Opfer des Systems: Amilcare Ponchiellis „La Gioconda“ in Gelsenkirchen in neuem Licht

Derek Taylor als Enzo und Petra Schmidt als La Gioconda in der Inszenierung der Oper von Amilcare Ponchielli in Gelsenkirchen. Foto: Thilo Beu

Derek Taylor als Enzo und Petra Schmidt als La Gioconda in der Inszenierung der Oper von Amilcare Ponchielli in Gelsenkirchen. Foto: Thilo Beu

Für diese Menschen gibt es keinen Platz in der Mitte der Gesellschaft. Sie hausen am Rand – auch auf der Bühne in der Inszenierung von „La Gioconda“ in Gelsenkirchen: ein gammeliger Sessel, ein alter Herd, ein Schminktisch, der bessere Zeiten gesehen hat. In der Mitte, da feiert sich das Militär, werden rote Fahnen choreographiert und im Takt gestampft. Da sind die Reichen und Mächtigen zu Hause – aber auch sie entkommen dem Druck des Systems und seinen Zwängen nicht.

Das Regieteam Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka hat Amilcare Ponchiellis einzigen dauerhaften Erfolg von seinem Dutzend Opern am Musiktheater im Revier gründlich vom Ruch des Opernschinkens befreit. Wo etwa an der Deutschen Oper in Berlin in einer rekonstruierten Ausstattung aus der Uraufführungszeit (1876) von Filippo Sanjust üppige Kulinarik aufgetischt wird, herrscht in Gelsenkirchen karge Strenge: ein Würfel auf der Drehbühne, der mal holzgetäfelte Diktaturen-Tristesse, mal das Gerüst-Konstrukt seiner Rückseite zeigt. Eine Tribüne kann das sein, auf der Potentat Alvise die Military Show begutachtet. Oder ein Saal, in dem zu Gericht gesessen wird. Oder eine Wand mit Aktenkästen in Reih und Glied – Schlitze in den Schubladen laden ein zum Einwerfen von belastendem Schriftgut.

Damit ist der „Geist“ des Schauplatzes Venedig besser erfasst als im üblichen „Gioconda“-Postkartenkitsch. Denn die „Serenissima“ war über lange Phasen ihrer Geschichte alles andere als heiter. Von außen ständig bedroht durch Feinde und Neider, baute sie nach innen ein nahezu perfektes Spitzelsystem auf, das dem „Rat der Zehn“ ein unheimliches Überwachungssystem an die Hand gab – Grundlage der Macht und der Kontrolle von Bewohnern und Besuchern der Lagune. Dieses System arbeitete geräuschlos, schnell und effizient; sein Arm reichte in alle Welt. Verräter, Verbrecher oder solche, die dafür gehalten wurden, hatten – so heißt es – keine Chance, der tödlichen Rache der Republik zu entgehen.

Das Spitzelsystem der "Serenissima" ins Bild gebracht: Szene aus "La Gioconda" am Musiktheater im Revier. Foto: Pedro Malinowski

Das Spitzelsystem der „Serenissima“ ins Bild gebracht: Szene aus „La Gioconda“ am Musiktheater im Revier. Foto: Pedro Malinowski

Ein Antriebsrad in diesem Getriebe ist Barnaba, ein Spitzel. Er hat alle in der Hand: Die einen, weil sie seine Denunziation fürchten müssen, die anderen, weil ihre Macht auf seiner Loyalität beruht. Piotr Prochera gestaltet ihn mit allzu rauem, zu vibratoreichem, sich immer wieder heiser verfestigendem Bariton als fühllosen Bürokraten. Nach außen ein Durchschnittstyp, zeigen sich seine Abgründe, wenn er in einem wohlkalkulierten Plan seine obsessive Besitzgier befriedigen will: Deren Objekt, die „Gioconda“ genannte „Straßensängerin“, durchkreuzt seinen Plan letztlich, weil sie sich aus ihrem religiösen Rückhalt heraus unmittelbare Menschlichkeit bewahrt hat. Sie ist bereit, Opfer zu bringen.

Die Regie löst dieses Motiv aus der stereotypen Idealisierung in der Oper des 19. Jahrhunderts und beglaubigt es als Ausdruck einer starken Frau, die Herrin über ihre Emotionen ist, selbst wenn sie am Rand des „Suicidio“, des Selbstmords, balanciert. Die Arie zu Beginn des vierten Aktes ist ein Paradestück für dramatische italienische Soprane; Maria Callas verhalf ihr zu unsterblichem Plattenruhm. Petra Schmidt hat nicht den Furor romanischer Diven, nicht den lodernden Rache- und Verzweiflungston, nicht die markig-brustige Tiefe. Ihre Gioconda ist keine Heroine, sondern eine empfindsame Frau, die in ihrem niederdrückenden Alltag den Impuls zu menschlichem Handeln nicht verloren hat. Entsprechend singt Schmidt weicher, schmiegsam in den Kantilenen, manchmal geradezu filigran im Piano, aber mit stetigem, klanglich erfülltem, leuchtendem Ton.

