Unsterblicher Mythos: Der künftige Essener Orchesterchef Andrea Sanguineti dirigiert Berliner „Don Giovanni“

Finale von Mozarts „Don Giovanni“ in der Deutung von Roland Schwab an der Deutschen Oper Berlin mit Mattia Olivieri (Don Giovanni), Lidia Friedman (Donna Elvira) und Tommaso Barea (Leporello). (Foto: Bettina Stöß)

Dem Mythos „Don Giovanni“ hatte sich Roland Schwab 2010 in Berlin genähert. Die Arbeit des Regisseurs, der am Aalto-Theater Essen mit Verdis „Otello“ und Puccinis „Trittico“ bildmächtige Inszenierungen geschaffen hat, stand an der Deutschen Oper wieder für vier Vorstellungen auf dem Kalender. Am Pult: der designierte Essener GMD Andrea Sanguineti.

Der Mythos Don Juan ist unerschöpflich. Nicht einmal über Faust wurde so viel gedacht und geschrieben wie über den vom spanischen Mönch Tirso de Molina in die literarische Welt erhobenen „Burlador de Sevilla“. Viriler Verführer, lustbetonter Eroberer, amoralisches Scheusal, Leidender in einer absurden Welt, zynischer Nihilist, scheiternder Gottsucher, Metapher des Bösen: In tausenderlei Gestalten tritt er uns entgegen. Der kluge, theologisch gebildete Dichter Lorenzo da Ponte hat ihn für Wolfgang Amadé Mozart in ein vielsagendes Libretto, der Komponist hat es in unsterbliche Musik gekleidet. Heute ist „Don Giovanni“ auf der Bühne vor allem in dieser Oper präsent. Entsprechend vielgestaltig sind die Deutungen.

Roland Schwab gelang vor gut zwölf Jahren mit einer von seiner Lehrerin Ruth Berghaus geschulten Hand, die innere Spannung von Mozarts „dramma giocoso“ zu inszenieren, ohne seine Kraftpole auszuschalten. Denn da ist die erzählte Handlung, eine Geschichte voller (Wort-)witz und bedeutungsvollen Momenten. Und auf der anderen Seite das Bewusstsein des Mythos, die Repräsentation einer Figur auf der Bühne, die unerschöpflich ist und ein zeitloses Geheimnis in sich trägt.

Schwab verzichtet mit seinem Bühnenbildner Piero Vinciguerra auf jeden Schauplatz. Und nicht ein einzelner Don Giovanni, nicht nur ein Leporello werden in ihren Konturen in der Schwärze der Bühne sichtbar: Sie vervielfachen sich, werden zum Kollektiv, oder, wenn man so will, zu einem Schwarm ihrer Erscheinungsformen im Lauf ihrer Geschichte. Auch der Komtur – am Ende nur noch dröhnend mahnende Stimme – schält sich als einer aus den Vielen heraus. Ein sinniges Bild für den Mythos, der sich in der Zeit vervielfacht hat, der, wenn er denn greifbar wird, nur einen Ausschnitt seiner ganzen Wirklichkeit kolportiert.

Ein Sisyphus der Lust

In Schwabs Deutung konkretisiert sich der Mythos aus purer Notwendigkeit im Individuum eines Don Giovanni (Mattia Olivieri) und seinem Leporello-Alter-Ego Tommaso Barea. Doch sie erinnern immer daran, dass sie keine Personen im klassischen Sinne sind. Auch die Kostüme von Renée Listerdal variieren die Konkretion immer wieder: In der komödiantischen Verwechslungsszene im zweiten Akt wird etwa das alte Mantel-und-Degen-Stück zitiert. Und wenn das Outfit der beiden Akteure sich immer deutlicher an Fetisch-Leder aus der SM-Szene annähert, entspricht das der ambivalenten Rolle des Don Giovanni: Er ist der Quäler der Menschen seines Umfelds und er wird gequält von seiner Existenz, die sich in der ständigen Wiederholung des Immergleichen erschöpft.

