Kleine, große Lichtgestalt: Die Deutsche Oper am Rhein zeigt erstmals „Der Kreidekreis“ von Alexander Zemlinsky

Beide Frauen wollen das Kind: Lavinia Dames (l.) als Tschang-Haitang und Sarah Ferede als Yü-Pei, eifersüchtige Erstfrau des Herrn Ma. (Foto: Sandra Then)

Die Federn fallen, fallen wie von weit, als kämen sie aus einer fernen Sphäre. Sanft schweben sie von den Vogelkäfigen nieder, in denen die Frauen eingesperrt sind, die für den Teehausbesitzer Tong arbeiten: gefallene Engel, verkaufte Kreaturen. Weiß sind ihre Gewänder, weiß die Federn. Weiß leuchtet hier alles, was noch gut und recht sein kann in einer düsteren Welt.

Es waren finstere Zeiten, in denen der 62-jährige Alexander Zemlinksy 1933 seine letzte vollendete Oper „Der Kreidekreis“ schrieb. Im alten Textgewand eines chinesischen Märchens steckend, ist sie eine typische Zeitoper der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Nach der Machtübernahme der Nazis verfiel sie – wie auch ihr jüdischer Komponist – der Verfemung. Regisseur David Bösch hat sie nun für die Rheinoper Düsseldorf in Szene gesetzt, zum ersten Mal in der Geschichte des Hauses.

Für sein Düsseldorfer Debüt greift Bösch gewissermaßen selbst zur Kreide. Mit liebevollem Strich zeichnet er den Lebensweg des Mädchens Tschang-Haitang nach, auf einer dunklen Spielfläche vor schwarzem Hintergrund. Von der Mutter verkauft, vom Teehausbesitzer weiterverschachert, als Nebenfrau eines Mandarins von dessen Erstfrau bekämpft und schließlich des Mordes bezichtigt, wird diese Figur bei ihm zu einer Lichtgestalt der bescheidenen Art: keine große Heldin und schon gar keine Rebellin, eher eine chinesische Butterfly.

Tschang-Haitang (Lavinia Dames) wird verkauft und wie ein Vogel in einen Käfig gesperrt. (Foto: Sandra Then)

Wie sie sich den Verhältnissen beugt, wie sie trotz aller Demütigungen ihre Würde bewahrt, wie sie in einer Welt voller Unrecht und Lüge aufrecht und wahrhaftig bleibt, steht mächtig – und durchaus irritierend – quer zum Kampf für Frauenrechte. Mit empathischem Blick arbeitet Bösch heraus, dass Tschang-Haitang nicht einfach unterwürfig ist, sondern sich auf ihre Weise behauptet, im märchenhaften Happy End sogar in eine Position der Stärke gelangt. Dass sie Prinz Pao glatt eine Vergewaltigung verzeiht, ist nur die halbe Wahrheit: Sie nutzt sein Geständnis für einen Deal, der ihr und ihrem Kind Sicherheit gewährt. Dann legt sie sich stolz seinen Königsmantel um. Böschs Inszenierung ist von dem Credo geprägt, dass selbst der Kleinste den großen Weltenlauf zu ändern vermag.

Die Regie fordert für dieses Märchen unseren kindlichen Blick. Strichmännchen aus Kreide, auf die Vorhänge zwischen den Akten projiziert, raffen die folgende Handlung zusammen. Das Kind, um das Tschang-Haitang mit der Erstfrau des Mandarins streitet, ist ein übermenschlich großes Riesenbaby mit einem Pappmaché-Kopf, wie Bert Brechts Meisterschüler Achim Freyer ihn seinen Bühnenfiguren zu geben pflegte. Gleich zu Beginn nimmt es auf der Bühne Platz und zieht den Kreidekreis um sich, aus dem beide Frauen das Kind herauszuziehen versuchen. Der salomonische Richterspruch ist auch aus der Bibel und aus Brechts Drama bekannt.

Im Elend: Tschang-Haitang (Lavinia Dames) wird zu Unrecht als Mörderin verurteilt. (Foto: Sandra Then)

Bühne und Videos (Patrick Bannwart) tragen uns aus dem Alltag fort. „Eine bessere Welt ist möglich!“ raunt nahezu alles, was wir sehen. Der Flügelschlag der Möwen, die als heller Schattenriss über den Bühnenhintergrund schweben. Die zarten Lampions in Blütenform, die auf der dunklen Bühne blühen. Die Kreideskizzen an den Wänden, die Kindheitstage heraufbeschwören. Und während das durch und durch korrupte Gerichtspersonal Papierfahnen entrollt, die Kindsraub, Vergiftung und Terror propagieren, schweben chinesische Schriftzeichen von der Decke, die hohe Ideale formulieren: Freiheit, Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit. Die Kostüme (Falko Herold) fügen sich perfekt in diese poetische Bühnensprache ein.

