Der Idiot auf der Klippe – Edith Clever inszeniert die Uraufführung von Botho Strauß‘ „Jeffers – Akt I und II“ in Berlin

Von Bernd Berke

Berlin. Botho Strauß, unser vielleicht empfindsamster, aber auch umstrittenster Theaterdichter. hat einen erlesenen Geistesverwandten gefunden – den amerikanischen Lyriker Robinson Jeffers (1887-1962). Ihm huldigt Strauß in seinem neuen Stück „Jeffers – Akt l und II“. Ebenso leichtgläubig wie schwerblütig hat Edith Clever die Uraufführung für die Berliner Schaubühne inszeniert.

Jeffers war – ganz wie Strauß – ein Eremit der Literatur. Aus der Abgeschiedenheit von Carmel an Kaliforniens Küste verdammte er die moderne Zivilisation und allen Gegenwarts-Plunder im Namen einer gleichsam überirdischen Schönheit der Steine, des Meeres und der Falken. Der Naturfriede gedeihe am besten ohne Menschen, befand Jeffers in langen Poemen. Ökologie radikal, sozusagen. Nur: Für wen denn eigentlich noch?

Solch entschiedene Abkehr vom schnöden Menschenalltag hat es auch Strauß seit langem angetan. War es ihm in früheren Stücken gegeben, aus haarfeiner Beobachtung gängiger Bewußtseins- und Beziehungs-Formen unvermittelt ins Mythische abzuheben, so setzt er diesmal gleich ganz oben beim Mythos an.

Auf der Bühne kreisen die Steine

In „Akt I“ vernehmen wir zwei lange Monologe von Jeffers (Bruno Ganz) und seiner todkranken Frau Una (Edith Clever). Zwischen ihnen besteht keine mindere „Appartement-Liebe“, sondern eine unendliche Kraft der Sehnsucht. Wie zwei alte Rosensträuche wachsen diese beiden Menschen immer mehr zusammen, heißt es an einer Stelle.

Nach Unas Tod sinniert Jeffers über derlei Schönheit bewegungslosen Gleiçh-Bleibens auf einer „Insel hinter der Zeit“ – und schmäht alle Intellektuellen, denen er als reaktionärer „Idiot auf der Klippe“ gilt. Während er still dasitzt, kreisen auf der Bühne die Steine. Siehe, das finale „Heil“ einer menschenleeren Welt scheint nahe…

Mit Hilfe etlicher Jeffers-Originalzitate vermag es Strauß, aus den Lebensbilanzen des Paares einen hochpoetischen Gesang von einfachem Dasein und Dauer zu destillieren. Edith Clever und Bruno Ganz, die Größen der guten alten Schaubühnen-Zeit, sind – wie ihre Figuren – zwei, die nichts mehr forcieren oder beweisen müssen. Sie müssen nur reden, schon leuchtet etwas auf. Da schwebt, aus Jeffers und Strauß Elfenbeintürmen, tatsachlich ein hauchzarter Geist. Ein Mirakel des Theaters – und ein wundervoll milder Nachklang der vergehenden Schaubühnen-Ära.

Dem milden Nachklang folgen die Nachwehen

Doch dann heben die doppelt so langen Nachwehen an. Leider hat Strauß es nicht beim kostbaren Kleinod „Akt I“ bewenden lassen, es drängte ihn, Jeffers Gedicht „Mara“ in szenische Form zu pressen. Das Unglück beginnt mit dem Explosions-Blitz eines Zeppelinabsturzes, den einige Farmer und Töchter des Landes saufend begaffen. Nach diesem Menetekel der Zivilisation sehen wir sie später noch bei einem Hillbilly-Tanzvergnügen. Strauß hochmögende Worte in einer Saloon-Atmosphäre – das ist arg und sorgt des öfteren für unfreiwillige Komik.

Kern der Geschichte: Farmer Bruce (Bruno Ganz) muß argwöhnen, daß es seine jungeFrau Fawn (Karoline Eichhorn) mit seinem Bruder treibt; eine Leidenschaft, die sich in gurrenden Ausrufen wie „Oh, du Tier!“ artikuliert. Man schreibt zudem dasJahr 1939. Jenseits des Ozeans hat Hitler-Deutschland Polen überfallen. Schmutz also aus den Radio-Nachrichten, Lüge und Schmutz auch in den Seelen – dies treibt Bruce allmählich in einen Wahn, in dem „alle Zeit stillsteht“.

Hoher Ton und niederes Tun

Noch so einer an der Kante zur menschenleeren Welt, bis zu deren Grenze ihn die einstige Wasserleiche und jetzige Algenteppich-Hure „Mara“ (somnambul: Corinna Kirchhoff) geleitet. Hoher Ton und niederes Tun geraten wirr durcheinander. Mystisches Raunen, bedeutungsschwere Erstarrung und derber Mummenschanz ergeben ein unfrohes Gemenge, in dem selbst Bruno Ganz unterzugehen droht. Groteske1 Geisterstunden.

Großer Beifall für „Akt I“, Buhkonzert für Regie und Autor am Schluß von „Akt II“. Ein Abend, zwei Weiten.

