Er ist allein – Hamlets traurige Einsamkeit, von Johan Simons in Bochum so kühl wie tiefgründig inszeniert

Hamlet (Sandra Hüller) ganz allein in seiner Not. Foto: JU Bochum

„Er ist allein“! Das ist der Schlüsselsatz. Wie ein Mantra wird er durchs gesamte Drama getragen, ernst, fast maschinenhaft ausgesprochen.

Vor allem fehlt jegliches Pathos. Wie eben im ganzen Stück zwar der hehre Ton und der flapsige Ton, der schnoddrige Ton und der inbrünstige Ton sich ausbreiten, Schwulst oder Manierismus aber gänzlich ausbleiben. Kühl wirkt das bisweilen, klingt nach Verlorenheit und Einsamkeit. Ja, er ist allein, Shakespeares „Hamlet“ in Johan Simons’ Inszenierung am Bochumer Schauspielhaus.

Der Blick auf den rechteckigen, weiß getünchten Bühnenboden, darauf die Figuren sich oft in Grüppchen formieren, in einer Art minimalistischer Choreographie, zeugt ebenfalls von Kälte, Abstraktion, Reduktion. Zumal diese weit aufgerissene Bühne, von Johannes Schütz erdacht, nichts weiter birgt als einige Eisenkugelfelder im Hintergrund und eine Art Riesenmobile im Zentrum. Ein wuchtiges Gestänge hält vorn einen großen, weißen Ballon, hinten ein gewaltiges Bronzeblech. Sonst ist da nichts. Und wenn in diesem „Nichts“ die Beteiligten des Dramas zu Beginn nebeneinander Aufstellung nehmen, dann wirken sie allesamt wie Verlorene, Alleingelassene. Jeder mit seiner Tat, seinem Fühlen, seinem Gewissen.

Simons, der schon in seiner „Penthesilea“-Deutung auf äußerste Verknappung setzte – als Zweipersonendrama hinter einem blendend weißen Lichtstreifen –,  reduziert auch den „Hamlet“ auf eine wie unter dem Mikroskop zu beobachtende Folge von Personenkonstellationen. Oft unterstreicht Stille das zuvor Gesagte, illustrieren abgezirkelte Zeichen das Gesprochene. Dazu Mieko Suzukis wabernde, flirrende, rauschende elektronische Klänge, allemal unheimlich wirkend, aber auch fremd wie vom anderen Planeten. „Hamlet“ in Bochum – ein Drama unter Laborbedingungen.

Wundersame Zeichen: Ophelia (Gina Haller), Hamlets alter Ego im hellen Licht. Foto: JU Bochum

Den Schluss daraus zu ziehen, hier herrsche die gefühlsarme Askese, hier dominiere nahezu klinische Sterilität, käme jedoch einem verengten Blickwinkel gleich. Simons’ Inszenierung erwächst vielmehr aus dem Geist der Einsamkeit, des Zweifels. Nicht spektakuläre Action setzt das Publikum unter Spannung, sondern das Bemühen der Figuren, mittels Maskerade ihre Schwäche und Schuld zu kaschieren. Einzig Hamlet spricht die Wahrheit aus, die er in der Theater-auf-dem-Theater-Szene nachstellt: wie seinem Vater Gift ins Ohr geträufelt wurde, von dessen eigenem Bruder. In diesem „Spiel“ indes wird alle Distanz abgestreift, herrschen Raserei und Hysterie.

Sandra Hüller ist Hamlet. Sie gibt sich sanft, fast schüchtern, ist umflort von düsteren Gedanken, scheut andererseits nicht zurück vor messerscharfen Erkenntnissen, formuliert aus dem Geist der Logik. Nur dann schlägt ihre Stimme ins Monströse um, wenn der gemeuchelte Vater aus ihr, aus Hamlet spricht. Hüller spielt dezent, erlaubt sich kaum emotionale Entäußerung. Dieser Hamlet wägt ab, zögert, kalkuliert und berechnet, wann es Zeit ist, seinen Onkel, Claudius, den Vatermörder, zu töten. Stefan Hunstein verleiht diesem Emporkömmling wackelige Würde, will dem angeblich wunderlich gewordenen Hamlet helfen, wird dabei aber zum tragischen Herrscher, der die Jugend nicht versteht. Der die tiefe Trauer des Vaterlosen nicht sieht, dessen Alleinsein, und ihn deshalb zum Verrückten erklärt.

