„Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ – Daniela Kriens Roman jetzt endlich auf der größeren Bühne

Das Alte ist in sich zusammengebrochen, das Neue hat noch keine feste Form. In Stein gemeißelte Gewissheiten und Ideologien sind zerbröselt. Wo eben noch alles klar war und die Zukunft rosig schien, herrschen jetzt chaotische Unübersichtlichkeit und nervöse Angst. Manche lecken ihre Wunden, andere wissen nicht, wie es weitergeht.

Maria, die bald 17 wird, die Liebe entdeckt und vor einem kurzen Sommer der Anarchie steht, ist hin und her gerissen zwischen heller Euphorie und dunkler Depression, lautem Aufbruch zu neuen Ufern und schmerzlichem Verlust von Heimat und Herkunft. Ihr Vater hat sich vor Jahren in die Sowjetunion abgesetzt und wird den Kollaps des Kommunismus gut verdauen. Die volkseigene Fabrik ihrer Mutter hat den Fall der Mauer nicht überstanden. Seitdem döst sie im Gartenstuhl vor sich hin und will nur noch weg von hier. Raus aus dem Leipziger Allerlei, wo die Zukunft schon vorbei ist, bevor sie richtig begonnen hat.

Was soll Maria jetzt machen? Weiter zur Schule zu gehen, dazu hat sie keine Lust. Lieber zieht sie zu ihrem Freund Johannes, einem Bauern-Sohn, der noch auf dem Hof der Eltern lebt, aber ständig mit einer Foto-Kamera in der Gegend herum läuft und lieber Künstler werden möchte als Kuhställe auszumisten. Maria mag den sensiblen Johannes. Aber auf dem Hof gegenüber, da haust Henner, ein Eigenbrötler und Außenseiter, notorischer Trinker und begnadeter Büchernarr. Die großen Epen der russischen Dichter kennt er auswendig, natürlich auch Dostojewskijs „Brüder Karamasow“, den Roman, in den Maria gerade eintaucht, um die Irrungen des Lebens, die Verwirrungen der Liebe und ihre von geheimnisvollen Bedürfnissen und dunklen Ahnungen begleitete Selbstfindung in Zeiten der gesellschaftlichen Verwerfungen besser zu verstehen.

„Unbedingt werden wir auferstehen, unbedingt werden wir uns wiedersehen und heiter, freudig einander alles erzählen“, sagt Alexej, der jüngste der Karamasows, zum Schluss. Daran muss Maria oft denken, später, nachdem sie durch einen Tunnel der Ekstase und Erkenntnis getaumelt ist. Dann ist es Zeit für die Wahrheit, denn: „Irgendwann werden wir uns alles erzählen.“

Als die in Leipzig lebende Daniela Krien mit dem Roman „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ 2011 in einem Kleinverlag debütierte, bescherte ihr das einen Achtungserfolg bei der Kritik. Dass die aufwühlende Geschichte der Maria, die im Sommer 1990 vom jungen Mädchen zur erwachsenen Frau wird und (während um sie herum der Staat und alle Gewissheiten zerfallen) existenzielle Erfahrungen macht, zu den wichtigsten literarischen Verarbeitungen der Wendezeit gehört, wurde von den Lesern aber nicht hinreichend gewürdigt

Inzwischen wird die Autorin von einem großen Verlag betreut und ist mit „Die Liebe im Ernstfall“ und „Der Brand“ zur Bestseller-Autorin avanciert. Wenn jetzt der Roman noch einmal neu erscheint, wird ihm das wohl die Aufmerksamkeit bescheren, die er verdient.

Maria kämpft mit ihren widerstreitenden Gefühlen genauso wie mit den Ungereimtheiten der Sprache und den Abgründen ekstatischer Liebe. Die erotischen Experimente, die Maria mit dem doppelt so alten Henner vollführt, gleichen einem sexuellen Schlachtfeld. Das geht bisweilen an die Grenze des Erträglichen. Maria wird den Rausch bis zur bitteren Neige auskosten, den Wahnsinn dann aber abwerfen wie eine alte Haut und endlich bereit sein, sich nicht mehr zu belügen – und uns alles zu erzählen.

Daniela Krien: „Irgendwann werden wir uns alles erzählen.“ Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2022, 260 S., 25 Euro.




„Es ist, wie es ist“ – die frühen Jahre des Gerhard Richter

Gerhard Richter: „Sitzende“ (Oktober 1961), Öl auf Hartfaserplatte, 70×50 cm, Privatsammlung, Norddeutschland. (© Gerhard Richter 2020 (10042020) / Foto: Estel/Klut SKD)

Eigentlich geht es Gerhard Richter in der DDR gar nicht schlecht. Vom Erlös seiner Bilder kann er ganz gut leben. In Dresden, wo er studiert hat und an der Kunst-Hochschule weiterhin wirkt, gilt er manchen jungen Kollegen sogar schon als Bonze und Sprachrohr der Einheitspartei.

Doch Gerd (wie er sich damals nennt) sieht sich in einer künstlerischen und politischen Sackgasse. Auf der documenta in Kassel hat er den Surrealismus und die abstrakte und informelle Moderne kennengelernt. Jetzt hat er keine Lust mehr, sein Talent mit dem von der SED propagierten sozialistischem Realismus zu vertrödeln. Auch wenn es für den 29-jährigen Künstler ein enormes Risiko und Wagnis ist: Gerd will in den Westen und noch einmal ganz neu anfangen.

Im Westen erwartet ihn nichts und niemand

Im Februar 1961 verkauft er seinen Trabant, steckt ein paar Zeichnungen ein und fährt mit seiner Ehefrau Marianne von Dresden nach Berlin. Schon vorher hatte er, auf der Rückreise von einem Studienaufenthalt in Leningrad und Moskau, auf dem Berliner Bahnhof Zoo ein paar Koffer mit privaten Sachen deponiert. Die wird er jetzt brauchen: Denn außer einem kleinen Begrüßungsgeld und einigen warmen Worten erwartet ihn im Westen nichts und niemand.

Gerhard Richter: „Wunde 16″ (Nr. II/16/62), Februar 1962, Öl auf Hartfaserplatte, 70×100 cm, Sammlung Susanne Walther (©Gerhard Richter 2020 (10042020))

Trotzdem hofft er, an der Kunstakademie in Düsseldorf, wo sich in diesen Jahren um Joseph Beuys und der Künstlergruppe ZERO eine progressive Kunstszene entwickelt, Fuß fassen zu können. Doch bis er in die Klasse von Professor Ferdinand Macketanz aufgenommen wird und ein eigenes Zimmer in der Kirchfeldstraße 104 beziehen kann, ist es noch ein weiter Weg, muss er noch ein paar Wochen ins Aufnahmelager nach Gießen, um dort die Formalitäten seiner Übersiedelung zu beschleunigen.

„…beruflich habe ich nur vage Hoffnungen“

An Helmut und Erika Heinze, seine in Radebeul (bei Dresden) gebliebenen Freunde, schreibt er in der Zeit des Wartens und Übergangs in eine ungewisse Zukunft immer wieder Briefe: „Es ist triste hier und beruflich habe ich nur vage Hoffnungen“, notiert er. Ein anderes Mal: „Nicht dass ich irgendetwas bereue. Für mich war das Abbrechen logisch und notwendig, wie immer es auch ausgehen mag.“ Und immer wieder zieht er, zwischen vagen Hoffnungen und existenziellen Nöten schwankend, das lakonische Fazit: „Es ist, wie es ist.“

„Gerd Richter 1961/62: Es ist, wie es ist“: So heißt jetzt eine Ausstellung im Dresdner Albertinum, die sich ganz dieser weithin unbekannten Phase im Leben des inzwischen bekanntesten zeitgenössischen deutschen Künstlers widmet und Briefe und Dokumente, Zeichnungen und Bilder präsentiert, die bisher kaum jemand zu Gesicht bekommen hat. Die Schau ist klein und präsentiert nur wenige Werke, aber sie ist – will man wissen und verstehen, wie Richter zu dem wurde, was er heute ist – ungemein wichtig.

Zubrot mit Bemalung von Karnevalswagen

Die in Vitrinen präsentierten Briefe zeigen einen von Angst und Sorgen gepeinigten Künstler, der sich in einer Zeichnung als Gefangener im Gießener Lager stilisiert; der sich ein Zubrot mit dem Bemalen von Karnevalswagen und dem Verkauf von Mal-Utensilien verdient; der alles daran setzt, in Düsseldorf zu reüssieren, seine in Dresden erprobten figurativen Bildelemente mit den informellen und abstrakten Möglichkeiten der westlichen Moderne zu kombinieren.

Gerhard Richter: Ohne Titel („Emas Bluse“), 1962, Bluse mit Gips und Lack, 71,7 ×38,1 cm (gerahmt), Igal Ahouvi Art Collection (© Gerhard Richter 2020 (10042020))

Während seine „Sitzende“ noch sehr an Picassos kubistische Zeichenhaftigkeit erinnert, sind die verschmierte graue „Wunde“ und der bunt verkleckerte „Fleck“ schon abstrakte Farbfantasien, die er sich bei Karl Otto Götz abgeschaut haben mag, dem von Richter hoch verehrten Mal-Professor, in dessen Düsseldorfer Klasse er bald schon, im April 1962, wechseln wird.

Aufgeregte Debatten um Debüt in Fulda

Immer wieder schickt er Briefe zu seine Freunde nach Radebeul, reflektiert sein Werk, entwirft Skizzen für seine Bilder, legt Fotos bei, die er von seiner Wohnung macht. Natürlich berichtet er ihnen auch von seiner ersten Ausstellung: Gemeinsam mit Manfred Kuttner kann er im September 1962 in der „Galerie junge Kunst“ in Fulda einige seiner neuesten Werke zeigen. Sie erregen in der örtlichen Presse einiges Aufsehen, die an die Wand gehängten präparierten Kleidungsstücke – zum Beispiel ein lackiertes Hemd – lösen Debatten aus: Von „einfach toll“ über „großer Blödsinn“ bis „Kulturschande“ reichen die von der „Fuldaer Volkszeitung“ wiedergegebene Kommentare der Besucher. Verkaufen wird Richter kein einziges der in Fulda gezeigten Werke. Aber das macht nichts. Er weiß jetzt, dass alles ganz anders werden muss.

Bilderverbrennung und radikaler Neubeginn

Um sich von allem Ballast zu befreien, verbrennt er die Bilder in einem Baucontainer im Hof der Düsseldorfer Akademie: ein Befreiungsschlag und radikaler Neubeginn. „Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich mit den Bildern Erfolg gehabt hätte“, wird er viele Jahre später sagen. Nach dem Autodafé wird er Ende 1962 beginnen (Gemälde Nummer 1: „Tisch“), seine Werke zu nummerieren und zu katalogisieren. Doch das ist ein anderes Kapitel. Wer einige dieser Werke – zum Beispiel das nach einem Foto gemalte unscharfe Bild Nummer 14: „Sekretärin“ oder die mit dem Rakel gezogene Farbexplosion Nummer 722-3: „Abstraktion“ – bewundern will, braucht nur eine Treppe höher zu steigen: In der Dauerausstellung des Albertinums sind zwei Säle dem großen Meister gewidmet.

„Gerd Richter 1961/62: Es ist, wie es ist“, Albertinum, Dresden. Bis 29. November. Aktuelle Informationen zu Öffnungszeiten, Programm und Besuchsmodalitäten in Zeiten von Corona auf der Webseite www.skd.museum. Katalog (Verlag der Buchhandlung Walter König, Köln), 125 Seiten, 29,80 Euro.




Soziale Miniaturen (22): „Allet menschlich, wa?“

(Foto: BB)

Da hinten saust ein Mann, wohl um die 50, etwas beleibt, aber noch halbwegs drahtig, mit dem Fahrrad durch die Wiese, als sei da ein Weg. Doch er fährt mitten durchs Gras. Kurz vorm Seeufer wirft er das Fahrrad hin und entledigt sich schon mal seines Shirts.

Auch wir halten – oben am Weg – mit unseren Fahrrädern an. Sofort ruft er mit „Balina“ Zungenschlag lauthals von unten her, ob mit den Rädern alles in Ordnung sei. Jaja, schon gut, alles bestens. Auch wir nähern uns nun zu Fuß dem Ufer, weil wir dort eine Reitergruppe erwarten und fotografieren möchten. Er hat sich inzwischen vor ein Gebüsch postiert und pinkelt dort ohne Umstände drauflos, immerhin noch den Rücken zu uns gekehrt. Derweil redet er weiter, sich allmählich nahezu ins dialogbereite Profil drehend. Er hat entdeckt, dass die Reitgruppe (mit Kindern) einen anderen Weg genommen hat und macht ausgiebig Mitteilung. Ohne ihn, so strunzt er, hätten wir “dit nich jemerkt“. Und weiter verkündet er: Das mit dem Wetter könne ja nur besser werden. Er sonne sich hier immer gern. Mit dem Ausruf „Allet menschlich, wa?!“ lässt er auf einmal die Hose runter und schickt hinterdrein: „Der Arsch ist noch nicht braun!“ Aha.

Ist das nun die alte FKK-Seligkeit Marke DDR, aus Zeiten, als dies eine der wenigen Freiheiten war? Ist es nordostdeutsche Landsmannschaftlichkeit, schroff aber herzlich? Ist es persönliche Disposition? Vielleicht von allem etwas. Leute wie er machen nicht viel Federlesens. Und man fragt sich, ob und auf welchen Feldern sie reibungslos durchs Leben kommen. Antwort offen. Hose auch.

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Bisher in der losen Textreihe „Soziale Miniaturen” erschienen und durch die Volltext-Suchfunktion auffindbar:

An der Kasse (1), Kontoauszug (2), Profis (3), Sandburg (4), Eheliche Lektionen (5), Im Herrenhaus (6), Herrenrunde (7), Geschlossene Abteilung (8), Pornosammler (9), Am Friedhofstor (10), Einkaufserlebnis (11), Gewaltsamer Augenblick (12), Ein Nachruf im bleibenden Zorn (13), Klassentreffen (14), Zuckfuß (15), Peinlicher Moment (16), Ich Vater. Hier. Jacke an! (17), Herrscher im Supermarkt (18), Schimpf und Schande in der Republik (19), Der Junge mit der Goldfolie (20), Vor dem Sprung (21)

 

 




„Im Grunde blieb kein Stein auf dem anderen“: Neu aufbereitete Interviews mit Christa Wolf zur Wendezeit

Jubelnde Menschen in Ost und West: Diese Bilder prägten 2019 die Feierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Mauerfalls. Ein ungleich facettenreicheres Porträt der Wendezeit bieten indes die Interviews, die der Filmemacher und Publizist Thomas Grimm mit der Schriftstellerin Christa Wolf im Beisein ihres Mannes Gerhard Wolf vor elf Jahren geführt hat.

Jetzt hat Grimm die Gespräche gemeinsam mit dem Ehemann der 2011 verstorbenen Autorin aufbereitet und um Reden sowie weitere Dokumente erweitert – womit man sich mitten im Geschehen jener Jahre befindet.

