Mammutprojekt zum Abschluss der Ära von Steven Sloane: Richard Wagners „Ring“ konzertant in Bochum

Nachdem Richard Wagners Tetralogie an der Deutschen Oper am Rhein in der Regie von Dietrich Hilsdorf seine ersten kompletten Zyklen überstanden hat und sich in Dortmund Peter Konwitschny erneut an den „Ring“ machen wird, will auch Bochum nicht hintanstehen.

Sie stellten das Bochumer „Ring“-Projekt bei einer Pressekonferenz vor: Steven Sloane und Norman Faber. Foto: Werner Häußner

In der letzten Spielzeit, in der GMD Steven Sloane die Bochumer Symphoniker leitet, will er die 27-jährige Zusammenarbeit u.a. mit einem konzertanten Nibelungen-Ring krönen. Vorgesehen sind die vier Vorstellungen zwischen 25. September 2020 („Das Rheingold“) und 22. Mai 2021 („Götterdämmerung“). Für eine „Visualisierung“ im Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum wurde der Opernregisseur Keith Warner gewonnen. Unterstützt wird das Projekt von der Familie Norman Faber und die Faber Lotto-Service GmbH. Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Projekts war von einer „bedeutsamen sechsstelligen Summe“ die Rede.

Es soll „ganz, ganz anders klingen als sonst“

Steven Sloane nennt die geplante Umsetzung des „Rings“ mit seinem Orchester in Bochum „die Erfüllung eines Traums“. Er sieht in der Konzentration auf die musikalische Umsetzung der Tetralogie eine große Chance, viele Facetten herauszuarbeiten. Wagner wird nach Sloanes Worten in dem erst 2016 eingeweihten Bochumer Konzertsaal mit einer inzwischen oft gerühmten Akustik „ganz, ganz anders klingen als sonst“. Die Zuhörer hätten die Chance, Wagner als zentrale Figur des Musiktheaters nicht in der Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum, sondern „mittendrin“ in Kontakt mit dem Orchester auf dem Podium zu erleben. Auch Mäzen Norman Faber erhofft sich das Erlebnis eines „einzigartigen Klangs“.

Ergänzt wird der „Ring des Nibelungen“ durch einen „Kleinen Bochumer Ring“ für Menschen ab 10 Jahren. Dabei kooperieren die Bochumer Symphoniker mit Bochumer Schulen und Akteuren aus der freien Kulturszene. Von jeder „Ring“-Oper gibt es vier jeweils einstündige Vorstellungen, beginnend am 31. Oktober mit „Das gestohlene Rheingold“ und endend am 9. Mai 2021 mit „Die mächtige Götterdämmerung“.

Die Besetzung des Bochumer „Rings“ wird erst später bekanntgegeben; genannt wurden jedoch bereits Eva-Maria Westbroek (Sieglinde), Emily Magee (Brünnhilde), Claudia Mahnke (Fricka), Michael Weinius (Siegfried) und Simon Neal (Wotan).

Für den „Ring“ sind Abonnements erhältlich, die ab 3. Juni im Vorverkauf sind. Einzelkarten gibt es ab dem 17. Juni. Info: www.bochumer-symphoniker.de, Tel.: (0234) 910 86 66.




Bayreuth-Nachlese: Frank Castorfs „Ring“-Inszenierung wird in die Geschichte eingehen

Die Bayreuther Festspiele 2017 sind Vergangenheit – und mit ihnen Frank Castorfs „Ring des Nibelungen“ aus dem Wagner-Jubiläumsjahr 2013. Aber schon während der drei Vorstellungsserien dieser Festspielzeit war festzustellen: Dieser „Ring“ hat Geschichte geschrieben und wird in die Geschichte eingehen.

Szene aus dem ersten Aufzug von Wagners "Siegfried". Foto: Enrico Nawrath

Szene aus dem ersten Aufzug von Wagners „Siegfried“. Foto: Enrico Nawrath

Selten hat sich der Geist einer Zeit so nachvollziehbar auf der Opernbühne manifestiert. Selten ist die Spannung zwischen den Anspruch eines Werks, dem Prozess, seinen Sinn zu erschließen und der lustvollen Verweigerung jeglicher Hermeneutik so sardonisch schmerzhaft ausgekostet worden.

Vergeblichkeit der Sinnsuche

Bestürzend klar lässt der Berliner Altmeister, der im Juli 2017 seine Weihestätte am Rosa-Luxemburg-Platz und die Schar seiner Gläubigen verlassen musste, vor unser Auge treten, dass er es für vergeblich hält, in dieser Welt einen Sinn erfassen zu wollen. Elementare Lüste und die alte Macht der Triebe leben sich aus. Und wir sind hilflos zurückgeworfen auf die Flut der Bilder, auf die verborgene Macht der ins Leere zielenden Zeichen und Verweise, auf die Klicks, mit denen persönliche Assoziationen und gedankliches Schweifen in einen Text, in eine Musik einrasten, die nur mehr Spiel-Material sind.

Theater der Dekonstruktion und Diskontinuität

Theater der Dekonstruktion und Diskontinuität: Das hatte in den letzten 25 Jahren an der Volkbühne in Berlin seine Entwicklung, die zwischendrin mal niemanden mehr aufregte und die mit einer Mischung aus verbissener Treue, snobistischer Langeweile, theaterästhetischem Beharrungsvermögen und avantgardistischer Lust an der Anarchie ihren Platz ausfüllte. Ganz neu war diese Art Theater für Bayreuth auch nicht mehr, als Castorf 2013 sich mit Wonne dem Spießrutenlaufen nach den „Ring“-Premieren aussetzte.

Der Riecher von Wolfgang Wagner schnüffelte schon in diese Richtung, als er 1993 Heiner Müller den „Tristan“ inszenieren ließ – eine legendär gewordene Arbeit, die Müllers Ex-Assistent Stephan Suschke im September 2018 in drei bereits ausverkauften Vorstellungen am Landestheater Linz wiederbelebt. Auch der zu Recht viel gescholtene „Tannhäuser“-Exzess Sebastian Baumgartners holte mit der bespielten Installation Joep van Lieshouts postdramatisches Theater ins Festspielhaus, wenn auch weit entfernt von der Konsequenz Castorfs.