Schwab sieht offenbar Parallelen zu Sisyphus. Doch wenn der antike Steinroller zumindest bei Albert Camus‘ im Moment, in dem er die Absurdität seines Daseins annimmt, ein glücklicher Mensch ist, macht Schwab das Leiden seines Protagonisten deutlich: Geradezu flehentlich senkt er im ersten Finale den Kopf, um den Schwerthieb von Don Ottavio zu empfangen – aber sein Widersacher hat nicht das Format, um zuzuschlagen. Am Rand der Bühne strampelt derweil ein halbnackter Athlet auf einem Hometrainer – ein Fahrrad, das trotz größter Anstrengung nicht von der Stelle weicht.

Existenzieller Schmerz und Sehnsucht nach Erlösung. Szene aus dem ersten Finale von Mozarts „Don Giovanni“ an der Deutschen Oper Berlin (Aufnahme von 2015). (Foto: Bettina Stöß)

Zum genial komponierten musikalischen Chaos Mozarts drehen sich zwei Gestänge-Burgen wie gigantische Mahlwerke gegeneinander; eine davon erinnert an eine Parabolantenne, die Signale aus galaktischen Fernen empfangen könnte. Sie scheinen wie das magische Theater in Hermann Hesses „Steppenwolf“ alle zu verschlingen, nur Zerlina wandelt wie in Trance außen vorüber. Eine enge Pforte, einer Flughafenschleuse ähnlich, zitiert das Inferno-Motto Dantes: Lasst alle Hoffnung fahren. Eine bestürzende Umsetzung des Perpetuum-mobile-Kreiselns, das Mozart in der sogenannten Champagnerarie Don Giovannis musikalisch ausgeformt hat.

Der Butler stolpert über eine Leiche

In der letzten Szene überschlagen sich dann die Assoziationen: In den schemenhaft sich abzeichnenden Trümmern einer beständig gegenwärtigen Vergangenheit imitiert Leporello Freddie Frinton in „Dinner for one“, stolpert aber statt über den Tigerkopf übe die Leiche einer ermordeten jungen Frau. Don Giovanni füttert schwarze Gestalten wie Hunde, als säße er in Pasolinis „Salò – Die 120 Tage von Sodom“, Leonardos „Abendmahl“ wird heraufgerufen. Das Ende imaginiert Schwab wie die Romantiker des 19. Jahrhunderts ohne das abschließende Sextett. Das Schicksal des bestraften „Wüstlings“, eines von allen humanen Bindungen freien Charakters, entzieht sich der Moral. Eine entscheidenden Abweichung, die den Mythos für unsterblich erklärt. Die Tortur des Sisyphus geht weiter.

Dirigent des Berliner „Don Giovanni“: der künftige Essener GMD Andrea Sanguineti. (Foto: Volker Wiciok)

Musikalisch hinterlässt die Aufführung unter Andrea Sanguineti einen zwiespältigen Eindruck. Das liegt in erster Linie an einer akzentarmen, die Melodiestimmen betonenden Spielweise des Orchesters, der Sanguineti offenbar keine Impulse zu geben hat. Die Ouvertüre, schlank und ohne Abgründe, wirkt im Adagio eine Spur zu schnell, zu unverbindlich, wechselt mit dem Tempo im Allegro ihre musikalische Haltung nicht und bildet so keinen Kontrast aus.

Im Lauf des Abends zeigt sich Sanguineti als bedachter Begleiter der Sänger. Die reüssieren unterschiedlich: Mattia Olivieri singt „Fin ch’an dal vino“ vital und draufgängerisch, zeigt im Ständchen eine Stimmkultur, die es zu einem wehmütig-poetischen Intermezzo machen. Aber in den Rezitativen stößt er wie Leporello an seiner Seite die Silben heraus. Man mag diesen Verzicht auf elegante Formulierung dem Konzept der Figuren anrechnen, aber das forcierte Spucken der Silben macht wenig Freude und eröffnet in Tommaso Bareas „Registerarie“ keinen expressiven Zugewinn. Der Don Ottavio Giovanni Salas singt gepflegt, muss aber rollengemäß blass bleiben. Artur Garbas erfüllt die Erwartungen, die man an einen Masetto stellt, stimmlich mühelos, im Spiel zum Glück ohne übertreibende Möchtegern-Komik. Patrick Guetti darf als Commendatore aus dem Lautsprecher dröhnen.

