Unterm Baum ist alles möglich: Tschechows „Möwe“ an der Berliner Schaubühne

„Die Möwe“: Szene aus Thomas Ostermeiers Inszenierung mit Stephanie Eidt und Joachim Meyerhoff. (Foto: Gianmarco Bresadola / Schaubühne)

Welch grandioser Anblick! Eine gigantischer Baum steht wuchtig auf der Spielfläche und ragt in den Bühnenhimmel. Die Äste schwingen weit in den Raum hinein, die raschelnden Blätter schweben über den Köpfen des Publikums. Tribünen umzingeln den romantisch-verwunschenen Ort, an dem alles möglich scheint: Liebe und Hass, Neid und Eifersucht und natürlich der ewige Streit zwischen den Geschlechtern, der Kampf zwischen alt und jung, konventioneller Kunst und revolutionärem Aufbruch.

Hier, wo die Vögel fröhlich zwitschern, lässt es sich wunderbar verweilen und träumen, hier, wo die Sonne alles in mildes Licht tauscht, kann man sich verlieben und trennen, beleidigen und wieder versöhnen. Plötzlich zerreisst das grollende Donnern eines Kampfjets den weltflüchtigen Scheinfrieden, lässt das ritualisierte Gerede über neue Formen in der Kunst verstummen, die Gefühlswallungen der Liebenden erstarren. Ein kurzer, irritierender Moment. Dann geht alles wieder seinen gewohnten Gang. Würde nicht der unter emotionalem und intellektuellem Dauerdruck stehende Dichter Konstantin sich eine Kugel in den Kopf schießen, könnte das Leben sogar gut und schön sein.

Thomas Ostermeier inszeniert Tschechows „Die Möwe“ an der Berliner Schaubühne als luftig-verspielten, manchmal sogar komischen Sommernachtstraum. Zwar orientieren sich Handlung und Text weitergehend an Tschechows Text. Doch die Schauspieler dürfen sich ihren eigenen Reim machen und sich ihre Rollen nach Gusto zurechtbiegen. Vor allem Joachim Meyerhoff nutzt die Freiheit und zeichnet mit feiner Ironie und fahrigen Gesten einen schnoddrigen und zynischen, mit sich selbst und der Welt hadernden Großdichter Trigorin. Meyerhoff, im Nebenbenberuf selbst erfolgreicher Schriftsteller, kennt die Nöte eines Autors, den es an den Schreibtisch drängt und der vor Schreibdruck kaum je zum eigenen Erleben kommt, nur zu gut. Ständig fummelt er mit losen Zetteln herum, auf denen er alles, was er sieht und hört, notiert. Seine unterwürfige Liebe zur überdrehten Schauspiel-Diva Arkadina (Stephanie Eidt) oder seine romantisch verklärte Affäre mit Nina (Alina Vimbai Strähler), die gern so frei wäre wie die Möwe im esoterischen Text des frustrierten Bühnen-Brausekopfs Konstantin (Laurenz Laufenberg): Alles ist für Trigorin nur Material für mögliche neue Erzählungen und Theaterstücke.

Ob Meyerhoff in hautenger Unterhose halbnackt zum See watschelt, um zu angeln, oder ob er sich literweise Bier in die vom rhetorischen Firlefanz ausgetrocknete Kehle schüttet: Alles gerät ihm zur urkomischen und zugleich tragischen Slapsticknummer der Vergeblichkeit. Neben seiner raumgreifenden Präsenz und sprachlichen Raffinesse wirken alle anderen wie Statisten, unfertige Figuren, die um ihre Daseinsberechtigung kämpfen und sich in zu kurz gesprungene Klischees flüchten.

Landhausbesitzer Sorin (Thomas Bading) ist ein zittrig-zeternder, lächerlicher Greis, der den verpassten Chancen seines langweiligen Lebens nachtrauert. Gutsverwalter Schamrajew (David Ruland) poltert mit Berliner Schnauze und blutbeschmiertem Schlachtermesser durchs kunstsinnige Getriebe. Die immer ganz in schwarz gekleidete Mascha (Hevin Tekin) ist ein trauriger Punk mit Null-Bock-Allüren. Warum auch nicht. Unter dem schützenden Dach des riesigen Baumes und seines üppig wuchernden Blätterwaldes ist alles möglich.

