzückte und wahnsinnige Begehren nach dem Ewigen und Absoluten“ (Thomas Mann) schrumpft auf die Dimensionen eines kleinbürgerlichen Trauerspiels.

Dabei hatte Marthalers Inszenierung – gegen alle bloß ästhetisch sich erregende Kritik – ihre Meriten. Denn sein sorgsamer Minimalismus und die schnoddrig-spießigen Räume der Anna Viebrock schlossen von vornherein die „erotische“ Romantik aus, die viele in Wagners weltensprengender Liebesgeschichte suchen. Da war nichts mit blauer Liebesnacht unter funkelnden Sternen. Sondern eher gescheiterter Ausbruch aus einer tristen Sphäre: abgerissene Säle, schimmliggraue Keller, der Charme einer Kolchosenkantine.

Humorige Anflüge im zweiten Aufzug: Isolde (Irene Theorin, links)  und Brangäne (Michelle Breedt). Foto: Jörg Schulze

Humorige Anflüge im zweiten Aufzug: Isolde (Irene Theorin, links) und Brangäne (Michelle Breedt). Foto: Jörg Schulze

Was Marthaler 2005 gezeigt hat, blieb mir in Erinnerung als ein gemeinsames Schreiten von Tristan und Isolde hin auf ein Ziel, das jenseits dieser überwältigenden Tristesse liegt. Gemeinsames Schauen auf ein Ziel außerhalb des Horizonts statt umarmungssüchtige Banal-Erotik: Marthaler hatte im Blick, worum es dem erlösungsbedürftigen, geradezu manisch auf eine höhere Form der „wahren Liebe“ versessenen Wagner gegangen ist. Davon geblieben sind die ohnmächtigen Ausbrüche Isoldes im ersten Aufzug, das pubertäre Spiel mit den Schaltern für die „Zünde“ im zweiten, aber auch das beeindruckende, isolierte Rasen und Sterben Tristans.

Der Bayreuther Tristan: Robert Dean Smith. Foto: Jörg Schulze

Der Bayreuther Tristan: Robert Dean Smith. Foto: Jörg Schulze

Dieser Tristan findet auch 2012 in Robert Dean Smith eine nicht gerade ideale, aber sehr glaubwürdige Darstellung. Smith ist einer der wenigen, die den Tristan wirklich singen – nicht brüllen, markieren oder deklamieren. Auch wenn sich sein Tenor manchmal nicht frei entfaltet, nicht optimal in den Raum projiziert ist, nimmt er für sich ein, weil er behutsam steigert, weil er sensible Piani gestalten kann. Dass er vorsichtig mit seinen Kräften haushaltet und sich im Fieberwahn auf der heimatlichen Burg Kareol nicht entäußert, ist konsequent: Smith ist kein Heldentenor alter Schule – aber wo gibt es noch einen Tristan, der verschwenderisch strahlende Töne verschenken kann?

Und wo gibt es eine Isolde, die Bayreuth aus der Herrschaft der glucksend-wabernden Großkaliber befreien könnte? Iréne Theorin – wir kennen sie als Isolde und Turandot vom Aalto-Theater – hat das Material für Ausbrüche, sie kann auch verhalten singen. Aber ihre Tonbildung ist so vibratosatt und matt fokussiert, dass man kaum ein Wort versteht. Für den „Liebestod“ fehlen ihr die Zwischentöne und die langsam sich steigernde, sehrende Glut, das jenseitige Verschweben des Tons, das Gestalten des großen Bogens. Doch der Beifall, der in direktem Verhältnis zur Lautstärke der Sänger stand, kam der schwedischen Sopranistin reichlich zu.

Mit Kwangchul Youn kehrt der König Marke von 2005/06 wieder zurück; ein führender Wagner-Bass, der jenseits von Hornbrille und Funktionärsmantel den inneren Zwiespalt, das aufrichtige Leiden an einer „Wunde, die kein Himmel erlöst“ verkörpert, aber auch das ratlose Nichtverstehen des metaphysischen „Müssens“ in Tristan und Isoldes gegenseitiger Verfallenheit. Mit freiem, sicherem Sitz und leuchtendem Klang nimmt Clemens Bieber als junger Seemann für sich ein. Bieber hat vor 25 Jahren in Bayreuth debütiert und ist inzwischen der dienstälteste Solist der Festspiele. Doch die Stimme ist frisch und unverbraucht wie eh und je.