Jetzt also Inszenierungsgeschichte: Dass dieser „Ring“ ähnlich prominent wie vor 40 Jahren Patrice Chéreaus wegweisende Arbeit in die Bayreuther Annalen eingehen wird, ist kaum zu bezweifeln. Welche Impulse für künftige tetralogische Regie-Bemühungen von ihm ausgehen, ist noch nicht abzusehen. Der nächste Bayreuther Großversuch 2020 soll ja, so wird geraunt, Diskontinuität weiter zementieren, wenn vier Regisseurinnen jeweils einen Teil erarbeiten und damit betont wird, dass die vier Abende auch ohne inneren Zusammenhang szenisch gelesen werden können.

Der „Ring“ ist zu Ende gedeutet – neue Konzepte sind nötig

Das ist kein neuer Gedanke (in Stuttgart und Essen etwa hat es solche Zyklen längst gegeben), möglicherweise dennoch einer mit innovativem Potenzial. Und neue Impulse sind bitter nötig: Wagners „Ring des Nibelungen“ wurde in den letzten Jahren allzu häufig als Objekt ehrgeiziger Regisseure und Dirigenten aus- und überinszeniert. Zu erzählen hatten sie dabei wenig Aufregendes – ob Georg Schmiedleitner in Nürnberg mit Müll und Trash, ob Rosamund Gilmore in Leipzig mit zahnloser Personenführung in Ruinen und Hallen oder Uwe Eric Laufenberg in Wiesbaden mit einem Aufguss seiner Linzer „Ring“-Bemühung.

Dietrich Hilsdorfs Düsseldorfer Zyklus, der in der letzten Spielzeit mit „Das Rheingold“ begonnen hat, weist wieder einmal in die bekannte Gesellschaftskritik, ist aber immerhin handwerklich glänzend erarbeitet und verspricht von daher noch spannende Fortsetzungen. Nicht vergessen sei der Detmolder „Ring“, in dem Kay Metzger (Regie) und Petra Mollerus (Bühne) mit eigenständigen Ideen einen bildmächtigen Bogen vom Absolutismus bis in eine Science-fiction-Zukunft geschlagen haben – große Leistung eines kleinen Hauses.

Castorf hatte eine Menge zu erzählen: Der Gegensatz zu statuarisch-symbolhaften Bildwelten, wie sie Wieland Wagner begründet und zuletzt vielleicht Vera Nemirova in Frankfurt gepflegt hat, könnte nicht stärker sein: Von den gelangweilt herumlümmelnden Rheintöchtern, die dem abgehalfterten Alberich die Peitsche spüren lassen – er braucht sich die Lust nicht mehr listig erzwingen –, über die ungestümen Stalin- und Lenin-Gleichsetzungen im „Siegfried“ bis hin zu den Road-Movie-Typen der „Götterdämmerung“, ihren Halbweltweibern und Voodoo-Schamanen entwickeln Castorfs Darsteller Charaktere, die sich in einer Fülle szenischer Mikro-Episoden lustvoll ausspielen.

Ertränkt und aufgeputscht von der Flut der Bilder

Castorf überschüttet den Zuschauer mit einem Wust aus Zitaten, Klischees, Gags, Bildfetzen aus biographischer oder kollektiver Erinnerung, medialen Chiffren, politischen Zeichen und symbolbehafteten Schauplätzen. Eine Flut, die bewusst überfordert: Wer kann mit Ketchupflaschen und Isolierdecken etwas anfangen, wer erkennt die Hinweise auf unbedeutende Trash-Filme, wer ahnt, worauf Alberichs Plastik-Entchen verweisen könnte, wer deutet sich durch die Anspielungswelt der Kostüme Adriana Braga Peretzkis, die von Marlene Dietrichs mondänen Pelzen über den abgedrehten „glitter man“ und Pianisten Liberace bis hin zu Nicholas Cage in David Lynchs „Wild at Heart“ reichen?

Das Motel an der Route 66 mit derTankstelle im "Rheingold". Foto: Enrico Nawrath

Das Motel an der Route 66 mit der Tankstelle im „Rheingold“. Foto: Enrico Nawrath

Einen wesentlichen Anteil an der ästhetischen Wirkung dieses „Rings“ haben die Bühnenbilder von Aleksandar Denić. Sie spielen mit Orten, die aus anderen medialen Erzählungen bekannt und zu Chiffren moderner (Popular-)Kulturen geworden sind: Das schmierige Motel an der „Route 66“ ruft einen Topos auf, der – über „Highway 66“ hinaus – in zahllosen amerikanischen Filmen zu finden ist, und könnte auch ein Hitchcock-Setting sein.

Die Scheune mit der Anspielung auf die schmutzige Ölförderung, verlegt in ein Land unter dem roten Stern, könnte irgendwo in Amerika stehen, wird aber mittels historischer Propagandafilme mit dem Sowjet-Sozialismus Stalins verknüpft. Der Coup mit dem verhülltem Reichstag und den machtvollen Säulen der New Yorker Börse in der „Götterdämmerung“, die Mount-Rushmore-Karikatur im „Siegfried“ oder die triste DDR-Alltags-Ästhetik des Alexanderplatzes öffnen weitreichende Gedanken-Spielräume und anachronistische Perspektiven, die absichtsvoll gebrochen sind oder ins Leere laufen. Aber diese meisterhaft ausgeleuchteten Bilder (Rainer Casper) haben einen so eindringlichen Wiedererkennungswert, dass sie sich unauslöschlich ins Gedächtnis einbrennen.

Und natürlich wecken sie – bestärkt noch durch die ständigen Video-Projektionen, die Details aus Innenräumen großformatig nach außen bringen und die Protagonisten in den Fokus rücken, wie es auf der Opernbühne niemals möglich wäre – eine fast kindliche Lust am Deuten. Denn entgegen den Anweisungen des Meisters war in diesem Jahr die Lust im Publikum zu spüren, sich die Castorf-Welt zurechtzuerklären: In den Pausen wurde über diese und jene Details debattiert, ahnungsvoll raunend verborgene Zusammenhänge festgestellt.