Termine der Schaubühnen-Produktionen im Hebbel-Theater, Stresemannstraße 29: am  23., 24., 25. April, 6., 7.. 8. Mai (20 Uhr).




Chance für junge Regie-Talente – Berliner Theatertreffen: Große Bühnenkunst, doch es drohen Kürzungen

Aus Berlin berichtet Bernd Berke

Berlin. Strahlendes Sonnenwetter an der Spree. Eigentlich keine Verlockung, allabendlich ins Theater zu gehen. Doch die Aufführungen beim 31. Berliner Theatertreffen sind annähernd ausverkauft – und das ist gut so. Denn dann fällt es Bonn vielleicht ein wenig schwerer, der alteingeführten Bühnen-Börse den Geldhahn zuzudrehen.

Praktisch jede Branche hat ihren Kongreß, ihre Messe oder Leistungsschau. Ausgerechnet den besonders dringend auf breite öffentliche Diskussion angewiesenen Theaterleuten droht erzwungener Rückzug in provinzielle Nischen, wo dann jeder leidlich vor sich hinwerkelt. Denn was ist das Theatertreffen anderes als die Chance, den Stand dieser Kunst in seinen Spitzenwerten zu begutachten, sich damit auseinanderzusetzen und somit selbst voranzukommen.

Der Bund, der bislang die Hälfte der Kosten des Theatertreffens trägt, hat mit Kürzungen begonnen und will sich womöglich ganz aus der Affäre ziehen. Offenbar reicht es manchen Herrschaften, eine politische Hauptstadt (Bonn/Berlin) und eine für die großen Geldströme (Frankfurt) zu haben, die geistigen Rinnsale mögen denn versickern…

Gewiss, die Idee einer kulturellen Blutzufuhr für das geteilte Berlin, aus der das Theatertreffen 1964 entstanden war, hat sich mit dem Mauerfall erledigt. Und es ließe sich darüber reden, ob Deutschlands (laut Juryauswahl) beste Inszenierungen stets in Berlin versammelt werden müssen. Man könnte, um die Regionen zu stärken, an ein Rotationsprinzip denken. Gegengewichte zur kulturellen Übermacht Berlins tun ja auf Dauer not. Aber ein Treffen dieser Art, egal wo, das brauchen wir.

Mit der Auswahl der zwölf Inszenierungen für ’94 haben die Juroren Zeichen für einen inhaltlichen Wandel setzen wollen. Kein Matador früherer Jahre ist vertreten – kein Peymann, Stein, Flimm, Zadek, Bondy oder Dorn. Das schmälert zwar den Ereignischarakter, hat aber gute Gründe.

Einen Wachwechsel anregen

Die Genannten sind ziemlich satte Potentaten, sie haben sich über die Jahre in fragloser, aber oft von Glätte bedrohter Perfektion eingerichtet. Waghalsige Bühnen-Abenteuer verbinden sich mit diesen Namen meist nicht mehr. So hat man denn den unter 40jährigen Regisseuren sieben von zwölf Nominierungen eingeräumt, auf daß endlich ein Wachwechsel angeregt werde.

Aus Bochum – absolutes Novum – reist sogar eine Truppe der Westfälischen Schauspielschule mit der Produktion „Brennende Finsternis“ an. Das werden sie ihren Enkeln noch erzählen: als „Schüler“ beim Theatertreffen… Preiswerter als ein Gastspiel des Burgtheaters kommt es außerdem noch. Zudem hat man das Festival zeitlich gestrafft, es ist nun kürzer und kompakter.

Der Eindruck der ersten Abende war überragend, eigentlich kann es nun nur noch bergab gehen. Zu sehen war die beinahe schon beängstigend intensive Einrichtung von Henrik Ibsens „Hedda Gabler“ (Heimspiel für die Schaubühne am Lehniner Platz/Regie: Andrea Breth – mit Corinna Kirchhoff, Ulrich Matthes, Imogen Kogge u.a.), ein Musterbeispiel für genaueste Durchdringung eines Textes.

Auf seine Weise kaum minder imponierend: David Mamets Zweipersonen-Drama „Oleanna“ (Schauspielhaus Zürich/Regie: Jans-Daniel Herzog – mit Leslie Malton und Edgar Selge), dargeboten im Deutschen Theater im Ostteil der Stadt, das erstmals als Mittelpunkt des Treffens fungiert.

Zweimal Geschlechterkampf auf Spitz und Knopf, zweimal Schauspieler-Theater der ersten Güte. Möglich, daß der Abschied von den Regie-Übervätern die Darsteller wieder in stärkeres Recht setzt. Für diese Hoffnung waren es zwei exzellente Beispiele. Da verschlägt es gar nichts, daß eine harte Feministinnen-Fraktion Mamets Stück samt Inszenierung bei einer Diskussion als „frauenfeindlich“ brandmarken wollte. Wer im Theater immer nur Thesenpapiere mit der eigenen Meinung hören will, sucht das Selbstgespräch. Dazu braucht man in der Tat keine Festivals.