Die Fabel vom Kreidekreis entstand im 13. Jahrhundert in China, sie wird dem Chinesen Li Xingdao zugeschrieben. Klabund griff sie 1925 auf, Zemlinsky 1933, Bertolt Brecht 1944.
(Foto: Sandra Then)

Das zwischen Schauspiel und Oper changierende Zwitterwerk zusammenzuhalten, ist keine leichte Aufgabe. Der Stilmix ist unerhört: Es gibt freie und rhythmisch gebundene Sprache, Gesang Brecht-Weill’scher Prägung, Jazzelemente, fernöstliches Kolorit, schwelgerisch romantische Orchesterfarben und Klänge einer neuen Sachlichkeit. Die Nahtstellen zwischen Text und Musik sind kritisch, das Timing ist für die Sängerinnen und Sänger folglich heikel. Aber die Quadratur des Kreises gelingt: Die Düsseldorfer Symphoniker und das Gesangsensemble der Deutschen Oper am Rhein ziehen die Linie bemerkenswert geschlossen durch.

Unter der kundigen Leitung des Dirigenten Hendrik Vestmann fügt sich die stilistische Vielfalt zu einem faszinierenden Abenteuer für die Ohren. Was fließt da nicht alles ineinander: Jazzelemente und fernöstliche Pentatonik, romantische Schwärmerei und lakonische Sachlichkeit, Drohendes und Intimes und Groteskes, Turandot-Wucht und Butterfly-Zartheit. Das differenzierte und expressive Spiel der Düsseldorfer Symphoniker gereicht Zemlinsky zur Ehre.

Durch Leitmotiv-Techniken wird das Orchester an diesem Abend zum Erzähler, zum unentbehrlichen Kommentator. Es gleicht einer tönenden Karikatur, wie es den korrupten Richter Tschu-Tschu ankündigt, der nach durchzechter Nacht die Szene betritt. So verkatert, wie das Fagott hier in höchster Lage wimmert, und so unstet, wie die Takte hier ins Taumeln geraten, ist bereits alles gesagt, bevor dieser höchst fragwürdige Amtsträger auch nur den Mund aufmacht.

Das Gericht ist weder hoch, noch spricht es Recht: Tschang-Haitang (Lavinia Dames, am Boden), Richter Tschu-Tschu (Werner Wölbern, im roter Robe) und die Statisterie der Deutschen Oper am Rhein. (Foto: Sandra Then)

Der Schauspieler Werner Wölbern verkörpert ihn nach allen Regeln der Kunst als anmaßenden, schlecht gelaunten Gierlappen, der keinen Funken Interesse am Schicksal derer hat, über die er zu Gericht sitzt. Der Prozess führt zu einer mächtigen Steigerung im Orchester, die sich drohend aufbäumt, und einem Verzweiflungsausbruch von Tschang-Haitang, die Lavinia Dames uns mit ihrem Sopran nahebringt. Wie die Sängerin eine stille Traurigkeit in ihre hellen Farben mischt, wie sie sich stimmlich biegsam zeigt, ohne in den dramatischen Höhepunkten zu brechen, gleicht einer vokalen Studie des Phänomens, das heute Resilienz genannt wird. Für diese anrührende Charakterstudie wird die Sängerin vom Publikum begeistert gefeiert.

Dames ist von einem Ensemble umgeben, das seine Figuren nicht weniger genau zeichnet. Die Frauenstimmen ergänzen ihre Farbpalette: Katarzyna Kuncio als Tschang-Haitangs Mutter mit entsprechender Wärme, Sarah Ferede als intrigante Erstfrau Yü-Pei mit hochfahrender Dramatik. Im Baritonfach glänzen Richard Šveda, der dem Bruder der Hauptfigur wütende und rebellische Töne gibt, und Joachim Goltz, der den Mandarin Ma auch stimmlich von starrer Autorität in einen weicheren, liebenderen Mann verwandelt. Hinzu kommen Matthias Koziorowski (als Prinz Pao mit teils heldischen Farben), Jorge Espino (als Gerichtssekretär Tschao mit abgerundet sonorem Volumen), sowie einige hübsch gestaltete Mini-Rollen.

