Zweifacher Schumann in der Philharmonie Essen: Claudia Barainsky und Elīna Garanča mit „Frauenliebe und Leben“

Elīna Garanča (Foto: Christoph Köstlin/Deutsche Grammophon)

Innerhalb einer Woche zwei Mal Robert Schumanns „Frauenliebe und Leben“: Die Philharmonie Essen macht’s möglich. Claudia Barainsky, 2019 eine gefeierte Medea in der Essener Inszenierung von Aribert Reimanns gleichnamiger Oper, wählte mit dem delian::quartett (ja, so will das geschrieben sein!) Reimanns Fassung des Liederzyklus für Streichquartett. Elīna Garanča bot mit Malcolm Martineau am Flügel das Original.

Der Vergleich ist unter zwei Aspekten anregend: Reimann hat Schumanns nicht eben anspruchslose Begleitung kompositorisch nicht überformt oder als Material für eigene Entwürfe verwendet, sondern lediglich auf die vier Streicher verteilt und so die filigrane Harmonik genüsslich ausgebreitet. Adrian Pinzaru und Andreas Moscho (Violine), Lara Albesano (Viola) und Hendrik Blumenroth (Cello) nutzen die Vorlage vorteilhaft und bieten ein Lehrstück für analytischen Scharfsinn und poetische Intensität gleichermaßen. Malcolm Martineau war für Elīna Garanča ein Partner, der sich die lyrischen Qualitäten der Musik zu eigen macht und Schumanns Klaviersatz ohne Druck und ohne Schärfen in einem zarten Wellengang feinster Farbvaleurs fließen lässt.

Der Vergleich der Sängerinnen – und dabei ist selbstverständlich die Individualität jeder Stimme zu berücksichtigen – fällt jedoch technisch wie stilistisch eindeutig zugunsten von Elīna Garanča aus. Claudia Barainsky, die sich in ihrem Programm vor Schumann mit William Byrd und Henry Purcell weit zurückgewagt hatte, schien sich dafür einen Ton zugelegt zu haben, der pseudo-renaissancehaft klein und eng gebildet war. Wenn sich jedoch eine satte Bühnenstimme auf diese Weise zurücknimmt, kommt nicht der helle, gerade Klang mit den feinen Lasuren heraus, der in der „alten“ Musik geschätzt wird. Sondern ein enger, weißlicher, substanzloser Klang, kopfig, körperlos und nicht tragend.

Voller Stimmeinsatz

So nähert sich Barainsky auch Schumann. Seit sie „ihn“ gesehen, glaubt sie, blind zu sein, sagt das lyrische Ich im ersten der Lieder. Eine frisch entzündete Liebe, wie aus einem Traum, die alles in der Welt verändert. Das zärtliche Piano des „ihn“ blüht nicht, der erzählende Ton, den Barainsky anstimmt, trägt nicht. Wie ihr die ungewohnte Erfahrung den Atem raubt, versucht die Sängerin zu verdeutlichen, indem sie „glaub ich blind zu sein“ aspiriert. Auf solche naturalistischen Mittel lässt sich Elīna Garanča nicht ein: Sie scheut sich nicht, die volle Stimme einzusetzen, die sie freilich dynamisch perfekt kontrolliert dosieren kann. Und so, aus dem Körper gebildet, kann sie mit Klang und Farbe spielen: Ihr „ihn“ leuchtet innig auf, ist bei jeder Nennung ein wenig anders nuanciert. Ihr „Begehr“ ist verschattet, ihre musikalische Rhetorik eher nachdenklich reflektierend als direkt erzählend.

Wenn die frische Frauenliebe dann vom „Herrlichsten von allen“ schwärmt, bleibt Claudia Barainsky allzu sehr dem filigranen Ton verhaftet. Die Begeisterung bleibt trocken, Glanz und Schmelz äußern sich nicht „hell und herrlich“. Elīna Garanča dagegen setzt jetzt voll auf einen satten, leuchtenden Klang, entschieden in der Artikulation, selbstgewiss und voll sinnlichem Licht. Ihre Tiefe ist füllig und strahlend, die „Würdigste von allen“ bebt vor enthusiastischer Erregung. Sicher lassen sich solche Momente unterschiedlich interpretieren, aber die technischen Mittel wirken bei Garanča souveräner und vor allem aus dem Fundus einer unbezweifelbaren Technik entwickelt.