Die Suche nach dem Sinn kommt durch die Hintertür zurück

Das „Besserwissertheater“, das Castorf in einem seiner Interviews gegeißelt hatte, feiert fröhlich Wiederkehr: Wer kennt die Filme auf den Plakaten im Inneren des Motels? Wer erkennt Bild- oder Szenenzitate und ihre mögliche Bedeutung? Der Mensch erträgt es nicht, seine Welt ungedeutet zu lassen. Er will die Ordnung, den Sinn der Abläufe erkennen. Wenn der Glaube nicht hilft, findet sich eine Ideologie. Wenn die versagt, wird ein subjektivistischer Nihilismus zum Rückzugsort, auf dem sich die Bewegung der Wellen von einem vermeintlich festen Standpunkt aus bestimmen lässt. Das war vielleicht das spannendste Ergebnis der sechzehn Stunden Zeichenflut.

„Ich habe Sehnsucht nach menschlicher Welt“, schreibt Castorf im Programmheft. Was er zeigt, sind nur noch Degenerationen menschlicher Existenz. Der „Ring“ ist in seinen Augen eine Erzählung tiefster Verzweiflung: Liebe ist zu sexueller Lust oder Gewalt degeneriert, Gestaltungskraft zu Machtmissbrauch, Selbstbewusstsein zu Egozentrik, Freiheit zu Anarchie, Furchtlosigkeit zu Brutalität. Eine freie, wilde Welt, mit rastlosem Antrieb nach Macht, die sich am Ende nur noch um Selbsterhaltung ängstigen muss. Wagners Welt des „Rings“? Man wird nicht umhin können, ihre Züge auch unter der Camouflage Castorf’scher Assoziationsketten zu erkennen.

Zwiespältige musikalische Eindrücke

Musikalisch waltet über den drei letzten „Ring“-Zyklen die Hand des 78-jährigen Marek Janowski, der mit der Staatskapelle Dresden eine hoch gelobte Aufnahme der Tetralogie vorgelegt hatte. Das Bayreuther Ergebnis ist zwiespältig: Im „Rheingold“ fehlt zu Beginn die Atmosphäre, am Ende das gewisse Pathos, das der Musik eingeschrieben ist.

Dass Janowski keine Leitmotivhuberei betreibt, ist kein Verlust, dass er wichtige Blechbläsermotive mit den begleitenden Bewegungen der Streicher übertönt, schon eher. Seltsam willkürlich wirkende Modifikationen im Tempo, unmotivierte Betonungen vor allem in den Holzbläsern, dann wieder klangliche Pauschalisierungen lassen das Dirigat inhomogen, manchmal sogar ziellos erscheinen. Im ersten Akt der „Walküre“ ersticken Bedrohliches und Poetisches im neutralen Fluss von Tönen. Der erste Akt des „Siegfried“ dagegen erklingt als ein Stück fortschrittlicher Musik, fast so bittersüß wie Schostakowitsch.

Das Bayreuther „Ring“-Ensemble, in der „Götterdämmerung“ angeführt vom stets untadeligen Chor Eberhard Friedrichs, hat mit Catherine Foster eine der besten Brünnhilden im derzeitigen internationalen Sänger-Markt zu bieten. Foster bildet die Töne frei und unverkrampft, ohne Druck und Verfärbung, mit ermüdungsfreier Schwerelosigkeit. Dazu kommt eine pointierte Bühnenpräsenz, die sie selbst in diesem schauspielerisch auf Höchstleistung verpflichteten Ensemble herausragen lässt.

Die Erda Nadine Weissmanns muss gleich hinter Foster genannt werden: eine opulente Alt-Stimme, artikulationsgenau, klangschön, unbeirrbar. Auch Marina Prudenskaya hat als Waltraute einen tollen, stimmlich einem ausgewogenen italienischen Klangideal zuneigenden Auftritt. Alexandra Steiner, Stephanie Houtzeel und Wiebke Lehmkuhl harmonieren als Rheintöchter dank solide positionierter Stimmen. Tanja Ariane Baumgartner wirkt als Fricka im „Rheingold“ nicht so frei und unbefangen wie in der „Walküre“. Und Caroline Wenborne muss als Freia in Latex ihre Figur ausschließlich sexuell definieren.

Eine Trias erstklassiger Wagner-Bässe

Im „Rheingold“ erweisen sich Günther Groissböck und Karl-Heinz Lehner (Fasolt und Fafner) als erstklassige Wagner-Bässe. Auch Georg Zeppenfeld spielt als Hunding seinen böse-schwarzen Bass mit zynischer Härte aus. Roberto Saccá mag als Loge mit begrenztem, klanglich gedeckeltem Tenor stimmlich nicht recht überzeugen; Iain Paterson hat als Wotan seine besten Momente, wenn er verhalten reflektiert; in den dramatischen Stellen des letzten Akts der „Walküre“ stößt er an seine Grenzen.

Christopher Ventris singt den Siegmund mit klarem, deutlich artikuliertem Ton, hat auch die Farben für das Spektrum der Gefühle zwischen Resignation und siegesgewissem Aufbegehren. Seine Partnerin Camilla Nylund wird im Lauf des klug durchgestalteten ersten Akts härter und vibratoreicher. John Lundgren in der „Walküre“ und Thomas J. Mayer im „Siegfried“ singen Wotan/Wanderer solide, darstellerisch präsent, aber ohne vokales Charisma. Stefan Vinke überwältigt als Siegfried weniger durch Strahlkraft als durch eine untrügliche, abgesicherte Basis seiner Stimme. Ana Durlovsky wirkt überanstrengt; das Timbre passt aber zum Rollenkonzept eines alternden Berliner Showgirls.

Auch Stephen Milling reiht sich in die Riege der überzeugenden Wagner-Bässe ein: Sein Hagen ist ein böser, stimmgewaltiger Ränkeschmied, der es mit Siegfried und mit seinem Halbbruder Gunther – dem sicheren, klangschön singenden Markus Eiche – locker aufnehmen kann. Albert Dohmen flüchtet sich als Alberich zu oft in flaches, unstet gestütztes Deklamieren; der Mime von Andreas Conrad dürfte vor allem im ersten „Siegfried“-Akt in gestalterischer Finesse kaum zu übertreffen sein.