„Es ist Zemlinksy-Zeit“, heißt es im Programmheft der Rheinoper: Eine Behauptung, die durch diese starke Premiere beglaubigt wird. „Der Kreidekreis“ verdient unsere Aufmerksamkeit. Es ist Zeit für dieses Klangabenteuer, für dieses Werk, in dem die Schwachen die Starken sind und die Menschlichkeit gegen Gewalt und Lüge gewinnt.

(Karten und Termine: www.operamrhein.de)




Das Trauma des Kindes: David Bösch inszeniert in Essen „Elektra“ von Richard Strauss

Elektra (Rebecca Teem) mit einem Kinderstühlchen (Foto: Matthias Jung)

Von den Gegenständen ihrer Kindheit umgeben, sinnt Elektra (Rebecca Teem) auf Rache (Foto: Matthias Jung)

Blut überall. Es klebt am Boden, es haftet an den Wänden, es besudelt alle, die zu tun haben mit diesem Schlachthof von einem Königshaus. An der Wand eine weiß leuchtende Inschrift, wie im Wahn herausgekratzt aus den rotbraun geronnenen Schichten. „Mama, wo ist Papa?“, steht da, kurioserweise auf Englisch. Denn wir befinden uns im Palast der Klytämnestra und des Aegisth, jenes ehebrecherischen Paares, das den rechtmäßigen König Agamemnon hinterrücks erschlug.

Hier haust Elektra, Tochter Klytämnestras, Protagonistin aus der gleichnamigen Oper von Richard Strauss: traumatisiert, halb verwildert, erfüllt von der Gier nach Rache, aus der sie Lebenskraft saugt. Regisseur David Bösch zeigt sie uns im Essener Aalto-Theater als eine Frau, die nie erwachsen wurde. Gemäß den Erkenntnissen der Freud’schen Psychoanalyse, die dem Dichter und Strauss-Librettisten Hugo von Hofmannsthal vertraut waren, interpretiert Bösch die Tragödie als ein psycho-pathologisches Werk mit hysterischen Zügen.

In dieser Lesart bleibt Elektra in ihrer inneren Entwicklung stehen, seit sie den blutigen Mord an ihrem Vater mit ansehen musste. Bösch zeigt sie uns als kranke Frau, wehrloses Kind und gefährliche Psychopathin in einem. Sie liebkost Stofftiere, kratzt sich verlegen die Arme und sinnt tückisch auf Mord. Anders als ihre Schwester Chrysothemis, die sich nach einem normalen Leben in Freiheit sehnt, kennt Elektra keine Zukunft. All ihre Gedanken enden bei der Erfüllung ihres Rachewunsches.

Ungleiche Schwestern: Elektra (Rebecca Teem, l.) und Chrysothemis (Katrin Kapplüsch. Foto: Matthias Jung)

Ungleiche Schwestern: Elektra (Rebecca Teem, l.) und Chrysothemis (Katrin Kapplusch. Foto: Matthias Jung)

Das Konzept der Regie ist schlüssig und entspricht den bis zum Wahnwitz aufgepeitschten Emotionen. Das wirkmächtige Einheits-Bühnenbild von Patrick Bannwart und Maria Wolgast wird von Michael Bauer psychologisch einfühlsam ausgeleuchtet. Weniger glücklich wirkt die Personenführung. Fast alle Akteure agieren 110 Minuten lang gleich: Sie taumeln, greifen sich immerzu an den Kopf und raufen sich die Haare. Zwischendurch wird gerne mal an der Rampe gesungen.

Musikalisch erreicht diese Elektra-Produktion ein gutes Niveau, ohne überragend zu wirken. Die Amerikanerin Rebecca Teem, die in Essen bereits als Brünnhilde zu erleben war, wirft sich mit nachgerade animalischer Emphase in die Titelpartie hinein. Mag manche Pianostelle im Dialog mit Orest ihren Sopran auch in Verlegenheit bringen, so zeigt die Sängerin doch keine ernsthaften Intonationsprobleme und gibt Elektra eine Fülle von Nuancen mit. Sie kann hasserfüllt keifen, verführerisch schmeicheln, in tückischer Reserve lauern und sich bis zum wilden Aufschrei steigern. Katrin Kapplusch klingt als Chrysothemis monochromer, befeuert die Tragödie aber immer wieder durch Klänge haarsträubender Hysterie.

