Identität ist eine variable Größe – Lynn Hershman Leeson im Lehmbruck-Museum

Leeson1

Das Alter Ego der Künstlerin Lynn Hershman Leeson: Roberta Breitmore, hier zu sehen in der „Dokumentation einer Performance“ (Foto: Lehmbruck-Museum)

Seit rund 50 Jahren fahndet die Künstlerin nach Identität. Immer wieder hat sie in den Spiegel geschaut, hat, was sie sah, fotografiert, gemalt, zur Plastik geformt oder es zur Kunstfigur mit frei erfundener Biographie gemacht. Akribisch hat sie Gespräche notiert: Traumnotizen, die wie psychoanalytische Protokolle klingen und ihrerseits das Thema Identität umkreisen. Doch in der jüngsten Arbeit von Lynn Hershman Leeson sucht man nach alledem vergebens.

Künstliches Erbgut

Die „Infinity Engine“ („Unendlichkeitsmaschine“) ist nurmehr ein klaustrophobisches Video aus den Katakomben einer Forschungseinrichtung, dargeboten in einem engen abgedunkelten Raum. Emotionslos durchfährt die Kamera die endlosen Flure, und wenn auch ab und zu Beschäftigte den Weg kreuzen, machen diese Videobilder doch kalt und unausweichlich klar, dass Identität an diesem Ort nicht zu finden sein wird. Hier wird sie höchstens neu erschaffen, Erbgut aus der Retorte, frei programmierte DNA. 2014 hat Leeson die Installation „The Infinity Engine“ geschaffen. Zu sehen ist sie jetzt im Duisburger Lehmbruck-Museum, in der Ausstellung „Liquid Identities“.

Leeson6

Arbeit aus der Serie „The Dollie Clones (CybeRoberta & Tilli, the Telerobotic Doll). Hinter den Augen der Puppe ist eine Überwachungskamera verborgen, deren Bilder sich unter folgenden Links anschauen lassen: lynnhershman.com/cyberoberta/ und lynnhershman.com/tillie/ (Foto: Henning Rogge/Lynn Hershman Leeson/Lehmbruck-Museum)

Weibliches Selbstbewußtsein

„Liquid Identities“ – flüssige, vielleicht auch fließende, zerfließende Identitäten – waren für Leeson in ihren ersten Schaffensjahrzehnten vor allem weiblich, waren die Folge gesellschaftlicher Diskriminierung, die die Frauen zu Objekten zumal erotischer Männerphantasien machte.

Eine Fotomontage aus jener Zeit zum Beispiel unterlegt den nackten Leib der sich darbietenden Schönen mit einer Leiterplatte aus dem Computer, macht ihn zum Maschinenteil, das vor allem funktionieren soll. Die „Phantom Limbs Series“ („Phantomglieder-Serie“) ersetzt in Schwarzweißfotos attraktiver Frauen einzelne Körperteile durch Maschinen, Kameras und Monitore vor allem, betont den Objektcharakter und eliminiert auf diese Weise Individualität. Lynn Hershman Leeson ist erklärtermaßen eine frauenbewegte Künstlerin, das sieht man vielen ihrer Werke an.

Leeson5

Jüngste gezeigte Arbeit ist die Videoinstallation „The Infinity Engine“ aus dem Jahr 2014 (Foto: Andy Stagg/Lehmbruck-Museum)

Menschliche Maschinen

In späteren Arbeiten jedoch weitet sich die Perspektive, werden die Fragen nach Identität grundlegender, radikaler: Mit ihrer interaktiven Videoinstallation „DiNA (Artificial Intelligent Artist)“ von 2004 – etwas holprig zu übersetzen vielleicht mit „künstlicher Künstliche-Intelligenz-Künstler“ – spürt sie der Frage nach, ob die Befähigungen einer Maschine bereits Identität sind. Oder ob ihr menschliches Gegenüber sie so wahrnimmt.