Mit Jukka Rasilainens Kurwenal kann sich nur anfreunden, wer dröhnend scharfgeschnittene Wagner-Stimmen liebt. Ralf Lukas als Melot versucht, seiner Rolle als korrekter, verständnisloser Verräter markant gerecht zu werden; Arnold Bezuyen und Martin Snell erfüllen als Hirt im Hausmeister-Kittel und Steuermann die Erwartungen. Michelle Breedt macht aus der Brangäne ein Kabinettstück der Schauspielkunst, wenn sie im zweiten Aufzug die Gouvernante herauskehrt und Isolde vom unüberlegten Griff zum Lichtschalter abhalten will. Gesanglich kultiviert sie leider, was sie auch als Fricka im „Ring“ gezeigt hat: unstet hervorgestoßene Töne, brüchige Linien, kaum einmal ein lockerer Ansatz.

Zum heimlichen Star der Aufführung steigerten sich das Orchester und der Dirigent Peter Schneider. Ihm, dem die glamouröse Aura des Pultstars abgeht, sind die tiefsten Eindrücke des Abends zu verdanken. Souverän konzipiert er die großen Linien, die atemberaubenden Steigerungen, die Exaltation des Klangs. Dabei ist schwer atmende Dramatik seine Sache nicht; die Musik hat bei ihm eine hellglühende Transparenz, die bei aller Hitze den Blick auf Strukturen nicht verwabert.

Schneider ließ nichts selbstverständlich „fließen“; er kennt die Stockungen, das Ausleuchten harmonischer Tiefen in eingängig scheinenden Momenten vertrauter Thematik. Außerdem artikuliert er so sorgfältig wie sängerfreundlich; nur im dritten Aufzug läuft die Musik manchmal neben den Eruptionen Tristans her statt sie zu stützen oder abzutönen. Schneider hat sich erneut als Wagner-Interpret von hohem Rang erwiesen. Man braucht die Sensation nicht, die Sensibilität genügt.




Groteske Turnübungen für die Demokratie – Mülheimer Stücktage mit Texten von Buhss, Marthaler, Pohl und Dorst

Von Bernd Berke

Mülheim/Ruhr. War es die Auslese eines süffigen Dramen-Jahrgangs, die man beim Mülheimer Dramatikerwettbewerb „stücke 96″ kredenzt hat? Insgesamt mundete es nicht schlechter als sonst. Doch die Entscheidung, den mit 20 000 DM dotierten Stückepreis an Werner Buhss zu vergeben, hat denn doch einen leicht säuerlichen Beigeschmack.

Buhss, 1949 in Magdeburg geboren, läßt in seinem Stück „Bevor wir Greise wurden“ (in Mülheim präsentiert von den Freien Kammerspielen Magdeburg) eine Handvoll ostdeutscher Abiturienten auftreten. Bedeutungsschwere Zeit: zwischen Stalins Tod und dem DDR-Volksaufstand yom 17. Juni 1953.

Es ist Buhss‘ zweiter Versuch, den von Uwe Johnson („Ingrid Babendererde / Reifeprüfung“) entlehnten Stoff zu dramatisieren. Und auch diesmal ist es ein etwas kraftloses Unterfangen. Den schwärmerisch veranlagten Jugendlichen droht im Realsozialismus frühe Vergreisung durch Anpassung ans SED-Maß. Dies wird so unbekümmert vorgeführt, daß es beim Mülheimer Publikum Irritationen auslöste. Man hätte es lieber düsterer gehabt.

Ovationen für die „Stunde Null“

Ovationen der Zuschauer erntete am letzten Abend der Stücketage der Schweizer Christoph Marthaler (44) für sein Werk „Stunde Null oder Die Kunst des Servierens“. Es zeigt die groteske Ertüchtigung von Managern und Politikern der 50er Jahre. Und wozu sollen sie sich stählen? Zur salbungsvollen Verdrängung der NS-Zeit, damit endlich das westdeutsche „Wirtschaftswunder“ beginnen kann.

Marthaler, der die kultverdächtige Aufführung des Deutschen Schauspielhauses Hamburg selbst inszeniert hat, läßt sieben Männer zu pseudo-demokratischen Turnübungen antreten. Hier lernen sie Bewältigungs-Ansprachen ebenso wie das jovial-ballettöse Schreiten auf roten Empfangsteppichen oder das gekonnte Durchschneiden von Absperrbändern zur Freigabe neuer Autobahnen.

Sieben Herren richten synchrones Chaos an

Wenn e i n e r was Verrücktes treibt, ist’s vielleicht komisch. Wenn sieben Leute, dargestellt von so herrlichen Schauspielern wie hier, ein synchrones Chaos (ja, so etwas gibt’s) anrichten, ist es zum Wiehern. Keinen Gag lassen sie sich entgehen, ja mit Slapstick und Zoten wächst sich das Ganze beinahe zum dröhnend „bunten Abend“ aus. Doch da gibt es immer wieder jenes Innehalten, jene Risse, in die der lautlose Schrecken sickert. Freilich ist’s ein Stück für jene, die immer schon alles besser gewußt haben.