Für Klytemnästra (Doris Soffel, l.) nimmt das Gespräch mit ihrer Tochter (Rebecca Teem) eine schlimme Wendung (Foto: Matthias Jung)

Für Klytämnestra (Doris Soffel, l.) nimmt das Gespräch mit ihrer Tochter (Rebecca Teem) eine schlimme Wendung (Foto: Matthias Jung)

Kammersängerin Doris Soffel zelebriert die Klytämnestra als amoralische Zombie-Diva. Sie verlässt sich dabei auf die Erfahrung, die sie aus ihrer großen Karriere mitbringt, und wird für ihre enorme Bühnenpräsenz gefeiert, obgleich sie die Partie mit erheblichen stimmlichen Verformungen präsentiert. Almas Svilpa schlägt als Orest einen ernsten, angemessen düster grundierten Ton an.

Die Essener Philharmoniker haben ihre Strauss-Qualitäten seit der Ära Soltesz nicht verloren. Spannend wird dieser Abend durch die Vielzahl musikalischer Bezüge, die sie unter der Leitung von Tomáš Netopil aufdecken. Ohne die expressive Partitur zu glätten, klingen da plötzlich Arabella-Schmelz und Rosenkavalier-Romantik an. Dann wieder dringt dumpfes Brüten aus dem Orchestergraben, schauerliches Sausen und niederschmetternde Wucht.

Dass eine Untat nicht mit einer weiteren Untat aus der Welt geschafft werden kann, zeigt Bösch am Ende mit grausamer Konsequenz. Die Kinder des Agamemnon, sie sind verdammt: seien sie nun gerächt oder nicht.

Informationen: http://www.aalto-musiktheater.de/vorschau/premieren/elektra.htm, Karten: 0201/ 8122 200).

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen). 




Othello im globalen Krieg: Premiere am Bochumer Schauspielhaus

v.l. Jago (Felix Rech) und Othello (Matthias Redlhammer). Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

v.l. Jago (Felix Rech) und Othello (Matthias Redlhammer). Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

„Vergesst Romeo & Julia, das neue Traumpaar heißt Othello & Desdemona“, der Popsong auf der Bühne des Schauspielhaus Bochum macht sogleich klar, dass man es mit einer typischen Inszenierung von David Bösch zu tun hat.

Doch die Othello-Light-Version funktioniert gut, denn aus heiterem Liebesgeplänkel wird schnell Ernst. Jagos Intrige und die zunehmende Verrohung durch immer beiläufigeres Morden verleiht dem Stück Tiefenschärfe und zieht die Zuschauer in Bann.

Bösch und sein Bühnenbildner Falko Herold haben die Handlung in einer Art zerschossener Fabrikhalle angesiedelt. Ein Kriegsschauplatz irgendwo in der Welt, den General Othello befehligt und wohin ihm sowohl sein militärischer Stab als auch seine geliebte Desdemona folgen. Ausstaffiert in Backpacker-Outfit (Friederike Becht als Desdemona) bzw. Cocktailkleidchen (Xenia Snagowski als Emilia, Jagos Frau) finden sich die Familienangehörigen in der Fremde wieder und zeigen die Attitüde von Amerikanerinnen, die es in irgendeine Bananenrepublik verschlagen hat – Balkan? Vietnam? Irak? Zumindest die Jukebox spielt heimatliche Klänge und die Hochzeit wird mit viel buntem Konfetti gefeiert.

Doch der Honeymoon währt kurz, denn Jagos Intrige vergiftet die Atmosphäre, in seinem Netz verfangen sich nach und nach alle. Desdemona untreu? Es ist nichts daran und doch scheinen die Beweise sie zu überführen. Felix Rech gibt den Jago als gefühlskalten Machtmenschen, für den Töten eine alltägliche Angelegenheit bedeutet, die nebenbei erledigt wird. Obwohl es ihm natürlich lieber ist, wenn andere dabei Hand anlegen und er sie nur anstiftet. Nach so einer Exekution macht er sich erst mal in aller Ruhe ein Bier auf. Irgendetwas hat das Kriegshandwerk wohl mit ihm angerichtet, so dass er zur Empathie nicht fähig ist. Oder liegt es ihm deswegen, weil Mitleid ihm nicht im Wege steht? Eine Folterszene, in der Leutnant Cassio (Florian Lange) mit der Plastiktüte über dem Kopf geschlagen und gedemütigt wird, erinnert stark an die Bilder aus dem Abu Ghraib-Gefängnis und an den Folterskandal der US-Armee im Irak.