Hamlets Mutter Gertrud mag ähnlich denken, doch Mercy Dorcas Otieno glänzt mit standhaftem Selbstbewusstsein. Beider Begegnung ist von unwirklicher Art: pendelnd zwischen Hass, Sorge und wilder Kabbelei. So wird Hamlets erstes Opfer, aus einer Unachtsamkeit heraus, der königliche Berater Polonius. In Gestalt von Bernd Rademacher entpuppt er sich freilich als Intrigenschmied, der von oben herab und arrogant seine Weisheiten von sich gibt, wenn auch gern in freundlichsten Tonfall gehüllt. Derart aalglatt verbietet er kurzerhand seiner Tochter Ophelia den Umgang mit Hamlet.

Totengräbers Stunde im Reich der Abstraktion – Jing Xiang rollt metallene Kugeln, Symbole für längst verblichene Schädel. Foto: JU Bochum

Die sich freilich, verkörpert durch die so wunderbar verspielte wie ernste, mitunter etwas zu burschikose Gina Haller, zunächst wenig sagen lässt, an Hamlets Seite vielmehr wie dessen alter Ego auftritt. Es ist eine seltsame Liebe, die beide verbindet, die letzthin in Zweifel und Distanz, in Ophelias Wahn und Tod mündet. Wie am Ende ohnehin die Stunde der Totengräber kommt: der somnambulen Ann Göbel, die Hamlets Alleinsein als einzige erkennt sowie der draufgängerischen Jing Xiang. Der helle Bühnenboden wird zum Duellplatz von Hamlet und Ophelias rachegetriebenem Bruder Laertes (Dominik Dos-Reis), die sich wechselseitig mit vergiftetem Degen umbringen. Zugleich ist diese Stätte Gertruds und Claudius’ Grab.

Auch dieses letzte Bild ist trotz aller bedeutungsvollen Tragik von kühler Eleganz. Johan Simons’ Inszenierung zeigt ein Labor verlorener Seelen. Sein Verzicht auf Drastik ist zugleich ein Gewinn an Ausdruckstiefe und Größe.

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(„Hamlet“ wird in der Spielzeit 2019/20 wieder aufgenommen. Die nächsten Vorstellungen gibt es am 17., 20. und 24. Oktober. www.schauspielhausbochum.de)




Im deutschen Nirgendwo – Frank Castorf besorgt in Hamburg die Uraufführung von „Vaterland“ / Was wäre, wenn die Nazis den Krieg gewonnen hätten?

Von Bernd Berke

Hamburg. Das ist ja ein tolles Theater im Hamburger Schauspielhaus: Mitten im Stück springt ein Zuschauer in den vorderen Reihen vom Platz auf und lässt eine Papierschwalbe durch den Raum segeln. Manche spenden dafür Beifall auf offener Szene.

Andere rufen „Aufhören!“ Oder auch, ganz flehentlich: „Gnade!“ Zwischendurch immer wieder demonstrativ lautes Trappeln und Türenschlagen derer, die vorzeitig gehen.

Die teilweise infantilen Regungen im Parkett entsprechen nicht dem Anlass. Auf dem Spielplan steht die Uraufführung des Stückes „Vaterland“ nach dem 1992 erschienenen Roman des britischen Journalisten Robert Harris. Regie bei der hanseatisch-preußischen Koproduktion führt Berlins Volksbühnen-Chef Frank Castorf, berüchtigt als Stücke-Zertrümmerer. Diesmal hatte er – mangels gefestigter Substanz – nichts zu zertrümmern, sondern nur zu collagieren. Dabei scheint er mittendrin aufgehört zu haben, so unfertig wirkt das Resultat dieser fast vierstündigen Zumutung.