Auch „Agent Ruby“ (1998 – 2002), eine andere Videoinstallation, suggeriert mit ihrem individuellen Gesichtserkennungsprogramm auf eigentümliche Art Identität. Oder Identitäten?

Große Nähe zu Cindy Sherman

Die Getriebenheit der Künstlerin, von der diese umfangreiche Ausstellung jetzt eine Ahnung gibt, beeindruckt stark. Auch lässt sie an Cindy Sherman denken, die große Schwester im Geiste, deren Oeuvre aus vielen wohlinszenierten Fotografien von sich selbst in den unterschiedlichsten Rollen und Positionen besteht. Cindy Sherman ist in dieser Ausstellung mit zwei Schwarzweißfotografien von 1977 und 1978 persönlich vertreten, den „Untitled Film Stills“ 2 und 20, unbetitelten Standbildern also.

Leeson4

„TV-Legs“ von 1985 (Foto: Lynn Hershman Leeson/Lehmbruck-Museum)

Doch während Cindy Sherman wortwörtlich „alles“ sein kann, von der Prostituierten bis zur gruselig gealterten Society-Lady, ist Lynn Hershman Leeson offenbar stets sie selbst und mit sich im Hader, auch wenn sie in einigen Kunstwerken ihr Alter Ego Roberta Breitmore bemüht. Um 2013 herum entstanden große Fotografien mit groben Übermalungen und Titeln wie „I Am Not Me“ und „This is Not Me“ ((„Ich bin nicht ich“ und „Dies bin ich nicht“). Die Suche dieser Frau nach Identität(en), das macht die Duisburger Ausstellung klar, ist auch nach Jahrzehnten noch eine spannende Reise, die man sich nicht entgehen lasen sollte.

AYAHUASCA_videopainting_Hot-jpg1

Alles in Bewegung: Die atemberaubende Videoarbeit „Ayahuasca“ von Jakub Nepraš (Foto: Jakub Nepraš/Lehmbruck-Museum)

Der Videokünstler Jakub Nepraš

Während die eine, schmerzhaft oft, Nähe sucht, bleibt der andere kühl und unsichtbar. Drei Videoarbeiten hat der Tscheche Jakub Nepraš in einem eigenen Raum aufgebaut. Sie sind Teile des 37. Festivals „Akzente“ (bis 13.3.2016), das unter dem Motto „Nah und Fern – 300 Jahre Duisburger Hafen“ steht. In „Landscape“ (2012) stehen statuarisch drei Holzgebilde auf weißer welliger Fläche, über die mit hoher Geschwindigkeit Videosequenzen rauschen. Man meint reales Leben zu erkennen, Autos, Menschen, doch alles geht viel zu schnell. Ist es eine Anspielung an den guten alten Vater Rhein in seinem Bett? Der hat heute weniger Zeit als früher.

Auch „Natural Selection I“ von 2015 kombiniert ein Materialgefüge mit vitalem bunt-beweglichem Video-Geflirr, wie eine Blume wirkt das Ganze. Doch die beeindruckendste Arbeit kommt ganz ohne Skulpurales aus, wird in fast möchte man sagen altmodischer Weise von zwei Projektoren auf die Wand geworfen: Eine Videokollage mit dem Namen „Ayahuasca“ aus dem Jahr 2007, die auf den ersten Blick aussieht wie eine quicklebendige Mikroskopaufnahme lebenden Gewebes im Zeitraffer, auf den zweiten jedoch ihre vollkommene Künstlichkeit offenbart, wenn der Betrachter in den bewegenden kleinen Elementen tanzende, springende, laufende Menschen erkennt. In seiner Art ein atemberaubendes Kunstwerk.