Elvira ohne Schweißtropfen

Unter den Damen gebührt Lidia Fridman als Donna Elvira die Palme: Sie bewältigt den Umfang, die heiklen Sprünge und die heroinenhafte Attacke anstandslos, mit gleichmäßig geformten und verfärbungsfrei positionierten Tönen bei einwandfreier Artikulation. Endlich einmal eine Elvira, die der Partie ohne Schweißtropfen auf der Stimme gerecht wird. Elisa Verzier macht als Zerlina mit unverbrauchtem Timbre und sorgsamer Gestaltung auf sich aufmerksam. Flurina Stucki hat für die Donna Anna die Beweglichkeit und die melancholischen Töne, in dramatischen Momenten wirkt die Stimme im Kern zu klein und hilft sich mit aufgeblähtem Vibrato.

Roland Schwab hat mit dieser Arbeit die riskante Herausforderung bewältigt, den „Don Giovanni“-Mythos komplex chiffriert in all seinen Spannungen sinnlich erfahrbar zu machen; dass die Inszenierung nach zwölf Jahren noch so unmittelbar wirksam ist, dürfte auch der Spielleitung (Silke Sense) zu verdanken sein.

 




Der unerbittliche Stachel des Todes: Uraufführung von „L’Invisible“ von Aribert Reimann an der Deutschen Oper Berlin

Szene aus dem dritten Teil der Oper "L'Invisible" von Aribert Reimann an der Deutschen Oper Berlin, mit Annika Schlicht und Gelmer Reuter. Foto: Bernd Uhlig

Szene aus dem dritten Teil der Oper „L’Invisible“ von Aribert Reimann an der Deutschen Oper Berlin, mit Annika Schlicht und Gelmer Reuter. Foto: Bernd Uhlig

Tod, wo ist dein Sieg?, fragt die christliche Osterbotschaft. Sie relativiert den endgültigen Ernst des Todes nicht, aber sie hebt seine Allgültigkeit auf. Aribert Reimann, mit seinen 81 Jahren der Doyen der international renommierten deutschen Komponisten, führt in seinem neuesten Bühnenwerk den Sieg des Todes unerbittlich vor Augen: Sein Triumph ist unbestreitbar in den drei Kurzdramen des Symbolisten Maurice Maeterlinck, die Reimann für seine „Trilogie lyrique“ selbst zusammengefasst hat. „L’Invisible“ feierte an der Deutschen Oper Berlin eine warmherzig aufgenommene Uraufführung.

Der Tod lastet in unsichtbarer Präsenz auf diesen drei, zwischen 1890 und 1894 als Teil einer Serie von Kurzdramen erschienenen Stücken. Er steckt, wie Rilke formulierte, im Leben wie der Kern in der Frucht. Das erste und das mittlere lassen die Ahnung des Unausweichlichen im realistischen Setting eines Gesellschaftsstücks zur Gewissheit werden: In „L’Intruse“ (Der Eindringling) ringt eine Frau im Kindbett mit dem Tod. Die Familie wartet auf einen weiteren Verwandten; der blinde Großvater bemerkt das Kommen eines unsichtbaren Fremden. Die Frau stirbt und das Neugeborene stößt seinen ersten Schrei aus.

In „Intèrieur“ hat der Tod sein Werk bereits vollendet: Ein Mädchen ist im Fluss ertrunken, hat sich möglicherweise selbst das Leben genommen. Ein alter Mann und ein Fremder beobachten die Familie des Kindes und zögern, ihre Harmonie durch die Todesnachricht zu zerstören.

Das dritte der Dramen, „La mort de Tintagiles“ geht dagegen in die märchenhafte Richtung, die Maeterlinck mit „Pelléas et Mélisande“ ausgeformt hatte. Tintagiles – der Name mag an Tintagel, den sagenhaften Sitz König Artus‘ erinnern – ist der Enkel einer geheimnisvollen Königin, die ihm als möglichen Rivalen um die Herrschaft nach dem Leben trachtet. Wie bei zwei Brüdern vorher ist der Kampf seiner beiden Schwestern um sein Leben erfolglos: Tintagiles wird in die Labyrinthe des Schlosses entführt und stirbt. Die Königin bleibt unsichtbar – es ist nicht einmal klar, ob sie real oder nur als Vorstellung oder Gespenst existiert.