Othellos Hochzeit mit Desdemona (Friederike Becht). Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

Othellos Hochzeit mit Desdemona (Friederike Becht). Foto: Thomas Aurin/Schauspielhaus Bochum

Doch auch Matthias Redlhammer als Othello, der von seiner militärischen Mission aus einigermaßen edlen Motiven überzeugt ist, wird zum Berserker: Zwar hat Jagos Lüge ihn vergiftet und die Eifersucht lässt ihn rasen, doch ist auch bei ihm der Firnis der Zivilisation dünn. Er mordet im Rausch der Leidenschaft, vielleicht weil er an zivile Gesetze nicht mehr gewöhnt ist. So exekutiert er die eigene Frau, Desdemona, die er doch über alles liebt. Ein Mann des Kriegsrechts, der mit Streitigkeiten im Frieden gar nicht adäquat umgehen kann.

Diese Lesart verleiht dem ansonsten kurzweilig dargebotenen Shakespeareschen Drama, das wie immer auch witzige Szenen kennt, eine gesellschaftliche Reflexionsebene. „Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt“, der Satz von Napoleon Bonaparte trifft hier auf erschreckende Weise zu.

Karten und Termine:
www.schauspielhausbochum.de




„Ruhri“ am Main: David Bösch inszeniert in Frankfurt Humperdincks „Königskinder“

Engelbert Humperdinck ist einer jener Ein-Opern-Komponisten, von dem sich nichts im Repertoire gehalten hat als das zum Weihnachtsmärchen verniedlichte grausame Kinderschicksalsstück „Hänsel und Gretel“. Wissenschaft und Theaterpraxis haben seine anderen Bühnenwerke mit dem vernichtenden Satz eingesargt, dass der Meister an seinen „früheren Erfolg nicht anknüpfen konnte“.

Gefährdete kindliche Idylle: Amanda Majewski als Gänsemagd in Humperdincks "Königskinder" in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Gefährdete kindliche Idylle: Amanda Majewski als Gänsemagd in Humperdincks „Königskinder“ in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Göttergleich fällt die Rezeptionsgeschichte das Urteil, ohne Bewusstsein für ihre eigenen, höchst vorläufigen Bedingungen. Der Regisseur Peter P. Pachl hat vor Jahren auf „Das Mirakel“ aufmerksam gemacht, ein einst ungeheuer erfolgreiches Theater-Experiment von Karl Gustav Vollmoeller und Max Reinhardt mit Musik Humperdincks – leider bisher vergeblich.

Einst erfolgreich, heute eine Rarität: Das gilt auch für Humperdincks zweite Oper „Die Königskinder“. An der Met, wo sie 1910 uraufgeführt wurde, war sie einige Zeit ein sicheres Repertoirestück. In den letzten Jahren gab es Versuche, ein neues Licht auf das spannende, den magischen Realismus eines Gerhart Hauptmann und symbolistische Strömungen der Wende zum 20. Jahrhundert aufnehmende Sujet zu werfen. In der Intendanz von Claus Leininger in Wiesbaden hat es Alois Michael Heigl 1991 eindrucksvoll realisiert; jüngst haben große Häuser wie München und Zürich eine neue Runde für die „Königskinder“ eröffnet.

Frankfurt zieht nun nach und verpflichtete mit David Bösch einen Regisseur, der in der Ruhr-Region seine ersten Arbeiten gezeigt hat und als innovativer, origineller Theatermann in Erinnerung bleibt: Viel gerühmt seine Shakespeare-Inszenierungen in Essen („Sommernachtstraum“, 2005) und Bochum („Romeo und Julia“, 2004), seine jeder Verkopfung widerstrebende Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Stücken, seine preisgekrönten Arbeiten wie „Viel Lärm um Nichts“ am Thalia Theater Hamburg.

Im Musiktheater hatte David Bösch diesen Erfolg nicht: Vivaldis „Orlando furioso“ in Frankfurt (2010) blieb in schrillem Klamauk stecken; auch sein Debüt in der Oper mit Donizettis „L‘Elisir d’amore“ am Münchner Nationaltheater wurde eher kühl aufgenommen. Mit den „Königskindern“ machte er sich an einen Stoff, dem die Autorin Elsa Bernstein-Porges zwar aus Märchenmotiven heraus entwickelt, aber nicht im Märchen verharren lässt. Was im ersten Akt, mit Hexe, Gänsemagd und Königssohn, noch mit vertrauten Figuren spielt, entwickelt sich im zweiten fast zum Sozialdrama, um im letzten Akt zu einer symbolistisch geprägten Nicht-Erlösungs-Geschichte zu mutieren.

