Schuld und Sühne im Tessin – Dea Lohers Romandebüt „Bugatti taucht auf“

Es ist ein eher unbekannter Bugatti, der zu Beginn auf den Seiten dieses erstaunlichen Romans auftaucht: Rembrandt Bugatti, jüngerer Bruder des legendären Erfinders und Konstrukteurs Ettore. Dieser Rembrandt lebt zurückgezogen und unglücklich als Bildhauer. Aus seinen Tagebüchern aus den Jahren 1914/15 erfährt der Leser einiges über die stilprägende italienische Dynastie, aber auch aus dem tragischen, unglücklichen Leben des Rembrandt Bugatti, eines Menschen, für den die „Routine des Wiederkehrenden“ nicht tröstlich ist, sondern „der Beweis, dass es kein Entkommen gibt.“

Szenenwechsel: Gegenwart. Februar 2008. Im schweizerischen Locarno wird die Stranociada, der Tessiner Karneval gefeiert. Ein junger Mann, Luca, gerät unbeabsichtigt in eine alkoholisierte Auseinandersetzung, wird kaltblütig zu Tode geprügelt und getreten. Aus nüchternen Protokoll-Aufzeichnungen ergibt sich die Chronik eines beiläufigen und völlig sinnlosen Todes, das unfassbare, weil „triste Bild von jungen Leuten zwischen Langeweile und Überforderung, die nicht wissen, was sie tun und deren Lebensgefühl man vermutlich so zusammenfassen könnte: Was soll der ganze Scheiß?“

Szenenwechsel: Wir lernen Jordi kennen, einen Freund der Familie des getöteten Jungen aus dem Nachbarort Ascona, der dort eine Unterwasserfirma besitzt und „sich ungeheuerlich schämte, ohne zu wissen, wofür. Einfach für das, was passiert war.“ Jordi ist ein durch und durch integrer, moralischer Mensch. Er will es nicht hinnehmen, dass diese Tat ungesühnt bleibt, er will der im Tessin schwelenden, zuweilen hysterischen Aufregung etwas entgegenhalten, den Tätern keine größere Bühne bieten als unbedingt nötig. Er will der Sinnlosigkeit, dem Unfassbaren „eine andere Handlung entgegensetzen, die den Ausschlag dieser Waage veränderte, etwas gutartig Schönes [….] etwas, was dem Schrecken [….] trotzen konnte [….] eine Geschichte, die von irgendwo her kam und von der man nicht sagen konnte, wo sie enden würde. Ein Riesending, ein Zartes.“

Jordi erinnert sich an einen alten Asconeser Mythos. Es geht die Legende, dass auf dem tiefsten Grund des Lago Maggiore ein alter Bugatti ruht. Bewiesen wurde diese Legende nie, mehr denn ein vage als Radnabe zu interpretierendes Etwas hat kein Taucher je gesichtet. Jordi versucht mit Hilfe von Freunden und Familie, das Unmögliche möglich zu machen und nach einigen Rück- und Schicksalsschlägen gelingt es ihnen in der Tat. Sie bergen den erstaunlich gut erhaltenen Bugatti, lassen Piazza und Promenade sperren und den Bugatti aus dem See öffentlichkeitswirksam auftauchen. „Sie machten es für Luca, der am 1. Februar ermordet wurde. Und dann organisierten sie ein großes Fest. An einem Sonntagmorgen. Und es kamen viele Leute, viel mehr Leute, als sie erwartet hatten.“

Die Geschichten, die die Dramatikerin Dea Loher in ihrem Romandebüt erzählt, fußen allesamt auf realen Ereignissen. Im Roman wird er Luca genannt, in der ebenso unfassbaren Realität war es der junge Student Damiano, der in einer Februarnacht beim Locarneser Karneval jenen grundlosen und brutalen Tod starb. Seine Familie und seine Freunde gründeten zur Trauerbewältigung die Fondazione Damiano Tamagni und kamen auf die Idee, dem Mythos des Bugatti-Wracks im Wortsinne auf den Grund zu gehen. Beide Ereignisse haben im Tessin hohe Wellen geschlagen. Als der Bugatti auftauchte, war es ein Riesen-Ereignis im kleinen Ascona und auch ein kollektives Aufatmen. Der Bugatti wurde für 230.000 Euro versteigert, dieses Kapital bildete den Grundstock für die bis heute bestehende Stiftung.