Klappernder Rhythmus, knöcherne Laute

Musikalisch setzt Reimann den Tod von Anfang an präsent: In einem seltsam klappernden Rhythmus, in den bereits von Gustav Mahler eingesetzten knöchernen Lauten, wenn die tiefen Streicher mit dem Holz des Bogens auf die Saiten schlagen. Im ersten Stück lässt Reimann nur die Streicher klingen, nutzt ihre Farben und den Tonumfang vom raunenden tiefsten Bass bis zu gläsern schneidenden Violinen voll aus.

Auch der harmonische Raum wird mit vielfach geteilten Streichern intensiv gefüllt: Zu Gruppen zusammengefasst, stehen sie in Akkorden, und Clustern in herben Reibungen gegeneinander oder verschmelzen zu rauchig-filigranen Klangfeldern.

Das „ganz Andere“ bricht in diese musikalische Szenerie mit dem Tod der Mutter des Kindes ein: Der verstörende, scharf dissonante Bläserakkord, der den Einbruch des Todes markiert, wird auch in den beiden folgenden Stücken, mehrfach verarbeitet und verändert, als Signal für das Unerbittliche dienen. Mit ihm, aber auch mit melodischen Elementen aus dem Streichersatz schafft Reimann einen musikalischen Zusammenhang zwischen den Stücken.

Trügerische Idylle: Szene aus "L'Invisible" von Aribert Reimann. Foto: Bernd Uhlig

Trügerische Idylle: Szene aus „L’Invisible“ von Aribert Reimann. Foto: Bernd Uhlig

Ein anderes Mittel des Zusammenbindens sind die Zwischenspiele, die Reimann drei Countertenören anvertraut. Sie singen eine Art Madrigal, unterstützt von Harfen und gespeist aus einer melodischen Linie der Celli in Vierteltönen, die der Komponist – so erzählt er im Interview im Programheft – eines Nachts beim Aufwachen gehört hat.

Die drei Sänger, zunächst hinter den Bühne, dann über dem Geschehen sichtbar, treten im dritten Teil explizit als Todesboten auf. Auch der Todesakkord der Bläser kehrt wieder; in der kunstvollen, tiefgründigen Polyphonie des Orchesters meint man, eine Ahnung der Heideszene aus Reimanns „Lear“ zu vernehmen – nur jetzt nicht mehr so wild und rasend, sondern gleichsam abgeklärt, ein Widerhall der emotionalen Stürme, die vor vierzig Jahren den ausweglos ausgesetzten alten König umtobten.

Den Mittelteil gestaltet Reimann als größtmöglichen Kontrast nur mit fünfzehn Holzbläsern, deren tiefste Vertreter, Bassklarinette, Kontrafagott und das tief klingende Heckelphon aus der Oboenfamilie prominent eingesetzt sind. Der Klang ist kammermusikalisch transparent, die Kombination der Instrumente provoziert den Schauder des Unheimlichen, Dämonischen, Abgründigen. Er steht in spannungsvollem Kontrast zur Szene, auf der sich die Familie des ertrunkenen Mädchens auf den Weihnachtsabend vorbereitet.

Die Regie fasst das ahnungsvoll Unbestimmte in unheimliche Bilder

Die Deutsche Oper setzt für die Inszenierung auf keinen der bekannten Namen, sondern vertraut sie dem 34-jährigen Russen Vasily Barkhatov an, der sich mit Berlioz‘ „La Damnation de Faust“ 2015 in Mannheim vorgestellt und mit Mussorgskys „Chowanschtschina“ in Basel und Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“ bei den Wiesbadener Maifestspielen 2016 für Furore gesorgt hat.

Der große junge blonde Mann setzt auf den Kontrast: Die zunächst lapidar wirkende Bühne von Zinovy Margulin – eine Hauswand, aufgerissen von einem breiten Fenster – entwickelt sich in den drei Teilen zu einem faszinierend variablen Gestaltungselement, das geheimnisvoll heran- und in die Ferne rücken kann, das Einblicke freigibt und Wege verschließt.