Das Publikum quittiert die unterschiedlichen sängerischen Profile fast durchweg mit unterschiedslosem Jubel und ein paar deplazierten Buhs; der wütende Protest gegen die Regie, wie er 2013 zu erleben war, blieb aus. Wer diesen „Ring“ nicht mag, hat sich längst entschlossen, zu Hause zu bleiben.

Co-Autor: Robert Unger




Festspiel-Passagen XII: Keine Bedeutung, aber auf Zeithöhe – Castorfs „Ring“ in Bayreuth

Dunkle Wolken über dem Festspielhaus: Der "Ring" von Frank Castorf provozierte auch in seinem zweiten Jahr wütende Proteste. Allseits beliebt dagegen sind die kleinen Wagnerchen von Ottmar Hörl. Foto: Werner Häußner

Dunkle Wolken über dem Festspielhaus: Der „Ring“ von Frank Castorf provozierte auch in seinem zweiten Jahr wütende Proteste. Allseits beliebt dagegen sind die kleinen Wagnerchen von Ottmar Hörl. Foto: Werner Häußner

Bayreuth hat es wieder, sein Alleinstellungsmerkmal: So einen „Ring“ gibt es in der Tat nirgends sonst. So radikal, so konsequent wird nirgendwo der Abschied vom Regietheater zelebriert, das „Material“ ironisiert, zertrümmert, zerknickt …

Für Wagners Tetralogie ist das neu; für Bayreuth nach Schlingensiefs „Parsifal“ und Baumgartens „Tannhäuser“ nicht ganz so taufrisch. Eine Linie, die 2016 mit dem „Parsifal“, inszeniert von Jonathan Meese, fortgesetzt und vorläufig abgeschlossen wird.

Meese sollte man nicht auf seine Hitlergruß-Skandale reduzieren. Denn bei ihm gibt es in der Auseinandersetzung mit den Mythen der deutschen Geschichte – und auch dem Mythos Wagner – viel Erwägenswertes, durchdrungen von der Lust am Ironischen und Grotesken. Auch Frank Castorf erschöpft sich nicht in seinen unbestreitbaren Fähigkeiten als Skandal-Entertainer. Die hat er schon im letzten Jahr bei der „Ring“-Premiere ausgespielt: Vogelzeigen oder – wie andere meinen – eine zum Nachdenken auffordernde Geste beim Buh-Sturm nach der „Götterdämmerung“, Vergleiche zwischen Bayreuth und der DDR. In diesem Jahr galliger Protest gegen die Umbesetzung in der Rolle des Alberich, den Oleg Bryiak statt Martin Winkler sang. Castorf hat sein Soll erfüllt.

Dieser „Ring“ ist ein Dokument der Kontinuität: Wie er war zu aller Zeit, so bleibt Castorf in seiner Theater-Ewigkeit. Für die Besucher der Berliner Volksbühne – ein exklusiver Kreis von Leuten, die den immer gleichen Umgang mit alten und neuen Stoffen schätzen, also echte Formkonservative – ist in Bayreuth nichts Neues passiert. Für die aus aller Welt angereisten Spurensucher nach dem Mythos Wagner und der Aura des „Hügels“ allerdings schon. Dass es in den Vorstellungen des zweiten „Ring“-Zyklus relativ verhaltene Missfallenskundgebungen gab, hat wohl weniger mit wachsender Zustimmung, mehr mit der Ratlosigkeit der international gemischten Audience zu tun.

Stimmschöne Luder: die drei Rheintöchter. Foto: Enrico Nawrath

Stimmschöne Luder: die drei Rheintöchter. Foto: Enrico Nawrath

Castorfs „Ring“ repräsentiert die bekannten hermeneutischen Prinzipien: Die grundsätzliche Verweigerung einer Erzählung über die einzelne Szene hinaus. Den prinzipiellen Einsatz diskontinuierlicher Zeichen und Schauplätze. Das Ringen mit der eigenen Biografie und der DDR-Vergangenheit. Das verzweifelt-lustvolle Zerschlagen auch noch der letzten Spur von Bedeutung. Die Reibung an dominierenden ideologischen Systemen der Jetztzeit.

So gesehen ist dieser „Ring“ auf der Höhe der Zeit: Spiegel einer Theaterästhetik, die sich jenseits traditionellen Bedeutungs- oder ästhetisch-kulinarischen Unterhaltungstheaters bewegt, aber auch nur eine Minderheit erreicht. Stets gefährdet, jenseits eines in sich gekrümmten, selbstreferentiellen Kulturbetriebs bedeutungslos zu werden. Das hat nichts mit der Qualität der Kunst zu tun, wohl aber mit ihrem Gewicht für die gesellschaftliche Debatte – sofern diese überhaupt noch stattfindet. Und man muss gerechterweise auch feststellen, dass Provokationen wie Castorfs „Ring“ die Frage nach der Relevanz eines Ortes wie Bayreuth in der Kontroverse eher schärfen als nivellieren.

Sicher ist zu fragen, ob es unbedingt der Aufregung bedarf, um alte Themen neu zu entdecken. Ist das konsequent entwickelte erzählende Theater nicht besser geeignet, zu berühren, auch zu verstören, Wirklichkeit als brüchig und ideologische Systeme als verlogen zu entlarven? Im Brecht’schen Sinne ist dieser Mangel an Distanz sicherlich der kardinale Sündenfall des Theaters. Aber: Wodurch wäre gerechtfertigt, das Theater der Dekonstruktion und Diskontinuität als letzten Stand der Dinge zu zementieren? Es trägt, auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung, den Keim zu seiner Überwindung bereits in sich. Und Castorfs „Ring“, das muss ihm bescheinigt werden, ist ein Höhepunkt dieser Form des Theaters. Seine Überbietung, so es denn eine gibt, darf dann der „Ring“ des Jahres 2020 leisten,

"Wer meines Speeres Spitze fürchtet ...": Wolfgang Koch als Wotan vor brennendem Ölfass in der "Walküre". Foto: Enrico Nawrath