Auf nur etwas mehr als 200 Seiten hat die Autorin ein Werk von beeindruckender Komplexität geschaffen. Für jeden Erzählstrang der miteinander verwobenen Geschichten findet sie eine eigene, authentische Sprache. Die schreckliche Tat beschreibt sie dokumentarisch. Nicht die ihrer Schuld ausweichenden Täter macht sie zu Romanfiguren, sondern Jordi, seine Freunde und seine weisen Ratgeber. Nicht die Gewalttat ist das Thema des Romans, sondern der Versuch, dem Verlust von Lebensträumen eine Aktion gegen Sinn- und Hilflosigkeit entgegenzusetzen. So wie Asconas berühmter Berg, der Monte Verità, nie sein Versprechen auf Wahrheit einlöst, so kommen auch die Freunde des Ermordeten der Wahrheit oder dem Sinn hinter der schrecklichen Tat nicht näher.

Der Bugatti im See war lange nicht mehr als eine Legende der Moderne, die Fondazione ist eine Sühne, ein Versuch der Wiedergutmachung. Beidem setzt Lea Doher nun ein bewegendes literarisches Denkmal. Die vorgeschaltete Geschichte der Familie Bugatti sowie die später von einem Ratgeber Jordis enthüllten Geschehnisse rund um den Bugatti und dessen unvergessenen Fahrer René Dreyfus dienen der Gegenwartsgeschichte dabei als Reflektor. Der radikal kühlen Sprache in den Protokollen zur Tatnacht setzt die Autorin bei der Erzählung von Jordis Geschichte eine vorsichtige, rücksichtsvolle, poetische Sprache entgegen, die das filigrane Gewebe von Schuld und Sühne, Trauer, Verlust und Aufarbeitung schützt. Manche Sätze entfalten eine ungeheure Leuchtkraft, leuchtend wie das berühmte Tessiner Licht in seinen besten Momenten.

„Bugatti taucht auf“ wurde von der Kritik bisher einhellig gelobt und gefeiert. Ich möchte aus persönlichen Gründen noch einen Aspekt zufügen, der bisher wenig bis kaum Erwähnung fand: Auch für meine Familie spielt Ascona seit Jahrzehnten eine große Rolle. Erstaunlich viele Familien aus dem Ruhrgebiet treffen sich dort seit Generationen, pflegen Freundschaften untereinander und mit Alteingessenen. Genau wie Jordi stehe auch ich manchmal auf der Piazza und gerate ins Fantasieren, wie es in Ascona früher gewesen sein mochte, seit ich – wie Jordi – bei den Großeltern ein Foto von früher fand.
Ascona, schätzungsweise frühe 50er Jahre, gefunden im Album meiner Großeltern
Wie Jordi sind viele, die Ascona kennen, dem Ort in einer Art ambivalenter Hassliebe verbunden. Ascona war ungeachtet seiner pittoresken Fassade noch nie eine leichte Adresse. Es war sicher nicht Dea Lohers Hauptanliegen, Ascona und seine Bewohner zu charakterisieren, aber dennoch ist ihr dies ausgezeichnet und bei aller spürbaren und berechtigten Kritik doch liebevoll und wahrhaftig gelungen. Es ist auch der Ort und das über ihm schwebende Flair eines bedauernden „Tempi passati“, die eine Geschichte wie die des Bugatti erst möglich machten. Die unterschwelligen Schwingungen und Befindlichkeiten des Ortes, der seit Jahren zwischen Magie und Spießbürgertum verharrt, erfasst sie ebenso genau wie das Entsetzen über die unfassbare Tat, welches das gesamte Locarnese lange gefangen hielt. Sätze wie die über den sich esoterisch spreizenden, schlussendlich aber traurigen Monte Verità formulieren eine Wahrheit, wie ich sie besser formuliert noch nicht gelesen habe. Sätze, die ich am liebsten auswendig lernen würde, um sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit anzubringen.

Fazit: Gut möglich, dass ich mein Buch des Jahres bereits gefunden habe, „Bugatti taucht auf“ ist eins der beeindruckendsten Romandebüts, die ich bisher gelesen habe. Prädikat: Sehr empfehlenswert.

Die Autorin ist eine der bekanntesten Theater-Dramatikerinnen unserer Zeit. Sie studierte u,.a. bei Heiner Müller und erhielt für ihre Werke zahlreiche Auszeichnungen. Ihre Werke beschäftigen sich oft mit den Themen Schuld, Trauer und Vergebung.