Bösch und sein Team Patrick Bannwart (Bühne), Frank Keller (Licht) und Meentje Nielsen (Kostüme) nähern sich diesen verschiedenen Ebenen, indem sich die Geschichte aus der Sicht der beiden Heranwachsenden – der Gänsemagd und des Königssohns – entwickeln. Der Zauberkreis des ersten Bildes entspricht der Wahrnehmung eines Kindes: Die Gänsemagd empfindet den Druck der zweckmäßig organisierten Erwachsenenwelt; ihre „Erzieherin“ wird folglich zur „Hexe“, die sich schon in der Einleitung wie ein schwarzer Scherenschnitt am Horizont abzeichnet.

Das Kind spiegelt sich im Brunnen – eine symbolistisch geladene Chiffre – und genießt Sonne und Tiere; die Hexe drängt auf praktische Arbeit, deren Sinn freilich für das Kind undurchschaubar bleibt. „Wirst du den Kessel spülen? Ist der Brunnen nur gut als Spiegel?“ sagt die Alte: Ein Vers der exemplarisch für die unterschiedlichen Perspektiven steht.

Das Libretto von Elsa Bernstein-Porges, die unter dem Pseudoym „Ernst Rosmer“ geschrieben hat, bleibt jedoch nicht im Märchenhaften oder Psychologischen stecken – und Bannwarts Bühne zeigt das in überzeugender Bildsprache: Kreidezeichnungen kindlicher Spiele auf dem Boden, ausgeschnittene Gänse und Blumen rundum aufgesteckt. Das Kind entwirft sich seine Welt selbst. Sie beginnt, brüchig zu werden, als der Königssohn in sie eindringt. Die Entdeckung des „Du“ und der Erotik entfremden die Gänsemagd ihrer Welt. Entrinnen kann sie ihr noch nicht; erst als ihr der „Spielmann“ den Weg weist, den Zauber zu zerreißen, gelingt der Ausbruch in neue Erfahrungsräume.

Der zweite Akt in der Hellastadt trägt noch am deutlichsten die sozialkritischen Züge, die Bernstein-Porges im Sinn hatte: Bösch erzählt ihn als grimmige Parabel einer selbstgenügsamen Gesellschaft. Wie Maden aus einem Stück Speck kriechen die Bürger aus den Kanälen ihrer „Höllastadt“ – so verkündet der Zwischenvorhang mit dem abgestürzten korrekten „e“ den Namen. Der Herzensadel, mit „Lieben und Leiden“ errungen, gilt ihnen wenig, mehr noch: Sie bemerken ihn nicht einmal. Nur ihre Kinder weinen, als sie Königssohn und Gänsemagd aus ihrer satten Hölle vertreiben. Diesen sinistren Karneval dumpfer Selbstbezogenheit inszeniert Bösch zu wörtlich, stellt dralle Opernfiguren auf die Bühne. Da helfen auch die Schweinemasken nicht viel weiter.

Zweiter Akt der "Königskinder" an der Oper Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Zweiter Akt der „Königskinder“ an der Oper Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Für den sozialen Kältetod des Königskinder-Paares hält Patrick Bannwart seine Bühne wüst und öde. Nur nutzt Bösch die konzentrierende Leere nicht, um dieses Sterben zu transzendieren und der symbolistisch angelegte Figur des Spielmanns eine neue Dimension zu geben. Er steht nicht für eine Art Kunst-Erlöser, aber er ist eine sinngebende Gestalt, die dem inneren Entwicklungsweg der Kinder, aber auch ihrem Sterben die Bedeutung jenseits des Sozialdramas gibt. Das Lied des Spielmanns, in die Herzen gesenkt, macht die Kinder „sehend“; die Auferstehung der Königskinder in den Herzen gibt die Hoffnung auf eine neue Generation, fern der inneren Blindheit der Höllastadt und ihrer in Begierden gefangenen Bewohner.