„Für unser Land“ heißt ein denkwürdiger Aufruf, den Wolf und eine Reihe von Weggefährten aus Kultur, Kirche und Wissenschaft in den Novembertagen 1989 verfasst haben, wollten sie doch die DDR von der Basis her reformieren. Eine deutsche Einheit, die gern in einem Atemzug mit der Grenzöffnung genannt wird, war für sie nicht das vorrangige Ziel, wie es auch in Christa Wolfs Rede auf dem Alexanderplatz deutlich wird. Vielmehr hatten zahlreiche Intellektuelle vor Augen, „eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik“ zu schaffen – ohne Honecker & Genossen.

„In völlig andere Strukturen hinübergehoben““ 

Bekanntlich kam es anders, Kanzler Kohl habe schlau und geschickt agiert, resümiert die Schriftstellerin. Sehr feinfühlig, oftmals mit dem Neuen hadernd, gibt sie wieder, welche Entwicklung fortan ihren Lauf nahm. Man sei im Kulturbereich in völlig „andere Strukturen hinübergehoben worden“, heißt es an einer Stelle, an einer anderen beschreibt Christa Wolf die Veränderung an den Universitäten: „Über Nacht übernahmen die westdeutschen Gesandten die Gremien, und selbst hoch angesehene DDR-Wissenschaftler mussten sich von zweitklassigen Professoren aus dem Westen evaluieren lassen. Im Grunde blieb kein Stein auf dem anderen.“

Sozialistisch klingt es, wenn sie erklärt, dass mit der Einheit „das Privateigentum an den Produktionsverhältnissen“ wiedereingerichtet worden sei. So sehr sie das vereinte Deutschland mit vielen Bedenken betrachtet, so kritisch sieht sie aber auch das DDR-System, das die Menschen vereinnahmt, entmündigt und in ihrer Würde verletzt habe. Schließlich wirbt sie dafür, den einstigen DDR-Bürgern Verständnis entgegenzubringen, die es eben nicht gelernt hätten, ihre Meinung zu sagen und sich in demokratischen Spielregeln einzuüben.

Als ein Umbruch noch unwahrscheinlich zu sein schien

Dass sich in dem „Arbeiter- und Bauernstaat“ überhaupt ein Umbruch anbahnen könne, das schien der Schriftstellerin auch noch in den letzten Monaten vor dem Mauerfall unwahrscheinlich zu sein. Die Hoffnung, die DDR-Führung würde sozusagen von oben einen Wandel einleiten, haben nach Aussagen von Wolf wohl viele Bürger spätestens nach einem Interview mit Funktionär Kurt Hager im Jahr 1987 begraben. Auf die Frage, ob nicht Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion Vorbild für die DDR sein könne, stellte er sinngemäß die Gegenfrage, ob man, wenn der Nachbar die Wohnung neu tapeziere, das denn auch machen müsse.

Den Anfang vom Ende des Systems verortet Christa Wolf allerdings weniger in den Reformprozessen, die Gorbatschow einleitete, vielmehr habe der Zerfall bereits mit der Ausweisung des Liedermachers Wolf Biermanns 1976 begonnen. En passant erwähnt Wolf, dass die Entscheidung Honecker ganz allein getroffen habe, selbst seine Ehefrau sei aus Angst um die Folgen dagegen gewesen. Nun sei zwar Biermann nicht besonders bekannt gewesen in der DDR, dass aber überhaupt jemand ausgebürgert wird und dann noch jemand, dessen jüdischer Vater im KZ umgebracht wurde, hat nach Wolfs Darstellung den Protest katalysiert.

Offene Worte über die Kontakte zur Stasi

Der Zusammenbruch 1989 geht, wie Christa Wolf anschaulich beschreibt, auf mehrere Ereignisse zurück, wozu Aktionen der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung ebenso gehören wie die öffentlichen Berichte zu den Manipulationen bei den Kommunalwahlen im Mai 1989 und schließlich die Übergriffe der Staatsmacht bei den Demos im folgenden Oktober. Wie schwierig die Aufarbeitung solcher Vergehen sich gestalten kann, darauf geht Christa Wolf ein, als sie über ihre Mitarbeit in der Untersuchungskommission berichtet, die beispielsweise einen Erich Mielke interviewen musste. Sehr offen spricht sie über ihre Kontakte zur Stasi, berichtet davon, wie überrascht sie bei Sichtung der eigenen Akten gewesen sei, als IM geführt worden zu sein. Ihre kritische Haltung zu Partei und Staat, so mutmaßt Wolf, habe wohl dazu beigetragen, dass man an ihr als Informantin dann doch wohl kein Interesse hatte. Selbst hätte sie es sowieso nicht gewollt.

Wenn man heute ein solches Buch liest, das vertiefende Einblicke in Strukturen und Zusammenhänge der DDR bietet, kommt unweigerlich die Frage auf, ob sich irgendwo Erklärungsmuster für das Erstarken von Populismus und Rechtsextremismus finden. Einen Hinweis gibt Christa Wolf direkt selbst. Der Aderlass an jungen Menschen gleich mit Öffnung der Mauer hat nach ihrer Ansicht die ostdeutsche Gesellschaft anfälliger für solches Gedankengut gemacht. Zudem hebt Wolf darauf ab, wie sehr doch eine ablehnende Haltung gegenüber dem Staat während in der DDR ausgeprägt war, woraus sich die Frage ergibt, welche Folgen das für eine spätere Gesellschaft haben kann. Und schließlich spricht sie davon, dass – wenn auch eher auf alternative Lebensformen bezogen – sich Menschen in Zirkeln und Vereinigungen Nischen suchen, um der Globalisierung zu entkommen.

Christa Wolf: „Umbrüche und Wendezeiten“, hg. von Thomas Grimm unter Mitarbeit von Gerhard Wolf, Suhrkamp, 141 Seiten, 12 Euro.




Willi Sitte – ein durchaus widersprüchliches Leben als Maler und DDR-Kulturfunktionär

Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den umstrittenen DDR-Maler Willi Sitte:

Mit Willi Sitte ist 2013 auch der letzte der vier großen DDR-Maler gestorben. Werner Tübke zählte dazu, dessen Bauernkriegs-Panoramabild in Bad Frankenhausen sicherlich zu den großen malerischen Leistungen des letzten Jahrhunderts gehört. Werner Mattheuers Skulptur „Der große Schritt nach vorn“ über die politischen, vor allem blutigen Illusionen des letzten Jahrhunderts steht in Leipzig direkt vor dem Eingang zu Auerbachs Keller. Und Bernhard Heisig wurde im Westen bekannt, weil er Helmut Schmidt gemalt hat, als dessen Kanzlerschaft endete.

Der Maler Willi Sitte begrüßt den Staats- und Parteichef Erich Honecker zur Eröffnung der X. Kunstausstellung der DDR im Jahr 1987. (Foto: Bernd Sattnik / ADN / Bundesarchiv Bild 183-1987 - Wikimedia Commons, Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Der Maler Willi Sitte begrüßt den Staats- und Parteichef Erich Honecker (rechts) zur Eröffnung der X. Kunstausstellung der DDR im Jahr 1987. (Foto: Bernd Sattnik / ADN / Bundesarchiv Bild 183-1987 – Wikimedia Commons, Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Sitte war der umstrittenste von ihnen, was einerseits an seiner kraftvollen, mit viel Sinnlichkeit gewürzten Malerei, hauptsächlich aber an seiner Tätigkeit als Kulturfunktionär lag. Sitte war von 1974 bis 1988 Präsident des Verbandes bildender Künstler, war Volkskammerabgeordneter und Mitglied im ZK der SED, alles Tätigkeiten, die ihm nach der Wende heftig vorgeworfen wurden.

Dabei wurde jedoch oft verschwiegen, dass Sitte in den fünfziger und sechziger Jahren selbst erhebliche Konflikte mit der DDR-Führung hatte. Seinem „Lidice-Bild“, gemalt in Erinnerung an die Gräueltaten der Nazis, fehlte nach Ansicht der Kulturverantwortlichen das Heroische, weil es Sitte um die Brutalität anonymer Mörder gegenüber den Opfern ging: Mehrfach wurde er zur Umarbeitung gedrängt, bis man das Bild schließlich aus dem Verkehr zog. Heute ist es verschollen.

Für gewisse Freiräume gesorgt

Die Graphikerin Lea Grundig war vor Sitte Verbandschefin, formale und inhaltliche Neuerungen  waren ihr suspekt. Sitte erzählte mal, dass sie schon bei seinem Erscheinen zu einer Sitzung gerufen hätte: abgelehnt! So wurde er später von einigen seiner Freunde gedrängt, selber für das Amt zu kandidieren und für Freiraum in der DDR-Malerei zu sorgen. Selbst seine Gegner bestätigen heute,  dass er diesem Auftrag gefolgt ist. Vieles wurde unter seiner Regie möglich, was vorher undenkbar war, zum Beispiel auch, dass Heisig Helmut Schmidts Bitte, ihn zu malen, annehmen durfte. Aus Sicht der DDR-Betonköpfe war das immerhin der Auftrag des reaktionären Feindes.

Sitte stammte aus einer einfachen Bauernfamilie. Im böhmischen Kratzau, heute Chrastava, wurde er 1921 geboren. Mehrfach hat er seine Eltern gemalt, immer in verschiedenen Lebensabschnitten. Es sind sehr warmherzige Darstellungen, die die Armut seiner Herkunft nicht verschweigen, aber auch die menschliche Zuneigung zeigen. Sie gehören zu den großen Zeugnissen der Porträtkunst.

Orientierung an Expressionismus und Kubismus

Am Ende des Krieges wurde er an die Front nach Italien verlegt, wo Sitte desertierte und sich den Partisanen anschloss. Noch heute genießt er deshalb südlich der Alpen höchstes Ansehen. Diesem Land seiner Zuneigung ist er Zeit seines Lebens verbunden geblieben. Der ursprünglichen Absicht, dort zu bleiben, folgte er jedoch nicht, sondern ließ sich in Halle nieder. Dort holte er in den fünfziger Jahren vieles in seiner Ausbildung als Maler nach, was vorher nicht möglich gewesen war.

Sitte orientierte sich den Großen des letzten Jahrhunderts, an Picasso vor allem, dessen kubistische Formgebung ihn stark beeindruckte, aber auch an Léger und Corinth. Mit der Zeit fand er seinen Stil, und wer dabei genau hinschaute, der entdeckte weniger sog. „Sozialistischen Realismus“, was immer das gewesen sein mag, sondern Bezüge zum Expressionismus.

„Ich bin ein dramatischer Typ“

Sitte  malte und zeichnete gerne kraftvolle Körper, meistens nackt, weil Kleidung mit Zeit identifiziert wird, und Sitte das Typische und Grundsätzliche im menschlichen Leben darstellen wollte. Er löste den Strich auf, setzte differenziert Farbflecken an seine Stelle und zeigte auf diese Weise genau die Facetten eines Körpers. „Ich bin ein dramatischer Typ“, hat er mal seine prallen Liebesakte erläutert, die manchmal an einen Ringkampf erinnern. Daneben teilte er seine Bilder in Flächen auf, zeigte in einem Teil das Hauptthema, auf nebengeordneten Flächen Teilaspekte, einen Betrachter der Szene etwa, oft  sich selber.

Großartig sind seine Wasserbilder, in denen er das Durchsichtige wie mit leichter Hand sichtbar macht. Dazu gehört etwa der kraftvolle Schwimmer, ein Motiv, das anlässlich der Moskauer Olympiade 1980 eine Briefmarke zierte.

Kein platter Sozialistischer Realismus

Wer seine Bilder sieht, merkt schnell, dass Sitte keinen platten Sozialistischen Realismus malte, wie ihm das oft unterstellt wurde. Die Themen waren politisch, gelegentlich zudringlich, das stimmt, aber in der formalen Umsetzung war er sehr modern. Manchmal so modern, dass er auch noch in der Zeit seiner Präsidentschaft Anstoß in der DDR erregte.

Angesichts seiner großen, auch als Triptychen anlegten Bilder werden oft Sittes Zeichnungen vergessen. Er war ein großartiger Zeichner, sehr genau in der Darstellung und auch dort findet man wieder Bezüge zu den Großen der Malerei. „Hommage an …“ steht unter vielen seiner Zeichnungen. Sie beziehen sich auf Goya, Camille Claudel und andere. Diese Zeichnungen sind noch nicht genügend in der Beurteilung von Sitte gewürdigt worden.

Tiefer Sturz nach der „Wende“

Der Sturz nach der Wende war jedenfalls für tief für ihn. Gestern noch geachteter Staatsmaler, wollten nun selbst enge Freunde nichts mehr von ihm wissen. Freunde, denen er nachweislich geholfen hatte. Sitte war darüber enttäuscht, aber nicht verbittert. Zu optimistisch hat er das Leben gesehen, die Vitalität, die seine Bilder vor und nach der Wende ausstrahlen, bestätigt das.

Die ursprüngliche Absicht, nicht mehr in den neuen Bundesländern, also der alten DDR auszustellen, hat er am Ende aufgegeben. Zu seinem 90. Geburtstag erinnerte sich Halle an seinen großen Künstler und organisierte eine große Ausstellung, bei der den Zeichnungen breiter Raum gegeben wurde. Sitte war da schon so krank, dass er sie nicht mehr hingehen konnte.

Chance auf spannende Dialoge vertan

Gesehen hat er aber noch das eigens für ihn geschaffene Museum in Merseburg, die Willi-Sitte-Galerie am Domplatz, die einen Besuch wert ist. Neben Sitte-Bildern gibt es dort immer auch Wechselausstellungen.

Die bildende Kunst in Deutschland hat nach der Wende eine große Chance vertan. Zu schnell und zu oberflächlich wurden die DDR-Maler niedergemacht, so dass es gelegentlich wie ein Konkurrenzkampf um Marktanteile wirkte. Die deutsche Malerei hatte plötzlich zwei Wurzeln. Die westliche, die sich an der amerikanischen Moderne, vor allem der abstrakten Kunst orientierte. Und die östliche, die an den Expressionismus anknüpfte und das Gegenständliche bevorzugte. Hier hätte es zu einem spannenden Dialog kommen können, denn Vielfalt ist Reichtum.




Gedenktag von großem Gewicht: Im nächsten Jahr werden wir an die 1918 ausgerufene Weimarer Republik erinnert

Gedenktage gibt es ja mittlerweile in Unmengen, und dank Wikipedia kann man sich für jeden Tag des Jahres ein Gedenken aussuchen. Allerdings sind diese Anlässe nicht alle in ihrer Bedeutung gleichwertig, und deshalb ist ihre historische und faktische Einordnung auch die Aufgabe guten Journalismus‘.

Grabmal der beiden 1920 im Kapp-Putsch erschossenen Männer aus Ennepetal. (Foto Pöpsel)

In diesem Jahr sind besonders drei historische Ereignisse hervorzuheben, weil sie nachhaltige Auswirkungen hatten. Das ist zum einen Martin Luthers Anti-Papst-Handlung vor 500 Jahren, die inzwischen fast bis zum Überdruss erörtert wurde.