Dea Loher: „Bugatti taucht auf“. Wallstein Verlag, Göttingen. 208 Seiten, € 19,90

Links zu den Hintergründen der realen Geschehnisse:
Die Bergung des Bugatti und
Die Geschichte der Fondazione Damiano Tamagni




In Mülheim mag man’s gern monströs: Dea Loher erhält für „Adam Geist“ den Dramatikerpreis

Von Bernd Berke

Mülheim/Ruhr. In Mülheim mag man’s gern monströs: Die sechsköpfige Jury des Dramatikerwettbewerbs „stücke 98″ plagte sich am Ende nur noch mit den zwei längsten und sperrigsten von acht Beiträgen herum. Zuvor hatte man alles halbwegs Bekömmliche aussortiert. Gewogen und zu leicht befunden.

Gegen 1 Uhr nachts stiegen die imaginären Rauchzeichen auf, und Moderatorin Sigrid Löffler konnte das Resultat verkünden: Dea Lohers fast fünfstündige Passionsgeschichte „Adam Geist“ wurde mit fünf Jury-Stimmen gekürt, Elfriede Jelineks fünfeinhalbstündiges „Sportstück“ kam mit einem Votum auf Rang zwei. Da half es wenig, daß Frau Jelinek in der Publikumsgunst an den Abstimmungsurnen ganz vorn lag.

Die Jurorin Ursula Rühle (Dramaturgin in Köln) hatte vielleicht das entscheidende Stichwort in die Debatte geworfen, als sie sich generell für Stücke aussprach, die „das Theater überfordern“. Und die Zuschauer nicht minder, möchte man seufzend hinzufügen. Denn der über alle Maßen anstrengende Leidensweg des „Adam Geist“ kommt ohne jede Entwicklung aus. Es werden lediglich Stationen der Peinigung abgeschritten. Wenn man nicht schon zur Pause die Stätte des Mißvergnügens verlassen hatte (was etliche Zuschauer vorzogen), so sah man hier der ausgiebigen Zerstörung einer Figur zu, die eben von vornherein keine Chance hat.

Sei s drum, Mitgefühl ist nicht erwünscht, ja geradezu verboten: Andreas Kriegenburg vom Schauspiel Hannover meinte zu seiner „Adam Geist“-Inszenierung, Mitleid erwachse nur aus Bequemlichkeit, es habe –man beachte – keine „revolutionäre Dimension“, man solle derlei Rituale dem Fernsehen überlassen, das Theater habe anderes zu tun. Hört sich ein wenig töricht an, oder?

In der Gesamtschau aller acht Beiträge fiel die stark monologische, gelegentlich gar autistische Struktur der meisten Stücke auf. Der Verzicht auf Handlung ist fast schon die Regel, und man horcht bereits gespannt auf, wenn Figuren einmal miteinander sprechen, wenn sich dramatische Konflikte in Rede und Gegenrede entfalten. Statt dessen gab’s oft wuchtige Symbolik, weitschweifige Litaneien und Selbst-Erklärungen, gelegentlich mit lyrischer, aber eben kaum theatralischer Qualität.

Noch eine harte Maßnahme aus Hannover

Immerhin konnte sich diesmal niemand über männliche Dominanz beschweren: Als sei eine Quotenregelung in Kraft, stammten jeweils vier Stücke von Frauen (Loher, Jelinek, ~ Kerstin Specht, Simone Schneider) und vier von Männern (Oliver Bukowski, Volker Ludwig, Daniel Call, Albert Ostermaier). Bezeichnende Einlassung der Jury: Oliver Bukowskis Text „Nichts Schöneres“, der (ohne Anbiederung) vielleicht publikumswirksamste von allen, werde gewiß an vielen Häusern aufgeführt, er habe mithin keine Preis-Förderung mehr nötig. So kann man s auch wenden .. .

Vor derJury-Diskussion war mit Albert Ostermaiers „Tatar Titus“ (erneut eine harte Maßnahme des Schauspiels Hannover) der letzte Beitrag über die Bühne gegangen, auch dies überwiegend ein ungebremster Monolog der Sprach-Zertrümmerung. In einem gottlob nur einstündigen Konzentrat wird (Shakespeares „Titus Andronicus“ folgend) die Anfälligkeit von Autoren für die Macht, die prekäre Allianz zwischen Schwert und Schrift erwogen, genauer: schwerwiegend gewälzt.

Ostermaiers (unbewältigtes) Vorbild Heiner Müller lugt durch jede dritte Zeile. Viel Ausdruckswille, wenig eigene Substanz. Als Lesetext mag s angehen. Doch auf der Bühne ist’s Anti-Drama und Theaterentleerungs-Theater, das nur dem eigenen Klang nachhorcht. Wäre nicht der Darstelle! Hannes Hellmann gewesen, der die uferlosen Textflächen hie und da zur Reibung brachte, so hätte man noch mehr gelitten.