Klaus Pohls „Wartesaal Deutschland – StimmenReich“ hatte zuvor auch ein paar unterhaltsame Momente zu bieten. Doch ein saftiges Theaterstück ist das nicht, sondern die etwas schale Frucht einer Reportagereise durch ostdeutsche Gefilde und angrenzende Westlande, die Pohl im Auftrag des „Spiegel“ unternommen hat. Die markantesten Aussagen hat er bearbeitet, in 24 Häppchen portioniert und aneinander gereiht. In besseren Momenten taugt das Resultat zum Nummern-Kabarett.

Selbstgespräche im Wartesaal

Da erzählen – von der Putzfrau bis zum Professor – vor allem ehemalige DDR-Bürger ihre zumeist gescheiterten Lebensläufe. Ort des Redens ist ein Bahnhofs-Wartesaal. Die große Uhr bleibt auf 14.29 stehen, und so ähnlich – als verginge die Zeit nicht – kommt einem das Ganze mit zunehmender Dauer auch vor. Denn wir hören einen Monolog nach dem anderen. Es gibt keine erkennbaren Bündelungen, keine Kontraste, keinen Zenit, keine rechte Entwicklung, kaum Verdichtung. Fazit: eine notdürftig dem Theater zugeführte Reportage.

Mit Tankred Dorst, einem ständigen Wettbewerbs-Gast in Mülheim, ist man stets auf der sicheren Seite. „Die Geschichte der Pfeile“ ist, wie von diesem Dramatiker nicht anders zu erwarten, durchaus diskussionswürdig. Eine auf rätselhafte Weise anregende, zwischen Schmiere und Tragik angesiedelte Reflexion übers Bühnenwesen an sich, ein subtiles Spiel mit dem Theater und der Theatralik. Damit verdiente sich Dorst die (per Urnenwahl ermittelte) Publikumsstimme, die allerdings nur so viel zählt wie das Urteil eines einzigen Jurymitglieds.




Gretchen, mir graut vor dir! – „Faust Wurzel aus 1 + 2″ von Christoph Marthaler bei den Ruhrfestspielen

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Ein ranghoher Hamburger Politiker hat mal den Satz geprägt, er wolle „seine“ Klassiker auf der Bühne gefälligst wiedererkennen. Ha! Da wäre er bei Christoph Marthaler an den Falschen geraten. Der nämlich hat Goethes „Faust“ gründlich durch den Wolf gedreht. Die tollkühne Tat des Schauspielhauses Hamburg war bei den Ruhrfestspielen zu sehen.

Von Goethes Text kommen in „Faust Wurzel aus 1 + 2″, der verwegenen Variante des Schweizer Theatermachers, bestenfalls noch drei Prozent vor. Dafür sehen wir gleich scharenweise „Mephistos“ (für gewisse Kernbereiche der Figur sollen Siggi Schwientek und Ulrich Tukur stehen) sowie ein ganzes „Gretchen“-Quartett durch die fabrikhafte Szenerie stolpern. Rücklings auf dem Klappbett, haucht Fausts vierfaches Liebchen immer wieder im Chor seinen Vornamen: „Heinrich“. Gretchen, mir graut vor dir!

Marthaler, von Haus aus Musiker, traktiert die Vorlage wie eine unverbindliche Notenansammlung, der man beliebige Valeurs einhauchen kann, oder wie eine abstrakte mathematische Aufgabe, bei der bestimmte Formeln munter multipliziert werden, während komplette Ketten unter den Tisch fallen.

Gelegentlich ist’s wie ein Schülerscherz mit haßgeliebtem Bildungsgut: Von Fausts berühmten Monolog („Habe nun, ach…“) bleiben auf diese Weise nur die Vokale übrig, die wie dadaistische Bröckchen hervorgewürgt werden. Rein darstellerisch betrachtet ist das meisterlich, doch die kunstfertige Mühsal hat was arg Vergebliches.

Marthalers „Faust“ (Josef Bierbichler) schwankt – am Ende eines völlig desillusionierten Jahrhunderts – durch Alpträume. Gewiß hat er Kafka und Beckett gelesen, bestimmt weiß er von allen Katastrophen unserer Zeit. Und so erlebt er sein uraltes Drama als qualvoll leerlaufende Maschinerie aus Vervielfältigungen und Wiederholungen, als rohen Slapstick der Verzweiflung. Nach und nach splittert und zerbröckelt all das. Man vernimmt dann gleichsam nur noch das Röcheln, Stöhnen, Keuchen, Zischen und Blubbern aus der Ursuppe des Textes. Das trieb etliche Zuschauer vor der Zeit nach Haus…

Zudem steht Goethes Werk mal wieder unter strengem Verdacht unguten Deutschtums. Teutonischer Sang klingt bedrohlich gemütlich, „faustisch“ ist in dieser Lesart wohl eine Vorstufe von „faschistisch“. Fragt sich nur, ob aufgepfropfte Provokatiönchen als Bannfluch taugen.