Drei Männer und „Die Frau auf der Treppe“ – der neue Roman von Bernhard Schlink

schlinktreppeDrei völlig unterschiedliche Männer, vordergründig geeint durch eine unerfüllte Liebe: der narzisstische Künstler, der schwerreiche Unternehmer, der Anwalt, der nur solange vermitteln will, wie er Recht behält. Eine Frau, die sich allen drei Männern gleichermaßen entzogen hat.

Die Frau, Irene, stand einst Modell für ein Frühwerk des heute bedeutenden Künstlers Karl Schwind. Seit Jahrzehnten hat niemand mehr „die Frau auf der Treppe“ gesehen, der Verbleib des Gemäldes ist unklar, von Geheimnissen umwittert. Irenes erster Mann, der Unternehmer Gundlach hat es 1968 bei dem damals noch unbekannten Schwind in Auftrag gegeben, „um den Lauf der Zeit anzuhalten“. Zwischen Künstler und Modell entbrennt eine stürmische Liebschaft, woraufhin Gundlach das Werk systematisch beschädigt. Der Künstler erkennt, dass er nur weitermalen kann, wenn er selbst entscheiden kann, was mit seinen Bildern geschieht.

Es folgt ein erbitterter Streit um die Eigentumsrechte an dem Bild, um das Recht des Künstlers an seinem Werk. In dieser Phase betritt ein junger, aufstrebender Anwalt, Schlinks-Ich-Erzähler die Szene. Von ihm verlangen die Rivalen einen Vertrag, der den Tausch Frau gegen Bild vorsieht, ohne dass die Frau davon weiß. Denn für den einen ist sie doch nur die Muse, für den anderen die Vorzeigegattin, für beide eine Verschiebemasse. Der junge Anwalt verbündet sich mit Irene. Der Vertrag wird nur zum Schein geschlossen, er hilft Irene bei einem gewagten Vorhaben. Irene flieht, mit ihr das Bild. Der Anwalt, der zum ersten Male in seinem Leben die Liebe erahnte, bleibt zurück. Soweit die im Roman in Rückblenden erzählte Vorgeschichte.

In der Gegenwart begleiten wir den Anwalt auf einer Geschäftsreise nach Australien. In seiner Freizeit besucht er eine Kunstausstellung und findet sich plötzlich völlig unvermutet vor der „Frau auf der Treppe“ wieder. In diesem Moment sieht er ganz klar, dass seine Geschichte mit Irene noch nicht auserzählt ist. Er lässt seine Kontakte spielen, recherchiert und findet sie nach einer für seine Verhältnisse abenteuerlichen Reise schließlich wieder. Sie lebt – oder besser gesagt – stirbt auf einer einsamen Insel. Er ändert seine Pläne und bleibt bei ihr.

Ganz so einfach gestaltet es sich auch diesmal nicht, das Wiederauftauchen des Bildes hat sowohl den Maler als auch den Unternehmer auf den Plan gerufen. Auch sie finden Irenes Aufenthaltsort heraus und sich auf der Insel ein. Man reflektiert, streitet, spreizt sich und resigniert schließlich. Der Verbleib des Bildes wird geklärt, Irene hat ihren letzten großen Auftritt. Zum Schluß bleibt nur der Anwalt zurück und begleitet Irenes Sterben. Sie ziehen Bilanz, erträumen sich aber auch einen ganz anderen Lebens-Verlauf. Schlussendlich ist es ausgerechnet der Tod seiner ersten unerfüllten Liebe, der dem Anwalt zu einem neuen Leben verhelfen wird.

Hintergründig eint die drei Männer weniger ihre unerfüllte Liebe als ihr egozentrisches Wesen und ihr unbedingter Wille, ein Lebenswerk vorweisen zu können, dem sie alles opfern. Vor allem ihr eigenes Glück. Irene hingegen will – den nahenden Tod vor Augen – einmal noch die längst vergessen geglaubte Bewunderung „ihrer“ Männer spüren. Schade, dass ihre Figur derart reduziert wird, denn eigentlich hat gerade sie mit einer nicht näher beschriebenen RAF-Vergangenheit den spannendsten Lebenslauf.

Es ist ein ganzes Füllhorn voller Themen, welches Schlink über den Leser ausgießt. Feminismus, Kapitalismuskritik, Terrorismus, die Bedeutung der Kunst, Liebe und Tod, das Alter, Spießertum, Drogensucht – man kann dem Autor nicht vorwerfen, er hätte etwas ausgelassen. Leider wird vieles nur angerissen, weniges vertieft. Den Leser beschleicht das Gefühl, dass man es hier mit einem typischen Problem der Alt-68er-Generation zu tun hat: Sucht der Autor zwanghaft etwas, was geblieben ist und bleiben wird? Gerade diese Generation bedauert ja sehr, dass vieles von dem wegbricht, was sie einst erfolgreich machte und bewegte. Dazu passt auch die resignierte Erkenntnis des Anwalts, dass es doch meist die kleinen Niederlagen im Leben sind, die nachwirken. „Die kleinen Splitter sind schwerer zu entfernen als die großen… “

Seit dem „Vorleser“ scheint Schlink es keinem mehr recht machen zu können. Vielleicht sind die Erwartungen auch deshalb so hochgeschraubt, weil „der Vorleser“ es in den Lektüreschlüssel der gymnasialen Oberstufe geschafft hat, in dem z.B. Bertolt Brecht selten zu finden ist. Diesbezüglich kann man Schlink natürlich überbewertet finden, allerdings kann der Autor selbst wohl am allerwenigsten dafür. Mit der Frau auf der Treppe erzählt Bernhard Schlink einfach eine Geschichte, zwar etwas überfrachtet, aber nicht langweilend. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ein leiser Hauch von Melancholie ist spürbar, eine leise Trauer über verpasste Chancen nachvollziehbar.

