Lange Schatten der Vergangenheit – Das Westfälische Landestheater verhandelt Ferdinand von Schirachs „Fall Collini“

Junger Idealist und alter Hase: Tobias Schwieger (links) als Pflichtverteidiger Caspar Leinen, Burghard Braun (rechts) als abgebrühter Nebenkläger Mattinger. Im Hintergrund schmachtet Collini (Guido Thurk) in seiner Zelle. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Warum hat Collini den Industriellen Hans Meyer erschossen? Dass er es tat, steht außer Frage, doch Collini schweigt. Caspar Leinen, ein ehrgeiziger, junger Anwalt, wird vom Gericht zum Pflichtverteidiger ernannt. „Der Fall Collini“ ist seine erste Mordsache. Ferdinand von Schirachs gleichnamiger Roman lieferte die Vorlage für das Theaterstück, das nun am Westfälischen Landestheater in Castrop-Rauxel seine Uraufführung erlebte.

Sonderlich originell ist Schirachs Einstieg in die Geschichte sicherlich nicht, viele Krimis, amerikanische zumal, kommen ähnlich daher. Doch geht es dem Autor, der von Beruf Strafverteidiger ist und erst im fortgeschrittenen Alter zum überaus erfolgreichen Literaten wurde, ja nicht nur um Unterhaltung. Nein, von Schirach will auch politisch aufklären. Und deshalb erfährt das Publikum dank fleißiger Recherchen von Rechtsanwalts Leinen im Staatsarchiv bald, dass Collini zum Mörder wurde, weil Hans Meyer seinen Vater 1943, in Italien, als Geisel hinrichten ließ. Eine Klage, die Collini 1968 gegen Meyer erhob, wurde wegen Verjährung abgewiesen. Grundlage dieser Entscheidung war ein Gesetz aus dem selben Jahr, das die Verjährung der Taten der „Helfer“ von Nazi-Mördern regelte. 1968 lebten noch viele von ihnen. So weit, so skandalös.

Gang der Handlung ist nicht völlig überzeugend

Warum aber wartete Collini noch Jahrzehnte, bis er seinen Mord beging? Nun, er wartete, bis ein geliebter Verwandter gestorben war, der Mord, Verhandlung, Haft nicht miterleben sollte. Ein wirklich überzeugender Abschluss ist das eigentlich nicht, immerhin aber sind die juristischen Abhandlungen von Schirachs, die im Roman breiten Raum einnehmen, von Interesse.

Collini schweigt, der Anwalt wartet; Szene mit Tobias Schwieger (links) und Guido Thurk. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Intensive Form

Was nun macht das WLT aus diesem Roman? Auf eine Stunde 45 Minuten ohne Pause hat diese Inszenierung (Karin Eppler) den Stoff eingedampft, was dieser erstaunlich gut überstanden hat.

Nüchtern betrachtet rankt sich die Geschichte um zwei umfangreiche historische Rückblenden: Da ist zum einen die Erinnerung des kleinen Fabrizio Collini an den Überfall deutscher Soldaten auf sein Dorf und die Vergewaltigung seiner Schwester, späterhin an den Bericht über die Erschießung seines Vaters, zum anderen jene an das Gesetz von 1968, das die Taten von Nazi-Befehlsempfängern für verjährt erklärte.

Wenn all dies auf der Bühne zur Sprache kommt, hätte man Vorträge in großer Erregtheit erwarten können, Emotion, Betroffenheit, Fassungslosigkeit. Den ungeheuerlichen Ereignissen, um die es hier geht, wäre das allemal angemessen. Gerade deshalb jedoch erweist sich die sachliche, emotionsarme Darstellung in dieser Inszenierung als die richtige. Gewalttaten und Kriegsverbrechen, so wie sie sich hier darstellen, brauchen keine dramatische Überhöhung, um verstanden zu werden. Im Gegenteil. Die kleine Form gebiert das Grauen.

Der rote Faden verheddert sich

Leider verheddert sich der rote Faden im weiteren Gang der Handlung ein wenig. Wo juristische Sachlichkeit zwingend wäre – es geht immerhin um einen Mord –, findet die Inszenierung Gefallen an der Vorstellung, Collinis Schuld an dem zu messen, was die Nazis ihm und seiner Familie antaten. Das ist ein bisschen leichtfertig, auch wenn die Vorgeschichte bei der Frage nach der Schwere der Schuld gewiss eine Rolle spielt. Collinis Selbstmord setzt dieser thematischen Irritation ein abruptes Ende.

