Zeigt eine sich gewogen, so wird sie ausgesogen: „Der Vampyr“ von Heinrich Marschner in Koblenz

Bastiaan Everink, der Vampyr, und Irina Marinaş als Janthe in der Koblenzer Inszenierung der Oper von Heinrich Marschner. Foto: Matthias Baus

Bastiaan Everink, der Vampyr, und Irina Marinaş als Janthe in der Koblenzer Inszenierung der Oper von Heinrich Marschner. (Foto: Matthias Baus)

Da schleicht einer um die Häuser, sucht sich die schönsten Bräute aus. „Zeigt eine sich gewogen, so wird sie ausgesogen“. Solche Sätze im Libretto von Wilhelm August Wohlbrück zu Heinrich Marschners großer romantischer Oper „Der Vampyr“ haben mindestens so viel Parodie-Potenzial wie Wagners Stabreime.

In der Tat musste sich der Komponist als Mitglied der biedermeierlichen Spaß-Gesellschaft „Tunnel an der Pleiße“ in Leipzig einiges an ironischen Bemerkungen gefallen lassen. Und in Würzburg wurde sogar mit „Staberl, der Vampyr“ eine „lustige Person“ des Wiener Volkstheaters in den üblen Blutsauger verwandelt. Des Unheimlichen entledigt man sich eben, indem man es ironisiert.

Wäre es doch nur in Koblenz dabei geblieben. Die Premiere von Heinrich Marschners einstiger Erfolgsoper beginnt mit einem Tänzchen der „Hexen und Geister“, bei dem der Zuschauer noch nicht ganz schlüssig ist, ob die Choreografie von Catharina Lühr ein gespielter Witz oder eine ironische Spuknummer ist. Als dann Janthe, das erste Opfer des bissigen Grafen, wie eine Tragödin der Biedermeierzeit auf die Bühne stürzt und mit ihrem Häubchen im Haar vor dem stattlichen düsteren Mann niedersinkt, ist man sich sicher: Ironie führt zur saftigen Parodie.

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: (Archiv Häußner)

Die Geister, die den Vampyr umgeben, verschwinden keinesfalls – husch, husch – in Spalten und Ritzen, sondern bleiben präsent, führen den völlig ruhigen Übeltäter dem alten Vater (Jongmin Lim) zu, der mit einem Schwertstich den frechen Mörder seines Kindes niederstreckt. Ein Bild später legen die höllischen Spießgesellen des dämonischen Saugers den Kunstrasen aus und bespicken ihn mit Blümchen, auf dass Malwina – das zweite auserkorene jungfräuliche Blutgefäß – die heiter lachende Morgensonne in güldenem Kleid und kunstvoller Biedermeierfrisur beträllern kann.

Jetzt spätestens kippt die Inszenierung von Markus Dietze ins Unverbindlich-Atmosphärische. Hölzern stehen die Sänger, ohne psychologischen Belang waten sie auf der Bühne hin und her. Der Chor besteht immer noch aus den schwarzen, geschminkten Gestalten des Beginns (Kostüme: Bernhard Hülfenhaus) – aber warum das Personal im Hause Davenaut, dessen Sproß Malwina ganz schnell mit einem Earl verheiratet werden muss, der sich als der Vampyr herausstellt, immer noch aus geisterhaften Wesen bestehen muss, macht die Regie nicht klar. Sie bilden eine Art Cloud des Bösen, aus der unser Typ mit dem ausgeprägten Gebiss immer wieder einmal hervortritt und – schließlich endgültig – verschwindet.

Geister tanzen im Vollmond. Foto: Matthias Baus

Geistertanz im Vollmond. (Foto: Matthias Baus)

Die Bühne von Dorit Lievenbrück rahmt das Geschehen als stimmungsvoller Schauplatz: drei gestaffelte Bögen wölben sich wie im alten Kulissentheater, zuweilen fällt der Blick durch einen Höhleneingang auf düsterfarbenen Himmel, Dunst durchzieht den Raum. Und zwei Riesenzeiger nebst einem Zifferblatt mit altertümlichen römischen Zahlen mahnen uns und den Vampyr: 24 Stunden nur hat er Zeit, drei Bräute zart und fein zu reißen, damit er nochmals eine kurze Frist unter den freien Menschen wallen könne – was immer das auch heißen soll.