Auch „An meinem Herzen“ hält Barainsky künstlich klein. Ihre Passion bleibt nur innig, der Ton, nicht auf dem Atem getragen, wirkt welk. Von blühendem Mutterglück kaum eine Spur. Garanča dagegen gibt dem Lied eine enthusiastisch drängende Dynamik, eine verzückte Bewegung, und das stets technisch perfekt abgesichert. Dabei hütet sie sich vor vordergründiger Dramatik. „Opernhaft“ – ein dummer, aber gern angewandter Begriff – wirkt da nichts. Der Abschluss („Du hast mir den ersten Schmerz getan“) bleibt bei Claudia Barainsky trotz der heftigen Akzente der Streicher eine zarte, introvertierte Klage, seelische Erschütterung im Pianissimo. Garanča gestaltet dieses Finale aus dem Geist der Tragödin, aus dunkler Fülle in tonlos bleiches Weiß tauchend.

Der Pianist – eine Entdeckung

Das Nachspiel von Malcolm Martineau: ein Wunder bittersüßer Trostlosigkeit. Wie überhaupt dieser Pianist die Entdeckung des Abends war. Schon der Schumann-Zyklus erwies ihn als sensiblen Gestalter, mit der Sängerin atmend, frei und doch streng in Phrasierung und Agogik. Johannes Brahms‘ E-Dur-Intermezzo op.116/4 – als Überleitung zu einem Block von sechs ausgewählten Liedern – war eine traumverlorene Meditation. Zarte Innigkeit, wehmütige Schwärmerei, anmutige Naturlyrik findet Martineau in glückliche Übereinstimmung mit Elīna Garanča.

In drei Liedern von Henri Duparc erfüllen beide nicht nur das ekstatische Aufblühen in „Au pays où se fait la guerre“, sondern auch die jenseitig duftende Ruhe von „Extase“ und die magisch-sinnliche Atmosphäre von „Phidylé“ mit der großen, wagnerisch aufschäumenden Klimax, in der Martineau trotz der orchestralen Akkorde kultiviert im Ton und kontrolliert in der Dynamik bleibt. Reizend folkloristisch inspirierte Miniaturen von Manuel de Falla schließen das Liedprogramm ab, bevor es mit zwei Arien aus spanischen Zarzuelas und dem unvermeidlichen Tribut an Georges Bizets „Carmen“ zum triumphalen Finale des Abends kommt, für den Garanča völlig zu Recht entsprechend enthusiastisch gefeiert wird.




Der Kindsmord als klingende Tragödie: Aribert Reimanns Oper „Medea“ im Aalto-Theater

Medea (Claudia Barainsky) hütet das goldene Vlies. (Foto: Karl Forster)

Medea (Claudia Barainsky) hütet das goldene Vlies. (Foto: Karl Forster)

Medea. Die Frau, die ihre Söhne ermordet. Die schöne, stolze, mythenumwobene Priesterin und Zauberin aus Kolchis (heute Georgien), Hüterin des goldenen Vlieses, die zu Göttern und Naturgewalten Kontakt hat. Wer erfasst ihre Tragödie, das schlimme Schicksal der liebenden Königstochter, die vom Argonautenführer Jason erst ausgenutzt, dann in die Fremde verschleppt, allein gelassen, betrogen und schließlich sogar verstoßen wird? Wer vermag die entsetzliche Tat zu begreifen, mit der sie sich am treulosen Gatten rächt?

Viele haben es über Jahrtausende hinweg versucht. Beginnend bei Euripides, der den Stoff 431 vor Christus in seinem Trauerspiel „Medea“ aufgriff, befassten sich zahlreiche Schriftsteller, Dichter, Maler, Komponisten, bildende Künstler, Filmregisseure und Tänzer mit diesem Mythos. Untrennbar mit ihm verbunden ist der Name der Sängerin Maria Callas, die Luigi Cherubinis Oper durch ihre grandiose Gestaltung der Titelpartie dem Vergessen entriss.

Einer der namhaftesten Komponisten unserer Zeit fühlte sich von Franz Grillparzers Drama „Medea“ inspiriert: Aribert Reimann, geboren 1936 in Berlin, einst Schüler von Boris Blacher, Träger des Ernst von Siemens Musikpreises sowie des „Faust“-Theaterpreises für sein Lebenswerk. Für seine gleichnamige Oper in vier Bildern, uraufgeführt am 28. Februar 2010 an der Wiener Staatsoper, extrahierte er selbst das Libretto.