„Wer meines Speeres Spitze fürchtet …“: Wolfgang Koch als Wotan vor brennendem Ölfass in der „Walküre“. Foto: Enrico Nawrath

So ist, wer nach einem roten Faden in den vier Abenden fragt, von vornherein falsch gepolt. Auch das „Öl“, das Castorf den nach Interpretation gierenden Medien vorgeraunt hat, zieht keine Spur, sondern schillert höchstens hier und da als Chiffre auf. Es ist in raffinierter Form der Treibstoff an der abgewetzten Tankstelle des Motels im „Rheingold“; es wird demonstrativ präsent gesetzt im Förderturm und einer dämonischen Pumpe in der „Walküre“; es wird zitathaft angesprochen in herumstehenden Ölfässern oder in der brennenden Tonne der „Götterdämmerung“, in der am Ende der Ring verschwindet. Und es grüßt als skurriles Versprechen in der Leuchtschrift „Plaste und Elaste aus Schkopau“ von der Wand, hinter der sich ein abgeranzter Berliner Hinterhof mit Döner-Bude, aber auch der verhüllte Reichstag und die tempelartige Säulenfassade der „New York Stock Exchange“ verbirgt.

Ein Gegenstand überlebt die Drehbühnen-Verwandlungen der vier Teile, ein silberner Fünfziger-Jahre-Wohnwagen mit aufklappbarer Seitenwand: In ihm wird Alberich als Kröte gefangen; in ihm haust Mime im „Siegfried“. Aber auch dieser alternative Raum zu den bühnenfüllenden Großbauten Aleksandar Denićs ist wenig mehr als Strandgut im wechselvollen Treiben der subjektiv aufgeladenen Zeichen. Er täuscht den strebenden Geist, der sich nach einem Motiv der Kontinuität seht. Den Aha-Effekt verweigert Castorf maliziös. Eine „konzise dramaturgische Analyse“ wird zu keinem Ergebnis führen. Das sagte Bayreuth-Cheferklärer Sven Friedrich, Leiter des Wagner-Nationalarchivs, schon im letzten Jahr in einem seiner Einführungsvorträge.

Die Post am Alex zu DDR-Zeiten: Aleksandar Denic hat atmosphärisch dichte, detailreiche Bühnenbilder gebaut. Foto: Enrico Nawrath

Die Post am Alex zu DDR-Zeiten: Aleksandar Denic hat atmosphärisch dichte, detailreiche Bühnenbilder gebaut. Foto: Enrico Nawrath

Der Bühnenbildner Aleksandar Denić ist der Star der Produktion, denn seine Bilder zwischen einem kommunistischen Mount Rushmore mit den Steinköpfen von Marx, Lenin, Stalin und Mao und der versifften S-Bahn-Station „Alexanderplatz“ ohne „Al“ sind so fotorealistisch wie Filmsets gebaut und von Rainer Casper hingebungsvoll ausgeleuchtet. Es sind spektakuläre Schauplätze bis hin zum Zitat der großen Filmtreppe für den herabschreitenden Star – in diesem Falle Brünnhilde – in der „Götterdämmerung“: Der Zuschauer fühlt sich, als sei er zu schauen gekommen, freilich nicht zu schaffen. Denn Bedeutung darf man auch an diesen Orten nicht erwarten: goldene Isolierdecke und blutrote Ketchupflasche haben nichts miteinander zu tun und konstituieren ebensowenig Sinnzusammenhang wie eine blutige Voodoo-Ecke in der „Götterdämmerung“ und die amerikanische Mittelwest-Scheune im ersten Akt der „Walküre“.

Potenziert wird die Flut der Bilder noch von den Videos von Andreas Deinert und Jens Crull. Immer wieder sieht man Kameraleute, die auf die Sänger „draufhalten“: Die Gesichter erscheinen übergroß auf Leinwänden, Bettlaken, Häuserwänden oder LED-Schirmen. Manchmal zeigt die Kamera auch Verborgenes, etwa das Innere des Wohnwagens oder die frustrierte Fricka beim Vertilgen von Sahnetorte. Oder Ausschnitte aus alten Filmen von den Ölfeldern von Baku. Oder Geheimnisvolles wie eine schattenhafte Maske und eine unheimliche Puppe, wenn Siegfried in der „Götterdämmerung“ als Gunther getarnt zu Brünnhilde vordringt.

Hinterhof und Dönerbude: Szene aus "Götterdämmerung" mit Attila Jun als Hagen und dem Festspielchor. Foto: Enrico Nawrath

Hinterhof und Dönerbude: Szene aus „Götterdämmerung“ mit Attila Jun als Hagen und dem Festspielchor. Foto: Enrico Nawrath

Dass Castorf ein Ende verweigert, versteht sich nach allem, was in den sechzehn Ring-Stunden zur monströsen Collage verklebt wurde, von selbst: Hagen treibt auf einem Schlauchboot von einem Ufer weg ins Wasser. Vielleicht gibt es Castorf-Fans, denen angesichts eines solch metaphysischen Bildes der Atem stockt. Wahrscheinlicher ist: Wir sehen eine Szene, deren Belang sich im Augenblicklichen erschöpft. Das Spiel ist aus, ganz einfach.

Für diese banale Weisheit sind vier Abende fehlinvestiert – trotz allen bunten Volksbühnen-Klamauks –, wären da nicht Kirill Petrenko und das Festspielorchester gewesen: Die eigentliche innovative Arbeit findet unsichtbar im Graben statt. Petrenko schafft es tatsächlich, diese so oft und so erstklassig vergegenwärtigte Musik aufregend neu zu erschaffen. Wie bei früheren Wagner-Dirigaten, etwa „Tristan und Isolde“ bei der Ruhr-Triennale, denkt er die Musik eher in die Tiefe als in die Weite. Petrenko meidet das Pathos, strebt einen feinnervigen, kammermusikalisch geprägten Klang an, beleuchtet die Details und setzt sie in vielfältige Beziehungen miteinander. Eine moderne „Ring“-Linie, wie sie etwa auch Sebastian Weigle in Frankfurt verfolgt hat.