Ein Erbe der französischen Grand Opéra: Politik und Privatleben sind in "La Gioconda" untrennbar miteinander verbunden und wirken aufeinander ein. Foto: Thilo Beu

Ein Erbe der französischen Grand Opéra: Politik und Privatleben sind in „La Gioconda“ untrennbar miteinander verbunden und wirken aufeinander ein. Foto: Thilo Beu

Weil Szemerédy und Parditka in ihrem Konzept den systemisch-politischen Hintergrund akzentuieren, mildern sie die charakterlichen Klischees der „Melodramma“- Figuren im Libretto Arrigo Boitos ab: So ist Alvise Badoero, einer der Chefs der staatlichen Inquisition, auch ein Teil des Systems und hat seine Rolle zu erfüllen. Der Fluchtversuch seiner Frau Laura aus der erzwungenen Ehe gemeinsam mit ihrer Jugendliebe Enzo gewinnt über das private Drama eine politische Dimension – in der Inszenierung betont, indem die Konfrontation der Eheleute in den Gerichtssaal verlegt wird: Alvise fällt das tödliche Urteil über seine Frau auch in seiner Rolle als Staatsdiener. Das hebt die Konflikte über den privaten Raum hinaus und gibt ihnen mehr Brisanz. Dong Won Seo führt die dramatischen Auseinandersetzungen mit seiner Frau kraftvoll, artikuliert auch den zynischen Nihilismus des Machtmenschen („Der Tod ist ein Nichts und der Himmel ein alter Blödsinn“). Im Klang fehlt dem Bass allerdings die Kontrolle über Vibrato und Tonemission.

"La Gioconda" von Amilcare Ponchielli am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen: Petra Schmidt als Gioconda und Almuth Herbst als La Cieca. Foto: Pedro Malinowski

„La Gioconda“ von Amilcare Ponchielli am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen: Petra Schmidt als Gioconda und Almuth Herbst als La Cieca. Foto: Pedro Malinowski

Auch Nadine Weissmann als seine Frau Laura kann nicht überzeugen. „Stella del marinar“ im zweiten Akt singt sie unausgeglichen, zwingt sich unschön über den Registerwechsel, reiht in der Höhe verfärbte Töne aneinander und führt weder Bögen noch Legato auf dem Atem. Als blinde Mutter der Gioconda („La Cieca“) zeigt Almuth Herbst, wie sich aus gut geformten Tönen expressives Singen ergibt. Mit Derek Taylor hat Gelsenkirchen einen standfesten Tenor, der seine Arie „Cielo e mar“ im zweiten Akt ausgeglichen und entspannt im Klang interpretiert, wo er an anderer Stelle einen wenig flexiblen und hin und wieder mit Gewalt in die Höhe gezwungenen Ton offenbart. Chor und Extrachor des Musiktheaters im Revier (Einstudierung: Christian Jeub) sind rhythmisch nicht immer auf dem Punkt, klanglich aber ohne Tadel.

Rasmus Baumann bestätigt die positive Entwicklung der Neuen Philharmonie Westfalen zur ernsthaften Konkurrenz für andere Opernorchester der Region und erweist sich als seriöser Sachwalter der oft unterschätzten Musik. Nichts wirkt knallig und vordergründig; Ponchiellis manchmal pauschaler Satz klingt kompakt, aber nicht dick. Effekte werden nicht ausgestellt, Momente ausgeformt, in denen die Musik in der Kantilene oder in lyrischer Behutsamkeit die Personen der Bühne von innen heraus leuchten lässt.

Auch der „Tanz der Stunden“, das berühmte Ballett der Oper, wird nicht als Schaustück vorgeführt – unterstützt durch die Regie: Die Einlage auf dem Fest Alvise Badoéros im dritten Akt wird zum gleichnishaften Tanz von Masken (Choreografie: Martin Chaix), deren Fäden der Spion Barnaba führt, und zugleich zum danse macabre: Die Bühne dreht sich und zeigt sie Laura im erbarmungswürdigen Todeskampf, verursacht durch ein Gift, von dem sie nicht weiß, dass es sie nur in einen Todesschlaf versetzen wird.