Kennedy will Hitler besuchen

Robert Harris hat sich vorgestellt, wie es wäre, wenn der NS-Staat den Krieg gewonnen hätte und sich von Flandern bis zum Ural erstreckte. Schaurige Vision fürs Jahr 1964: Alle monströsen Architekturprojekte des Albert Speer sind verwirklicht, Adolf Hitler herrscht über ganz Europa. Sein 75. Geburtstag steht ebenso bevor wie ein Staatsbesuch des US-Präsidenten John F. Kennedy, der – wie feinfühlig – „die Frage der Menschenrechte anschneiden“ will…

Zudem richtet Harris eine Kriminalgeschichte an: Xaver März (Stephan Bissmeier), Kripofahnder in SS-Diensten, der aber mehr und mehr zum Dissidenten wird, will eine mysteriöse Mordserie aufklären. Wie sich herausstellt, fallen ihr all jene zum Opfer, die zu viel von der (längst verdrängten) „Endlösung der Judenfrage“ wussten, also vom Holocaust. Roman und Stück jonglieren mit dem Schwindel erregenden Gedanken, dass die realen 50er und 60er Jahre nicht weit von solchen Phantasien entfernt waren. Ex-Nazis saßen wieder auf wichtigen Posten, Deutschland errang erneut wirtschaftliche Macht.

Die Szenerie (Bühnenbild: Peter Schubert) bleibt granitstarr, setzt sich aber aus disparaten Elementen zusammen. Links ein schemenhaft sichtbarer Raum, wohl eine Flammenhölle. Dorthin führen Rampen. Zentral flimmern drei Lichtreihen wie auf einer Flug-Landebahn. Ein niedriger Torbogen öffnet sich zur Hinterbühne, rechts befinden sich lauter Türen, als erstrecke sich dort eine kafkaeske Behörde. Der Boden ist mit braunem Granulat bedeckt. All das wirkt wie zufällig addiert und mutwillig verstreut. Kein Ort, nirgends. Wie denn auch – in einer Welt, in der Hitler und die Beatles koexistieren?

Mit Regie-Einfällen und Spielweisen verhält es sich ähnlich. Unentwegt wechseln Tonlagen und Stile ohne ersichtlichen Grund. Zuweilen sehen wir kindische Sandkastenspiele: Figuren hopsen in Fässern oder Kartons über die Bühne. Ri-Ra-Rappelkiste!

Mal schnoddrig, mal hysterisch

Derart beflissen klingt oft der Tonfall des Kommissars März, der naiv und nervös durchs Drama taumelt, dass man sich in einen biederen Wallace-Krimi der 60er versetzt fühlt. Andererseits hält Castorf die Darsteller auch zum schnoddrigen Gestus, zu hysterischen Anfällen oder aggressiven Aufwallungen an – nach Lust und Laune. Vieles gilt als lachtauglich in diesen Comedy-süchtigen Zeiten: Ein Wort wie „Vermissten-Liste“ wird anfangs ausgiebig zerlegt unermüdlich wiederholt. Gewisse Moden werden also, wenn auch lustlos, bedient.

Hin und wieder gelingen allerdings wahrhaft verstörende Sequenzen. Vor allem eine halbstündige Passage fräst sich ins Hirn: Plötzlich geht im Zuschauerraum das Licht an, und es werden originale Beratungs-Protokolle zur Drangsalierung und späteren Vernichtung der Juden mit verteilten Rollen verlesen. Unerträglich schon das Beamtendeutsch, mit dem die materiellen Folgen der Pogrome versicherungstechnisch „geregelt“ wurden Hier konfrontiert uns Castorf mit einer Absurdität, die man schlichtweg nicht aushält.

Buhruf-Orkane für die Regie, unwesentlich gemildert durch lauen Beifall für die Dar- steller. Die Zuschauer, die durchgehalten haben, sind zugleich erschöpft und aufgebracht. Kein gutes Klima zum Nachdenken.

Termine: Hamburg (Schauspielhaus): 2., 4. Mai (Karten: 040/24 87 13) / Berlin (Volksbühne): 27. April.