Der Rest ist Rampengesang unter Abwesenheit psychologischer Beleuchtung, Hüpftanz wie in dem grottenschlechten Anna-Moffo-Film „Lucia di Lammermoor“, Volksversammlungen wie in „Tanz der Vampire“ und ein wenig B-Movie-Grusel. Auch im Finale, wenn laut Regieanweisung ein Blitz den Untoten zerschmettern soll, fällt Dietze nur ein, was seit Werner Herzogs „Nosferatu“ Allgemeinplatz geworden ist: Aubry, der bis dato vergeblich hoffende Geliebte Malwinas und Mitwisser des Vampyr-Geheimnisses, nimmt den leeren Mantel des verschwundenen Unholds und schwingt ihn sich über die Schultern: Das Böse setzt sich fort – bei Herzogs eine überzeugend entwickelte Lösung, hier nur noch Schablone.

Wie wäre es denn gewesen, einmal das Libretto ernst zu nehmen und nicht immer in einer Art Lieto-Fine-Bashing das glückliche Ende zu skandalisieren? Denn Malwina rekurriert auf die „Gottesfurcht“ und die reine Liebe, die den Menschen für „bösen Zauber“ unerreichbar machen. Das könnte man, auch wenn man die christliche Konnotation nicht teilt, durchaus als einen aufklärerischen Gedanken verstehen: Das magische Kaspertheater des Vampyrs behält nicht die Oberhand, auch wenn Aubry seine Gesetze bricht, seine Drohungen in den Wind schlägt und die Identität des heiratseiligen Earls preisgibt: „Dies Scheusal hier ist ein Vampyr.“ Die Netze des Bösen verfangen nicht mehr, wenn Herz und Verstand klarsichtig werden.

Wieder einmal – nach unsäglichen Regietaten an der Komischen Oper Berlin und in Halle – bleibt Marschners „Vampyr“ also szenisch unerfüllt. Aber dafür lassen sich Enrico Delamboye und der Rheinischen Philharmonie – im Verein mit der Dramaturgie des Koblenzer Hauses (Rüdiger Schillig) – nahezu uneingeschränkte Komplimente machen: Endlich war nicht mehr die 1924 entstandene Fassung des „Vampyr“ von Hans Pfitzner mit ihren erheblichen Eingriffen die Basis der Aufführung. Verwendet wurde ein von Breitkopf & Härtel in Wiesbaden erstelltes neues Material, das auf der kritischen Ausgabe der Partitur von Egon Voss basiert.

Jetzt ist es endlich möglich, die Oper so aufzuführen, wie sie aus den noch vorhandenen Quellen – das Autograph ist verschollen und vermutlich im Krieg in Hannover verbrannt – rekonstruierbar ist. Und im Vergleich zur Pfitzner-Bearbeitung tritt uns eine in wichtigen Teilen neue Oper mit spannender Musik entgegen. Es zeigt sich, dass Pfitzner vor allem in den Finali entstellend eingewirkt, aber auch instrumentale und wohl auch harmonische Retuschen vorgenommen hat.

Marschners Partitur offenbart eine vorwärtsdrängende, dynamische, dramatisch konzentrierte Musik, ausgewogen und charakteristisch instrumentiert – vorgesehen ist sogar ein „Serpentone“ für die dämonischen Tiefen. Die Bläserbehandlung Marschners ist vielfältig: Mal legt er mit den Holzbläsern lyrische Schleier über den Streichersatz, mal lässt er die Piccoli gellend hervortreten – ihr „Höllengelächter“ wurde berühmt. Motivische Verknüpfungen und Verweise, instrumentale Signale und Farben verbinden die Nummern zu einem dramatisch wohlüberlegten Ganzen.

Enrico Delamboye dirigiert mit drängender Energie, Tempo und scharfer Akzentuierung – manchmal ein wenig zu Lasten eines lockeren Pulsierens und des Kontrasts zu lyrischer Entspannung. Die Rheinische Philharmonie ist in den Violinen etwas schwach besetzt, was sich schon in der Ouvertüre in dünnen Übergängen bemerkbar macht. Aber die mal drohend verhaltenen, mal hohnvoll präsenten, mal düster majestätischen Bläser überzeugen voll und ganz. Und der Chor, einstudiert von Ulrich Zippelius, gibt sein Bestes, um in Klang und Präzision Marschners erheblichen Anforderungen gerecht zu werden.

Ensembleszene aus dem "Vampyr": v.l.: Iris Kupke, Bastian Everink, Nico Wouterse, Tobias Haaks, Opernchor und Extrachor. Foto: Matthias Baus

Ensembleszene: v.l.: Iris Kupke, Bastian Everink, Nico Wouterse, Tobias Haaks, Opernchor und Extrachor. (Foto: Matthias Baus)

Den nicht weniger anspruchsvollen gesanglichen Herausforderungen stellt sich das Koblenzer Ensemble solide, angeführt von Tobias Haaks als stimmsicherer Aubry. Bastiaan Everink als attraktiver Verführer müsste sich nicht ins Brüllen retten, um dem Vampyr die Facetten einer glaubwürdigen Gestaltung abzugewinnen – der Protagonist der Oper ist nämlich nicht nur ein monströser Täter, sondern auch ein unglücklich Getriebener eines teuflischen Zwangs, dessen er sich wohl bewusst ist.