Manchmal ist die Atmosphäre erstaunlich dicht, dann wiederum wird es doch arg schwülstig: „An der Kathedrale der Gerechtigkeit arbeiten viele Steinmetze!“ Ein Sympathieträger fehlt völlig.

Müßig sind Spekulationen, ob Schlink sich bei der Figur des Malers Schwind an Gerhard Richter orientiert hat. Schlink selbst verweist in einem Nachsatz darauf, dass ihn Richters Werk „Ema. Akt auf einer Treppe“ inspiriert habe, der Künstler Schwind jedoch frei erfunden sei.

Bernhard Schlink: „Die Frau auf der Treppe“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich. 244 Seiten, 21,90 €.




Erstarrung vor dem Leben – „Liebesfluchten“: Bernhard Schlinks neue Erzählungen

Von Bernd Berke

Welcher deutsche Schriftsteller hat in den USA jüngst eine Millionenauflage erzielt? Nein, nicht der Literaturnobelpreisträger Günter Grass, sondern Bernhard Schlink. Er ist sozusagen der Autor der Stunde. Mit seinem Roman „Der Vorleser“ kam er (nach einem Auftritt in Oprah Winfreys TV-Talkshow) gar an die Spitze der Paperback-Bestsellerliste in der „New York Times“. Nun sind seine neuen Erzählungen „Liebesfluchten“ erschienen.

„Das Mädchen mit der Eidechse“, die Eingangs-Erzählung des Bandes, knüpft thematisch indirekt beim „Vorleser“ an. Ein kleiner Junge hat sich in besagtes Mädchen auf einem Gemälde, das daheim in Vaters Zimmer hing, so sehr verliebt, dass daneben später jede wirkliche Frau verblassen wird. Damit klingt das Motiv einer Flucht vor der Liebe an. Schlink schildert das Elternhaus dieses seelisch erstarrten Sohnes. Ruchbar wird das Syndrom einer Familie, in der niemals offen geredet wurde.

Doch der Autor belässt es nicht bei Privat-Psychologie. Das familiäre Schweigen hat tiefere (Ab)-Gründe: Die Herkunftsspur des Gemäldes führt zurück zur richterlichen Tätigkeit des Vaters in der NS-Zeit. Ist er ein furchtbarer Handlanger gewesen – oder ein heimlicher Widerstandskämpfer?

Auch in „Der Seitensprung“ verstören politische Vorgänge das Liebesleben. Schon vor der„Wende“ hat sich ein Westdeutscher mit einem ostdeutschen Paar angefreundet. Nach vielen problemlosen Treffen kommt es zur Aufwallung: Die Ehefrau schläft mit ihm. Vollends heillos wird die Wirrnis, als ihr Mann als ehemaliger Stasi-Mitarbeiter enttarnt wird. Er hat seine eigene Frau bespitzelt.

In „Der Andere“ setzt sich ein Witwer auf die Fährte jenes Mannes, mit dem seine Frau einst fremdgegangen ist. Statt den vermeintlich oberflächlichen „Geck“ bloßstellen zu können, muss er von ihm lernen, wie leicht er selbst das Leben hätte nehmen sollen.

Die Untiefen einer Ehe durchmessen

Überhaupt werden viele Verlust-Bilanzen aufgemacht: Noch so ein Erstarrter, der seine Defizite allzu spät erkennt, begegnet uns in „Der Sohn“. Erst auf einer gefährlichen Friedensmission in Mittelamerika dämmert diesem älteren deutschen Professor, dass er seinen inzwischen erwachsenen Sohn vernachlässigt hat.

Etwas schwächer als solche schon fast klassischen Stories ist „Die Beschneidung“ geraten. Recht vorhersehbar wirken sich in einer deutsch-jüdischen Liebesbeziehung geschichtlich geprägte Vorbehalte bis ins Intimste aus.

Auch die ausnahmsweise ironisch getönte Erzählung „Zuckererbsen“ (Der Titel bespielt auf Heinrich Heines Wachtraum vom Lebensgenuss an) zeigt nicht eben Schlinks stärkste Seiten. Die Abenteuer eines Mannes, der gleich drei Frauen dauerhaft beglücken will, passen nicht so recht zum sonst so wohltuend zurückhaltenden Erzählstil.

Atmosphärisch hochverdichtet erscheint jedoch das Schluss-Stück „Die Frau an der Tankstelle“. Auf 25 Seiten werden hier etliche Untiefen eines Ehelebens durchmessen – vom ungelebten Jugendtraum bis zum abermals verspäteten Versuch eines Neubeginns.

Schlink, von Haus aus Jurist, schreibt betont nüchtern, geradezu schmucklos. Er hat einen untrüglichen Blickt für Lebens-„Fälle“, deren Verhandlung sich lohnt. Mit wenigen Strichen vermag er die Grundlinien ganzer Biographien zu skizzieren, deren Fortgang oft schmerzlich offen bleibt.

Manchmal aber lässt sich Schlink verleiten, Geschehnisse fein säuberlich zu bereden und „einzuordnen“. Dann, aber nur dann gerät das sorgsam gewobene Geheimnis seiner Figuren in Gefahr…

Bernhard Schlink: „Liebesfluchten“. Diogenes-Verlag. 308 Seiten, 39,90 DM.