Das Zweite Ereignis von Bedeutung war vor hundert Jahren, im Sommer 1917, der Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in den Ersten Weltkrieg und damit die Wende zur endgültigen Niederlage der deutschen Reichswehr.

Als Drittes muss man die Oktoberrevolution 1917 in Russland nennen, die letztlich in der mörderischen Stalin-Diktatur endete und in deren Folge später die DDR entstand – ein erst 1989 überwundener undemokratischer Polizeistaat.

Und wo bleibt das Positive? Das kommt bestimmt im nächsten Jahr, denn dann können wir den Beginn der ersten echten Demokratie auf deutschem Boden vor einhundert Jahren feiern, die von den Sozialdemokraten am 9. November 1918 ausgerufene Republik, die später wegen des Tagungsortes des Parlaments „Weimarer Republik“ genannt wurde.

Die SPD bereitet sich auf Bundesebene bereits auf das Jubiläum vor – schließlich spielte sie damals die Hauptrolle, und ihr Vertreter Friedrich Ebert wurde der erste Reichspräsident.

Auch auf regionaler Ebene gibt es historische Forschungen, zum Beispiel über das Wirken der Arbeiter- und Soldatenräte, die sich im Laufe der Novemberrevolution bildeten und die Anfang 1919 gewaltsam ausgeschaltet wurden.

In Großstädten wie Dortmund bestimmten die Räte wochenlang das öffentliche Wirken, in Kleingemeinden findet man nur Randnotizen über ihre Arbeit. Im Protokollbuch der Gemeindevertretung Milspe zum Beispiel, heute Teil der Stadt Ennepetal, gibt es nur einmal eine Eintragung vom 18. November 1918, als neben den Gemeindevertretern auch der spätere Reichstagsabgeordnete Walter Öttinghaus „als Arbeiter- und Soldatenrat“ das Sitzungsprotokoll mit unterschrieb.

Die neue demokratische Republik war natürlich gefährdet, und als im März 1920 mit dem Kapp-Putsch der Angriff von rechts begann, gab es auch im Ruhrgebiet zahlreiche Tote. Zwei junge Männer aus Milspe, Max Fuchs und Artur Klee, wurden bei Kämpfen mit den Putschisten am Bahnhof in Remscheid erschossen. Die Gemeindevertretung ließ sie in einem Ehrengrab bestatten, und als Rechtsnachfolgerin hat sich auch die Stadt Ennepetal zur weiteren Grabpflege verpflichtet – als sichtbares Zeichen für eine Demokratie, die mit der Ausrufung der Republik in Berlin vor beinahe 100 Jahren begann und die mit der NS-Diktatur schon 1933 ihr Ende fand.




Auch in der DDR gab es Spielräume – 66 Facetten eines Lebens in Matthias Biskupeks „Der Rentnerlehrling“

Gastautor Heinrich Peuckmann über einen Erzählband, der manchen Aufschluss über das Leben in der einstigen DDR gibt:

Wer mit 65 Jahren ins Rentenalter eintritt, beginnt eine neue Lehrzeit, meint der Rudolstädter Schriftsteller Matthias Biskupek, er wird nämlich ein „Rentnerlehrling“.

Als er selber in diesen Lehrlingsrang kam, hat Biskupek, wie Schriftsteller das eben tun, ein Buch geschrieben, um sich seines bisherigen Lebens zu vergewissern und von dieser Plattform aus die restlichen Schritte zu gehen.

In 66 Geschichten, die weitgehend Lebenserinnerungen sind, hat Biskupek sein Leben rekapituliert. Für jedes Jahr eine Geschichte, dazu als Einleitung ein kurzer Bericht über das, was er genau erlebt hat mit Bezügen zum allgemeinen Weltgeschehen.

Der sachliche Vorspann ist deshalb notwendig, weil Biskupeks Geschichten keine bloßen Berichte sind, sondern Erzählungen, mal ironisch, mal satirisch zugespitzt, mal literarisch verdichtet. Und dies ist eine glückliche Kombination, denn der Leser kann einerseits Biskupeks Lebensweg nachvollziehen, in den Geschichten andererseits sehr viel über den DDR-Alltag und über die Literaturszene des untergegangenen Landes insbesondere erfahren. Je mehr der Leser eintaucht in das Buch, desto mehr merkt er, dass er vieles über die DDR ungenau, undifferenziert oder gar nicht gewusst hat.

Die Schriftstellerszene, die Biskupek aus der Innensicht heraus genau gekannt hat, steht dabei als eine Art Gradmesser für die allgemeine Entwicklung. Natürlich hat die Stasi versucht, auch ihn als IM zu rekrutieren, es fanden Gespräche statt, von denen er erst nach der Wende erfahren hat, dass die Stasi sie als informelle Gespräche gewertet hat. Aber er ist dort nicht gelandet, sondern hatte, weil er nicht stromlinienförmig mitschwamm, ein gerüttet Maß an Nachteilen in Kauf zu nehmen.

Kleine Perlen sind in diesem Zusammenhang die Berichte über interne Kämpfe. Wer kennt im Westen noch den Magdeburger Schriftsteller Wolf Brennecke? Er leitete dort eine Gruppe junger Autoren an, zu denen auch Brigitte Reimann und Rainer Kunze gehörten. Brennecke hat den demokratischen Anspruch, den ja auch die DDR für sich in Anspruch nahm, bitterernst genommen. Einmal mehrheitlich gefasste Beschlüsse hat er eisern versucht durchzusetzen. Er war nicht gegen den Staat, er hat nur manches Mal seinen eigenen Anspruch gegen ihn selber verteidigt. Als Brigitte Reimanns Mann im Gefängnis saß, hat die Stasi sie erpresst und angeworben. Als Brennecke das erfuhr, ist er zu den Ämtern gestürmt, hat sie dort verteidigt und dem Staat vorgeworfen, dass er dabei sei, eine solche Autorin in den Westen zu vertreiben.

Solche Haltungen waren also möglich, es gab Spielraum und es lag an der Tapferkeit des einzelnen, ob und wie er sie nutzte. Natürlich gab es Grenzen, das darf nicht vergessen werden. Eine Zeitlang arbeitete Biskupek, der eigentlich ein Ingenieurstudium abgeschlossen und diesen Beruf auch ausgeübt hat, am Theater in Rudolstadt. Mit viel sanftem Humor schildert er die Erlebnisse der Schauspieler und Autoren untereinander, auch die regelmäßigen Mühen, dieses oder jenes Stück überhaupt auf die Bühne zu bekommen. Aber mit List und Tücke war eben doch manches möglich.

Es macht Freude, diesen Lebenserinnerungen zu folgen. Man nimmt etwas mit und man muss beim Lesen sehr genau aufpassen, wie Biskupek diese oder jene Passage wirklich meint. Seine Ironie ist gut dosiert, sie verwässert nicht, aber fordert den Leser.

Matthias Biskupek: „Der Rentnerlehrling. Meine 66 Lebensgeschichten“. Mitteldeutscher Verlag, Halle. 352 Seiten, 19,95 Euro.




Gebrauche Deine Zeit: Zum 80. Geburtstag von Wolf Biermann

Es ist ein seltsames Phänomen um Wolf Biermann, der ein glühender Liebhaber des Kommunismus war und doch mit ungehorsamen Liedern die DDR in Aufruhr versetzte.

Wolf Biermann am 16. November 2008 beim Hamburger Festival "Lauter Lyrik" (Foto: © Marco Maas / fotografirma.de - Quelle: https://www.flickr.com/photos/qnibert/3035298792/) - Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wolf Biermann am 16. November 2008 beim Hamburger Festival „Lauter Lyrik“ (Foto: © Marco Maas / fotografirma.de – Quelle: https://www.flickr.com/photos/qnibert/3035298792/) – Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wenn man von ihm spricht, diesem schnauzbärtigen Helden deutsch-deutscher Kultur, da erhebt sich schnell ein Missmut: „Den mag ich nicht. Der ist so selbstgerecht, so eitel!“ Ja, Leute, der Biermann ist nicht berühmt für seine Bescheidenheit. Er weiß um seine Bedeutung. Aber, mit Verlaub, das darf er auch. Denn er hat mit Poesie und Pathos am Rad der deutschen Geschichte gedreht.

Von seinem Leben, das am 15. November 1936 in einer Hamburger Arbeiterfamilie begann, erzählt er uns zum 80. Geburtstag selbst. 544 Seiten lang ist Biermanns Autobiografie mit dem Titel eines Liedes: „Warte nicht auf bessre Zeiten“. 200 Tagebücher und Stapel von Stasi-Akten wurden da verarbeitet – von einem, der nur in Liebesdingen locker lässt. Viel Zorn steckt darin. Aber auch viel Zärtlichkeit, nicht nur für seine Frauen und insgesamt zehn Kinder. Am Ende wird keine fiese Abrechnung aus dem Buch, sondern ein Stück süffiger Literatur mit geschichtlich-politischem Mehrwert. Der Meister der lyrisch-prägnanten Kurzform – „Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit …“ – bleibt seiner Sprache auch auf der Langstrecke treu.

„Weggerissen wurde der Vater mir, als ich vier Monate alt war …“ Dagobert Biermann, Werftarbeiter jüdischer Herkunft, Kommunist und aktives Mitglied einer Widerstandsgruppe, wird 1937, kurz nach der Geburt seines Sohnes, zum zweiten Mal von den Nazis verhaftet. Er stirbt, nach qualvollen Jahren, im Februar 1943 in Auschwitz. Sein letzter Brief – „Warte nur, Wölflein, wenn ich wieder komme, dann bauen wir uns ein großes Schiff …“ prägt Biermanns Kinderseele bis ins hohe Alter. Im Juli 1943 überlebt der Kleine an der Hand seiner Mutter Emma die Zerstörung Hamburgs durch Fliegerbomben – den „Feuersturm“. Er sieht verbrannte und erstickte Menschen, registriert entsetzliche Details. Doch er weint nicht: „Der Schrecken war zu übermächtig.“

Vielleicht hat das große Trauma den erwachsenen Biermann unempfindlich gemacht gegen die kleinlichen Schikanen des SED-Regimes. Er ist in den Ostapparat hinein geraten, weil seine Mutter Emma Biermann, mutig-naive Witwe des Widerstandshelden Dagobert und überzeugt vom Segen des Kommunismus, ihr Bübchen zu den Jungen Pionieren und schließlich in die junge DDR schickt, den Hoffnungsstaat der westdeutschen Genossen.

Ab 1953 geht Wolf Biermann auf ein Mecklenburger Internat und fühlt sich am rechten linken Platz. Als Student und Regieassistent des Berliner Ensembles ist er Ende der 1950er-Jahre intellektuell ganz vorn dabei. 1961 begrüßt er sogar den Mauerbau als Reaktion auf die massenhafte Westflucht der Eliten. Und er bekennt heute: „Ich habe an diesem 13. August die verfluchte Mauer mitgebaut“.

Hinter der schützenden Grenze entwickelt sich der junge Biermann, gefördert vom Brecht-Komponisten Hanns Eisler, zum Liedermacher mit Gitarre. Er tritt auf als „Troubadour de Berlin“, beachtet auch von der Linken im Westen. Für den Osten ist sein Ton nicht unverfänglich genug. Er verärgert die „Alten Genossen“ mit Versen über seine Unzufriedenheit. Schon bald gibt es Auftrittsverbote wegen „Klassenverrat“ und Obszönität“.

Wolf Biermann beim Konzert in Leipzig am 1. Dezember 1989 (Foto: © Waltraud Grubitzsch geb. Raphael - Bundesarchiv Bild Nr. 183-1989-1201-046) - Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Wolf Biermann beim Konzert in Leipzig am 1. Dezember 1989 (Foto: © Waltraud Grubitzsch geb. Raphael – Bundesarchiv Bild Nr. 183-1989-1201-046) – Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Mitte der 1960er-Jahre gehört Biermann zu den Geistern des Widerstands, ununterbrochen bespitzelt. „Die Stasi ist mein Eckermann“, so kommentiert Biermann bissig die eifrigen Mitschriften der Lauscher. Die westliche Studentenbewegung liebt ihn und seinen eingängigen Song von der „Ermutigung“ (1966): „Du, lass dich nicht verbrauchen, gebrauche deine Zeit …“. Sie liebt auch sein wehmütiges Barlach-Lied: „Vom Himmel auf die Erden falln sich die Engel tot …“. Die Langspielplatte „Chausseestraße 131“, zu Hause aufgenommen mit einem von Mutter Biermann geschmuggelten Mikrofon, wird 1969 hüben verkauft und mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet. Sie bringt dem Regime und dem Barden erstaunliche Devisen.

Biermann hat sich recht kuschelig eingerichtet im Gesinnungsgefängnis DDR, wo er Beachtung findet an der Seite des Chemikers und Dissidenten Robert Havemann, dessen Tochter Brigitt zu seinen zahlreichen Amouren gehört. Er inszeniert sich poetisch als preußischen Ikarus, „mit grauen Flügeln aus Eisenguss“. Wegen seines westlichen Ruhms wagen die Behörden nicht, Biermann einzusperren, sie lassen ihn 1976 sogar auf Westtournee gehen (siehe Video am Schluss des Beitrags), und er wäre wohl artig zurückkommen, wenn man ihn nicht nach seinem triumphalen Konzert in Köln ausgebürgert hätte. Aus Protest verlassen etliche Kunstgenossen, darunter auch die Filmstars Manfred Krug und Eva-Maria Hagen, die DDR. Das System erzittert nachhaltig. 13 Jahre später wird die Mauer fallen.

Der Vertriebene selbst verliert in der Freiheit seinen Status. Die Fans reagieren gelangweilt auf klassenkämpferische Parolen und belehrende Konzerte. Sie sind genervt von den Streitigkeiten, die er vom Zaun bricht. Biermann zieht sich zurück nach Frankreich, in den „Bernstein der Balladen“ und in den Kreis seiner wachsenden Familie.

Der schönen Pamela, Mutter der letzten drei Kinder, ist er immerhin seit 1983 verbunden. Er ist weich geworden. Geehrt mit Preisen im Namen deutscher Dichter von Hölderlin bis Heine, kommt der alte Wolf Biermann zu ziemlich liberalen Einsichten. Er lobt die bürgerliche Demokratie als „das am wenigsten Unmenschliche, was wir Menschen als Gesellschaftsmodell bisher erfunden und ausprobiert haben“. Ist doch wahr. Drum: „Lass dich nicht erschrecken in dieser Schreckenszeit!“

Wolf Biermann: „Warte nicht auf bessre Zeiten!“ Die Autobiografie. Propyläen Verlag. 544 Seiten. 28 Euro.

Wolf Biermann: „Im Bernstein der Balladen – Lieder und Gedichte“. Propyläen. 240 Seiten. 24 Euro.