  • „Liquid Identities – Lynn Hershman Leeson“
  • und
  • „Jakub Nepraš. State of Flux“
  • Februar bis 5. Juni 2016.
  • Lehmbruck-Museum, Friedrich-Wilhelm-Straße 40, Duisburg
  • www.lehmbruckmuseum.de
  • Di-fr 12-17 Uhr, Sa+So 11-17 Uhr.
  • Eintritt 9 Euro.
  • Begleitheft zur Ausstellung Leeson: 2,00 Euro.

 




Die uralten Mythen wirken noch weiter: Kunst aus Island bei den Ruhrfestspielen

Das Motto der Ruhrfestspiele lautet diesmal so: „Inselreiche. Land in Sicht – Entdeckungen“. Imaginäre Reisen in allerlei Randzonen sind zu erwarten. In dieser geistigen Geographie kann man Island recht gut unterbringen. Und also führt die Kunstausstellung der Ruhrfestspiele auf diese riesenhafte, vielfach auch bizarr anmutende Insel.

Zwar sind alle gängigen Kunstrichtungen irgendwann auch in Island angelangt, nicht zuletzt die Ausfaltungen der Abstraktion. Doch die Schau mit dem Titel „Saga“ betont in der Recklinghäuser Kunsthalle das narrative Moment, was ja auch allemal mehr Publikum anzieht als dürre Konstrukte. Immerhin ist das Erzählerische, ist also die Literatur Islands auffälligster Beitrag zur Weltkultur. Das wurde auch 2012 erst recht offenbar, als die Insel Gastland der Frankfurter Buchmesse war. Warum also nicht auch der Bildnerei das Erzählerische ablauschen?

Jóhannes S. Kjarval: "Fantasie" (1949, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Jóhannes S. Kjarval: „Fantasie“ (1949, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Eine mehr als heimliche, zuweilen gar ausgesprochen unheimliche Triebkraft des Erzählens sind in allen Künsten Islands die erdgeschichtlichen Dramen, die sich auf dieser Insel abgespielt haben und immer noch abspielen. Folglich steht am Anfang auch das Panorama eines grandiosen Naturschauplatzes – des Thingvellir genannten Tales, das sich an der immer weiter klaffenden Erdspalte zwischen nordamerikanischer und eurasischer Kontinentalplatte befindet. 1863 hat es der Frankfurter Maler Heinrich Hasselhorst eher nüchtern realistisch dargestellt. Für Naturmystik war er offenkundig nicht empfänglich.

Andere Künstler zeigten sich indes von der Magie des mythischen Ortes angetan: Der Isländer Jóhannes S. Kjarval bringt 1932 und 1940 die in vielerlei Schattierungen erstarrte Lava geradewegs zum Tanzen. Vollends lebendig wird auf seinem Bild „Fantasie“ (1949) eine übersinnliche Welt der Elfen und Trolle, die aus dem Gestein hervorzutreten scheinen. In den 1990er Jahren hat Magdalena Jetelová dasselbe Gelände per Laserstrahl gleichsam sezierend vermessen, wobei aber – technisch avancierten Mitteln zum Trotz – gleichfalls ein Naturzauber zu walten scheint.

Just diese Doppelgesichtigkeit kennzeichnet auch die meisten zeitgenössischen Künstler Islands: Sie verschließen sich keineswegs den technischen Möglichkeiten, knüpfen aber immer wieder an die alten Sagas und Mythen wie „Edda“ und „Völuspá“ an. Das Spektrum reicht bis zur multitalentierten Popmusikerin Björk, deren Computer-Anwendungen (Apps) um erdhistorische Urvorgänge und ewige Metamorphosen kreisen. Auch davon gibt es in Recklinghausen Proben.

