Wenn das Gebirge kippt, gerät die Wohnung ins Rutschen – Werke des berühmten Briten David Hockney in Hamm

Von Bernd Berke

Hamm. Wie kommt Hamm zu einer Ausstellung des berühmten David Hockney? Man pflegt die passende Städtepartnerschaft.

Seit nunmehr 30 Jahren ist Hamm mit dem englischen Bradford verbandelt. Just dort wurde Hockney 1937 geboren. Unter Partnern – noch dazu im Jubiläumsjahr – leiht man großzügiger aus.

In Bradford befinden sich umfangreiche Bestände des selten gezeigten Hockney-Frühwerks um 1955. Der Künstler, der mit fleißigen Anatomie-Studien (Schädel, Skelette) begonnen hatte, malte damals recht konventionell. Doch die Stimmung seiner frühen Ölbilder nimmt einen gefangen. Es sind melancholische, vollkommen ereignislose Stillstands-Momente aus der englischen Provinz. Leere Augenblicke dehnen sich wie Ewigkeiten.

Diese Bilder sind ein Kernthema der Schau. Außerdem liegt einiges Gewicht auf graphischen Zyklen. Unter anderem hat Hockney Motivstränge von Picasso, William Hogarth (Schurken-Geschichte „The Rake’s Progress“) sowie dem griechischen Dichter Konstantin Kavafis aufgegriffen. Und er hat Märchen der Gebrüder Grimm („Fundevogel“) eigenwillig „illustriert“: Da nimmt die Magie einfacher Gegenstände Gestalt an.

Sprung ins grelle Jetzt von Swinging London

Zu Beginn der 1960er Jahre springt Hockney sozusagen aus dem späten 19. Jahrhundert geradewegs ins grelle Jetzt von Swinging London. Auf einmal sind Dinge und Farben geborsten und zerstoben. Aber man kann die realen Ursprünge dieser furiosen Zeichen noch erkennen. Zusehends gibt Hockney das Versteckspiel mit seiner Homosexualität auf, die in den frühen 60ern noch strafbar war. So tauchen Worte wie „Queer“ oder „Queen“ als Signale für die schwule Szene anfangs nebelhaft, später plakativ in den Bildräumen auf. Schließlich entstehen ganze Serien zur Männerliebe.

Hockneys Übersiedlung ins sonnige Kalifornien belebt die Farbpalette. Keine Angst mehr vor jedweder Buntheit. Hier entstehen auch sattblaue Swimmingpool-Bilder. Eines ist in Hamm zu sehen, es besteht aus gepresstem Papierbrei. Erfasst ist der dynamische Moment des Sprungs ins Wasser: Platsch!

Postmoderne avant la lettre

Hockney ist geradezu berüchtigt für ungeheuren Stilpluralismus. Er meint, man dürfe sich stilistisch nach Belieben in der Historie oder bei Zeitgenossen bedienen. Er ist „postmodern“, bevor der Begriff marktgängig wird. Auf ein und demselben Hockney-Bild finden sich oft verschiedenste Ansätze zwischen Zentralperspektive und flächigen Ornamenten. In dicht gedrängter Nachbarschaft wird das Formenvokabular bis hin zum Comic buchstabiert. Bisweilen ist’s vertrackte Kunst für Kenner.

In solch simultanen Puzzle-Ansichten findet das Auge des Betrachters keinen eindeutigen Halt, es irrt ruhelos zwischen den diversen Aspekten hin und her. Ein Wohnungs-Interieur gerät dabei ins Rutschen, und ein grandios gemalter Gebirgs-Ausschnitt des Grand Canyon kippt zwischen Fern- und Nahsicht hin und her. Die Welt als unruhige, nervöse Vexierbild-Collage ohne festen Standpunkt.

Manche Bilder wirken eh schon wie flirrende Auftritte. Kein Wunder, dass Hockney nebenher als Bühnen- und Kostümbildner fürs Theater gearbeitet hat. Hamm zieht auch dafür den Vorhang auf.

2. April bis 2. Juli im Gustav Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstr. 9. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 6 Euro, Katalog 24,90 Euro.