„Warte nicht auf bessre Zeiten“ – Wolf Biermann 1976 beim legendären Auftritt in der Kölner Sporthalle:




Originelle Museen in Berlin – aber die Currywurst würde ebenso gut ins Revier passen

Wenn es in der Stadt Bochum ein Bergbaumuseum gibt, dann kann man für seine Existenz und den Standort Ruhrgebiet gute Gründe finden – die Geschichte des Kohle-Abbaus eben. Nach Berlin fahren viele Menschen nur wegen der reichhaltigen Kunstmuseen, das hat eine Hauptstadt nun einmal zu bieten. Berlin glänzt aber auch mit kuriosen Ausstellungen, für die es natürlich ebenfalls lokale Begründungen gibt.

Einheitsladen für Berliner Currywurst. (Foto Pöpsel)

Einheitsladen für Berliner Currywurst. (Foto: Pöpsel)

Da rühmt sich das „Spy-Museum Berlin“ zum Beispiel damit, die Geschichte der „Hauptstadt der Spione“ zu zeigen, multimedial natürlich und mit 350 Ausstellungsstücken auf 32.000 Quadratmetern. Ebenfalls auf die Teilung der Stadt geht das „DDR-Museum“ in der Nähe des Doms zurück, passend an der Karl-Liebknecht-Straße angesiedelt.

Auch auf die damalige Ostzone gehen das „Trabi-Museum Berlin“ in der Nähe des Checkpoint Charlie und das „1. Berliner DDR-Motorrad-Museum“ zurück. Letzteres zeigt neben dem Alexanderplatz ausschließlich „The History of east german Motorbike Production“. Besonders bekannt in dieser Reihung ist die „East Side Gallery“, das bemalte Stück Berliner Mauer, ein Freiluft-Museum, das ständig durch Bauherren gefährdet ist.

Eine Einrichtung allerdings weckt im Ruhrgebiet zwiespältige Gefühle: Das „Currywurst-Museum“ an der Schützenstraße / Ecke Friedrichstraße, eine „interactive exhibition“. Schließlich sieht sich der Ruhrpott genauso wie Berlin als Geburtsstätte dieser kulinarischen Spezialität. Herbert Grönemeyer hat sie besungen, und während hier im Westen die Bratwurst als Grundlage dient, wird in der Hauptstadt eine Knackwurst zerschnibbelt.

Vielleicht macht ja mal jemand in Dortmund ein konkurrierendes Currywurst-Museum auf, oder zumindest ein Museum für die berühmte „Pommes Schranke“. Aber dann kommt bestimmt wieder ein Belgier und nimmt das Urheberrecht für sich in Anspruch.




Eingezäunte Kindheit und Jugend: Durs Grünbeins Erinnerungen „Die Jahre im Zoo“

Der Fischladen. Die immergleichen Spaziergänge mit dem schweigsamen Großvater. Der Bahnhof als Trutzburg und Durchgangsstation in wechselnden Zeiten. Die Elbe. Der Schlachthof. Die Straßenbahn. Der Zoo.

Wenn einer wie der Lyriker Durs Grünbein seine Kindheit und Jugend in Dresden beschreibt, geht es nicht um die üblichen Sehenswürdigkeiten wie Frauenkirche, Zwinger oder Semperoper, sondern um lang nachwirkende Sinn-Bilder, Sehnsüchte und Träume. Im allgegenwärtigen Gefühl der Beengung und des Umzäunt-Seins schwillt die Elbe dann auch schon mal zum Möchtegern-Mississippi an, denn Grünbein schildert in „Die Jahre im Zoo“ Dresden als entlegene und gründlich geschundene Provinzstadt der DDR.

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Der im Titel erwähnte Zoo kommt – eher unauffällig – gelegentlich zwischendurch und wirklich explizit erst gegen Schluss vor, und zwar als Ort der Ambivalenz: Auch die dort lebenden exotischen Tiere wecken, ebenso wie die nordwärts fahrenden Schiffe auf der Elbe, die Sehnsucht nach anderen Gegenden. Die Tiere sind jedoch eingesperrt und verkörpern somit just ebenso die Unfreiheit im damaligen realen Sozialismus.

Germanisten werden künftig manche Vergleiche anstellen: Während der viel beachtete Roman „Der Turm“ von Uwe Tellkamp (Jahrgang 1968) aus dem Geist des Dresdner Ortsteils „Weißer Hirsch“ hervorgegangen ist, bewegte sich Durs Grünbein (Jahrgang 1962) in seinen jungen Jahren durch die Dresdner Gartenstadt Hellerau, die im beginnenden 20. Jahrhundert für hoffnungsvolle Lebensreform-Bewegungen gestanden hatte, welche sich auch baulich fortschrittlichen Ausdruck verschafften.

Welch eine zukunftsgerichtete Zeit, die zahlreiche Künstler und Schriftsteller in die Stadt zog, allen voran Rilke, Gottfried Benn und Franz Kafka, der freilich auch schon die Ängste und Traumata der kommenden Epoche vorausahnte. Zu DDR-Zeiten war Kafka gleichsam nur noch ein Phantom, dessen Schriften äußerst schwer zu bekommen waren, wie denn überhaupt die große kulturelle Vergangenheit längst erstickt war – im Kern bekanntlich schon vor Entstehung der DDR. Grünbein blickt mit Schrecken zurück auf die Zeit, als die NS-Ideologie so lange einsickerte, bis es zu spät war.

Und noch weiter zurück: Schon mit dem Zerfall Europas im Ersten Weltkrieg „waren auch für Hellerau, das kleine Hellas am Hellerand, die leuchtenden Tage gezählt“. Die Stimmung des schmerzlichen Verlustes kulminiert bei Durs Grünbein in der Wiederentdeckung eines offenbar höchst lesenswerten Autors, der zwischen Italien und Hellerau gelebt hat: Paul Adler habe die Reform-Jahre wie kein anderer auf den Begriff gebracht. Besonders seinen 1915 im Hellerauer Verlag Roman mit dem lakonischen Titel „Nämlich“ muss man sich wohl unbedingt vormerken. So zeugt eine Lektüre die nächste. Und so soll es ja auch sein.

Vom heutigen Dresdner Pegida-Unwesen ist in diesem Buch übrigens mit keiner Silbe die Rede, es reicht ja auch nicht bis heute, sondern im Wesentlichen „nur“ bis zum NVA-Militärdienst des Erzählers; eine Zeit, die mit seiner Bewusstwerdung und erwachendem Oppositionsgeist einherging.

Doch auch ohne Pegida-Schelte (die dem erinnernden Duktus des Buches geschadet hätte) fragt man sich bei der Lektüre unwillkürlich, ob sich die Aussichten Dresdens durch fortwährende Unfreiheit nicht für sehr lange Zeit verdustert und vergiftet haben – letztlich auch weit über die „Wende“ von 1989/90 hinaus. Wie überaus betrüblich ist das, gerade angesichts der kosmopolitischen und avantgardistischen Vergangenheit Helleraus.

Von all dem wussten Grünbein und seine Schulfreunde seinerzeit nichts, auch hatten sie als Kinder keinen Blick für ihre geschichtsträchtige architektonische Umgebung, sondern suchten jeden Nachmittag ihre kleinen, altersgemäß anarchistischen Abenteuer.

Sehr fein destilliert Grünbein das Aroma dieser Kindheit, die spürbar auch ein Gutteil jeglicher Lebens-Frühzeit enthalten hat. Wer könnte beispielsweise derlei Sätze, unabhängig vom jeweils herrschenden Politbetrieb, nicht unterschreiben: „Dieses Schulgebäude werde ich nie vergessen. Ich trage es mit mir herum wie den Grundriß zum Eingang in mein persönliches Labyrinth. Wir begruben unsere Vormittage dort und auch manche der Nachmittage in jener kostbaren Zeit, da man sechs Jahre alt war, dann sieben, dann acht und so weiter.“

Und doch konnte es genau diese Kindheit nur in der DDR und im Dresden der 1960er Jahre geben. Auch diese besondere Beimischung wird im Buch deutlich. Ein Exkurs gilt der Sachsen-spezifischen Neigung zu Wildwest- und Indianer-Romantik im Gefolge des berühmten Landsmannes Karl May. Und selbstverständlich findet, wo es doch um (vielfach verschüttetes) kulturelles Erbe der Region geht, auch der Dresdner Erich Kästner gebührend Erwähnung.

Auf den alles überragenden Kafka kommt Grünbein verschiedentlich zurück, die vielleicht spannendste Episode verknüpft Kafkas Dresden-Aufenthalte mit dem „denkenden Pferd von Elberfeld“, der generellen Dezimierung europäischer Pferdebestände und Nietzsches legendärer Pferde-Umarmung in Turin. Solch aus- und abschweifende Passagen gehören zum Allerbesten dieses durchweg lesenswerten Buches.

Durs Grünbein nennt seine Erinnerungen denn auch im Untertitel „Ein Kaleidoskop“. Tatsächlich wechseln nicht nur Phänomene und Betrachtungsweisen – mal nüchtern, mal wehmutsvoll -, sondern auch die Stilformen. Mitunter klingt es nahezu anekdotisch, dann wieder finden sich historisch reflektierende Betrachtungen oder auch lyrische Einschübe, in denen Befunde über die Stadt Dresden nochmals verdichtet und kunstvoll rhythmisiert werden.

Nur hätte man sich die Wiedergabe der Fotografien aus der Sammlung des Autors ein wenig großzügiger gewünscht. Wären es nicht solche „Briefmarken“, hätten sie eigene Wirkung entfalten können.

Durs Grünbein: „Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop“. Suhrkamp Verlag, 400 Seiten. 24,95 Euro.




Detlef Orlopps starke Strukturen und Plakate aus der DDR im Essener Folkwang-Museum

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Nur Struktur. Das Bild heißt „2.8.1987“ (Foto: Museum Folkwang/Detleff Orlopp)

In der Malerei wären solche Bilder etwas Vertrautes. Viele von ihnen zeigen gleichmäßige Oberflächen, sind monochrom und wirken in der Hängung schnell wie Serien. Vielleicht würde man, wäre es Gemaltes, von „konkreter Kunst“ sprechen, vielleicht auch könnte man in ihnen Totalübermalungen im Stil Gerhard Richters zu erkennen glauben.

Tatsächlich jedoch sind die rund 160 Bilder Fotografien und zeigen sorgfältig abgelichtete Strukturen in urwüchsigen Landschaften oder auf bewegten Wasseroberflächen. Sie entstanden in einem Zeitraum von rund 60 Jahren, ihr Schöpfer ist der Fotograf Detlef Orlopp, dem das Essener Folkwang-Museum jetzt eine große Werkschau ausrichtet. Die Bilder entstammen einem Ankauf von rund 500 Arbeiten, den das Museum 2012 tätigte.

Detlef Orlopp, 1937 in Westpreußen geboren, gehörte zu den ersten Schülern Otto Steinerts, der als Fotolehrer zunächst in Saarbrücken, später in Essen die „subjektive Fotografie“ begründete. Und wenn man nun in Essen Orlopps Arbeiten sieht, mag man das kaum glauben. Denn schon seine seriellen Portraitreihen, die er in den frühen 60er Jahren beginnt, prägt offenkundig der Versuch, die subjektive Handschrift des Lichtbildners durch formale Einheitlichkeit verblassen zu lassen.

Orlopps Landschaften aus jener Zeit indes lassen das Topographische, das Ortstypische noch erkennen, zeigen Bergspitzen und Felswände, Dünenformationen und Küstenlinien. Man ahnt die Wucht der urwüchsigen Natur, doch „beweist“ der Fotograf sie nie, etwa durch Größenvergleiche mit Spuren zierlicher Zivilisation. Die minimalistische Kunstrichtung Zero, so Kurator Florian Ebner, habe Orlopp in seinen frühen Schaffensjahren sehr beeinflusst. Man glaubt es, sieht man seine Bilder, gern.

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„4.9.1966“ (Foto: Museum Folkwang/Detlef Orlopp)

In den folgenden Jahrzehnten entstehen Arbeiten, die noch radikaler sind. Sie zeigen ausschließlich rhythmische Struktur und sind nicht mehr verortbar. Seriell reiht Orlopp das Ähnliche aneinander , was dieser Ausstellung in den angenehm zurückhaltenden Räumlichkeiten des Folkwang-Neubaus geradezu meditativen Charakter verleiht. Doch auch wer hier nicht die Seele schweben lässt, ist tief beeindruckt von der Vielfalt der wahrgenommenen Strukturen und von der vielen (Fotografier-) Arbeit, die in dieser Ausstellung steckt. Übrigens entstanden alle Abzüge – die meisten von ihnen im lange Zeit größten Konfektionsmaß 50 x 60 Zentimeter – sämtlich noch auf traditionelle Weise als Bromsilbergelantine-Abzüge in der Dunkelkammer.

Der serielle Charakter des Oeuvres lässt einen an die Bechers denken, die es mit ihren fotografischen Reihungen von Industrieanlagen, Fachwerkhäusern usw. zu Weltruhm brachten. Interessanterweise machte Orlopp von 1952 bis 1954 eine Fotografenlehre in Siegen, der selben Stadt, in der der sechs Jahre ältere Bernd Becher das Licht der Welt erblickt hatte. Gleichwohl war ihrer beider künstlerischer Werdegang höchst verschieden, haben sich die kreativen Lebensbahnen wahrscheinlich nie gekreuzt.

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„Helen von B., 8.10.1963“ (Foto: Museum Folkwang/Detlef Orlopp)

Der vorzügliche Katalog zur Ausstellung übrigens wurde, eine Besonderheit, auf zwei verschiedenen Papiersorten gedruckt. Frühe Bilder erscheinen in Hochglanz und reinem Weiß, spätere mit einem Hauch von Sepia auf mattem Papier. So kommt der Druck den Vorlagen besonders nahe. Ältere Fotografen fühlen sich bei dieser Materialwahl an die traditionsreichen Agfa-Fotopapiere „Brovira“ und „Record rapid“ erinnert.

Plakate aus der DDR 1949 – 1990

Die andere neue Ausstellung im Essener Folkwang-Museum hat mit der ersten nur Ort und Zeit gemein. Sie zeigt „DDR-Plakate 1949 – 1990“, ein Gutteil des Materials kommt von der Berliner Stiftung Plakat Ost.

Ja, auch in der DDR wurde geworben – für die richtige Politik und gegen den Klassenfeind, gewiss, aber ebenso für Kino und Theater und auch für die Waren, die beispielsweise der „Konsum“ für die Werktätigen (oft leider nicht) bereithielt.

Werbung hatte in der Mangelwirtschaft der DDR immer die Aura des Absurden. Und sie galt als ungelenk, über „Plaste und Elaste aus Schkopau“, die mit schäbigem Schild an einer Brücke beworben wurden, haben Generationen von westdeutschen Transitautobahnbenutzern gelacht. Gleichwohl entstand in der DDR eine Vielzahl vorzüglicher Plakate. Manche davon waren auch im Westen bekannt, wie die schwungvolle Erweiterung des „MM“-Logos der Leipziger Messe zu einem Pärchen mit Koffern, das energisch durch das Bild strebt, der Messe entgegen vermutlich. Es entstand schon 1956, seine Schöpfer waren Margarete und Walter Schultze.