Zu viel grobe, laute Töne auch bei Nico Wouterse als uneinsichtiger Vater Sir Humphrey Davenaut. Iris Kupke hat mit seiner Tochter Malwina eine jener jugendlich-dramatischen Sopranpartien, die mit Beweglichkeit, Verve und differenziertem Klang zu singen sind. Sie rettet sich in ihrer Auftrittsarie fast ausschließlich mit Vibrato über kleinem Stimmkern; im Finale wird der Eindruck besser, die Stimme körperreicher und ausgewogener.

Hana Lee bringt für die Emmy eine eher soubrettige als lyrisch-warme Stimme mit; so ist die berühmte Romanze vom „bleichen Mann“ sauber gesungen, bleibt aber zu einfarbig. Irina Marinaş als Janthe entspricht in ihrem gouvernantenhaften Ton genau der Rolle, die ihr die Regie zugewiesen hat.

Den Vogel schießt Anne Catherine Wagner in der komischen Parade der Suse Blunt ab: Wie sie in virtuosem Gefecht auf ihren nichtsnutzigen Mann und seine Saufkumpanen eine Kanonade an Silben und Noten abfeuert und dabei noch wortverständlich bleibt, hat einfach Klasse. Und die Vier widmen sich der wohl bekanntesten Nummer aus Marschners Oper, „Im Herbst, da muss man trinken“ mit Humor und gefestigter stimmlicher Substanz (Sebastian Haake, Marco Kilian, Michael Seifferth, Werner Pürling).

Wer Marschners Oper wirklich kennenlernen will, sollte sich den Besuch in Koblenz nicht versagen; zu hoffen ist, dass dieses wichtige Werk der deutschen Romantik künftig in seiner wiedergewonnenen originalen Form seinen Weg über die Bühnen macht.

In der nächsten Spielzeit 2017/18 ist am Aalto-Theater Essen Marschners Meisterwerk „Hans Heiling“ zu sehen. Und noch ein Hinweis soll nicht unterbleiben: Heinrich Marschners „Der Templer und die Jüdin“, die dritte seiner berühmten Opern, ist in den letzten Jahrzehnten außer im irischen Wexford, in einer konzertanten Aufführung in Bielefeld und einer erheblich verstümmelten Version in Gießen nicht weiter beachtet worden – was auch der desaströsen Quellenlage geschuldet ist. Hier wartet noch Arbeit, um Schätze zu heben.

Vorstellungen am 26. Mai, 1., 4., 14., 20., 22. und 24. Juni.

Karten Tel.: (0261) 129 28 40, www.theater-koblenz.de




„Dies Scheusal hier – ist ein Vampyr“: Vor 150 Jahren starb der Komponist Heinrich Marschner

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Der Vater ist verzweifelt. Die Tochter, jung, frisch verliebt, ist durchgebrannt. Abgehauen mit ihrem Liebhaber. Mitten in der Nacht. Man geht auf die Suche. Im einsamen Wald findet sich eine Spur. Fackeln, ein Schrei, und nacktes Entsetzen: Das Mädchen liegt leblos an einer Höhle. Am Hals eine blutige Spur. Die Männer im Suchtrupp wissen: „Sie ward zum Opfer dem Vampyr“ …

So dramatisch geht es zur Sache in Heinrich Marschners Oper „Der Vampyr“. Drei Opfer muss der elegante Blutsauger binnen 24 Stunden zu Tode beißen, damit ihm die Hölle Fristverlängerung gewährt. Schafft er es? Das ist die bange Frage. Am Schluss überstürzen sich die Ereignisse. Eine Hochzeit wird verhindert, ein Schwur gebrochen. Aber nach Marschners Willen siegt das Gute:

Wer Gottesfurcht im frommen Herzen trägt, im treuen Busen reine Liebe hegt, dem muss der Hölle dunkle Macht entweichen. Kein Zauber kann ihn je erreichen!“

Die Oper über den Vampyr, der selbst unter seinem „schrecklichen Beruf“ leidet, war 1829 ein überwältigender Erfolg. Nach der Uraufführung in Leipzig zog sie eine gruselige Spur durch Europa. Romantische Schauergeschichten waren damals in Mode, und Marschners „Vampyr“ befriedigte den Wunsch nach Geheimnisvollem und Unheimlichem.