Das Musiktheater im Revier hat mit dieser Inszenierung gezeigt, dass „La Gioconda“ jenseits des Opernmuseums und des Zugstücks für Melomanen eine Chance hat, ernsthaft im Heute anzukommen. Damit führt Generalintendant Michael Schulz die Reihe außergewöhnlicher Produktionen der letzten Spielzeiten erfolgreich fort, deren letzte Ergebnisse eine musikalisch vortreffliche „Norma“ in einer konsequent durchgestalteten Regie Elisabeth Stöpplers oder die höchst erfolgreiche Uraufführung der „Steampunk“-Oper „Klein Zaches, genannt Zinnober“ nach E.T.A. Hoffmann waren.

Die Spielzeit 2016/17 eröffnet eine weitere Oper Benjamin Brittens, „The Turn of the Screw“, gefolgt von einer Rarität, Nino Rotas „Der Florentinerhut“, gemeinsam mit der deutschen Erstaufführung der Mini-Oper Rotas „Die Fahrschule“. Gabriele Rech bringt am 29. Januar 2017 mit Mieczysław Weinbergs „Die Passagierin“ eine der bedeutendsten Opern-Entdeckungen der letzten Jahre ins Ruhrgebiet. Und in einer Inszenierung von Michael Schulz werden Catherine Foster und Torsten Kerl Richard Wagners „Tristan und Isolde“ singen, bevor mit „Hoffmanns Erzählungen“ ein neuer Ausflug in die phantastischen Traum- und Parallelwelten des romantischen Dichters möglich wird.




Ein Wrack namens Scarpia – Gelsenkirchen zeigt „Tosca“ in ungewöhnlicher Lesart

Für Scarpia (Aris Argiris, v.) ist das "Te Deum" ein einziges Höllenspektakel. Foto: Pedro Malinowski

Für Scarpia (Aris Argiris, v.) ist das „Te Deum“ ein einziges Höllenspektakel. Foto: Pedro Malinowski

Der Mann ist am Ende. Ein Wrack, wie er dasteht, etwas gebeugt, mit strähnigen Haaren, von Dämonen besessen, von einer Obsession getrieben. Sein erster Auftritt ist so, als hätte ihn die nahe Menschenmasse ausgespien. Und dieser müde Außenseiter soll der gefürchtete Baron Scarpia sein? Der Polizeichef Roms als fieser Strolch? Das ist mal eine Umdeutung in Giacomo Puccinis Oper „Tosca“, die wir so noch nicht gesehen haben.

Regisseur Tobias Heyder zeichnet am Musiktheater im Revier Gelsenkirchen (MiR) für diese Lesart verantwortlich, und so wie Scarpia ganz artfremd als schmieriger, gebeutelter Strippenzieher dasteht, sind auch die anderen Hauptfiguren dieses Dreiecksdramas mit politisch-historischem Hintergrund relativ frei ausgestaltet. Tosca zeigt kaum Spuren innerer Verletzbarkeit, ihre Eifersucht ergeht sich bisweilen in seltsam maskulinen Posen, ihre Rache (Scarpias Ermordung) speist sich nur aus milder Verzweiflung und gebremstem Furor. Ihr Geliebter, der Maler Cavaradossi schließlich, ist ein eher ungelenker, fast nüchterner Antiheld, ein Freigeist der naiven Art, der seinem politisch verfolgten Freund Angelotti nahezu geschäftsmäßig hilft.

Jeder leidet für sich allein, scheint das Fazit der Regie, zumal die Interaktion der Beteiligten mehr nebeneinander her läuft, mit geringen Blickkontakten und einer nahezu aseptischen körperlichen Nähe. Tosca in Scarpias Armen, die Erfüllung seiner Obsession, wirkt wie pure Hilflosigkeit, nicht wie die pralle Gier. Und wenn die Frau ihrem vermeintlichen Bezwinger das Messer in die Rippen stößt, fehlt der Szene die Eiseskälte der Täterin ebenso wie die Schockstarre des Opfers.

Toscas Paralyse hingegen setzt erst ganz zum Schluss ein. Wenn sie feststellen muss, dass ihr Geliebter nicht zum Schein, sondern tatsächlich erschossen wurde. Dann zieht und zerrt sie an ihm herum, die Menge, die bereit ist, sie zu lynchen, nicht mehr beachtend. Der Sprung der Tosca von der Engelsburg fällt aus.