Bemerkenswertes Sound-Design

Das Mobiliar – Stühle, Tische – ist sparsam, dominiert wird die Bühne von einer Art Guckkasten, eine Gefängniszelle wohl, in der Collini sich befindet. Von einer Wanderbühne wie dem WLT sollte mehr Ausstattung auch nicht erwartet werden. Die Oberbekleidung der Damen und Herren (Garderobe: Regine Breitinger) ist weitgehend unspektakulär. Lediglich die Ausstaffierung des Polizisten („Kommissar Balzer“, gespielt von Mario Thomanek) mit Springerstiefeln und altertümlicher Lederjacke, auf der Polizei steht, ist etwas unpassend. Erwähnt werden muss noch das Sound-Design (Ton: Lukas Rohrmoser) das unaufdringlich den Gang der Handlung akzentuiert.

Erfahrene Kräfte

Burghard Braun lässt als Rechtsanwalt Mattinger einmal mehr den in sich ruhenden, unaufgeregt aufspielenden Bühnenprofi erkennen, gleiches lässt sich über Andreas Kunz in der Rolle des Oberstaatsanwalts Reimers sagen; auch Vesna Buljevic als Richterin weiß ihre Rolle mit Ruhe und Konzentration anzulegen, ohne deshalb beliebig zu werden.

Leinen (Tobias Schwieger, links) erläutert Johanna Meyer (Franziska Ferrari) seine Beweggründe. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Zu viel des Guten

Tobias Schwieger jedoch, der hier die Hauptrolle spielt, möchte man nachdrücklich mehr Zurückhaltung empfehlen. Er überspielt den jungen Anwalt, besonders anfangs, so sehr, dass man sich im Kindertheater wähnt (nichts gegen das Kindertheater). Wenn Pathologe Wagenstett (Mike Kühne) detailverliebt die Schussverletzungen Hans Meyers beschreibt, übergibt Caspar Leinen sich mehrere Male kunstvoll, fast schon slapstickhaft. Eine Lachnummer, die allerdings auch den Verdacht nährt, dass dieses aufgekratzte Spiel ein – reichlich unangemessener – Regieeinfall sein könnte.

Auch Franziska Ferrari als empörtem Mitglied des Meyer-Clans wäre Mäßigung anzuraten. Wenn sie allerdings die leicht zwanghafte Frau Dr. Schwan vom Bundesarchiv gibt, die dem Gericht im munteren Expertenton erläutert, wann beispielsweise die Erschießung von Geiseln nach dem Völkerrecht (auch heute noch) erlaubt ist und wann man vielleicht von einem Gesetzesverstoß reden könnte, dann weiß sie wohl zu überzeugen.

Wohltuende Aufgeräumtheit

„Der Fall Collini“ im Westfälischen Landestheater beeindruckt vor allem durch seine dokumentarischen Valeurs, erinnert in seinem Hang zur Belehrung durchaus auch an Fernsehspiele der 60er-Jahre. Die Aufgeräumtheit dieser Inszenierung ist wohltuend, und das Ensemble liefert eine alles in allem überzeugende Arbeit ab. Das Publikum in der voll besetzten Europa-Halle spendete begeisterten Beifall.

  • Weitere Termine:
  • 24.10.2021    Nettetal Haus Seerose
  • 29.10.2021    Marl Theater
  • 30.10.2021   Castrop-Rauxel Studio
  • 2.11.2021    Brilon Kolpinghaus
  • 3.11.2021    Gladbeck Stadthalle
  • 20.11.2021    Sulingen Stadttheater im Gymnasium
  • 3.11.2021    Herne Kulturzentrum
  • 2.12.2021    Rheda-Wiedenbrück Aula des Ratsgymnasiums
  • 12.12.2021    Gifhorn Stadthalle
  • 13.01.2022    Solingen Theater und Konzerthaus
  • 18.03.2022    Bad Oeynhausen Theater im Park
  • 12.05.2022    Bottrop Josef-Albers-Gymnasium

WLT-Kasse: 02305 / 97 80 20.

tickets@westfaelisches-landestheater.de




Ins Herz der juristischen Finsternis

Zunächst scheint alles ganz klar: Der seit Jahren in Deutschland lebende und arbeitende Italiener Fabrizio Collini erschießt in einem Berliner Luxushotel den Großindustriellen Hans Meyer. Der Mörder ruft selbst die Polizei und gesteht die Tat.

Danach aber verfällt er in tiefes Schweigen. Vor allem zum Motiv seiner Mordtat will er sich nicht äußern. Wenn Anwalt Caspar Leinen, dem die Pflichtverteidigung des vermeintlichen Mörders zugewiesen wird, gehofft haben könnte, „Der Fall Collini“ sei ein leicht abzuwickelnder juristischer Selbstläufer, sieht er sich schnell getäuscht. Doch nicht nur, dass die Motive der Tat im Dunkeln liegen, macht ihm zu schaffen. Auch dass der Anwalt das Mordopfer kannte und Hans Meyer in seiner Jugend verehrt hat wie einen Vater, wird für Caspar Leinen zu einer schweren Belastung. Denn er ahnt bald, dass ihm im Fall Collini einige unangenehme Wahrheiten bevorstehen, die ihn in die Abgründe der eigenen Biografie und der deutschen Geschichte führen werden.