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Klaus Wittkugel: „Kunst im Kampf“. Plakat zur Ausstellung der deutschen Akademie der Künste, 1962 (Foto: Museum Folkwang/VG Bild-Kunst, Bonn)

Viele klassenkämpferische Arbeiten mit roten Fahnen und geballten Fäusten, für den sozialistischen Aufbau und gegen die Bonner Kriegstreiber, sind fachlich und ästhetisch ausgesprochen gelungen. Es ist Plakatkunst im Stil der Zeit, der auf beiden Seiten der immer stärker befestigten Staatsgrenze recht ähnlich war. In den Siebzigern hielt vereinzelt die Pop Art Einzug ins DDR-Plakatschaffen, beispielsweise in der Werbung für Ulrich Plenzdorfs auch im Westen stark beachteten Film „Die Legende von Paul & Paula“ mit Angelica Domröse und Winfried Glatzeder. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Entwurf von Heinz Edelmann, der das Cover der Beatles-Platte „Yellow Submarine“ gestaltete. Doch der tatsächliche Schöpfer hieß Klaus Vonderwerth.

Die jüngsten Plakate stammen aus der Zeit, als es die DDR fast schon nicht mehr gab. 1990 bewarb das Bündnis 90 einen gewissen Jochen Gauck mit dem Slogan „Freiheit – wir haben sie gewollt – wir gestalten sie!“ – „Tatkräftig – zuversichtlich – mit norddeutschem Profil“ steht außerdem noch auf dem Plakat, was immer mit Letzterem gemeint ist.

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Jürgen Freeses Plakat „Nürnberg schuldig!“ von 1946 ist sogar um einiges älter als die DDR. (Foto: Museum Folkwang)

„Anschläge von ,Drüben’“, so der Titel der Plakatausstellung mit dem heutzutage wohl unvermeidlichen Doppelsinn, ist nicht zuletzt eine Einladung zum Nachdenken über den anderen deutschen Staat, den es eben auch einmal gab und den viele am liebsten einfach vergessen wollen. Bilder aus einer untergegangenen Welt mithin. Das wäre fast schon ein Plakatmotiv.

  • Detlef Orlopp: „Nur die Nähe – auch die Ferne. Fotografien“. Katalog 34 €.
  • „Anschläge von ,Drüben’. DDR-Plakate 1949 – 1990“. Katalog 20 €.
  • Beide Ausstellungen: Bis 19. April 2015, Di-So 10-18 Uhr, Do u. Fr 10-20 Uhr, Eintritt 5 €.
  • Museum Folkwang, Museumsplatz 1, Essen
  • www.museum-folkwang.de



Opel Bochum mal aus einer anderen Sicht

Hier und heute mal etwas Anderes zum Thema Opel: Als kleiner Junge war ich oft bei meinen Großeltern in Bochum-Weitmar zu Besuch. Für ein Kind aus dem dörflichen Münsterland war das Ruhrgebiet eine aufregende Sache. Als dann die ersten Berichte über den geplanten Opel-Bau beim Opa bekakelt wurden, war ich überrascht. Konnte man eine große Autofabrik einfach so bauen? Auf eine Wiese?

Schauseite des Bochumer Opel-Werks (Foto: Bernd Berke)

Schauseite des Bochumer Opel-Werks (Foto: Bernd Berke)

Eine Fabrik, das war in meiner Vorstellung ein Sammelsurium unterschiedlicher Bauteile, die nach und nach aus einer Werkstatt entstanden waren, die mit der Firma wuchsen und dann eben eine Fabrik geworden waren.

Tatsächlich wurde Opel Bochum gebaut. Das war für uns eine Attraktion, die man von außen staunend besichtigte. Später war ich dann mit einem Freund in Eisenach, kurz nach der Maueröffnung und noch vor dem Ende der DDR. Damals im Februar 1990 lag ein stinkender Braunkohlerauch über der Stadt. Sie wirkte wie gelähmt, die Menschen gingen wortlos durch die Straßen, kein Lachen und Plaudern wie in westlichen Fußgängerzonen – von Aufbruch keine Spur. Wir tranken einen Kaffee in einer HO-Gaststätte. An einer langen Theke saßen morgens um 10 mindestens zwei Dutzend schweigende Männer und tranken Bier aus Flaschen.

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In diesem Eisenach entstand dann auch eine Opel-Fabrik, noch moderner als die in Bochum und heute ebenfalls in Teilen schon wieder veraltet. Wann wird sie geschlossen? Der Braunkohlengestank in Eisenach ist weg, erzählen mir Bekannte. Die Stimmung näherte sich dem Westen an, vor allem Volksmusik sei dort beliebt. Die Menschen lachen und plaudern auch auf der Straße miteinander. Das bleibt so, bis Opel dicht macht. Vielleicht sollte ich mir ein neues Auto kaufen.




Deutscher Buchpreis 2011 für ostdeutschen Familienroman

Es ist amtlich. Der vorher als haushoher Favorit gehandelte Eugen Ruge ist der Gewinner des  diesjährigen deutschen Buchpreises. Er gewann den angesehenen Preis für seinen Familienroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Die Jury des Börsenvereins des deutschen Buchhandels begründete: „Es gelingt ihm, die Erfahrungen von vier Generationen über fünfzig Jahre hinweg in einer dramaturgisch raffinierten Komposition zu bändigen.“

„In Zeiten des abnehmenden Lichts“ erzählt Ruge anhand einer sich über 4 Generationen erstreckenden ostdeutschen Familiengeschichte das Epos vom allmählichen Untergang der DDR und der sozialistischen Ideologie. Kaleidoskopartig erzählt er in wechselnden Perspektiven von bröckelnden Mauern sowie vom bröckelnden Familienzusammenhalt. Mit der Geschichte des Powileit/Umnitzer-Clans bewahrt Ruge weite Teile der Geschichte seiner eigenen Familie. Einer Familie, die zum mit der Mauer untergegangenen intellektuellen DDR- Establishment gehörte, dem heutzutage keine größere historische Relevanz mehr zugebilligt wird.

Ist der Preis nun auch aus der Sicht der Zielgruppe, des Lesers gerechtfertigt? Zunächst ist heutzutage sicher jede Preisvergabe an einen Autor gerechtfertigt, der sich seinem Thema mit Herzblut verschrieben hat und nicht nur auf den schnellen Bestsellererfolg schielt. Ob die Preisvergabe diesem Buch und seinem Anliegen nun aber mehr schadet als nützt? Schon vorab wurde das Buch mit Vorschusslorbeeren überhäuft. Den Alfred-Döblin-Preis für das beste Manuskript erhielt Ruge bereits 2009, die Besprechungen in den Feuilletons waren hymnisch,  euphorisch wurden gar die ostdeutschen Buddenbrooks begrüßt.

Das Buch ist keine leichte Kost und verlangt dem Leser ob der ungeordneten Zeitsprünge und Perspektivwechsel ungeteilte Aufmerksamkeit ab. Ruge setzt in seiner Erzählung ganz auf präzise Beobachtung, es ist ihm wichtig, seinen Figuren Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Obwohl von einem melancholischen Unterton getragen, kommt seine Sprache unprätentiös, fast nüchtern daher. Der Leser bleibt während der Lektüre seltsam distanziert. Natürlich werden nur wenige dieses Buch emotionslos lesen, sind die historischen Ereignisse doch bei fast allen auch mit privaten Erinnerungen oder Familiengeschichten verknüpft. Umso mehr hätte man sich als Leser wenigstens eine Figur gewünscht, mit der man empathisch diese Geschichte hätte miterleben und miterleiden können. Die Zeit war sicher mehr als reif für einen unverstellten Blick auf die DDR, die Nöte aber auch die Freuden des Lebens dort. Dies literarisch bewahrt zu haben, ist das große Verdienst Eugen Ruges und macht „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ sicher zu einem der wichtigsten Bücher des Jahres. Definitiv kann der Autor für sich verbuchen, Geschichte als Familiengeschichte erlebbar gemacht und dem wiedervereinigten Land ein umfassendes ostdeutsches Panorama geboten zu haben.

Dennoch bleibt die Befürchtung, dass nun viele dieses Buch kaufen oder verschenken, um es als „must have“ des Bücherherbstes demonstrativ ins Regal zu stellen. Nach der Lektüre bleibt man mit der Frage zurück: Wäre die Familie in einem anderen System glücklicher geworden? Nach der Vergabe des Buchpreises fragt man sich: Wäre Ruge ohne die Lobeshymnen mit seinem Werk glücklicher? Ich bezweifele, dass es seine Intention war, das ostdeutsche Komplementärwerk zu Thomas Manns Meisterstück vorzulegen. Was er vorgelegt hat, ist der derzeit gültige Roman zur deutschen Einheit aus ostdeutscher Sicht. Möglicherweise war dies der Konsens, der die Jury zur Vergabe des Preises an Ruge bewog.

Der Autor: Eugen Ruge kam 1958 mit seiner Familie zusammen nach Ost-Berlin. Sein Vater ist der bekannte Alt-Kommunist Wolfgang Ruge, der seinerzeit von den Sowjets in ein sibirisches Lager deportiert wurde. Eugen Ruge arbeitete zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Physik der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seit 1986 arbeitet er schriftstellerisch und wirkt seit 1989 hauptsächlich als Autor für Theater, Funk und Film. „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ ist sein Debütroman.

Eugen Ruge: „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. Roman. Rowohlt. 432 Seiten, €19,95




Eine Liebe im Schatten der Ideologie

Das erste, was der Leser des neuen Buches von Barbara Honigmann wahrnimmt, ist das Bild eines schlanken und großen Radfahrers. Im Hintergrund scheint sich, der Wolkenbildung nach zu urteilen, ein Gewitter anzukündigen. Die rechte Hand hält der direkt auf den Betrachter zuradelnde Mann an die Stirn. Wahrscheinlich hat er, wie die Autorin später im Buch mutmaßen wird, wieder einmal Kopfschmerzen.

Vor allem daran erinnert sich Barbara Honigmann, die das von ihr selbst gemalte Bild ihres früheren Geliebten auf dem Cover ihres Buches zeigt: dass der Mann so dürr und lang war, oft Migräne hatte und sich schnell aus dem Staub machte, wenn es ernst wurde und die Frauen, die ihn umschwirrten wie Motten das Licht, seine intellektuelle Abkapselung durchdringen wollten. „Wenn ich an A. denke“, schreibt Honigmann, „bin ich verletzt, beleidigt, fühle mich abgewiesen und ausgenutzt, er ist mir fern, fremd, unverständlich, und ich liebe ihn. Wir sind, wie man so sagt, im Bösen auseinander gegangen. Unversöhnt. A. ist jetzt tot.“

„Bilder von A.“ heißt das Buch. Es ist, wie alle Bücher der jüdischen Autorin, die 1984 die DDR verließ und ins französische Straßburg zog, ein auf das Nötigste komprimiertes Bändchen. Es gibt kein überflüssiges Wort, keine erklärenden Umschreibungen. Nur die flüchtigen Erinnerungen, die Bilder und Briefe, die sie noch von jenem Mann hat, den sie A. nennt, spielen eine Rolle.

A., das ist nicht allzu schwer zu dechiffrieren, ist Adolf Dresen, der im Jahre 2001 verstorbene Theater- und Opern-Regisseur, Vater von Filmregisseur Andreas Dresen. Die beiden, was Temperament und Alter angeht, völlig verschiedenen Künstler lernten sich bei einem Kleist-Projekt kennen. Barbara Honigmann war damals eine junge, unbekannte Dramaturgin, Dresen ein in der DDR hoch angesehener Bühnenguru. Zusammen entwickelten sie Ideen für mehrere Kleist-Inszenierungen, Text-Abende und Konzerte. Doch während die von Dresen arrangierten Inszenierungen („Prinz von Homburg“, „Der zerbrochene Krug“) den Beifall der Zensoren fanden und noch jahrelang auf dem Programm standen, wurden die von Honigmann eingeübten Aufführungen (ein Kinder-Kleist-Stück und ein musikalisch-kritischer Kleist-Abend) nach den ersten Vorstellungen abgesagt. Die aufmüpfige Jung-Regisseurin wurde gefeuert. Damit war zwar die Theater-Karriere von Honigmann beendet, die Liebesaffäre mit dem verheirateten Dresen aber noch lange nicht.

Ausführlich und ungeschminkt von den Schwierigkeiten und Verletzungen dieser Liebesgeschichte zu erzählen, würde vielleicht voyeuristische Neugier wecken. Doch das interessiert Barbara Honigmann keinen Moment. Ihr geht es darum, das exemplarische Scheitern einer Liebe vor dem Hintergrund der ideologischen Katastrophen und religiösen Widersprüche zu zeigen, die das 20. Jahrhundert geprägt haben.

Barbara Honigmann hat schon mehrfach („Damals, dann und danach“, „Roman von einem Kinde“, „Eine Liebe aus nichts“, „Alles, alles Liebe!“) ihre Lebensgeschichte für fiktive Verwirrspiele benutzt, hat davon erzählt, wie ihre kommunistischen Eltern aus dem englischen Exil in die DDR kamen, um den Sozialismus aufzubauen – und dafür ihre jüdischen Geschichte über Bord warfen und verdrängten. Honigmann hat berichtet, wie sie ihr Judentum wiederentdeckte, antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt war und schließlich nach Frankreich auswanderte. Seitdem blickt sie von dort, kritisch und mahnend, auf Deutschland.

Wer die Zukunft gestalten will, muss die Vergangenheit verstehen. Für die Autorin heißt das: sich vergegenwärtigen, warum der Kommunist Dresen seiner Geliebten das Judentum ausreden wollte, warum er ihr, damals in Ostberlin genauso wie später in unzähligen Briefen, unterstellte, sie hätte sich nur aus Unzufriedenheit mit dem realen Sozialismus der DDR, quasi als antisozialistische Attitüde zum Judentum bekannt. „Warum reitest Du immer auf den jüdischen Dingen herum“, hat A. in einem Brief gefragt. Doch da war die Liebe zwischen den beiden schon längst zerbrochen, hatte sich die junge Frau längst aus den Fängen der intellektuellen Bevormundung befreit und auf den Weg in ein eigenes Leben gemacht. Spätestens da wusste Barbara Honigmann auch, dass die Deutschen und die Juden noch lange brauchen würden, bis sie den anderen verstehen.

Barbara Honigmann: „Bilder von A.“ Hanser Verlag, München. 137 Seiten, 16,90 Euro.




Als der Widerstand wuchs: Gesichter der „Wende“

Des welthistorischen Tages wollen wir auch an dieser Stelle gedenken: Vor 50 Jahren, am 13. August 1961, hat das DDR-Regime mit dem schändlichen Mauerbau begonnen. Doch wir zäumen die Sache von hinten auf und betrachten ein Buch über die „Wende“ von 1989, die diese Mauer schließlich zu Fall gebracht hat.

