Genazinos „Courasche“-Stück: Sex zwischen Ödnis und Angst

Vor Jahresfrist war’s ein Skandal zum Blätterrauschen: Da weigerte sich die Schauspielerin Veronica Ferres, bei der RuhrTriennale die Titelrolle im neuen „Courasche”-Stück des Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino zu spielen. Der bis jetzt wie ein Geheimnis gehütete Text war ihr seinerzeit zu „pornographisch”. Nun weiß man: Dieser Vorwurf zielt ins Leere.

„Courasche oder Gott lass nach” kam jetzt endlich als Triennale-„Kreation” (Regie: Stephanie Mohr) in Duisburg heraus. Mit literaturgeschichtlichen Seitenblicken auf Grimmelshausen und Brecht (siehe Info-Kasten) werden sexuelle Machtverhältnisse quer durch die Zeiten erkundet. Egal ob in Krieg oder Scheinfrieden: Männer wollen allzeit „rammeln” – und Frauen lauern auf dürre Vorteile inmitten des sexuellen Elends. Betrüblicher Befund. Zwar hin und wieder drastisch formuliert, doch gar nicht pornographisch.

Drei Darstellerinnen verkörpern die „Courasche”-Varianten simultan in verschiedenen Lebensaltern. Die zumal in der Barockdichtung zelebrierte Vergänglichkeit irdischen Seins ist somit stets präsent. Vor diesem Horizont sehen wir – jeweils dreifach – eine Hure von heute, dann eine durch wüste Not irrende Vertriebene des Zweiten Weltkriegs und ein Dienstmädchen um 1900. Sie alle machen die Beine breit – je nach Lage der Dinge für Geld, für einen Kanten Brot oder für eine Wohnung, die ein frivoler Familienvorstand seinem Liebchen bezahlt. Auf welcher dürftigen Schwundstufe auch immer: Die Frauen profitieren. Doch sie leiden am männlich bestimmten Sex zwischen Ödnis und Angst.

Wo war der ideale Punkt zum Neuanfang?

Die gottlosen Zeiten werden rückwärts gespult – bis zum Dreißigjährigen Krieg und zu Bert Brechts „Mutter Courage”, die gegen Schluss als Marketenderin kurz durch die Szene geistert. Ganz so, als suche man in ferner Vergangenheit den idealen Punkt zum Neuanfang; als solle die Historie von vorn beginnen und die schmerzliche Verewigung der Verhältnisse aufgehoben werden. „Dann bin ich aufgestanden” lautet der letzte Frauensatz. Ein Einspruch gegen alles Geschehene.

Das Bühnenbild (Andrea Uhmann) besteht aus vier beinahe zum Quadrat gefügten Dreiecken (die Lücken erinnern an Schützengräben), auf denen bergeweise Frauenkleidung liegt. An der Decke spiegelt oder abstrahiert ein großer Bildschirm die Vorgänge. Diese Video-Installation (Nives Widauer) birgt schöne Momente, wirkt aber eher selbstbezüglich. Weiteres Element: Deutsche Volksweisen von Ehrfurcht, Gottvertrauen und „Jungfrauen in grünen Auen” (dargeboten vom Vokalensemble der Philharmonia Wien) hören sich an wie verlogene Beschwichtigungen, sie stehen aber auch für utopische Sehnsüchte. Schönklang als Refugium. Andererseits wirkt der kleine Männerchor manchmal wie eine Schar geiler Freier.

Der weitgehend monologische Text erschwert den Schauspielerinnen Julischka Eichel, Barbara Nüsse und Anna Franziska Srna die Entfaltung. Was hat Genazino, der sonst so wunderbare Prosa schreibt, an diesem Stoff bloß so dringlich und theaternotwendig gefunden? Vielfach scheint er frauenbewegte Geschichtslektionen nachzuschmecken, ja sogar etwas flau nachzubeten. Sein Stück trifft nicht gerade mitten ins Herz unserer Gegenwart.

Termine (Duisburg, Landschaftspark Nord, Gebläsehalle): 5., 6., 8., 9., 10. Oktober. Karten: 0700/2002 3456. http://www.ruhrtriennale.de/

___________________________________________________

INFO:

  • Genazino bezieht Anregungen für „Courasche oder Gott lass nach” aus der Literaturgeschichte.
  • Eine Inspiration ist der 1670 erschienene Roman „Lebensbeschreibung der Erzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche” von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen.
  • Aus Grimmelshausens Werk über Wirren und Gräuel des Dreißigjährigen Krieges schöpfte auch Bert Brecht – für sein Stück „Mutter Courage und ihre Kinder”.



Flimm: „Wir sind noch befreundet“: Nach Rollen-Absage erhebt Veronica Ferres Vorwürfe, doch Triennale-Chef bleibt gelassen

Von Bernd Berke

Zuerst hatte sich die Schauspielerin Veronica Ferres gar nicht weiter zu ihrer Rollen-Absage an die RuhrTriennale äußern wollen. Grund: Sie sei mit Triennale-Chef Jürgen Flimm befreundet. Jetzt freilich erhebt sie im Interview mit der Frankfurter  Allgemeinen Zeitung (FAZ, gestrige Ausgabe) recht bittere Vorwürfe gegen Flimm. Der wiederum empfiehlt im Gespräch mit der WR, die Sache niedriger zu hängen.

