Lizenz zur Goethe-Zerlegung: Samuel Schwarz inszeniert die „Clavigo“-Tragödie in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Der Publizist Clavigo gleicht einem Schilfrohr im Winde. Frommt es seiner Karriere beim spanischen Hofe, so ist er flugs bereit, sein Heiratsversprechen zu brechen und Marie zu verlassen. Wird er aber von deren Bruder drangsaliert, so kehrt er eilends zu ihr zurück. Nicht wahre Reue ist’s, sondern letztlich Berechnung. Daher hat auch diese Haltung keinen Bestand.

War nicht auch der „Clavigo“-Autor Goethe ein solcher Wendehals und Fürstenknecht? „Aber ja!“ ruft uns die Bochumer Inszenierung des Schweizers Samuel Schwarz triumphierend zu. Und so schickt man sich an, den Klassiker, der dieses Stück in seiner „Sturm und Drang“-Phase (24jährig, binnen acht Tagen – wow!) hinwarf, zu dekonstruieren. Ist das nun raffiniert und schneidig oder nur frech?

Nur noch tauglich für ein B-Movie oder ein TV-Melodrama

Das Drama darf nicht für sich bestehen. Schon in einem angepappten Vorspiel wird der wankelmütige Clavigo (Maik Solbach) mit dem Verfasser Goethe überblendet. Später gibt es immer wieder epische Einschübe, die den Text perforieren. Maries rachsüchtiger Bruder Beaumarchais (Thomas Büchel) springt oft mitten im Dialog aus seiner Rolle und erzählt in prosaischer Rückschau, was er „damals“ getan und gesagt habe. Um Goethes Tonfall aufzugreifen: Oh, über diesen vermaledeiten Verfremdungseffekt!

Genüsslich wird ein Mer(c)k-Satz zitiert: Dieses ganze Stück sei „Quark“. So verwarf Goethe-Mentor Johann Heinrich Merck seinerzeit den „Clavigo“. Der Regisseur nimmt’s als Lizenz, den Text zu zerlegen. zerlegen. Er behandelt die Tragödie als gesunkenes Kulturgut, nur noch tauglich für ein B-Movie oder ein TV-Melodrama. Da geraten selbst die klassizistischen Figürchen, die anfangs auf ihren Podesten standen, ins trollhafte Tänzeln.

Mit kindlicher Beschwörungslust reagiert die Regie auf bloße Stichworte. Ist vom Blitz die Rede, schlägt er gleich ein. Geht’s um spanische Momente im Leben, so ertönen Flamenco-Akkorde. Wer wollte sich bei all dem noch um die feineren Regungen der Figuren kümmern? Sie sind ja eh in erster Linie Marionetten ihrer schalen Interessen.

Dramaturgische Schlaumeierei erobert die Bühne

Der totenbleiche, vampiristische Zyniker Carlos (Fabian Krüger), der dem Freund Clavigo die Karriere-Geilheit einflüstert und sich zum Spielleiter aufschwingt, scheint homoerotisch getönte Neigungen nur notdürftig zu bemänteln. Auf der anderen Seite sieht es so aus, als begehre Beaumarchais seine Schwester Marie inzestuös.

Hier wird die Dramaturgen-Schlaumeierei eines Programmhefts mitinszeniert: Ausführlich kann der französische Revolutions-Anreger und „Figaro“-Textautor Beaumarchais darlegen, wie schändlich er sich von Goethe im Stück verwurstet fühle. Ein zwielichtiger Gewährsmann. Auch wird Goethe vorgehalten, was in historischer Wirklichkeit aus den Figuren geworden ist ganz so, als dürfe Dichtung nicht Wahrheit verwandeln.

Wallende Vorhänge, ein Boden mit apartem Gittermuster (Bühnenbild: Chantal Wuhrmann, Andy Hohl); dazu allerlei schöne Figuren-Tableaus: Die Aufführung hat vielfach den Reiz eines Gemäldes. Doch sobald sie sich bewegt und sich in teilweise geckenhaften Kostümen (Rudolf Jost) erhitzt, neigt sie zur Überzeichnung und gerät aus den Fugen, Wenn etwa Marie (Lena Schwarz) sich erregt, dann mit wahnwitzigen Zuckungen (was schelmische Anwandlungen im nahezu selben Moment nicht ausschließt).