Kampf um die Liebe, Kampf um die Kinder: Medea (Claudia Barainsky) und Jason (Sebastian Noack). (Foto: Karl Forster)

Im Essener Aalto-Theater, das Reimanns Werk jetzt neu in Szene setzt, erzählt der Komponist vor Beginn der Premiere höchstselbst von der Faszination am antiken Stoff. Er schwärmt von der Sprache Grillparzers, die ihn unmittelbar zu Musik inspiriert habe, und schildert seine langjährige Zusammenarbeit mit der Sängerin Claudia Barainsky, die am 28. Februar 2010 mit großem Erfolg die Uraufführung an der Wiener Staatsoper sang. Nach Produktionen in Frankfurt, Tokio und Berlin hat Essen nun erneut Claudia Barainsky für die Titelpartie engagiert.

Weiß Gott keine schlechte Entscheidung, wie sich am Premierenabend rasch zeigt. Barainsky, die bei der Ruhrtriennale 2006 als Marie in Bernd Alois Zimmermann „Die Soldaten“ glänzte, kennt keine Furcht vor dem aberwitzigen Koloraturgewitter, in das sie als Medea immer wieder ausbrechen muss. Sie schafft es, die für Reimann charakteristischen zackigen Gesangslinien mit Emotion anzufüllen, die Koloratur wie eine Waffe einzusetzen, wann immer die Figur der Medea sich in die Enge getrieben sieht.

Obgleich selbst von eher geringer Körpergröße, verleiht die Barainsky der Titelheldin ein staunenswertes Format. Sie wirft sich mit voller Wucht ins Spiel: nicht etwa als augenrollende Furie, sondern als leidenschaftliche Frau, die wieder und wieder gedemütigt wird. In der Regie von Kay Link, der in Essen bereits „Into the little Hill“ von George Benjamin in Szene setzte, erscheint sie schließlich wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch.

Medeas Söhne werden rasch von den Korinthern vereinnahmt. (Foto: Karl Forster)

Dazu tragen auch die Kostüme bei. Ganz in Rot gewandet, ist Medea die Fremde, die Außenseiterin gegenüber den Korinthern, die ihr in kühlem Aalto-Blau entgegentreten. Oft lauert sie wie ein Tier unter dem Königspalast des Kreon, ein asymmetrischer, einsehbarer Kubus, der auf hohen Stelzen steht und nur über Treppen zu erreichen ist (Bühne, Kostüme und Video: Frank Albert). Kay Link bewegt die Figuren so, dass Rangordnungen sofort augenfällig werden.

Bis Medea im ersten Teil des Abends das goldene Vlies vergraben und Bekanntschaft mit den Korinthern geschlossen hat, bleibt das Geschehen auf der Bühne oft statisch. Aber der zweite Teil nimmt Fahrt auf: Beim Versuch einer Aussprache mit Jason und beim Kampf um die Kinder spitzt sich das Drama zu. Das Ensemble rund um die Barainsky muss stimmlich kaum weniger Virtuosität beweisen. Es hält sich höchst ehrbar: Als Kreons Tochter Kreusa brilliert Liliana de Sousa mit Melismen in klarer, absichtsvoll kalter Höhe. Empathie findet Medea bei ihrer Amme Gora, der Marie-Helen Joël Großherzigkeit und Wärme verleiht. Hagen Matzeit führt seinen Countertenor in nachgerade artistischer Manier, um die vertrackten Intervallsprünge zu meistern.

Ein kurzer Moment der Annäherung: Medea (Claudia Barainsky, l.) versucht sich zu adaptieren (Liliana de Sousa als Kreusa, r. ) (Foto: Karl Forster)

Auch Sebastian Noack (Jason) und Rainer Maria Röhr (Kreon) engagieren sich auf Äußerste, zumal der Komponist unter den Premierengästen ist. Aber gegen die starken Frauenfiguren wirken die beiden Sänger beinahe etwas blass. Der Tscheche Robert Jindra dirigiert die Essener Philharmoniker mit großer Kompetenz durch Aribert Reimanns dicht gewobene, dem Ohr oft sperrige Partitur. Eine Dauer-Nervosität, eine beinahe nervenzerrüttende Spannung tönt da aus dem Orchestergraben. Schockierend wirken die blockhaften Einsätze der Instrumentengruppen, insbesondere die brutalen Blech-Cluster, die das Bühnengeschehen häufig kommentieren. Die Essener Philharmoniker übernehmen eine sehr aktive Rolle in dem Drama, sind quasi der siebte Hauptdarsteller, der ständig mit den Sängern interagiert.

Am Ende erhebt sich das Publikum zu Ehren von Aribert Reimann von den Sitzen. An seinen „Lear“, den das Aalto-Theater vor 18 Jahren in der Inszenierung von Michael Schulz zeigte, mag mancher sich an diesem Abend auch erinnern.

(Termine und Informationen:https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/medea/)