Bösch verrät das Visionäre dieses Finales, wenn der vortrefflich singende und gestaltende Nikolay Borchev als humpelnder Opern-Opa über die Bühne hüpft, die Kinder ihre Holzschwerter zücken und das „Häppie Äntt“ auf hochgehaltenen Täfelchen konstatieren. Abwegig erscheint der Selbstmord der Königskinder per Schwertstreich. Er entwertet das Brot, das die Gänsemagd im ersten Akt backen muss, zum bloß peripheren Requisit, wo es doch ein sinnstiftendes dramaturgisches Mittel sein soll. Denn es ist nicht nur mit dem Todesfluch der Hexe behaftet, sondern auch mit dem Spruch des Mädchens: Der Esser „mag das Schönste sehn, so er wünscht sich zu geschehn“. Bösch findet kein theatrales Mittel, den symbolistisch-transzendierenden Aspekt von Humperdincks Oper zu vertiefen. Der dritte Akt verflacht, weil er sich zu wenig dem Sog des Vorhergegangenen entzieht.

Nur die Kinder verstehen den Spielmann (Nikolay Borchev). Foto: Wolfgang Runkel

Nur die Kinder verstehen den Spielmann (Nikolay Borchev). Foto: Wolfgang Runkel

Man darf annehmen, dass Frankfurts GMD Sebastian Weigle nicht ganz unbeteiligt an der Wahl des Stückes gewesen ist: Seine Domäne ist die deutsche Oper mit ihren Höhepunkten Wagner und Strauss. Humperdinck „Königskinder“ sind ein Zeugnis des mühevollen Strebens einer ganzen Komponistengeneration, sich aus dem riesigen Schatten Wagners heraus ins Licht neuer Ideen zu bewegen.

Humperdincks Schüler und des Bayreuther Meisters Spross und Erbe Siegfried Wagner ist ein anderer dieser vergessenen Generation, der im Licht einer neuen Rezeption geprüft werden müsste. Weitere sind zu nennen, etwa der langjährige Strauss-Vertraute Ludwig Thuille, ambivalente Komponisten wie Max von Schillings oder die französischen Vertreter des „Wagnerisme“. Vielleicht wäre diese verdienstvolle „Königskinder“-Aufführung ein Impuls, sich dieser Epoche zuzuwenden? Der erfolgreiche Intendant Bernd Loebe, der Anfang des Monats seinen Vertrag bis 2018 verlängerte, hätte die Kapazitäten seines Hauses und das Interesse des Publikums auf seiner Seite.

Und Sebastian Weigle bringt den Sensus für diese Art von Musik mit. Er macht mit dem wieder einmal ausgezeichnet disponierten Orchester der Oper deutlich, wo die Anklänge an Wagner liegen, aber auch, wo sich Humperdinck entschieden von dessen Vorbild abwendet. Weigle arbeitet kammermusikalische Finessen heraus, die den Techniker Humperdinck in bestem Licht erscheinen lassen, kennt aber auch den Herzenston der aufbrechenden Melodik, den schimmernden Zauber der Klangkombinationen. Dass er auf dem dreistündigen Weg durch Humperdincks Partitur auch matte Momente durchrutschen ließ, sei nicht verschwiegen.

Mit dem Königssohn hat sich das einstige Ensemblemitglied Daniel Behle erfolgreich eine schwierige Zwischenpartie erobert, die ihm weniger im lyrisch frei ausgestalteten Zentrum als in den noch nicht nachdrücklich genug gestützten Höhen Grenzen setzt. Amanda Majeski überzeugt durch ihre kindliche Aura und ihr Gespür für die Psychologie der Gänsemagd, geht aber zu zaghaft daran, vor allem im zweiten und dritten Akt Stimmfarben einzusetzen, die eine Entwicklung der Figur charakterisieren könnten.

Julia Juon, von der Szene zu sehr auf Märchenhexe festgelegt, muss den Beweis nicht antreten, was für eine großartige Sängerin sie ist. Man freut sich auf jeden Auftritt. Magnús Baldvinsson und Martin Mitterrutzner passen als Holzhacker und Besenbinder zu ihren Charakterpartien, die im dritten Akt manchmal in die Nähe missverstandener Lortzing’scher Chargen rücken. Für vorzüglich ausgefüllte kleinere Partien mögen Nina Tarandek und Katharina Magiera als Wirtstochter und Stallmagd stehen. Nicht zu vergessen sind der solide Chor Matthias Köhlers und der Kinderchor, der anspruchsvolle Aufgaben tapfer bewältigte. Michael Clark und Felix Lemke haben ganze Arbeit geleistet!

Weitere Aufführungen: 14., 19., 25., 27. Oktober.




Herrlich blühender Irrsinn – Junge Regie-Hoffnung: David Bösch inszeniert „Romeo und Julia“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Was sind das nur für wilde Burschen? Sie toben herum wie nicht gescheit, sie röhren Rocksongs, spielen dazu heftig Luftgitarre und brüllen („Bumm, zack, bumm“) manchmal wie aggressive Comic-Figuren.