Ruthven, der Vampyr – eine gebrochene Gestalt

Doch Heinrich Marschner schuf nicht nur eine Zeitgeist-Oper. Er stellte Figuren auf die Bühne, die tief in menschliche Abgründe blicken lassen. Und die sich der Frage nach dem Bösen stellen müssen. Der Stoff wurde schon in der Entstehungszeit als „widerlich“ und „grausam“ abgelehnt. Doch hinter solchen Urteilen steckt das Zurückschrecken vor der psychologisch zugespitzten Behandlung von Liebe, Tod, Leidenschaft und Grauen.

Beim Label "Opera d'oro" ist die einzige befriedigende Aufnahme von Marschners "Der Vampyr" erhältlich (OPD 7016). Sie ist unter Fritz Rieger beim Bayerischen Rundfunk entstanden und verwendet statt der üblichen Bearbeitung Hans Pfitzner älteres Material. Die autographe Partitur des "Vampyr" ist verschollen.

Beim Label „Opera d’oro“ ist die einzige befriedigende Aufnahme von Marschners „Der Vampyr“ erhältlich (OPD 7016). Sie ist unter Fritz Rieger beim Bayerischen Rundfunk entstanden und verwendet statt der üblichen Bearbeitung Hans Pfitzners älteres Material. Die autographe Partitur des „Vampyr“ ist verschollen.

Während bei Weber, im Kaspar im „Freischütz“ und im Lysiart in der „Euryanthe“, die Mächte des Bösen noch eindeutig bestimmten Figuren zugeordnet sind, ist Marschners Lord Ruthven eine gebrochene Gestalt: Zur Blutgier getrieben, leidet er gleichzeitig an dem Zwang zur mörderischen Tat. Er trägt das Verhängnis in sich selbst, er „muss es tun“, lehnt sich aber innerlich, wenn auch vergeblich, gegen die Verdammnis auf. Marschner hat im Verein mit seinem Librettisten und Schwager Wilhelm August Wohlbrück die romantische Doppelnatur psychologisch und existenziell so scharf erfasst, dass die dämonische Existenz der Vampirgestalt auch gegen komplexe Charaktere wie Wagners „Holländer“ bestehen kann.

Ideal des Musikdramas: Hans Heiling

Als Höhepunkt von Marschners Künstlertum wird jedoch „Hans Heiling“ gesehen. Auf ein Libretto von Philipp Eduard Devrient geschrieben und 1833 uraufgeführt, grenzt das Werk nach einem Urteil Hans Pfitzners „an das Ideal eines Musikdramas“. Mehr als jede andere Oper entspricht „Hans Heiling“ dem romantischen Kernthema E.T.A. Hoffmanns: dem Zusammenhang von Menschen- und Geistersphäre, dem Scheitern des hohen, idealen Anspruchs an der Enge der bürgerlich geordneten Welt und dem Zurückschrecken der Menschen aus Fleisch und Blut an der als dämonisch empfundenen Konsequenz des Transzendenten und Absoluten, das ihnen in einer Gestalt wie der von Marschners Helden entgegentritt.

Hans Heilings Schicksal entzieht sich den Zuordnungen von Gut und Böse. Er ist nicht mehr der Dämon, der an seiner verfluchten Natur zugrunde geht, wie der „Vampyr“; nicht mehr der entfesselt leidenschaftliche Mensch wie Marschners Tempelritter in „Der Templer und die Jüdin“, der an seiner Maßlosigkeit und an unbeantworteter Liebe scheitert. Ausgestattet mit dem Wissen vom Jenseitigen und der Macht des Überirdischen, sehnt sich Heiling nach Menschlichkeit, will das anspruchslose, scheinbar von Liebe durchdrungene Glück der Menschen teilen. Er strebt aus der Geistersphäre in die der Menschen und muss erkennen, dass das eine der Preis des anderen ist.

Heiling ist ein echter tragischer Charakter, ein Wesen schicksalhaften Leidens, dessen Unglück „eine solche Höhe von Teilnahme und Mitleid erregt, wie sie seinem höheren Standpunkt und Fall nur immer gebührt“, schreibt Marschner 1831 an seinen Librettisten Devrient. Seine Erdenfahrt und die Zurückweisung durch das Bauernmädchen Anna bringen Heiling geläutert, aber innerlich gebrochen ins Geisterreich zurück. Jetzt kann er als König über das Reich der Geister herrschen und die Welten der Irdischen und der Überirdischen gegeneinander abgrenzen – freilich um den Preis seines persönlichen Glücks.