Das Ergebnis ist ein sorgsam abgemischter, aber nie ins Ungefähre vermischter Klang, eine kristallene Klarheit der Artikulation. Prägnante Einzelstimmen, die man so kaum gehört hat, verbinden sich zu einem musikalischen Geflecht, das genau das auszeichnet, was der Bühne fehlt: innerer Sinn. Petrenko meidet das Blühende, Schäumende in Wagners Musik nicht, aber er opfert manchmal den spontanen Schwung, die zehrende, drängende Dynamik, die sie vorwärts treibt. Ein überlegt-überlegener Dirigent, der das Wort von der „Werkstatt“ Bayreuth im musikalischen Sinn voll einlöst. Wenn er sich tatsächlich, wie Gerüchte sagen, 2015 vom „Ring“ zurückziehen sollte, wäre der Verlust nicht absehbar.

Catherine Foster als Brünnhilder in der "Götterdämmerung". Foto: Jörg Schulze

Catherine Foster als Brünnhilder in der „Götterdämmerung“. Foto: Jörg Schulze

Das Ensemble, angeführt von dem stets untadeligen Chor Eberhard Friedrichs, hat mit Catherine Foster eine der besten Brünnhilde im derzeitigen internationalen Sänger-Markt zu bieten. Foster bildet die Töne frei und unverkrampft, ohne Druck und Verfärbung, mit einer ermüdungsfreien Schwerelosigkeit, wie sie im dramatischen Fach heute so gut wie ausgestorben ist. Wie schwer das ist, demonstriert Lance Ryan als Siegfried: eine kraftvolle Stimme mit strahlendem Timbre, aber mit steif gebildeten Tönen, hilflosem Vibrato und ganzen Passagen, die ins Deklamatorische abgleiten. Die drei Rheintöchter müssen sich als aufgemotzte Prostituierte oder Edel-Spielpuppen im blauen Mercedes-Cabrio aufführen; stimmlich harmonieren Mirella Hagen, Julia Rutigliano und Okka von der Damerau ausgezeichnet miteinander: ein Rheintöchter-Gesang ohne das übliche Geschrei.

Auch die Sieglinde von Anja Kampe und der Siegmund Johan Bothas sorgen für stimmliche Glanzpunkte, nicht zuletzt durch ihr engagiertes Spiel. Kwangchul Youn ist ein wie immer profunder, textverständlicher, psychologisch genau färbender Hunding; die andere große Basspartie des „Ring“, Hagen, ist mit Attila Jun nicht überzeugend besetzt: Seine Stimme klingt immer wieder unfrei, als könne er sich mit seiner Rolle als bulliger Punk nicht recht identifizieren. Der Wotan Wolfgang Kochs hat starke Momente, aber auch flache Passagen; das Nibelungenpaar Alberich (Oleg Bryjak) und Mime (Burkhard Ulrich) übertreibt’s mit der Deklamier-Schärfe und den spitztönigen Auswüchsen. Warum sich Claudia Mahnke als Waltraute einige Buhs gefallen lassen musste, bleibt rätselhaft. Norbert Ernst und Nadine Weissmann zeigen als Loge und Erda stimmliche Charakterisierungskunst, präzise Tonansprache, rhetorische Zuspitzung und weich geformtes Legato.

Impression aus Bayreuth: Wohin führt der Weg? Foto: Werner Häußner

Impression aus Bayreuth: Wohin führt der Weg? Foto: Werner Häußner

Bayreuths Ausflüge ins postdramatische Theater könnten weitergehen, wenn sich 2015 Katharina Wagner an „Tristan und Isolde“ macht und 2016 Meeses „Parsifal“ folgt – wobei bei beiden die Erwartungen nicht so eindeutig vorauszuberechnen sind wie bei Castorf. Wenn dann 2017 Barrie Kosky, Intendant der Komischen Oper Berlin, die „Meistersinger“ inszeniert, kommt wieder einmal ein Regisseur vom Fach zum Zuge; ebenso 2018 bei „Lohengrin“, für den der Lette Alvis Hermanis vorgesehen ist. Er hat in Salzburg mit Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“ 2012 einen großen Erfolg errungen und sich in Verdis „Trovatore“ in diesem Jahr nicht schlecht geschlagen. Und für den „Tannhäuser“ 2019 ist Tobias Kratzer im Gespräch – ebenfalls ein vielversprechender junger Regisseur, der die „Große romantische Oper“ bereits 2011 in Bremen inszeniert und etwa mit den „Meistersingern“ in Karlsruhe, aber auch mit Meyerbeers „Die Hugenotten“ in Nürnberg große Hoffnungen geweckt hat.




Festspiel-Passagen V: Die unerträgliche Provokation – Castorfs „Ring“ in Bayreuth

Die Festspiele sind aus. Glanzlos gingen sie vorüber in diesem Jubiläumsjahr, sagen die einen. Kühn waren sie, meinen andere. Bayreuth wurde seinem Ruf gerecht, ist im 200. Geburtsjahr des „Meisters“ eine Werkstatt geblieben.

Noch unverhüllt: Das Bayreuther Festspielhaus 2012. Foto: Häußner

Noch unverhüllt: Das Bayreuther Festspielhaus 2012. Foto: Häußner

Der „Ring“ des Berliner Alt-Enfant-Terrible Frank Castorf: eine Provokation mit Buh-Stürmen nach bester Bayreuther Manier. Der „Tannhäuser“ Sebastian Baumgartens: dekonstruierende Installation eines postmodernen Konstrukteurs. „Lohengrin“ von Hans Neuenfels: die putzigen Ratten des einstigen Provokateurs, der inzwischen als „altersmilde“ gilt, als Trost für Regie-Zumutungen. Da fällt der „Holländer“ Jan Philipp Glogers gar nicht mehr auf. Auch das mag man als Zeichen für den andauernden Werkstatt-Charakter Bayreuths werten: Solide erarbeitetes Musiktheater punktet nicht in der Aufmerksamkeits-Skala. Man nimmt es zur Kenntnis, die Kritik mäkelt, dann wendet man sich wieder den Aufregern zu.