Nun, die kampflustigen Sturm- und Drang-Kerle heißen Mercutio und Benvolio. Sie wollen ihren Freund Romeo über dessen fruchtlose Liebe zu Rosalinde hinwegtrösten und ihn zu schnellen Sex-Abenteuern mit willigeren Mädchen anstacheln. Zu dumm nur, dass dieser Romeo sich bei der nächsten Fete in eine gewisse Julia aus der feindlichen Sippe Capulet verknallt. Die tragischen Folgen sind bekannt.

Der heiße Kern der Liebesgeschichte

Sehr dynamisch und phasenweise eminent komisch legt der junge Regisseur David Bösch (Jahrgang 1978) das berühmte ShakespeareLiebesdrama „Romeo und Julia“ in Bochum an. Man nehme die eh schon etwas schnoddrige Übersetzung von Thomas Brasch, spitze sie nochmals listig zu und streiche das vielköpfige Gefolge aus den Häusern Montague und Capulet. Dann hat man den heißen Kern, und der wirkt frappierend modern. Das reimt sich nicht nur wörtlich, sondern auch als Inszenierungs-Leitlinie.

Bösch erschöpft sich nicht in Übermut und Überschwang, sondern findet dann auch zartere, bewegende Bilder für die allererste Begegnung des legendären Paares. Es ist ein urplötzliches, verrücktes Aufblühen. Geradezu physisch spürt man den Hauch ersehnter Küsse, der die beiden umweht. Auch das Kindliche, noch Ungelenke dieser blitzartigen Liebe kommt zum Ausdruck. Übrigens: Der hierbei sehr stimmig und dezent eingesetzte Pop-Song „Consequence“ ließ viele Besucher rätseln. Lösung: Die ungemein eingängige Melodie stammt vom Album „Neon Golden“ der bayerischen Gruppe „Notwist“.

Es war der Handy-Ton und nicht die Lerche

Später, in der Balkonszene, könnte es glatt heißen: Es war der Handy-Ton und nicht die Lerche. Denn ganz ohne Nachtigall führen die beiden ihre mobilen Gespräche – bis hin zum angedeuteten Telefonsex. Überhaupt lassen sich Julia (Julie Bräuning) und Romeo Johannes Zirner) zu herrlicher (und dämlicher) Unvernunft hinreißen. Ein gar schöner Irrsinn.

Derweil deutet das Szenen-Geviert mit Wasserbecken, Neonlicht-Stäben und Beton-Quadern (Bühne: Volker Hintermeier) auf scheußlichen Neureichtum hin. Kein Ort für erotische Utopien.

Gewiss: All das ergreift einen nicht zutiefst. Doch der jugendfrische, leicht ironisch getönte Zugang eröffnet Spielräume, um die altbekannte Geschichte leichten Sinnes (aber eben nicht leichtsinnig) zu entfalten. Das ist schon einiges, auch wenn’s gelegentlich noch an einer Ökonomie der Mittel mangelt. Die zwar rasanten Fechtszenen sind denn doch ein wenig zu lang geraten. Vielleicht sollen sie ja auf ungebrochene Dominanz der Männerwelt verweisen.

Am Ende bleibt ein Geisterreigen

Beachtliche Besetzung bis in die Nebenrollen hinein: Ebenso handfest-sinnlich wie empfindsam spielt Martina Eitner-Acheampong die rührend besorgte Amme der Julia. Bernd Rademacher als Julias Vater ist ein schmieriger Conferencier der Machterhaltung, in übler Kumpanei mit seinem linkischen Wunsch-Schwiegersohn Paris (Thomas Büchel). Fabian Krüger vollführt irrwitzige Bauchredner-Dialoge mit einem geknoteten Taschentuch-Püppchen; ein Kabinettstück, das freilich die Grenze zur Albernheit streift.

Das erste und letzte Wort hat der über allen stehende und doch so ratlose Prinz (Manfred Böll). Vergebens predigt er Frieden, hilflos preist er Poesie, Licht und Liebe. Am Ende kann er uns nur einen Geisterreigen zeigen: Erst im Jenseits sind alle Figuren kampflos beisammen – beim Totentanz.

Tosender Beifall für eine veritable Regie-Hoffnung und das Ensemble!

Termine: 2., 8., 15., 19., 22. und 27. November. Karten: 0234/3333-111.