Gesine Oltmanns (Foto: Dirk Vogel)

Gesine Oltmanns (Foto: Dirk Vogel)

Der Dortmunder Fotograf Dirk Vogel porträtiert in dem Bildband „Gesichter der Friedlichen Revolution“ insgesamt 63 Protagonist(inn)en jener bewegenden Phase deutscher Geschichte. Es sind durchweg aufrechte, anständige Charaktere, deren Lebensleistung hohen Respekt verdient. Unter teilweise großem persönlichem Risiko haben sie Courage in einer Diktatur bewiesen. Auch wenn einige es selbst nicht gerne hör(t)en, so darf man sie wohl Heldinnen und Helden der Zeitgeschichte nennen, Vorbilder weit über den Tag hinaus. Doch selbst Helden sind mitunter fehlbar.

Die kurzen Begleittexte zu den fotografischen Porträts stammen von 23 verschiedenen Autoren, sind also zwangsläufig von schwankender Qualität. Hie und da würde man sich wünschen, die Dargestellten mit deren eigenen Äußerungen wiederzufinden. So klingt manches etwas steril, weil praktisch nur von makellosen Menschen die Rede ist. Das liest sich schon mal wie Hagiographie oder landläufige Nachrufprosa. Ein Buch über Leute, die entschieden Widerspruch erhoben und Widerstand geleistet haben, dürfte ruhig etwas kontroverser sein. Hier aber hat es den Anschein, als würden (hochinteressante) Biographien im Idealzustand eingefroren und somit gleichsam stillgestellt.

Doch mit und zwischen den Zeilen lernt man auch hinzu. Von prägnanten Einzelheiten abgesehen, entsteht nämlich eine Art Typologie des Widerstands. Es werden die verschiedenen Triebkräfte sichtbar, die zur Friedlichen Revolution geführt haben. In erster Linie sind hier kirchliche Anstöße zu nennen. Auch sind die widerständigen Kräfte zuvörderst bürgerlich im traditionell besten Sinne.

Carlo Jordan (Foto: Dirk Vogel)

Carlo Jordan (Foto: Dirk Vogel)

Bei vielen stand am Beginn des Aufbegehrens die Verweigerung des Waffendienstes bei der NVA (Nationale Volksarmee der DDR), also ein im weiteren Sinne friedensbewegter Ansatz. Andere kamen über umweltpolitische Fragen (Tschernobyl, Bitterfeld, AKW-Bau bei Stendal), Frauengruppen oder kulturelle Impulse allmählich zur grundlegenden Kritik am SED-Staat. Fast alle sind von der Stasi drangsaliert worden und haben Haftstrafen verbüßt. Doch man erfährt auch, dass jede auf Einschüchterung angelegte Repression verschärften Widerstand erzeugen kann. Eines steht fest: „Ostalgie“ kann hier wirklich nicht aufkommen.

Im Gegensatz zu den Texten sind Dirk Vogels eindringliche Schwarzweiß-Fotografien (grundsolide aufgenommen mit Leica-M-Modellen der Jahre 1956 und 1963), obgleich den Personen jeweils individuell angemessen, nahezu „aus einem Guss“. Es wird durchweg ein beachtliches Niveau gehalten, Vogel erweist sich als Porträtist von einigen Graden. Schmerzliche und freudige Lebenserfahrungen (welch eine Euphorie hat 1989 geherrscht, die hernach vielfach enttäuscht wurde) meint man den Gesichtern anzusehen, zuweilen auch Charisma, Trotz oder Verzagtheit, mehr oder weniger milde Ironie über die wechselhaften Zeitläufte, doch praktisch keine Verbitterung. Und immer wieder leuchtet in den Gesichtern die spürbare Bereitschaft zur Mitmenschlichkeit auf. Lebensschätze, die in Wort und Bild aufgehoben werden müssen. Nicht zuletzt als Wegzehrung für kommende Zeiten.

Dirk Vogel hat Erfahrungen mit womöglich heiklen, jedenfalls vielschichtigen Themen gesammelt. So hat er sich fotografisch intensiv und leidenschaftlich mit jüdischem Leben in Deutschland, mit Sinti und Roma sowie mit dem Alltag behinderter Menschen befasst. Das alles verlangt Gespür für Nuancierungen und Empfindlichkeiten. Bemerkenswert überdies, dass ein Fotograf aus dem deutschen Westen dieses hauptsächlich östliche Feld bestellt. Vogel war 1989 Bundeswehr-Soldat in Niedersachsen. Als immer mehr DDR-Flüchtlinge kamen, sollte die Kaserne vielen von ihnen zunächst als erste Bleibe im Westen dienen. Die Begegnungen von damals waren prägend.

Walter Schilling (Foto: Dirk Vogel)

Walter Schilling (Foto: Dirk Vogel)

Ein wenig beneidet man den Fotografen, dass er für sein aufwendiges Projekt all diese Menschen der „Wendezeit“ persönlich kennen lernen durfte. Um nur einige aufzuzählen: Wolf Biermann, Marianne Birthler, Bärbel Bohley, Rainer Eppelmann, Lilo Fuchs, Katja Havemann, Roland Jahn, Freya Klier, Stephan Krawczyk, Vera Lengsfeld, Markus Meckel, Matthias Platzeck, Lutz Rathenow, Friedrich Schorlemmer, Konrad Weiss. Und all die anderen. Sie hatten jeweils die Wahl des Ortes und des Ambientes, doch die Kompositionen waren Aufgabe des Fotografen. Man ahnt dieses (niemals feindselige) Widerspiel in manchem Bild.

„Gesichter der Friedlichen Revolution. Fotografien von Dirk Vogel“. Mit einem Essay von Claudia Rusch. Herausgeber: Robert-Havemann-Gesellschaft e. V. (Archiv der DDR-Opposition). 144 Seiten, 19,80 Euro (ISBN: 978-3-938857-10-6)

Hier nochmals der Link zu sämtlichen Fotos des Bandes:
http://vogel-d.de/Frei/index.html
Ausgewählte Bilder sind verschiedentlich ausgestellt worden, u. a. in Berlin.
Am 3. Oktober 2011 (ab 19 Uhr) hält der Fotograf Dirk Vogel einen Vortrag beim Bochumer Kulturrat (Lothringer Straße 36 c) und stellt einige Bilder aus, siehe auch: http://www.kulturrat-bochum.de/index.php?id=141
Nach den Sommerferien 2012 (!) wird die Städtische Galerie Iserlohn alle 63 Porträts zeigen.

Alle Abbildungen sind dem besprochenen Band entnommen (Fotos: Dirk Vogel)




Kreuz und quer durch die DDR

Sammlung oder Sammelsurium? Anregung oder Wirrnis? Solche Fragen könnte man sich stellen, wenn man jetzt eine DDR-Ausstellung in Lüdenscheid anschaut.

Der umtriebige Bielefelder Privatmann Frank Föste hat zum Themenkreis „Kalter Krieg“ und Ost-West-Konflikt offenbar alles angehäuft, was er irgend bekommen konnte – teilweise unter etwas abenteuerlichen Umständen und vor allem gleich nach der „Wende“ vor 20 Jahren. Damals war plötzlich so vieles frei verfügbar – und niemand wusste, wie lange da noch so bleiben würde. So mag man seinerzeit gedacht und rasch zugegriffen haben. Einiges davon füllt nun einen ganzen Museumstrakt über und über. Dabei ist es nur rund ein Zehntel einer gewiss imponierenden Kollektion…

Betritt man die Raumflucht der in Minden (Preußenmuseum) zusammengestellten und von Lüdenscheid übernommenen Schau, so empfängt einen gleich eingangs die Warntafel „Sperrgebiet“. Auch ein Stück Stacheldrahtverhau, Original-Uniformen der Grenzer und ein „Mauerabschnitt“ in real-sozialistischer, unübersteigbarer Höhe stimmen geradezu gruselig auf die Relikte des (in Westdeutschland einst hartnäckig „Ostzone“ genannten) Gebildes ein.

Doch wer sich nicht schon etwas mit der Materie auskennt, bleibt womöglich bei den (durchaus reichlich vorhandenen) Schauwerten der vielen Objekte hängen. Ohne Führung dürften vor allem jüngere Besucher ratlos bleiben. Dicht an dicht und mitunter etwas wahllos reihen sich zahllose Exponate verschiedenster Art aneinander. Es ist, als habe man nichts auslassen wollen. Praktisch alle Lebensbereiche der verflossenen DDR (7. Oktober 1949 bis 3. Oktober 1990) werden irgendwie angetippt.

Lauter Schlaglichter und knappe Stichworte. Politik in manchen Facetten, Militär, Spionage, Wirtschaft, Auto und Verkehr, Jugend, Erziehung und Sport, Freizeit, Familie und Kultur. Nicht so sehr systematisch als vielmehr assoziativ wirken Aufbau und Abfolge. Propaganda der DDR und gegenläufige Ansichten des Westens gehen hier mitunter kreuz und quer durcheinander.

Mal nimmt man als Besucher die Perspektive früherer Zeiten ein, dann wieder blickt man von heutiger Warte aufs schon reichlich fern gerückte Geschehen zurück – mal empört oder fassungslos, dann vielleicht eher belustigt oder gar mit einem Hauch von Nostalgie angesichts „kultiger“ Objekte. Formulieren wir’s mal rundweg positiv: Die Auswahl ist aufregend multiperspektivisch und sie nimmt einem das Denken keineswegs ab. Da muss man schon selbst rote Fäden finden.

Man ist versucht, atemlos aufzuzählen, was man da im bunten Reigen vorfindet: Markante Zitate (auch auf dem Fußboden), Zeitungs- und Zeitschriftenausrisse, Flugblätter und Dekrete. Sodann Visa und viele andere Dokumente wie etwa Belobigungen für Kollektivarbeit, ein „Hausbuch“ zur perfiden Mieterkontrolle und schließlich die wachsende Flut der Ausreisebegehren. Ferner Fahnen und Embleme (FDJ, Junge Pioniere & Co.), allerlei Lenin-Figuren und sonstige kommunistische Devotionalien, Schautafeln und Tabellen, Orden und Ehrenzeichen, Partei-Souvenirs, Spitzel-Ausrüstungen der Stasi,  sowjetisch „inspiriertes“ Kriegsspielzeug, beispielhaftes Wirtschaftsgut Ost wie Meißner Porzellan oder Jenaer Glas, das berühmt gewordene „Ampelmännchen“ und, und, und…

Lauter Anstöße und Ansätze, hie und da auch Aha-Erlebnisse. Doch längst nicht jedes Schaustück spricht für sich selbst. Zu etlichen Exponaten wünscht man sich weitere Erläuterungen, die Zusammenhänge stiften könnten.

Man ahnt, dass es sich lohnen könnte, diese offenbar mit Feuereifer angelegte Sammlung weiter zu erschließen, sie behutsam zu ergänzen, Schneisen zu schlagen und sinnvolle Schwerpunkte zu bilden. Aber das alles wäre kostspielig und würde sehr viel Arbeit mit sich bringen.

Außerdem gibt es laut Föste ausgerechnet in Deutschland kein Museum, das sich speziell mit der Geschichte des „Kalten Krieges“ befasst. Er trägt sich deshalb mit dem Gedanken, seine Sammlung nach Dänemark zu geben. Will er mit dieser Ankündigung auf hiesige Büsche klopfen? Und klingt nicht doch gelinde Verbitterung durch, wenn er andeutungsweise von bislang vergeblichen Vorstößen spricht? Auf öffentliche Förderung wagt er nicht mehr zu hoffen.

„Vergessen? Schlaglichter auf Staat und Alltag in der DDR“. Bis zum 23. August in den Museen der Stadt Lüdenscheid, Sauerfelder Straße 14. Eintritt 4 Euro. Knappe Info-Broschüre. Geöffnet täglich außer Mo 11-18 Uhr. Führungen nach Voranmeldung für Gruppen möglich. Tel.: 02351/17 14 96.




Ein lachender Lenin galt schon als frech – Schau mit DDR-Plakaten in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Unverdrossene „Linksaußen“ dürften an dieser Ausstellung ihre Freude haben. So häufig wie jetzt im Essener Plakatmuseum sieht man die Konterfeis der Herren Marx, Engels, Lenin oder Thälmann in unseren Tagen selten.

Man fühlt sich fast in die rebellischen 60er Jahre versetzt, als solche Bilder auch hiesige Wände zierten. Doch eigentlich geht’s bei der neuen Ausstellung gar nicht um derlei Vergangenheits-Beschau der „Joschka Fischer-Generation“, sondern quasi ums Gegenteil, nämlich den Überdruss an plakativer Indoktrination, die den Alltag der DDR prägte.

Rund 140 Beispiele für „Agit-Prop“ aus dem verblichenen zweiten deutschen Staat sind zu besichtigen. Von „Kunst“ kann selten die Rede sein. Schon der Begriff „Kunstgewerbe“ würde mancher Hervorbringung schmeicheln. Meist hingen die Werke nicht etwa in privaten Haushalten (da träumte man wohl eher vom West-Konsum), sondern in öffentlichen Einrichtungen – pflichtschuldigst angepappt.

Erstaunlich, dass die überwiegende Anzahl der Exponate aus den 80er Jahren stammt. So selbstgewiss trumpfen sie auf, als wäre mit Staat und Partei noch alles in bester Ordnung. Nur mühsam hatte man sich von Stereotypen in Sprache („Vorwärts zu…“ / „Nieder mit..,,“) und Bildformeln gelöst: So erscheint etwa der Kommunistenführer ErnstThälmann mit gereckter Faust, immer und immer wieder. Nur zaghaft wird er auf späteren Plakaten mit farbigen Überblendungen verfremdet.

Friedenstauben und „glückliche“ Kinder

Ähnlich langsame Mutationen gab es in Sachen Marx. In den 80ern darf der Urahn des Kommunismus auch schon mal ein wenig „poppig“ dargestellt werden. Doch man hechelt der ästhetischen Entwicklung meist weit hinterher, und kaum einmal gelingen überzeugende grafische Lösungen. Welch ein Unterschied zur kritischen DDR-Malerei jener Jahre, die derzeit im Schloss Cappenberg gezeigt wird (die WR berichtete).

Der lachende Lenin, ein T-Shirt mit Marx-Motiv tragend (1983), galt schon als relativ „freches“ Motiv. Noch mutiger war man bisweilen in der Kulturszene: Ein Theaterplakat zeigt den nunmehr todernsten Lenin, ringsum garniert mit Einschuß-Löchern.

Sodann die Serien zum NATO-Doppelbeschluss. Wer zählt all die Friedenstauben, die zu Beginn der 80er Jahre der „ruhmreichen Sowjetunion“ zugeordnet wurden, und wer die Totenköpfe, die allemal auf die US-Aggression hinwiesen? Ganz so simpel lagen die Dinge ja wohl nicht…

Es muss nervtötend gewesen sein, ständig solche Plakate vor Augen zu haben: Junge Pioniere mit Fackeln, angeblich „glückliche“ vietnamesische Kinder mit roten Fahnen, muntere FDJ-Mädels mit dcm Spruchband „Die Partei – das werden wir“. Irrtum. Sie wurden’s nimmermehr.