Werkstatt war 2013 aber auch anders: Das Festspielhaus so säuberlich camoufliert, dass man die Ziegelwerk-Fassade auf den Handy-Fotos für echt halten kann. Villa Wahnfried – eine Baustelle. Wer weiß, ob Wagner diese Zeichen des Vorläufigen nicht sogar gefallen hätten. Zu schaffen, nicht zu schauen, ist er selbst ja nach Bayreuth gekommen. Was allerdings an Neuem aus den Baugruben wachsen, hinter den Gerüsten vorscheinen wird, bleibt noch zu erwarten. Die Besucher trösteten sich mit den bunten Wagner-Männchen des Künstlers Ottmar Hörl. Wagner allgegenwärtig – als ironischer Plastik-Nippes. Auch das vielleicht ein Zeichen der Zeit.

Nicht mehr gegen den Strich gebürstet

Mit den Zeichen der Zeit wohl vertraut gibt sich „Ring“-Regisseur Frank Castorf. Zweite oder dritte Wahl war der Berliner, dort seit 1992 Leiter der Volksbühne, nachdem Wim Wenders abgesagt hatte. Castorfs Berliner Stücke mögen nach wie vor lustvoll und wild, schrill und aggressiv sein. Aber sie sind längst nicht mehr gegen den Strich gebürstet, weil die Borsten der Regie nicht einmal mehr an der Oberfläche kratzen. „Wirre, müde, vor allem lange Abende“ schrieb die „Zeit“ über die Castorf’schen Elaborate. Und welches Publikum wird noch erreicht, lässt sich noch einfangen von den theatralischen Exkursionen des freundlichen Sauriers aus der Vorregietheaterära?

In Bayreuth hatte er – endlich? – wieder einmal eine Öffentlichkeit, die diesen Begriff tatsächlich verdient: Wie Castorf die Reaktionen genossen hat, ist hinlänglich berichtet worden. „Das für Bayreuth wirklich Neue fand vor dem Vorhang, beim Applaus statt“, schrieb der Festspiel-Kenner Peter P. Pachl in der „Neuen Musikzeitung“. Castorf ließ den Buh-Sturm, das Crescendo der Trillerpfeifen-Attacken, das Wutgeschrei und den aggressiven Tumult nach der Premiere der „Götterdämmerung“ über sich hereinbrechen, setzte sich dem Affront offen und offenbar lustvoll aus, hielt stand und reagierte mit provozierenden Gesten. So ungeniert hat wohl noch niemand in Bayreuth auf Konfrontation gesetzt.

Patchwork-Sätze und Bilder-Trümmer

Es war nicht anders zu erwarten. Castorfs Theater-Ansatz verträgt sich nicht mit den Erwartungen: Nicht mit denen der alten Wagnerianer, die unverdrossen glauben, des Meisters Regieanweisungen seien geschriebenes Gesetz. Nicht mit denen, die sich vom Musiktheater die große, schlüssige, emotional ergreifende Erzählung erhoffen. Nicht mit denen, die sich nach der ästhetischen Illustration sehnen, egal, ob in den abstrahierenden Stilisierungen der fünfziger Jahre, der vorsichtigen Bild-Moderne der achtziger oder dem kühl-kühnen Glamour der Neunziger.

Aber Castorfs Theater-Erfindung hat auch wenig zu tun mit den bespielten Installationen, wie sie Sebastian Baumgarten mit einem ambitionierten Bühnenkünstler wie Joep van Lieshout für „Tannhäuser“ geschaffen hat. Dabei ist auch der „Ring“ 2013 visuell dominiert: Aleksandar Denićs „Route 66“-Nostalgie, seine schmuddelige B-Movie-Ästhetik, die Dreckswelt der Ölförderzentren im Kaukasus (oder anderswo auf der Welt), die ideologische Maskerade der Mount-Rushmore-Karikatur im „Siegfried“,  der Coup mit verhülltem Reichstag und New Yorker Börse in der „Götterdämmerung“ oder die triste DDR-Alltags-Ästhetik erfuhren in der Kritik viel Lob. Eine konsequente Entwicklung in einer Welt, in der das Visuelle immer mehr dominiert, der äußere Schein, die perfekte Gestaltung, die mit dem Auge erfassbare Ästhetik ausschlaggebend wird für Anerkennung und Erfolg, bis hinein in die Intimsphäre des Menschen, den Kult des makellosen Körpers.

Geschichten erzählen? Zusammenhänge deuten? Subtext aufhellen? Bedeutung klären oder konstruieren? Das ist alles nichts für Castorf. Selbst im Interview nicht. Vor der Kamera von 3sat spricht er in Patchwork-Sätzen, nestelt sich durch Gedankenfäden, springt von Buna, Kaukasus und Stock Exchange zu Wagner als Nicht-Romantiker und zum Bakuninschen Weltenbrand. Irgendwie hängt das alles in Castorfs Gedankenwelt zusammen, aber er kann nicht aussprechen, wie.

Die „anarchistischen Situationen“, die er in Wagners „Ring“ entdeckt, spiegeln sich im assoziativen Lauf seiner Rede. Aber auch das scheint konsequent: Was Castorf interessiert, sind die „logischen Widersprüchen, die man nicht erklären kann“, die verschiedenen Welten, die zusammentreffen. Einmal wird Castorf in diesem aufschlussreichen Interview sehr deutlich. Da regt er sich sogar ein wenig auf: Er wolle kein „soziologisches Besserwissertheater“ sehen, wo ihm jemand die Welt erkläre, die nicht mehr zu erklären ist.

Bedeutungsebenen – nicht kontrollierbar

Vielleicht trifft Castorf hier den Punkt, von dem aus sein „Ring“ betrachtet werden kann, ohne als bloße Provokation, als „Apotheose der Sinnlosigkeit“ oder auch als lustvoll-bedeutungsloses Bildertheater durchgewunken zu werden. Die Frage, ob hier bloß ein Scharlatan am Werke sei, der ein ernsthaft strebendes Publikum mit hinterhältig erfundenem Nonsens in die Irre führen wolle, stellt sich bei Castorf ebenso wenig wie etwa in der bildenden Kunst bei Joseph Beuys. Denn selbst die perfide Scharlatanerie, so sie denn mit der schillernden Intelligenz des Diabolischen erfunden sein sollte, reißt Bedeutungsebenen auf, die sie selbst nicht mehr kontrollieren kann. So ist eben zeitgenössische Kunst: Was der Betrachter mit ihr, aus ihr „macht“, hat sie selbst nicht mehr unter Kontrolle.