Tosca (Petra Schmidt) und der von der Folter gezeichnete Cavaradossi (Derek Taylor). Im Hintergrund Scarpias Helfer Spoletta (William Saetre). Foto: Pedro Malinowski

Tosca (Petra Schmidt) und der von der Folter gezeichnete Cavaradossi (Derek Taylor). Im Hintergrund Scarpias Helfer Spoletta (William Saetre). Foto: Pedro Malinowski

Darüber mag mancher im Publikum die Nase rümpfen wie auch über Scarpias Deformation, die bisweilen in tranceartige Zustände mündet. Verbunden damit sind indes starke, teils verstörende Bilder. Nicht nur in dem Sinne, dass der Maler Cavaradossi riesige Gemälde mit nackten Frauen produziert – Ausstatter Tilo Steffens hat ein entsprechend großformatiges Exponat auf die Bühne gewuchtet, das „Nudes“ im Stile Helmut Newtons zeigt. Sondern auch dergestalt, dass das berühmte „Te Deum“ zum Finale des 1. Aktes zum Höllenspektakel wird, als hätte Hieronymus Bosch seine Gespenstergestalten losgelassen. Scarpia, so ist wohl die Botschaft, hat sich dunklen Mächten hingegeben. Die Symbolkraft des Katholizismus ist für ihn einzige Pein.

Dazu passt, dass im 2. Akt, in seinem Palast, die Gemälde alter Meister abgehängt sind. Der Gott anrufende Chorgesang, der zwischenzeitlich erklingt, dröhnt dem Finsterling in den Ohren. Mag er auch Trost suchen in den Armen einer Nonne (eines Engels?) und dabei der „Erbarme Dich…“-Arie aus Bachs „Matthäuspassion“ lauschen, Frieden findet dieser Mensch im Diesseits wohl nicht mehr. Und sein Tod wird einhergehen mit dem Ende der Despotie in Rom, eingeleitet durch Napoleons Sieg. Die Exekution Cavaradossis, das Übermalen seiner Nackten, ist nur ein letztes Aufzucken des alten Regimes.

Tosca, die kühle Diva, mit dem armselig schmachtenden Scarpia. Foto: Pedro Malinowski

Tosca, die kühle Diva, mit dem armselig schmachtenden Scarpia. Foto: Pedro Malinowski

Insofern hat diese Produktion durchaus politischen Charakter. Wenn dieser auch durch die Personenführung nicht explizit beglaubigt wird. Andererseits versagt sich Regisseur Tobias Heyder die konsequente Psychologisierung.

Neben Scarpia wirken seine Gegenspieler blass. Sollte also Puccinis Oper hier lieber „Scarpia“ heißen? Ganz falsch wäre das nicht. Denn ein musikalisches Gerüst dieser Verismo-Oper sind gewiss die wuchtigen Akkordschläge, die den Bösewicht kennzeichnen. Andererseits hat der Komponist sein Werk mit sanfter Liebeslyrik ausklingen lassen – ein Zeichen der Hoffnung gegen die brutale Despotie.

Wuchtige Dramatik und sensible, leidenschaftliche Schwingungen: Das klingende Spektrum ist bei Dirigent Rasmus Baumann und der Neuen Philharmonie Westfalen in allerbesten Händen. Hier spielen sich aller Hass, alles Aufbegehren und innige Liebe ab. Entäußerungen, die der Regisseur den Figuren teils versagt, haben ihren Platz in der musikalischen Umsetzung. Der tönende Bruitismus ist von unglaublicher Schärfe. Die Mordszene (Tosca-Scarpia) gewinnt nur im Orchester wirklich erschreckende Kontur. Im Graben wüten die emotionalen Wechselbäder.

Mithalten kann da nur Aris Argiris als Scarpia. Die baritonale Mittellage verfügt über schneidende Kraft. Doch fehlt der Stimme einerseits dämonische Tiefe, zum anderen das schmierige Parlando eines Gauners. Derek Taylor singt den Maler höhensicher, wirkt gleichwohl angestrengt. Große, frei gestaltete Legatobögen sind seine Sache nicht. Da hat Petra Schmidt in der Titelpartie durchweg mehr zu bieten. Leuchtende Glut, ein Mezzoton zum Fürchten, schöne Stimmführung. Schade nur, dass ihre große Arie „Vissi d’arte“ so gleichförmig und introvertiert klingt. Aber das passt ja wohl zum Ansatz der Regie.

Der große, in sich gerundete Wurf ist die Gelsenkirchener „Tosca“ also nicht. Eher der, durchaus diskussionswürdige, Versuch einer unkonventionellen Annäherung. Gleichwohl gilt: Unbedingt hingehen, allein schon wegen des famosen Orchesters.

Nächste Aufführungen: 27. Dezember 2015 (15 Uhr), 2. Januar, 14. Januar, 16. Januar und 5. Februar 2016 (jeweils 19.30 Uhr). Infos: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Oper/Tosca/