Flimm habe ihr die Triennale-Produktion „Courasche oder Gott lass nach“ als Chance zu einer großen Charakterrolle schmackhaft gemacht, so Ferres in dem FAZ-Interview. Der Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino sollte ihr das Stück eigens „auf den Leib“ schreiben. Im Juni habe sie die bis dahin fertigen Passagen des Dramas gelesen, dessen (einzige) Hauptfigur eine alternde Hure ist. Sie sei erschrocken und enttäuscht gewesen.

„Es geht ums ,Ficken’…“

Veronica Ferres zur FAZ über ihren Schock: „Um es deutlich zu sagen: Es geht ums ,Ficken‘, es geht seitenlang um Sperma…“ Die Absprachen mit Flimm seien seinerzeit in eine ganz andere Richtung gegangen. Ferres wörtlich: „Ich komme mir ein wenig vor wie die Figur im Stück – die Männer bestimmen: Friß oder stirb, du mußt die Beine breit machen.“

Wenn solche Aussagen im Raum stehen, sollte man denn doch die „andere Seite“ hören. Die WR erreichte Jürgen Flimm gestern telefonisch in Salzburg. Flimm: „Das Stück war doch noch nicht einmal fertig. Veronica hat den dritten Akt überhaupt noch nicht gekannt. Sie wusste gar nicht, wie sich die Figur am Ende entwickelt. Sie war viel zu ungeduldig mit ihrer Absage. Aber bitte: Sie hat natürlich das Recht zu einem solchen Schritt.“

Keinerlei Anlass für Rechtshändel also, zumal sich die Verluste für die Triennale in engen Grenzen hielten. Flimm: „Wir reden hier gerade mal über sechs von etwa 100 Triennale-Vorstellungen.“ Und man habe die Produktion ja frühzeitig stoppen können.

Der Text war noch gar nicht fertig

Jedenfalls, so Flimm, hätte es durchaus Möglichkeiten gegeben, den Text hie und da noch zu ändern: „Das ist theaterüblich. Ein Autor liefert die Textvorlage, dann geht es an die weitere Arbeit.“ Besonders den ersten Akt habe er selbst „sehr gut“ gefunden, ein paar Stellen hätten aber auch für seine Begriffe etwas zu deftig geklungen. Genazino wäre allerdings bereit gewesen, das Eine oder Andere zu streichen. Außerdem, so Flimm: „Ich könnte Sätze aus Becketts ,Warten auf Godot‘ zitieren, da käme einem das Stück ganz obszön vor. Oder nehmen Sie Shakespeares ,Titus Andronicus‘, da geht es richtig zur Sache…“

Was sagt Flimm zu Ferres‘ Vermutung, die RuhrTriennale hätte ihre Popularität als Verkaufsmagnet einsetzen wollen? Der Triennale-Chef: „Das stimmt überhaupt nicht. Da könnte ich jetzt eine halbe Stunde lang erzählen. Aber ich lasse es lieber.“

Ferres behauptet auch, man habe ihr anwaltlich verboten, öffentlich aus dem Genazino-Stück zu zitieren. Flimm: „Auch nicht richtig. Es ist gar nicht nötig. Hier greift schon das bloße Urheberrecht, solange ein Autor seinen Text noch nicht freigegeben hat.“ Die FAZ zitiert Veronica Ferres schließlich mit dem Satz: „Flimm hat mir geschrieben, daß es keinerlei Berührungspunkte mehr geben wird in unserem Leben.“ Jürgen Flimm zur WR: „Unsinn! Ich möchte mal wissen, woher sie das hat. Ich sehe es so, dass wir immer noch miteinander befreundet sind.“

Vielleicht wär’s Zeit für eine Aussprache zwischen den beiden? Flimm: „Die wird es wohl geben. Wir werden uns irgendwann mal im Café zusammensetzen und reden.“ Wahrscheinlich dann, wenn über die Angelegenheit ein wenig Gras gewachsen ist.

_________________________________________________

HINTERGRUND

Ersatz für „Courasche“ wird gesucht

  • Nach der Absage von Veronica Ferres hat Triennale-Chef Jürgen Flimm die Duisburger „Courasche“-Produktion gestoppt. Es wird ein Ersatzstück gesucht.
  • Flimm hatte Ferres die Rolle Ende 2005 offeriert.
  • Wilhelm Genazino, Autor des strittigen Stücks, wurde 1943 geboren. Er war u. a. Redakteur beim legendären Satireblatt „Pardon“, ist seit 1971 freier Schriftsteller und bekam 2004 den Büchner-Preis. Genazino schrieb u. a. „Abschaffel“ (Trilogie, 1977), „Das Licht brennt ein Loch in den Tag“ (1996) und „Die Liebesblödigkeit“ (2005).
  • Der Barockdichter Grimmelshausen lieferte den „Courasche“-Stoff, den auch Bert Brecht nutzte.