Castorf überschüttet den Zuschauer im „Ring“ mit einem Wust aus Zitaten, Klischees, Gags, Bildfetzen aus biographischer oder kollektiver Erinnerung, medialen Chiffren, politischen Zeichen und symbolbehafteten Schauplätzen. Doch die Suche nach dem fügenden „großen Gedanken“, nach dem Zusammenhang, nach der „Idee“ geht ins Leere. Die Frage nach der „Interpretation“ stellt sich nicht, auch wenn der Regisseur irgendetwas von der Bedeutung des Öls vorabgeraunt hatte. Das klassische Regietheater-Konzept will nicht mehr greifen.

Unerklärbar gewordene Welt

Es gibt nicht einmal mehr die privatistische Ideologie, wie sie zum Beispiel Ruth Berghaus meisterhaft über einige ihrer Inszenierungen gestülpt hat. Es gibt nur mehr Material, bunt verspielt ausgekippt und lustvoll verrührt. Und den Zuschauer, der auf sich alleine zurückgeworfen ist. Fügt sich ihm ein Bild, mag er zu den wenigen Bravo-Rufern gehören, die sich tapfer gegen die kollektive Empörung im Festspielhaus gestemmt haben. Fügt sich ihm keines, kann er wählen, wie er damit umgehen will: hedonistisch, gleichgültig, ironisch-abwertend, resigniert, sauer oder wütend.

Jede dieser Reaktionen – das wird Castorf aus seinem Kunstbegriff heraus nicht bestreiten dürfen – ist gerechtfertigt. Er hat das Spiel-Feld eröffnet, überschreiten werden es andere. So gesehen ist es für ihn folgerichtig, sich dem Ansturm der Reaktionen zu stellen. Was Castorfs „Ring“ in Bayreuth geleistet hat, ist zweierlei: Er hat Wagner in einen Kontext geholt, den wir aus der zeitgenössischen bildenden Kunst sehr gut kennen, der aber im Opernhaus – vielleicht zum Glück – (noch) nicht angekommen ist. Und er mag einen Finger in eine Wunde gelegt haben, die schwärt und brennt, ohne dass wir uns groß darum kümmern: die einer unerklärbar gewordenen Welt, die uns, wenn wir sie dann doch als solche erleben müssen, unerträglich provoziert.




„Verträgen halte Treu'“ – Kann Castorf den „Ring“?

Er macht’s. Er, das ist Frank Castorf, Intendant der Berliner Volksbühne, Regie-Berserker und Stückezerfledderer. Er wagt sich ans Größte, Hehrste des musikalischen Theaters – also an Richard Wagners gewaltige, episch breite Trilogie „Der Ring des Nibelungen“. Kann er’s? Vor allem: Schafft er’s ausgerechnet am würdevollen Weihetempel namens Bayreuth? Die da das Sagen haben, Katharina Wagner und Eva Wagner-Pasquier, rufen ein klares „Ja“.

So steht es also fest: 2013, im Jahr des 200. Geburtstags von Richard Wagner, inszeniert ein Beinahe-Grünschnabel in Sachen Opernregie den mächtigen Vierteiler des Genius. Was nicht unbedingt ein Problem sein muss: Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief oder Werner Herzog waren auch nicht unbedingt die geborenen Opern-Deuter – auf dem Grünen Hügel lieferten sie Achtbares. Andererseits: Die Filmemacher Lars van Trier (Melancholia) und Wim Wenders (Der Himmel über Berlin) hatten vor dem „Ring“ bereits kapituliert, einen entsprechenden Bayreuther Auftrag dankend zurückgegeben.

Nun also Frank Castorf. Er ist im Revier kein Unbekannter. 2004 hatte der DGB den Einjahresintendanten ganz unsolidarisch vom Ruhrfestspielhof Recklinghausen gejagt. Weil das Publikum weggeblieben war. Niemand wollte sehenden Auges in eine Image-Katastrophe schlittern. Ein Regisseur aus (Ost)-Berlin, der gerne suburbanes Elend auf die Bühne wuchtete, war zuviel des Üblen.

Richard-Wagner-Büste im Garten auf Bayreuths Grünem Hügel, in grimmiger Erwartung.

An Opern wiederum hat sich Castorf bisher zweimal versucht. Giuseppe Verdis Eifersuchtsdrama „Otello“ brachte er 1998 in Basel heraus. Er geruhte, die Konventionen und Illusionen des Musiktheaters zu zerstören. Alles lief beiläufig ab, nichts berührte. 2006 folgten in Berlin „Die Meistersinger von Nürnberg“. Jedenfalls ein bisschen davon – mit Schauspielern und einem „Chor der werktätigen Volksbühne“, mit Textbrocken aus Ernst Tollers Revolutionsdrama „Masse – Mensch“.

Kann Castorf also den Ring in Bayreuth? Er wird sich an jede Note, jede Silbe halten müssen, sonst wird ihn der „Wagnerianer“  ins ewige Walküren-Feuer verbannen. Doch er hat einen Vorteil: Er ist, nach Wenders‘ Absage, der Retter in der Not. Ohnehin ist die Zeit knapp, einen anständigen Ring aus dem Boden zu stampfen. Im übrigen: Nach dem „Tannhäuser“, den Sebastian Baumgarten heuer in der Biogasanlage verortete, kann’s kaum schlimmer kommen.

Den wohl größten Skandal auf dem Grünen Hügel hat sowieso Patrice Chéreau zu verantworten. Dessen „Jahrhundertring“-Deutung (1976) datierte in Zeiten der Frühindustrialisierung – mit entsprechend antikapitalistischem Einschlag. Störungen im Festspielhaus und Debatten nach den Aufführungen, die bisweilen in Prügeleien kulminierten, waren das Ergebnis. So gesehen, soll Castorf ruhig kommen. Bayreuth ist bereit.