„Die Möwe“, die nächsten Vorstellungen am 18., 19., 20. und 21. Mai, Berlin, Schaubühne. Tickets unter 030/89 00 23, ticket@schaubuehne.de




Untergang in austarierten Szenen – Jürgen Gosch inszeniert Tschechows „Möwe“ in Bochum

Von Bernd Berke

Bochum. Sprechtheater in Zeiten, da „die Waffen sprechen“. Ist es nicht ganz und gar unwichtig, daß da z. B. in Bochum Tschechows .„Die Möwe“ gespielt wird? Ja, gewiß doch – rein politisch betrachtet. Doch im Theater geht es im Glücksfall ums Ganze der menschlichen Existenz. So besehen, wird es gerade jetzt – all seiner realen Ohnmacht zum Trotz – vielleicht noch notwendiger.

Doch auch das Theater hat natürlich seine Niederungen. In Bochum inszeniert Jürgen Gosch, und der hat eine Vorgeschichte. Aus der ehemaligen DDR kommend, sodann in der Ära Flimm in Köln tätig, war er 1988 künstlerischer Leiter der hochrenommierten Berliner Schaubühne am Lehniner Platz. Das blieb er nicht lange. Im November 1988 erhielt er absolut gnadenlose Kritiken für seinen „Macbeth“. So befand etwa die „Frankfurter Rundschau“, die Premierenzuschauer seien nur noch erschöpft „aufgestanden und von ihren Plätzen und grußlos einfach hinausgewankt aus dem Theater“. Seither galt Gosch manchen als Unperson.

Derlei Eindrücke bestätigten sich in Bochum nun gar nicht. Gosch hat mit der „Möwe“ eine durchaus diskutable Arbeit abgeliefert, solide in der Figurenführung, professionell gekonnt; auch wenn der letzte, vielleicht entscheidende Funke fehlt, ein das ganze Stück durchdringender und erhellender Geist.

Die Tschechowsche Menschengruppe, die sich da sommers auf einem russischen Landgut langweilt, besteht. aus lauter Vereinzelten, je für sich Gescheiterten. Zu besichtigen sind in dieser tieftraurigen, mit einem Selbstmord endenden Komödie die Trümmer ihrer Lebensentwürfe. Zum Personal gehören zwei Schriftsteller und zwei Schauspielerinnen: Das Leben wird hier nicht gelebt, es wird höchstens gespielt oder ausgedacht.

Da flattern, taumeln und schlurfen sie in Bochum über die Bühne. Schrittfolgen und Sprechpausen zeigen den Grad der Verwirrung und des Scheiterns an, wenn auch manchmal gar zu deutlich. Ein wenig aufdringlich und gleichzeitig offenbar begrenzt in ihren Mitteln ist leider auch die junge Darstellerin der von Tschechow etwas penetrant mit einer Möwe identifizierten Nina (Angela Schanelec), wobei freilich nach dem Anteil der Regie zu fragen wäre. Ansonsten sehen wir in ihrer bildhaften Wirkung verblüffend austarierte Szenen. Gosch arrangiert die Bewegungen der Figuren wie nach dem Prinzip des „goldenen Schnitts“. Das wirkt künstlich, veredelt, etwas blutleer und erloschen, also passend zum Stück. Johannes Schütz‘ nachhaltig beeindruckende, mitunter eine Spur zu „malerische“ Bühnenbilder stützen diese Wirkung. Als sollten sie gegen solche Leere revoltieren, werden den Personen von Zeit zu Zeit gewisse Erregungen und Exaltationen gestattet. Doch das sind nur Strohfeuer.

Es gibt Momente des dreistündigen Abends, an denen man dicht an der Schwelle zu wirklich großem Theater steht, doch es gibt auch Leerlauf. Die Regie hat das Stück sozusagen ungleichmäßig verdichtet, hat sich manchen Stellen wohl inniger zugewandt als anderen. Aus dem insgesamt guten Ensemble ragen Rainer Hauer als Sorin und Jürgen Holtz als Arzt heraus. Für Bochumer Verhältnisse gab es nur spärlichen Beifall.