Die Innen-Außen-Wirkung ist vor allem in „Intèrieur“ frappant, wenn die Familie wie in einem Schutzraum den Christbaum schmückt, während draußen die Beobachter riesige Schatten werfen und das Licht (Ulrich Niepel) unwirkliche, unheimliche Räume entstehen lässt.

Hier fasst Barkhatov das ahnungsvolle Unbestimmte, das Changieren zwischen fassbarer Wirklichkeit und ihrem unbestimmten Hintergrund in Eindrücke, wie sie aus symbolistischen Bildern, aus surrealen Szenerien oder aus expressionistischen Filmen vertraut sind. In „Der Tod des Tintagiles“ dagegen hebelt er das Märchenhafte aus, indem er detaillierte realistische Elemente auf die Bühne holt: Ein Krankenzimmer mit Personal der Gegenwart, ein brennendes Auto mit hochtechnisiert ausgerüstete Feuerwehrleuten – Olga Shaishmelashvili hat gründliche Kostüm-Arbeit geleistet. Das kranke Kind ist dem Tode nah – das Spielzeug wird bereits im Müllsack entsorgt – und der Arzt spielt mit dem Jungen noch einmal ein Ritterspiel aus dem Bilderbuch nach.

Aber Barkhatov bricht die Konkretion des Sterbens, indem er den Tod des Kindes vervielfacht. Zu den Klagen des im Labyrinth der Königin eingeschlossenen Tintagiles sehen wir es erhängt, im Autowrack erstickt, mit seinem Fahrrad überfahren: der sinnlose Tod, wie ihn unser Alltag in unserer Zivilisation für Kinder bereithält und wie er selbst durch den intensiven Einsatz medizinischer Technik nicht aufzuhalten ist.

Die ungreifbare, böse Königin wird zur Chiffre eines ebenso ungreifbaren Schicksals, das verstörend in unser Leben einschlägt und uns ohnmächtig sein lässt wie die Schwestern, die vergeblich um das Leben ihres Bruders kämpfen: Konkretion einer metaphorischen Ebene, die ganz hart an einer platten Aktualisierung vorbeischrammt, aber in ihrer Bildgewalt und vor allem in ihrer anti-realistischen Brechung doch dem Stoff angemessen bleibt.

Großartige Ensembleleistung

Während Reimann in seinen Opern stets prominenten Rollen für die Sänger geschaffen hat (man denke an Melusine, Lear und seine Töchter oder Medea), haben die Solisten in „L’Invisible“ kaum Gelegenheit, sich zu profilieren. Nur Rachel Harnisch als Ursula, Marie und Tintagiles‘ Schwester Ygraine kann ihren Sopran strahlen lassen. Aber Stephan Bronk (Großvater/Alter) oder Thomas Blondelle (Fremder) haben unspektakuläre, jedoch entscheidende Momente gesanglich-sprachlicher Charakterisierung. Und Salvador Macedo aus dem Kinderchor der Deutschen Oper muss das hilflose Verschwinden Tintagiles stimmlich ausdrucksstark realisieren.

Donald Runnicles und das Orchester der Deutschen Oper haben Tempi und Klangbalancen gefunden, die beim ersten Hören einer neuen Partitur rundweg überzeugen; den Solisten aus dem Orchester gelingen die expressiven Momente, aber auch die introvertierten Töne mit Bravour.

Die Deutsche Oper hat sich mit dieser Uraufführung – es ist das fünfte Bühnenwerk Reimanns im Auftrag des Hauses – in der Konkurrenz der drei großen Berliner Musiktheater glänzend positioniert. Das Haus von Dietmar Schwarz setzt sich deutlich vom Repertoire-Mainstream und der vom Einsatz „großer Namen“ gekennzeichneten Politik von Barenboims Staatsoper Unter den Linden ab.

Mit Giacomo Meyerbeers „Le Prophète“ wird im November die Reihe der großen Opern des Berliner Kosmopoliten fortgesetzt; mit einem neuen „Frankenstein“-Projekt in der „Tischlerei“ im Januar 2018 und dem vergessenen Hauptwerk „Das Wunder der Heliane“ von Erich Wolfgang Korngold stehen weitere spannende Vorhaben auf dem Spielplan.

Aribert Reimanns „L’Invisible“ wird noch am 31. Oktober gespielt. Info: www.deutscheoperberlin.de