Natürlich sind die Romanfigur Caspar Leinen und der Autor Ferdinand von Schirach nicht identisch. Aber sie haben doch einiges gemein. Der 1964 in München geborene von Schirach arbeitet seit 1994 als Strafverteidiger in Berlin, verteidigt Mörder und Drogendealer, kleine und große Wirtschafts- und Polit-Kriminelle. Dass von Schirach genauso akribisch an der Wahrheitsfindung interessiert ist wie seine literarischen Figuren, davon zeugen die Erzählbände „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010), mit denen der schreibende Anwalt die Bestseller-Listen stürmte, den angesehenen Kleist-Preis erhielt und sich schlagartig in die erste Reihe deutscher Literaten katapultierte. Der lakonische Ton, die kühle Distanz und die Genauigkeit seiner wie mit einem Seziermesser aufs Papier geritzten Erzählungen erinnern an die Short-Stories von Raymond Chandler. Gespannt durfte man sein, wie er sein literarisches Besteck auf der Langstrecke eines Romans beherrscht. Und in welche juristischen und menschlichen Labyrinthe er sich wohl diesmal begibt.

Dass sich der Autor auf ein Gebiet wagt, das ihm wie ein biografischer Klotz am Bein hängt und über das er öffentlich nur ungern spricht, ehrt ihn. Es muss ihm zugleich wie eine Befreiung vorgekommen sein. Denn mit dem „Fall Collini“ taucht nicht nur die literarische Figur Caspar Leinen, sondern auch der schreibende Enkel des verurteilten NS-Verbrechers Baldur von Schirach in die Zeit des Nationalsozialismus, des Hitler-Krieges und des Massenmordes ein. Der von Fabrizio Collini erschossene Hans Meyer war nämlich, wie Caspar Leinen nach beschwerlichen Recherchen und staubigen Exkursionen in deutschen Archiven herausfindet, nicht nur der von ihm geliebte gutmütige alte Mann und der in Wirtschaftskreisen hoch angesehene Industrielle. Er hatte auch eine mörderische Nazi-Vergangenheit. Als „SS-Sturmbannführer“ hatte Meyer in Italien Erschießungen veranlasst und Schuld auf sich geladen. Aber er hatte, obwohl Collini ihn schon vor Jahrzehnten als Mörder seiner Familie angezeigt hatte, nie dafür büßen müssen. Die Tat galt als verjährt, die Schuld als unerheblich. Dafür hatten die von ehemaligen Nazis ins bundesdeutsche Gesetzbuch geschmuggelten Bestimmungen gesorgt.

Ferdinand von Schirach nimmt den Leser mit auf eine Reise ins Herz der juristischen Finsternis. Denn seinem Alter Ego Caspar Leinen geht es darum, die Mordmotive aufzuklären und die Schwere der Schuld seines Mandanten zu eruieren. Wenn es um die Beschreibung der juristischen Fallstricke und die Aufklärung der Nazi-Verbrechen geht, ist der Autor in seinem Element. Doch so präzise er hier ist, so klischeehaft geraten ihm die menschelnden Einschübe in seine Mord- und Rache-Geschichte. Caspar Leinen erinnert sich an seine unbeschwerten Kindertage mit Philipp, seinem früh verstorbenen Freund und Enkel von Hans Meyer. Und daran, wie er sich in Philipps Schwester Johanna verliebte, dieselbe Johanna, die jetzt nicht verstehen kann, warum Caspar den Mörder ihres Großvaters verteidigt, die ihm schwere Vorwürfe macht – und dann doch mit ihm ins Bett geht. Der Leser könnte gut auf diese banalen Erinnerungssequenzen und erotischen Gemeinplätze verzichten. Aber dann wäre aus dem Roman vielleicht doch nur wieder eine Erzählung geworden.

Ferdinand von Schirach: „Der Fall Collini“. Roman. Piper, München, 2011, 197 S., 16,99 Euro.

Als Hörbuch: Ungekürzte Lesung von Burghard Klaußner. Osterwold, 3 CD, 19,99 Euro.

Infos:
+ Ferdinand von Schirach, geboren 1964 in München, Enkel des NS-Reichsjugendführers Baldur von Schirach.
+ Seit 1994 Strafverteidiger in Berlin.
+ Betrat mit den Erzählbänden „Verbrechen“ (2009) und „Schuld“ (2010) die literarische Bühne.
+ „Der Fall Collini“ ist der erste Roman des Autors.
+ Kleist-Preis für „Verbrechen“ 2010.
+ Doris Dörrie arbeitet an der Verfilmung einer Geschichte aus „Verbrechen“.
+ Das ZDF plant eine Serie mit Filmversionen der Erzählungen.
+ Unter dem Titel „Einspruch“ schreibt von Schirach regelmäßig Kolumnen im „Spiegel“.