Hang zur Hysterie: Roberto Ciulli inszeniert Tschechows „Möwe“ in Mülheim

Von Bernd Berke

Mülheim. Saison für „Die Möwe“. Am nächsten Wochenende kommt eine Inszenierung von Anton Tschechows Künstlerdrama in München heraus, an diesem Wochenende hatte es Premieren in Augsburg und in Mülheim (Regie: Roberto Ciulli). Das Theater an der Ruhr liegt mit der Wahl des Stücks offenbar im Trend.

Zu Beginn völlige Dunkelheit. dann Scheinwerfer auf einen schweren roten Vorhang, der zwischen Metallgerüsten hängt. Davor, dem Zuschauerrum abgewandt, sieben Stühle. Nach und nach lassen sich die Protagonisten, zugleich Zuschauer eines „Stücks im Stück“, darauf nieder: Die aufgedrehte, sich gegen das Altem sträubende Bühnendiva Irina, die wie ein Kind (oder: ein Besitz, ein Ding) hereingetragen wird von ihrem Liebhaber, dem vielgelesenen Schriftsteller Trigorin; dann Irinas Sohn Konstantin Treplev, Trigorins Kunst verwerfend, mit eigenen Schreibversuchen aber Gelächter hervorrufend; ferner Irinas Bruder, ein Arzt, ein Lehrer, ein Gutsverwalter, die Alkoholikerin Mascha und schließlich die verwundbare „Möwe“ Nina (gute Besetzung: Veronika Bayer), die Opfer Trigorins werden wird.

Eine Wartezimmersituation also, sinnreiche Vergegenwärtigung des für Tschechow-Personal typischen, ziellosen Wartens. In einer späteren Szene liegen die Schauspieler, todweiß geschminkt, so unterm Vorhang, daß nur ihre kalkigen Gesichter unterm Saum hervorlugen. Unbeweglichkeit, Starre, verfehltes Leben. Ein Theaterbild von Becketts Gnaden. So weit, so eindrucksvoll. Aber: Weil gleich alle Personen auf der Bühne versammelt sind und ihre – im Text zu Einzelszenen parzellierten – Dialoge jeweils in Gegenwart der anderen absolvieren, wird das filigrane Beziehungsgeflecht zu entschieden, zu kraftvoll gebündelt. Der elegische Grundton der Vorlage wird übertönt.

Löst sich endlich jemand aus den langen, oft genug funktionsarmen Schweigepausen (Spieldauer: drei Stunden), so gerät das vor allem bei zwei Figuren gleich zur expressiven Selbstdarstellung, zur schrillen, unvermittelten Ausrufung: Gordana Kossanovic als Irina spielt um entscheidende Grade zu überdreht. Hysterisch geht sie mit eitlen Kapricen schwanger, doch da ist – Scheinschwangerschaft eben – viel heiße Luft.

Hannes Hellmann als ihr Sohn Konstantin steht dem kaum nach. Unzulänglicher Prophet eines Traumtheaters, der er laut Text zu sein hätte, krächzt er seine Sätze lautstark heraus, als wolle er sie nur loswerden und nichts damit ausdrücken. Beide zusammen begraben sie die prekäre Mutter-Sohn-Beziehung unter ihrem Schwall.

Zweifellos wohnt Tschechows Figuren eine Neigung zum Ausbruch, zur Hysterie inne. Diese latent vorhandende Prägung aber als Quintessenz hervortreten zu lassen, rührt nach meiner Meinung an die Substanz des Stücks.

Ciullis Experiment mit Tschechow fördert viele richtige Ansätze zutage. Die Aufführung krankt aber daran, daß allzu forsch abstrahiert und überbetont wird. Das gilt auch für die Langeweile des russischen (in Mülheim eher ortlosen) Landlebens: Statt daß sie mit Bedeutung aufgeladen wird, wird sie durch Zerdehnung verdoppelt.