Im Suff Worte wie „Pissnelke“ und „Titten“ lallen

Überhaupt ist das antikisierende Gehäuse, das die Beaumarchais-Schwestern Marie und Sophie einzwängt, ein Tollhaus für Farce und Randale. Hausfreund Buenco (Johann von Bülow) säuft und nölt, darf Worte wie „Pissnelke“ und „Titten“ lallen und so dem Überdruss prollig-punkigen Ausdruck verleihen. Lustig, lustig – aber viel zu hoch dosiert.

Den Tod Maries und Clavigos Krokodilstrauer erlebt man nur als überdimensional irrlichterndes Schattenspiel. Goethes „Erbe“ erschleichen und dann so achtlos verschleudern; Geister beschwören, Geist verscheuchen. Da fahre doch ein Donnerwetter hinein!

Termine: 28. Mai; 1., 21., 24. Juni. Karten: 0234/3333-111.




Sprache frißt Liebe auf – Goethes Trauerspiel „Clavigo“ im Essener Grillo-Theater

Von Bernd Berke

Essen. Mit seinem Trauerspiel „Clavigo“ machte Goethe 1774 nicht viel Federlesens. Nach einer Art Wette im traulichen Kreise hat er das Drama binnen einer Woche sozusagen „hingefetzt“. Doch das Stück hat Bestand. Goethe war eben gut. Nun eilt ihm das Essener Schauspiel hinterher und hält sich an die alte Fußball-Weisheit: „Das Spiel dauert 90 Minuten“. Schöne Kurzweil?

Clavigo (Denis Petkovic) befindet sich auf dem Karrieretrip, er rechnet sich Chancen beim spanischen Hofe aus. Als Star-Autor läßt er sich gern von liebenden Musen beflügeln, doch rasch langweilen sie den Sturm- und Drang-Menschen auch wieder. Folglich hat er die süße Französin Marie sitzenlassen, also schmählich entehrt.

„Daß man so veränderlich ist!“, staunt der Wankelmütige über sich selbst. Denn zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust. Auch ein romantischer Träumer glaubt er zu sein und als solcher meint er Gewissensbisse zu haben. Doch die werden ihm vom Einflüsterer Carlos (stark: Manfred Meihöfer) geradezu mephistophelisch ausgeredet – im Sinne schrankenloser Selbstverwirklichung, die dem Genie zustehe. Frauen schänden? Na, klar! Wenn’s dem eigenen Fortkommen dient…

Der Rechthaber als Springteufel

Gegenspieler Beaumarchais schnellt in Essen wie ein Springteufel auf die Bühne. Der Ehrenmann ist nach Madrid geeilt, um seine Schwester Marie (puppenhaft naiv: Sigrid Burkholder) zu rächen. Anders als bei Goethe, läßt er sich hier in diesem brennenden Wunsch nie erweichen. Seine erste Unterredung mit Clavigo beginnt mit gewundenen diplomatischen Floskeln, doch bald fällt die Maske: Mit blutroten Handschuhen angetan, will sich der Rechthaber am Feinde nur gewaltsam gütlich tun. Überhaupt verbirgt die schöne Sprache diesmal nur Falschheit, ja, sie erweist sich im Lichte der wahren Triebe und Interessen als Gesülze. Deutlich wird die liebes- und lebensfressende Gewalt wohlgesetzter Worte bei gleichzeitiger Seelenkälte.

Versöhnung gibt‘ s in der Essener Inszenierung (Regie: Erich Sidler) nicht, höchstens Kumpanei. Und wo bei Goethe die finalen Todesfälle empfindsam beredet werden, ist’s in Essen flugs getan: ein Stich, ein Satz, vorbei.

Am Ende die rohen Tat-Sachen. Unbehauste Welt: keine Möbel, fast keine Gegenstände (Bühne: Miriam Möller). Man sieht anfangs nur einen breiten, ganz flachen „Cinemascope“-Ausschnitt mit blaßblauem Hintergrund. Dieser Einblick, der Distanzen und Künstlichkeit betont, weitet sich langsam, zugleich sinken die Figuren allmählich zum Bühnenboden herab. Vom Himmel des Idealismus werden sie herabgeholt, stellenweise auch etwas achtlos herabgezerrt. Doch einen interessanten Ansatz, das Stück bei den Hörnern zu packen, hat man gefunden. Der Text hält es aus.

Termine: 9., 23. April, 2., 17. Mai. Karten: 0201/8122-200.