Deutsches Plakatmuseum, Essen, Rathenaustraße 2. Bis 22. März. Di-So 12-20 Uhr




Eingemauert und bereit zum Sprung – Cappenberg zeigt kritische DDR-Kunst

Von Bernd Berke

Selm/Cappenberg. Der Streit um die DDR-Kunst schwelt noch immer: Erst kürzlich gab es in Nürnberg Ärger wegen einer vom Künstler Willi Sitte erzürnt abgesagten Werkschau. An das Debakel von Weimar, wo NS- und DDR-Kunst gleichermaßen summarisch „erledigt“ wurden, erinnert man sich mit Schaudern. Im Cappenberger Schloss jedoch widerfährt den Malern aus dem verflossenen Staatsgebilde jetzt Gerechtigkeit.

Mit 110 Exponaten von 55 Künstlern versammelt die herausragende Schau, die nur in Cappenberg Station macht, vor allem kritische Impulse aus den letzten Jahren der DDR. Und der Drang zur Verneinung geht fast durchweg mit hoher Qualität einher.

Der Titel „Kassandrarufe und Schwanengesänge“ markiert die Richtung. Wie einst die antike Sagengestalt Kassandra, so mahnten die Maler. Und ihre Klagen glichen jener des mythischen Schwanes, der sterbend zu singen anhebt.

Bekannte Namen: Wolfgang Mattheuer, Werner Tübke, Hartwig Ebersbach, Willi Sitte, Volker Stelzmann – um nur einige zu nennen. Fast alle Arbeiten wurden schon im SED-Staat ausgestellt. Das Regime war in den 80er Jahren wohl schon zu kraftlos, um Widerspenstigkeit in den Künsten noch durch Bann zu brechen. Zudem war Duldung schlauer.

Als widerständig konnten (im Umfeld des unsäglichen „Sozialistischen Realismus“) bereits gewisse ästhetische Positionen gelten. Eberhard Goschel, der Dresdner Schule delikater Feinmalerei entstammend, zelebriert mit „Figur in der Landschaft“ eine fürs kollektive Denken unerträgliche Einsamkeit und begibt sich noch dazu auf den missliebigen Weg der Abstraktion.

Eine Abteilung ist Bildern gewidmet, die das Gefühl des Eingemauert-Seins bis zur kafkaesken Unerträglichkeit steigern. Grandioses Beispiel ist Mattheuers „Allein“ (1970): eine verzweifelte Figur, von einer Mauer weit überragt; droben lastet ein grauer Himmel, dessen Farbton in vielen Motiven bedrückend wiederkehrt. So beherrscht fahle Tristesse etwa Wolfgang Peukers Angstbild „Pariser Platz“ (1989).

Auf Joachim Völkners „Der Vorhof“ (1984) erscheint die Umgebung gar als Nachbarbezirk der Hölle. Kein Inferno ohne Konsumterror oder zumindest die Sehnsucht danach: Sighard Gilles „Autofahrer“ wirken, obwohl in Trabis gepfercht, wie westliche Dekadenzler. Auch Umweltvergiftung wurde gebrandmarkt: Die Leuna-Werke erscheinen 1979 bei Dieter Weidenbach im bedrohlichen Muster von Arnold Böcklins „Toteninsel“, in Jürgen Schäfers „Lebenslauf“ (1985) gleicht sich der menschliche Körper zusehends den Betonbauten an.

Das alles wollte man hinter sich lassen: Mattheuers „Prometheus“ (1982) reißt die Tür auf und springt – in die Freiheit oder in die große Leere?

Bis 17. Juni, Schloss Cappenberg (Selm). Di-So 10-17.30 Uhr. Eintritt frei. Katalog 50 DM




Heiner Müller: Am Bösen kann der Autor wachsen

Von Bernd Berke

Listig-verschlagen blickt der Dramatiker Heiner Müller den Leser vom Umschlag seines neuen Buches „Krieg ohne Schlacht“ an. Dreht man den Band herum, bläst Müller einem von der Rückseite her einen Schwall Zigarrenrauch ins Gesicht. Sieht so aus, als wolle er uns sagen: „Rutscht mir doch den Buckel herunter!“

Vielleicht hat er Anlaß zum Zorn. Gar manche haben den wohl wirksamsten Theaterautor der verflossenen DDR seit der Wende ins Zwielicht gestellt. Ähnlich wie Christa Wolf, so hat man auch ihm im nachhinein zu große Nähe zur SED unterstellt. Jetzt erzählt der Mann, der nach eigenem Bekunden ursprünglich aus Neid Sozialist geworden ist, sein „Leben in zwei Diktaturen“ (Untertitel).

Der erste Teil erstreckt sich über 360 Seiten, im Anhang werden Original-Dokumente abgedruckt. Der Haupttext ist aus Gesprächen mit Müller entstanden. Dennoch sind es meist lange Monologe. Da kann Müller glänzen, seine enorme Belesenheit samt Kenntnissen der Theaterwelt und ihrer Akteure erstrahlen lassen. Klare Einsichten stehen neben stammtischverdächtigem Geschwätz.

Aus der NS-Zeit, die Müller als Kind in Sachsen und Mecklenburg erleben mußte, gibt er nur kurze Anekdoten zum besten — mit trockenem bis sarkastischem Witz. Rasch ist das Buch in der Gründungsphase der DDR angelangt. Eine Leitlinie sind Müllers Stücke von „Die Umsiedlerin“ bis zur „Hamletmaschine“. Doch die politischen Passagen interessieren derzeit brennender. Leider verfällt Müller auch hier vielfach in Geschichten-Erzählerei nach dem Muster: Wie ich einmal bei Erich Honecker war und er mir die Hochzeit mit einer Bulgarin genehmigt hat…

Müller berichtet, wie er sich anfangs gar zu große Illusionen über die DDR gemacht hat. Er gibt auch „taktische Fehler“ zu. Seine Beschreibung gerät zum Lehrstück, weil sie die Widersprüche eines Autorenlebens in der DDR grell hervortreten läßt. Mal wurde Müller aus dem Autorenverband ausgeschlossen, dann wieder gehätschelt, oft wurden Aufführungen seiner Stücke unterbunden, dann sah er sich wieder geehrt.

Was hat Literatur mit Moral zu tun?

Wer sich durch solch ein Leben zwischen Zuckerbrot und Peitsche anders als mit moralischen Zugeständnissen lavieren kann, der werfe den ersten Stein. Müller nimmt für sich in Anspruch, daß Literatur überhaupt nichts mit Moral zu tun habe. Immer wieder zeigt er sich fasziniert vom „Bösen“ (RAF-Terrorismus, Massenmörder Charles Manson), an dem man als Autor nur wachsen könne. Auch Brecht sei erst ein ganz Großer geworden, als Hitler zur Macht kam. So hätten auch ihn, Müller, noch die schlimmsten Vorgänge in erster Linie als Stoff interessiert, aber fast nie im Kern seines Wesens berührt.

Manches ist ärgerlich: Müller gesteht, schon 1944 über die sowjetischen Gulags Bescheid gewußt zu haben. Warum hat er daraus so spät Konsequenzen gezogen und anfangs noch Stalin-Hymnen verfaßt? Höchst anfechtbar auch Müllers Meinung, die Stasi, die eben die Stimmung der Bevölkerung am besten gekannt habe, habe letztlich die DDR aufgelöst oder dies zugelassen. Außerdem stellt er Honecker & Co. eher als Gefangene des Systems denn als deren Betreiber dar.

Inzwischen hat Müller Abschied genommen von jeglicher Utopie. Überrascht erfährt der Leser, welchen „Kollegen“ Müller offenbar am meisten schätzt: Ernst Jünger, den viele für einen Verherrlicher des Krieges halten. Doch gerade dieses Thema, so Müller, habe Deutschlands Linke total versäumt: den Krieg in seiner nackten Wahrheit darzustellen. Da spricht ein „Preuße“.

Heiner Müller: „Krieg ohne Schlacht — Leben in zwei Diktaturen“. Kiepenheuer & Witsch. 426 S., 49,80 DM.




Große Zerreißprobe blieb beim Autorenkongreß aus – Ansätze zur deutsch-deutschen Vergangenheitsbewältigung

Aus Lübeck berichtet Bernd Berke

Lübeck. Die große Zerreißprobe blieb aus beim ersten gesamtdeutschen Kongreß des Schriftstelleryerbandës (VS). Der alte und neue Bundesvorsitzende Uwe Friesel (Hamburg) war „sehr überrascht“, daß er und seine Vorstandskollegen bei der Tagung im Kurhaushotel zu Lübeck-Travemünde so ungeschoren davonkamen. Mit 56 von 67 möglichen Delegiertenstimmen wurde der 52jährige Friesel gestern wiedergewählt. Er trat nur unter der Bedingung nochmals an, daß der Vorsitz künftig rotiert. Begründung: Akute Arbeitsüberlastung.

Vor allem vom Berliner Landesverband hatte man heftigeren Einspruch gegen Friesel erwartet – von jenem Verband also, der der aus Leipzig stammende Autor Erich Loest pünktlich zu Kongreßbeginn via „Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt“ nachgesagt hatte, er sei womöglich von Gregor Gysis PDS gesteuert. Schließlich hatte man es an der Spree noch nicht verwunden, daß Friesel jene 23 Briefe an mutmaßlich SED-linientreue Autoren gesandt hatte, mit der Bitte, ihre Anträge auf Aufnahme in den VS doch bitte noch zurückzustellen. Einige der betroffenen ostdeutschen Autoren wähnten sich durch Gesinnungsschnüffelei und „Berufsverbot“ verfolgt. Berlins Verband setzte sich vom Bundes-VS ab und nahm 18 der 23 Beschuldigten in seinen Reihen auf.

Briefe an angeblich „linientreue“ DDR-Autoren

Bis in abstruse Details hinein waren diese Vorgänge nochmals Diskussionsgegenstand. Doch so lang man auch redete, so matt blieb die Auseinandersetzung. War es vielleicht die Einsicht, daß hinter Friesels Brief ein bitter nötiger moralischer Anstoß zur Vergangenheitsbewältigung stand – und nicht etwa der Versuch, Schriftsteller an ihrer Berufsausübung zu hindern; oder blieb nur das reinigende Gewitter aus?

Zu einer wirklichen Klärung kam es nicht, die ganze Sache soll nun an eine (schon vor Monaten angekündigte) Kommission verwiesen werden. Die wird auch zu untersuchen haben, ob Friesel tatsächlich – wie in der Debatte geargwöhnt wurde – einige von den 23 Briefen an die Falschen (sprich: nicht als SED-Denunzianten vorbelastete Autoren) gerichtet hat. Dann wären Entschuldigungen fällig.

Erasmus Schöfer: „Ich schäme mich für meinen Verrat“

Weit mehr Eindruck als der Streit um die Brief-„Affäre“ hinterließ der Kölner Schriftsteiler Erasmus Schöfer mit seinem Bekenntnis: „Ich schäme mich für meinen Verrat an mir selbst und anderen“. Er meinte jenen Irrweg vom Mainzer VS-Kongreß 1983, als man – um der lieben Friedensbewegung willen – gemeinsame Sache mit Hermann Kants DDR-Autorenverband gemacht habe. DDR-Dissidenten, so Schöfer, seien ihm schlicht unsympathisch gewesen, „weil sie meine Hoffnungen auf Sozialismus störten“. Schöfer: ..Auch dafür schäme ich mich heute.“

Etwas mehr verklausuliert betrieb auch Uwe Friesel Selbstkritik: „Schriftsteller sind immer anfällig für Utopien. Wir haben uns täuschen lassen.“ Hart ging Friesel mit Hermann Kant ins Gericht, der bis heute jede Reue vermissen lasse. So einen könne man im VS nicht brauchen.

Nachdenkliche Töne von Wolfgang Schäuble

Doch insgesamt überwog jener leise, nachdenkliche Tonfall, den Bundesinninminister Wolfgang Schäuble zum Kongreßauftakt angeschlagen hatte, als er vor jeder Selbstgerechtigkeit in Sachen Vergangenheitsbewältigung warnte und Respekt zwischen ost- und westdeutschen Autoren dringlich anmahnte. Schäubles Rede imponierte sogar Stefan Heym, der sich sonst nicht auf Höhe der Zeit zeigte. Ein weiterer Versuch mit der DDR hätte ihm allemal besser gefallen als die Vereinigung.

Heym war der einzige anwesende Autor von großem Bekanntheitsgrad. Kein Lenz oder Walser war da – beide im Gegensatz zu Grass noch VS-Mitglieder. Und auch kein Bernt Engelmann, der bei früheren Kongressen die Fäden gezogen hatte. Ihm hätte ein Bekenntnis wie das von Schöfer gut zu Gesicht gestanden. Max von der Grüns Fernbleiben war entschuldbar: er wurde am Samstag 65.

Zum Ausgleich glänzte diesmal Politprominenz. Nach Schäuble kam Björn Engholm vom SPD-Landesparteitag im Nachbarhotel herüber zu den Autoren. Er gelobte, es werde einen SPD-Kongreß zu Literaturfragen geben.




DDR-Dramatiker geben trockne Lehrstunden – Halbzeit beim Wettbewerb „stücke `90″ in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Die DDR-Ereignisse der letzten Monate sind auch am Mülheimer Dramatiker-Wettbewerb „stücke ’90“ nicht spurlos vorübergegangen – im Gegenteil. Die Auswahlkommission sah sich bemüßigt, fast nur Dramen mit DDR-Thematik vorzuschlagen.

Nachdem mit vier Aufführungen die Halbzeit des Wettbewerbs erreicht ist, drängt sich der Verdacht auf, daß dabei politischer Nachholbedarf vor Theaterqualität rangiert hat. Ein „Stück des Jahres“ war jedenfalls noch nicht dabei.

Den Auftakt besorgte das Wiener Akademietheater mit George Taboris „Weisman und Rotgesicht“. Das bislang einzige Stück, das sich nicht um DDR-Themen rankt, wurde als „jüdischer Western“ etikettiert. Ein vermeintlicher Indianer (der sich hernach als Halbjude und Filmkomparse erweist), ein Jude, der die Aschenurne seiner verstorbenen Frau mit sich trägt, und dessen spastische Tochter begegnen einander in einer – mit lebendem Geier auf der Bühne markierten – Wüstengegend der USA. Unter anderem treten sie, beinahe wie Preisboxer, in einen makaber-absurden Leidens-Wettbewerb: Wer hat mehr erlitten. Juden oder Indianer?

Taboris Scherze mit dem Entsetzen

Es ist wieder jene gleichermaßen zauberkräftige wie halsbrecherische Mischung, die wir von Tabori kennen und die kein deutscher Dramatiker so anwenden dürfte: Schrecken wird Lachen, Verzweiflung gerinnt zum Kalauer, Wahn und Witz addieren sich zu Wahnwitz. Allerdings gewinnen m diesem Stück unbedarfte Scherze einiges Übergewicht – oder sind es nur geschickte Verführungen, an den falschen Stellen zu lachen, was ja zuerst die voreiligen Lacher entlarvt? Ein Ereignis wurde dieser Theaterabend durch die Darsteller: Michael Degen, Leslie Malton und Hans Christian Rudolph.