In diesem romantischen Sujet ist das Problem von Macht und Liebe angesprochen, der Gegensatz des romantischen und des begrenzten, bürgerlichen Charakters gezeichnet. Marschners „Hans Heiling“ ist ein gültiges Werk über einen innerlich zerbrochenen Wanderer zwischen den Welten, dessen Schicksal bis heute nichts an Brisanz und Aktualität eingebüßt hat.

Marschners drei Meisterwerke – dazu zählt noch die 1829 uraufgeführte große Oper „Der Templer und die Jüdin“ – waren lange auf den Bühnen zu sehen. In Marschners 150. Todesjahr bleiben sie unbeachtet. Der 1795 in Zittau geborene Komponist ist weitgehend vergessen. Das hat er nicht verdient. Aufführungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass die Stoffe auch heute noch faszinieren und nachdenklich machen. Und die Musik hält gehobenen Maßstäben stand. Kurz vor der Gründung steht eine Heinrich-Marschner-Gesellschaft, die wieder auf das Werk des Komponisten aufmerksam machen will.

Isoliert und unzeitgemäß

Ausgebildet wurde Marschner unter anderem von Thomaskantor Johann Gottfried Schicht in Leipzig. Seine Karriere führte ihn vom Musiklehrer des Grafen Zichy in Preßburg/Bratislava zum Musikdirektor der Oper in Dresden. Mit seiner ersten Frau war er als reisender Dirigent unterwegs, so in Danzig, wo seine Oper „Lucretia“ uraufgeführt wurde. Als Komponist wie als Dirigent hatte er in Leipzig ab 1828 erfüllende Jahre. Nach seinen sensationellen Opernerfolgen wurde er 1831 Hofkapellmeister in Hannover. Dort wirkte Marschner, geehrt und angefeindet zugleich, bis 1859 und brachte nach übereinstimmenden Berichten das Orchester auf ein nie gehörtes Niveau.

Als Marschner starb, galt er jedoch schon als unzeitgemäß: als Komponist nicht mehr gefragt, als Generalmusikdirektor des Königs von Hannover gegen seinen Willen in die Pension komplimentiert. Seine großen Erfolge lagen hinter ihm, er selbst hatte sich gesellschaftlich wie persönlich zurückgezogen.

Schicksalsschläge hatten sein Leben überschattet: Drei Frauen starben ihm; von seinen zehn Kindern überlebte nur eine Tochter das Jugendalter. Seine Zeit war das Biedermeier, seine musikalische Sprache von Wagner und Meyerbeer überholt.

Noch einmal versuchte Marschner, Anschluss an die Moderne zu erlangen: Mit „Sangeskönig Hiarne und das Tyrfingschwert“ wollte er in Paris einen Erfolg landen. Doch das Empfehlungsschreiben an Napoleon, die Reise in die Welthauptstadt der Musik blieben erfolglos. Marschner kehrte im Juli 1861 krank nach Hannover zurück. Ein Schlaganfall setzte dem Leben des Todkranken am 14. Dezember 1861 um neun Uhr abends ein jähes Ende. „Hiarne“ wurde 1863 in Frankfurt uraufgeführt – ohne nachhaltigen Erfolg.

Als Mensch tritt uns Marschner in unterschiedlichen Facetten entgegen. In seinen Briefen wirkt der Freigeist ehrgeizig und nicht konfliktscheu. Doch war der kleine, rundliche Mann auch ein geselliger, humorvoller Typ: Er schrieb zahllose Lieder für trinkfreudige Vereinigungen wie die „Tunnel-Gesellschaft“ in Leipzig, deren Mitglieder er durch komisches Redetalent erheiterte. In Hannover galt er als gesuchter Gesellschafter; erlesene Speisen adelten seine Tafel. Seine jährliche Weinrechnung war so hoch wie die Gehälter seiner Hausangestellten.

Marschners Bemühen um Anerkennung nahm manchmal sonderbare Züge an: So schrieb er anonym Kritiken über sich selbst, um das Urteil über sein Schaffen zu beeinflussen. Doch als Verfechter einer deutschen Oper, die der Wahrhaftigkeit und Einfachheit verpflichtet sei sollte, genoss er hohes Ansehen: „Wahrheit führt zum Schönen und Bleibenden im Leben wie in der Kunst“, schrieb er 1842 in Dresden in ein Album. Das Lob von Kollegen wie Mendelssohn, Schumann und Pfitzner bestätigen seinen Rang als führender deutscher Komponist um die Mitte des 19. Jahrhunderts.