Farce von der Liebe und ihrer taktischen Abwehr – Amélie Niermeyer inszeniert Goethes „Clavigo“ in Dortmund

Von Bernd Berke

Dortmund. Schwankende Gestalt: „Der Seiltänzer“ von Paul Klee ziert das Dortmunder Programmheft zu Goethes „Clavigo“. Auch dieser Karrierist am Königshofe von Madrid ist artistisch biegsam und neigt sich – je nach Gelegenheit – wechselhaft zu allen Seiten, um ja nicht abzustürzen.

Ein Mädchen wie Marie könnte auf seinem Weg dort oben nur hinderlich sein. Also verläßt er sie. Doch er hat ein offenes Ohr für Überredungskünste: Also kehrt er zu ihr zurück, wenn ihr Bruder Beaumarchais darauf drängt – und verrät sie dann erneut, weil sein Freund Carlos es so will. Wo Clavigo auch geht und steht, er ruft den Leuten zu: „Ich bin der Eurige“. Ha! Ist das nun eine Tragödie, oder ist es eine Farce?

Wohl eher eine Farce, scheint Regisseurin Amélie Niermeyer zu finden. Sogleich stürmen Clavigo (Michael Ehnert) und Carlos (Frank Voß) herein. Sie liebkosen ihr druckfrisches Zeitungs-Blättchen, das „alle Weiber bezaubem“ werde. Zwei schöne Hallodris haben wir da, fast bis aufs Haar ununterscheidbar. Yuppies bei Hofe, verantwortungslose Selbst-Genießer. Doch man wird sehen: Auch die anderen Menschlein sind nicht viel besser. Carlos, sonst oft nur Bösewicht und Einflüsterei, ist hier eher die zweite Seele in Clavigos Brust.

Seltsam leichtlebige Schwestern

Nun aber dreht sich die aufrecht stehende riesige Zylinderform (zweckdienliches Bühnenbild, abwechselnd eng und weit: Alexander Müller-Elmau) und gibt den Blick in ihr Gehäuse frei: Es ist die Sphäre der verlassenen Marie (Eleonore Bircher), ihrer Schwester Sophie (Katharina Abt) und ihres Schwagers Guilbert (Otmar Schrott). Auch hier spielt man seltsam leichtlebig vor sich hin, kratzt ein wenig auf der Geige, tanzt und kichert sogar. Etwas grotesk und uhrwerkartig ist das sicherlich, doch soll dies ein Haus des Leidens sein? Wenn hier von Liebesschmerz geredet wird, wirkt er wie an-gedichtet, wie bloßer Affekt, nervöses Gebaren. Marie muß denn auch von den Ihren zum vermeintlichen Glück geprügelt werden. Wenn sie später stirbt, hat das vielleicht damit zu tun – und weniger mit Liebesleid. Weder bei Clavigo noch bei Marie kann es mit der Liebe weit her sein. Sie gerinnt zu Ansprüchen und deren taktischer Abwehr.

Und dann erst Maries Bruder Beaumarchais (Kai Hufnagel): Wie der hereinsaust und seine Kreise zieht! Ein wildgewordener Möchtegern-Napoleon, wie frisch aus einem Irrenwitz entsprungen, schnarrt er diktatorisch seinen Rachedurst heraus. Weh denen, die sich von so einem „helfen“ lassen! Man fürchtet schon, nun beginne die große Goethe-Verulkung. Doch das ist nicht wahr: Es folgt ja die großartige, innige Überredungs-Szene, in der Carlos den Clavigo wieder „umdreht“, den er schon zu verlieren drohte. Da fallen die höfischen Perücken.

Zum Schluß rafft es alle dahin

Bei Goethe sterben nur Marie und Clavigo, in Dortmund rafft es im Schlußbild alle dahin. Nur Clavigo überlebt und ruft sämtlichen Toten zu: „Ich bin der Eurige!“ Triumph des Opportunisten über Leichenbergen? Doch so spielerisch sind sie gestorben, daß sie gewiß gleich wieder aufstehen und ihre Intrigen von vorn abschnurren lassen könnten.

Die Inszenierung, von der man nie recht weiß, ob sie den Wallungen ihrer Figuren nur ironisch mißtraut oder ob sie auch echten Gefühlen nachtrauert, überzeugt – aufs Ganze gesehen – durch ihre unverkrampft zupackende Art, ein homogenes Ensemble, prägnante Kostüme (Jasmin Andreae) und gleichermaßen dezente wie eingängige Musik-Überleitungen (Michael Nyman). Jammerschade, daß eine ersichtlich begabte Regisseurin wie Frau Niermeyer Dortmund schon wieder den Rücken kehrt und gen München zieht.

(nächste Vorstellungen: 6. und 19. März)