Ganz gierig auf die Wirklichkeit – Retrospektive von David Hockney in Bonn

Von Bernd Berke

Bonn. Selbst wenn dieser David Hockney einen simplen Stuhl malt, wird das Bild zum Ereignis: Das Objekt scheint auf den Betrachter zuzustürzen, es begrüßt ihn freudig.

Der berühmte Brite (Jahrgang 1937) mit kalifornischer Wahlheimat gebietet derart raffiniert über Perspektiven und Bildräume, dass einem die Objekte unfassbar nah rücken. Jahrzehnte lange Studien im historischen Bestand, von der Renaissance-Malerei bis zu Picasso, haben den Boden für atemberaubende Kunstfertigkeit bereitet.

Allein Hockneys grandios „inszeniertes“, über sieben Meter breites Panorama vom Grand Canyon würde einen Besuch in der Bonner Bundeskunsthalle lohnen, wo jetzt eine bundesweit bislang beispiellose Werkschau mit fast 100 Gemälden zu sehen ist.

„A Bigger Grand Canyon“ (1998) ist ein ungeheuer starkfarbiges Riesenformat, bestehend aus 60 Einzeltafeln. Hier können die Blicke wahre Wanderungen unternehmen, weil es so viele perspektivische Fluchtpunkte gibt. Da ist es, als liege die ganze volle Welt vor einem ausgebreitet.

Grandioses Gebirgspanorama

Das Gebirgs-Panorama überbietet jede Fotografie und ist eine phantastische Feier des Wirklichen. Dazu passt das Motto der Schau: „Exciting times are ahead“ – „Erregende Zeiten liegen vor uns“; ein Satz, in dem frohe Lebensgier mitschwingt.

Vielfach ist Hockney als etwas oberflächlicher Pop-Artist verkannt worden, als Maler der Leichtigkeit des Seins an kalifornischen Swimmingpools. Diese machen aber nur einen Bruchteil seines Schaffens aus und erweisen sich zudem als subtile Studien zu Zeit- und Raum. Kräuselungen des Wassers vor, beim und nach dem Sprung ins Nass machen das Verrinnen der Sekunden bewusst.

Von wegen Pop-Art. Hockney hat schon in den 60er Jahren Distanzierungen in die Bilder eingebaut. Als Jasper Johns bunte Zielscheiben malte, reagierte Hockney mit einer spiralförmig sich windenden Schlange. Botschaft: So leblos wie eine Zielscheibe muss Kunst nicht sein.

Vom Dackel bis zum Musentempel

Hockney gibt freilich die atmosphärische Essenz beispielsweise des Olympic Boulevard in Los Angeles (1964) oder eines Bungalows in Beverly Hills (1966) derart genau wieder, dass solche Bilder zu Pop-Ikonen wurden. Mit seinen Arbeiten der 70er, in denen er unterschiedlichste Stilelemente kombiniert, könnte Hockney auch als Anreger der „Postmoderne“ und ihrer zitatenreichen Spiele gelten. In diesem unbekümmerten Kontext erlangen gar seine beiden Dackel serielle Bildwürdigkeit.

Auch frühe „Love Paintings“ (ab 1960) sind zu sehen. Hier hatte es Hockney (zuerst verschlüsselt) gewagt, seine Homosexualität zum Thema zu erheben – auf dem Grat zwischen Abstraktion und Figur. Wohlgemerkt: Seinerzeit wurde diese Neigung noch strafrechtlich verfolgt.

Am hellsten aber leuchten eben doch neuere Schöpfungen wie diese: Landstraßen durchs liebliche Yorkshire winden sich so, dass man sozusagen die langsame, entspannte Fahrt verspürt – die Lust am Dasein und seinen Farben. Oder: Eine zum Museum gewordene Salzfabrik ragt glorios strahlend auf wie ein Tempel. Die Kunst und ihre Herbergen sind für einen Hockney eben das Höchste zwischen Erde und Himmel.

Bundeskunsthalle Bonn (Museumsmeile). Bis 23. Sept. Di/Mi 10-21, Do-So 10-19 Uhr. Eintritt 12 DM. Katalog 49 DM