Olafur Eliasson: "Cars in Rivers" (Fotografien, 2009) (©Listasafn Island/National Gallery of Iceland)

Olafur Eliasson: „Cars in Rivers“ (Fotografien, 2009) (©Listasafn Island/National Gallery of Iceland)

Von insularer Isolation kann bei all dem keine Rede sein: Praktisch alle isländischen Künstler von Rang haben in anderen Ländern (vorzugsweise Holland, Frankreich, Italien, Deutschland und USA) Strömungen der Weltkunst aufgenommen. Ein glücklicher Sonderfall in der Gegenrichtung ist das einflussreiche Wirken des Schweizer Fluxus- und Konzept-Künstlers Dieter Roth (alias Diter Rot), der einige Jahre auf Island gelebt und dort mannigfache Anstöße gegeben hat. Letztlich geht auch der heutige Welterfolg eines Olafur Eliasson auf solche wechselseitigen Formen des Austauschs zurück.

Erró: "American Interior No.1" (1968, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Erró: „American Interior No.1“ (1968, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Im weiteren Rundgang zeigt die Ausstellung eine Vielfalt künstlerischer Positionen. Ein paar Beispiele: Der in Paris lebende Isländer Erró setzt seine eklektischen Bildwelten etwa aus Comics, japanischen Holzschnitten, plakativer Propaganda und profanen Objekten der Warenwelt zusammen. Helgi Thorgils Fridjónsson zeigt den nackten Menschen bei nördlich klarem Lichtblau im Einklang mit der Natur.

Helgi Thorgils Fridjónsson: "Fische des Meeres" (1995, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Helgi Thorgils Fridjónsson: „Fische des Meeres“ (1995, Öl auf Leinwand) (©Listasafn Islands/National Gallery of Iceland)

Hulda Hákon formt Reliefs und Skulpturen, die die in Island besonders virulente Wirtschaftskrise gewitzt auf den Begriff bringen. Besagter Olafur Eliasson hat 35 (je für sich genommen unscheinbare) Bilder von in Flüssen gestrandeten Bussen und Geländefahrzeugen (ein im unwegsamen Island allfälliger Anblick) so zusammengestellt, dass wir hier gleichfalls ein Sinnbild der Krise haben.

Olöf Nordal fotografiert irritierende Arrangements aus Wachsfiguren und deren noch lebenden Nachfahren. Der vielfach begabte Sigurdur Gudmundsson bringt sich selbst – gänzlich unprätentiös – auf Fotografien in rätselvolle Zusammenhänge, hinter denen sich mögliche Geschichten verbergen. Seine Bilder sind auf ihre Weise eindrücklich, aber nicht so machtvoll jene der weltberühmten Cindy Sherman, die sich im Kostüm von Coco Chanel in einer isländischen Lava-Landschaft am Vulkan Eyjafallajökull inszeniert. 2010 war sie auf der Insel, als dieser Vulkan ausbrach. Bedrohliche Natur ist auf Island stets gegenwärtig. Sie erzeugt eine gänzlich andere Art der Schönheit, als dies in lieblichen Breiten der Fall ist.

Cindy Sherman. "Untitled #512" - Fotografie (© Courtesy of the artist and Metro Pictures, New York)

Cindy Sherman. „Untitled #512“ – Fotografie (© Courtesy of the artist and Metro Pictures, New York)

Die Kuratoren Norbert Weber und Halldór Björn Runólfsson (Direktor der Nationalgalerie in Reykjavik) bürgen für beste Kontakte zur isländischen Szene, so dass der Überblick von der nötigen Substanz zehrt. Sie sprechen beseelt von Dramen, Kulissen – und von dem „Film im Kopf“, der hier in Gang gesetzt werde. Tatsächlich sehen wir hier keine sperrige, sondern überwiegend beredsame oder gar erzählfreudige Kunst, die gleichwohl manche Geheimnisse zu wahren weiß.

„Saga. Wenn Bilder erzählen – Kunst aus Island“. Kunstausstellung der Ruhrfestspiele in der Kunsthalle Recklinghausen. 4. Mai bis 6. Juli 2014. Geöffnet Di-So + feiertags 11-18 Uhr. Eintritt 3 Euro, ermäßigt 1,50 Euro. Katalog 20 Euro. Infos: Tel. 02361/50-1935 und www.kunst-re.de