An den folgenden Abenden sehnte man sich dann doch nach Taboris Entsetzens-Scherzen zurück, denn mit Georg Seidels „Carmen Kittel“ hob deutsche Tiefgründelei an. Das bereits 1987 in Schwerin uraufgeführte, später umgearbeitete Werk mag zur Entstehungszeit ein Schrei in der Not gewesen sein. Nun wirkt es, trotz neuer „Montage“ durch Dimiter Gotscheffs Düsseldorfer Inszenierung, bereits reichlich gestrig. Sprachlich ist etwas Metallisch-Schepperndes, ist dumpfe Atemnot in diesem Stück.

Carmen Kittel kann sich nicht „emporwuchten“

Vor- und Nachname der Titelfigur stehen natürlich für den Widerspruch von Lebenslust (Carmen) und ödem Frauenalltag (Kittel). Carmen Kittel ist im Heim aufgewachsen, front nun in einer Kartoffelschäl-Brigade, erlebt einige Qualen des irreal existierenden Sozialismus und kann sich nicht „zu einem besseren Leben emporwuchten“. Das alles hört sich schwer nach Theater-Bastelarbeit an und ist es über weite Strecken auch. So muß etwa die Kartoffel gleich als Symbol deutscher Eßgewohnheiten und dito Revolutionsunfähigkeit herhalten. Einiges mag als Lyrik., nicht aber als dramatische Vorlage durchgehen. Immerhin lassen zwischendurch einige aphoristische Kernsätze aufhorchen, etwa jener, daß man in der DDR das Paradies auf Erden bauen wollte, dann aber doch nur Braunkohle abgebaut hat.

Gorbatschow als „neuer Christus“

Theater hart am Rande historischen Kasperlspiels erlebte man am nächsten Abend, als die Volksbühne Berlin (DDR) Jörg-Michael Koerbls „Gorbatschow/Fragment“ aufführte, das aus DDR-Sicht die sowjetische Geschichte von Lenin bis „Gorbi“ nachzeichnen will. Das Stück vermittelt keinerlei wirkliche Erkenntnis, es stellt historische Figuren nur als Pappkameraden auf die Bühne.

Koerbl setzt Spezial-Wissen voraus (etwa über die Beziehungen zwischen Lenin, Trotzki und Stalin), vermittelt aber seinerseits kein neues. Daß er Gorbatschow als „neuen Christus“ darstellt, ist nur peinlich. Sprachlich ergeht sich der Autor in Satzperioden, die eventuelles Interesse schnell erlahmen lassen. Zudem hat er sein Stück „kongenial“, nämlich mit recht dürftigen Mitteln in Szene gesetzt.

Christoph Heins „Ritter der Tafelrunde“, in Mülheim gezeigt vom Schauspiel Halle, versöhnte wieder etwas mit der DDR-Dramatik. Hein ist nicht der Versuchung erlegen, die ritterliche Artus-Runde als schmale Parodie aufs gewesene Politbüro vorzuführen; sein Stück hat jene Art von Aktualität, die über Tag und Stunde hinausreicht. Freilich kreist es ohne große theatralische Höhe- oder Tiefpunkte um nur wenige Denkfiguren (Die Gralssuche als Suche nach Utopie usw.). Eigentlich ist schon nach der Hälfte alles gesagt und wird dann nur noch variiert.




Käthe Kollwitz: Zwischen Leid und Aufstand

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Seltsame Wege der Geschichte: Um das Werk von Käthe Kollwitz, deren Hauptthema bekanntlich das Leid der Unterdrückten war, haben sich in den letzten Jahren vor allem Banken gekümmert, und zwar in Köln und West-Berlin. Unsere Museen haben sich da eher „bedeckt gehalten“.

Anders die Kunstinstitute der DDR – nicht natur-, aber gesellschaftsgemäß: Die DDR-„Akademie der Künste“ schickte ihre bedeutende Kollektion an Kollwitz-Druckgraphik bereits durch viele Länder. Jetzt sind die 124 Arbeiten, ergänzt um sechs Stücke aus anderen DDR-Sammlungen, erstmals in der Bundesrepublik zu sehen: bei den Ruhrfestspielen, im Vestischen Museum Recklinghausen (Hohenzollernstr. 12; bis 5. Juni. Katalog: 12 DM).

Alle großen Themen der Kollwitz kommen in der Druckgraphik (Radierungen, Holzschnitte, Lithographien) vor. Dazu gehört der – von Gerhart Hauptmanns Stuck „Die Weber“ angeregte – Zyklus zum Weberaufstand (1895), außerdem sind z. B. Bildfolgen zu den Bauernkriegen (1905/07) und über das Proletariat (1925) zu sehen. Anfangs, beim Thema „Weberaufstand“, sind die Revoltierenden noch als Vereinzelte, sich gerade erst zögernd Zusammenschließende dargestellt. In der Bauernkriegs-Serie wirkte die aufbegehrende Masse dann schon wie aus einem Block gefügt.

Neben solchen Massenereignissen vergaß Käthe Kollwitz – und das zeichnet ihr Werk besonders aus – aber auch nicht die Leiden des einzelnen, ganz gleich, ob politisch verursachte oder existentielle. Besonders hervorzuheben sind die Variationen des Mütterlichkeits-Motivs. Biographisch stand am Anfang der Tod ihres Sohnes, der als Soldat im Ersten Weltkrieg fiel. Immer wieder stellt Käthe Kollwitz Mütter dar, die ihre Kinder umklammern, vor Krieg, Not und Elend bewahren wollen.

Schwächer werden die Kollwitz-Arbeiten nur, wenn sie sich (ganz selten) auf symbolische Sehweisen einläßt, wenn sie etwa eine allegorische Frauenfigur über eine Aufruhr-Szene stellt. Ergreifender ist es allemal, wenn sie die Realität umformt, als wenn sie Phantasiegestalten nachhängt. Die formalen Brüche auf manchen Plakaten und Flugblättern (darunter „Nie wieder Krieg!“, das vor einiger Zeit als Nachzeichnung an einem Dortmunder Weltkriegsbunker für Aufsehen sorgte), stammen hingegen nicht von der Kollwitz: Unpassende .Schriftzüge wurden diesen Auftragsarbeiten von fremder Hand zugefügt. Kollwitz souveränes Formempfinden wird hier augenfällig: Wenn sie nämlich selbst die Schrift gestaltet hat, „stimmt“ der Aufbau.

Die Selbstporträts aus verschiedenen Schaffensphasen sind keine reinen Ich-Darstellungen. Käthe Kollwitz, die sich schon früh (1893) als leidensbereit und leidensfähig zeichnet, „verhärtet“ oft ihre eigene (in natura eher sanfte) Mimik, Gestik und Gestalt, so als wollte sie sich mit einer kampfbereiten Arbeiterschaft identifizieren. Diese Energie zerbricht aber in späteren Jahren zusehends. Zutiefst erschreckend: das Selbstbildnis von 1938, das eine vollkommen resignierte Frau zeigt, oder gar das Blatt „Der Tod wird als Freund erkannt“.




„Freizeitkunst“ aus der DDR: Mehr als nur ein Hobby – Frucht des deutsch-deutschen Kulturaustauschs bei den Ruhrfestspielen

Von Bernd Berke

Erste Früchte des 1987 vereinbarten Kulturaustauschs zwischen Deutschem Gewerkschaftsbund (DGB) und dem DDR-Gewerkschaftverband FDGB: „Engagierte Freizeitkunst der DDR“ ist jetzt (bis 10. Juni) im Rahmen der Ruhrfestspiele zu sehen; im Gegenzug werden ab Juni Arbeiten von Laienkünstlern des Reviers in Frankfurt/Oder ausgestellt.

Das Wort „engagiert“ führt in die Irre: Wer explizit politische Aussagen in Bildform erwartet, wird von den rund 400 Exponaten enttäuscht sein. Lediglich eine Arbeit, die sich anklagend auf eine ganz eigene Art von „Engagement“ bezieht, nämlich auf jenes der USA in Vietnam, Grenada und Nicaragua, mag dem einen oder anderen Amerika-Freund sauer aufstoßen.

Die Kennzeichnung „engagierte Freizeitkunst“ bezieht sich eher auf den Zeitaufwand und die Intensität, mit der sich viele DDR-Berufstätige der Kunst widmen. Rund 40000 FDGB-Mitglieder erhalten in Kunstzirkeln der Gewerkschaft fundierten Unterricht von Berufskünstlern – eine Aufgabe, die bei uns nicht die Gewerkschaften, sondern allenfalls die Volkshochschulen wahrnehmen. Die weitaus überwiegende Anzahl der im Recklinghäuser Festspielhaus gezeigten Arbeiten weist folglich qualitativ deutlich über das hinaus, was man billigerweise von reiner „Freizeitkunst“ erwarten kann. In den meisten Fällen waren eben keine bloßen Hobbyisten am Werk.

Die Güte verdankt sich auch einem mehrfachen Auswahlvorgang: Zuerst in der DDR, dann – gleichfalls von DDR-Seite vorgenommen – aus Platzgründen für die Zusammenstellung in Recklinghausen. Zwar sieht man im Saal des Festspielhauses auch biedere Webarbeiten oder jene Holzpyramiden mit rotierenden Nußknackern, wie sie in unseren Kaufhäusern zur Weihnachtszeit als erzgebirgisches oder thüringisches Kunsthandwerk feilgeboten werden, doch bleiben solche unverbindlichen Nettigkeiten eine Randerscheinung, die nur das breite Spektrum vervollständigt.

Ansonsten sind ähnliche Tendenzen erkennbar wie bei den DDR-Berufskünstlern: Spielarten des Realismus (und hier wiederum besonders des Porträts) genießen eindeutig Vorrang. In Malerei, Zeichnung, Druckgraphik und skulpturalem Schaffen sind vielfach Ansätze zu einer bunteren Stilpalette sichtbar. Der sogenannte „Sozialistische Realismus“ ist passé. Vielmehr wird der Realismus-Begriff erweitert in Richtung kritischer Sichtweisen. Auch Foto-Realismus und Anklänge an die Pop-Art haben da durchaus ihren Platz.

Ist auch vielfach noch der arbeitende Mensch Bildthema, so fehlt doch jeder falsche Heroismus. Arbeit, das sieht man vielen Porträts deutlich an, bedeutet auch im real existierenden Sozialismus Mühsal. Und auch Umweltsünden werden in der DDR offenbar zunehmend bildwürdig – einschließlich der finalen Apokalypse, deren Zuckungen auf einem Gemälde („Das letzte Bild“) nur noch kurz auf dem Fernsehschirm aufblitzen.




Im Zeichen des Realismus: Bonn zeigt Skulpturen aus der DDR

Von Bernd Berke

Bonn. Noch nie hat die DDR ihre eigene Bildhauerkunst so umfassend gezeigt wie jetzt in Bonn; auch nicht in Ost-Berlin oder Dresden. Schon das macht diese Ausstellung in Bonn zum Ereignis.

Bei uns sind zwar inzwischen die wichtigsten Maler aus dem anderen deutschen Staat bekannt, das skulpturale Schaffen jedoch kaum. Mit 130 plastischen Arbeiten und 60 Zeichnungen (aus der gesamten Nachkriegszeit) von über 50 DDR-Künstlern bringt das federführende „Zentrum für Kunstausstellungen der DDR“ nun einen ersten Überblick nach Bonn. Dietmar Keller, Stellvertreter des Ministers für Kultur der DDR, unterstrich zur Eröffnung die Bedeutung des deutsch-deutschen Kulturabkommens, das auch diese Schau erst ermöglicht habe.

„Menschenbilder“ hieß die letzte große DDR-Gemäldeausstellung bei uns (Bonn/ Münster, 1986). „Menschenbilder“ – so könnte auch der Titel für diese Skulpturenschau lauten, denn die DDR-Bildhauer haben sich – im Zeichen verschiedener Realismus-Konzepte – kaum je von der Darstellung der menschlichen Figur entfernt. Zielvorstellung ist es laut Katalog, „am Menschen immer neue Seiten des Humanen sichtbar zu machen“.

Das Dilemma beginnt freilich damit, daß DDR-Bildhauer die Exponate selbst ausgewählt haben und damit ihren eigenen Standort bestimmen. Wir, die wir die Arbeiten erstmals zu sehen bekommen, können die Hintergründe kaum nachvollziehen.

Die große Frage, die sich angesichts dieser Ausstellung aufdrängt, ist die: Sind unsere westlichen Sehgewohnheiten verzerrt, weil unser Menschenbild auch in der Kunst verschüttet ist; oder sind die DDR-Künstler naiv, die da glauben, das Menschenbild (oft in althergebrachter Ausprägung) noch aufrecht erhalten zu können?

Sehr oft scheinen alte Vorbilder durch: Rodin, Lehmbruck, Käthe Kollwitz vor allem. Das handwerkliche Niveau ist durchweg sehr hoch, doch Themen und formale Ausgestaltung wirken oft bieder, konventionell und nachgerade „akademisch“: Da sieht man zahllose „Schreitende“, „Sitzende“, „Hockende“, „Liegende“ und Torsi.

Inhaltlich spielt die Anverwandlung des kulturellen „Erbes“ eine dominierende Rolle. Offenbar stehen Gedenk-Büsten in der DDR noch in hoher Blüte und Wertschätzung: Kopfbüsten von Heinrich Mann, Rilke, Pablo Neruda.,von Rosa Luxemburg, Brecht und Käthe Kollwitz u. a. sind zu sehen. Auch Bezüge zur Mythologie und zum klassischen Bildungsgut sind häufiger als in der „Westkunst“.

Der generelle Eindruck mag enttäuschen, da man sich zu oft ins künstlerische Gestern versetzt sieht. Dennoch gibt es in Bonn auch hervorragende Arheiten zu sehen, etwa von Künstlern wie Wieland Förster, Werner Stötzer, Joachim Jastram und Otto Bernd Steffen.

Unbestreitbare Verdienste haben sich DDR-Bildhauer mit Mahnmalen gegen Krieg und Faschismus erworben. Beispiele dafür (u. a.Fritz Cremers Buchenwald-Denkmal) sind in Bonn naturgemäß nur auf Fotografien präsent. Doch die Anstrengung, sich in der Kunst mit gesellschaftlichen Vorgängen auseinanderzusetzen, zeitigt auch Verlegenheitslösungen. So formte etwa Werner Drake ein Mädchen, das sich weinend die Augen reibt, und nennt die Skulptur „In Memento Vietnam“. Das ist eine bloße Pflichtübung, dem Thema unangemessen, weil viel zu konventionell und ohne jede Schärfe umgesetzt.

Rheinisches Landesmuseum Bonn, Colmantstraße (ab heute bis 18. Oktober, Di.-Fr. 9-17 Uhr, Mi.9-20 Uhr, Sa./So. 11-17 Uhr, Mo. geschlossen; Katalog 29,80 DM). Weitere Stationen Mannheim und München.