Durch die virtuelle Brille: Ein Opernbesuch mit Spitzentechnologie auf dem Nasenrücken

Kein Sonnenschutz: Die Besucher der Rheinoper tragen eine so genannte AR-Brille, die virtuelle Informationen zum Stück und zu den Interpreten einspielt (Foto: Lukas Voss)

Heute mal ein kleines Experiment: Wir lassen uns darauf ein, eine Opernpremiere durch eine virtuelle Brille zu sehen. Korrekter gesagt, durch eine AR-Brille. AR steht für Augmented Reality, zu deutsch eine erweiterte Wirklichkeit, für die es natürlich Computer braucht. Die Brille kann während der Vorstellung Untertitel einblenden, aber auch diverse Informationen zum Stück und zu den Interpreten liefern.

Zudem ist sie mit drei Live-Kameras im Orchestergraben verbunden, die es ermöglichen sollen, dem Dirigenten sowie den Musikerinnen und Musikern aus nächster Nähe zuzuschauen. Lässt so viel Ablenkung es noch zu, sich auf das Stück zu konzentrieren? Die Aufführung tief zu genießen? Diese Fragen schweben über dem Pilotprojekt, für das sich die Rheinoper Düsseldorf mit dem ebenfalls in Düsseldorf ansässigen Unternehmen Vodafone zusammengeschlossen hat.

Beide Seiten versprechen sich Vorteile von der Kooperation. Die Rheinoper versucht neue, technikbegeisterte Publikumsschichten zu gewinnen, will auch Trendsetterin sein, die Erfahrungen an andere Häuser weitergeben kann. Vodafone ist daran interessiert, den hochmodernen Prototypen in möglichst vielen Sphären auszuprobieren. Nach Ausflügen in die Welt des Fußballs (VfL Wolfsburg), in die Küche von Steffen Henssler und in die Neurochirurgie von Universitätskliniken deshalb jetzt die Zusammenarbeit mit der Oper.

Die AR-Brille ist mit einem Handy und mit einem zusätzlichen Akku gekoppelt. (Foto: Lukas Voss)

Nun aber rasch hinauf in den 2. Rang, wo insgesamt 30 teure AR-Brillen an die Gäste der Premiere von Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ ausgegeben werden. Zum Etui, das ziemlich groß ist, gibt es ein zusätzliches Handy, mit dem die Brille per Kabel verbunden werden muss. Zudem einen Extra-Akku, weil das Handy sonst während der knapp dreistündigen Premiere schlappmachen würde. Damit hat man beide Hände ziemlich voll, und es hilft nur wenig, dass sich alles mit einer kurzen Schlaufe um den Hals hängen lässt. Denn so ist es kaum möglich, die Geräte zu bedienen.

Es gibt eine kurze, nicht allzu kompliziert klingende Einführung durch einen Vodafone-Mitarbeiter. Dann nehmen alle Brillenträger ihre Plätze im 2. Rang ein, wo sie en bloc sitzen. Nur an dieser Stelle im Haus ist der 5G-Empfang problemlos möglich, der für den schnellen Austausch großer Datenmengen nötig ist. Die Tickets für diese Plätze kosten aber nicht mehr als sonst üblich.

Displays leuchten auf, als das Licht im Saal herunter gedimmt wird und Dirigent Axel Kober zum Pult strebt. Die meisten scheinen zunächst leichte Schwierigkeiten zu haben, das Gerät zu starten. Jeder von uns blickt aus einem etwas anderen Winkel auf die Bühne: Daher muss zunächst das Sichtfeld ausgerichtet werden. Den Rahmen des entsprechenden Rechtecks mit der Maus zu „packen“ und in die richtige Position zu ziehen, kostet etliche Versuche, weil das nur über die Bewegungen des Kopfes und der Augen geht.

Nur im 2. Rang ist der 5G-Empfang gut genug, um die AR-Brille mit Gewinn tragen zu können. (Foto: Lukas Voss)

Dann ist es geschafft. Jetzt laufen die Untertitel nicht mehr mitten durch die Szene, sondern so weit unten, dass die Sicht nicht behindert wird. Aber sie ist stärker abgedunkelt als gedacht. Über den eigentlich kräftigen Farben der Kostüme und der Beleuchtung der Szene scheint ein graubrauner Schleier zu liegen. Die Distanz zur Bühne wächst gefühlt; sie rückt in noch größere Ferne. Weil unten im Sichtfeld vier Icons aufleuchten, die man mit dem Blick ansteuern und öffnen kann, ist es beinahe, als würde man zugleich am heimischen Computer und im Opernhaus sitzen. Es ist ein gefiltertes Erleben, wie aus zweiter Hand.

Wer das Buch-Symbol anwählt, kann die Handlung des jeweiligen Aktes nachlesen. Unter dem Personen-Symbol verbergen sich Informationen zu denjenigen Sängerinnen und Sängern, die aktuell auf der Bühne agieren: keine langen Biographien, sondern lediglich zwei oder drei Sätze. Auch über die Düsseldorfer Symphoniker und den Dirigenten Axel Kober lässt sich hier mehr erfahren. Wer sich ein wenig auskennt, braucht das eigentlich nicht.

Das Icon „Live“, dargestellt durch eine Art Brille, steht für die drei Webkameras im Orchestergraben, die sich hier anwählen lassen. Deren Bilder entpuppen sich als enttäuschend unscharf und ruckhaft. Die Bewegungen der Streicher sehen so abgehackt aus, als seien Roboter am Werke. Noch störender wirkt sich die Zeitverzögerung aus: Was das Auge sieht, hat das Ohr zwei Sekunden zuvor bereits gehört. Das ist eher unbefriedigend, lenkt auch vom Bühnengeschehen ab, weil es überblendet wird.

Weit sinnvoller sind kleine Informationshäppchen zum Stück und zur Regie, die an ausgewählten Stellen der Oper automatisch eingeblendet werden. Sie helfen zu verstehen, was auf der Bühne geschieht und welchen Ansatz die Regie verfolgt. Und doch verrät erst der Blick ins Programmheft, warum so viele Puppen im Spiel sind. Der Witwer Paul, der sich in der „toten Stadt“ Brügge ganz in die Trauer um seine verstorbene Frau Marie vergraben hat, ist in der Inszenierung von Daniel Kramer ein Puppenmacher. Als solcher versucht er, den Verlustschmerz abzumildern, indem er ein möglichst originalgetreues Abbild seiner Frau schafft.

Der Witwer Paul (Corby Welch), in der Düsseldorfer Inszenierung von „Die tote Stadt“ ein Puppenmacher, trauert um seine verstorbene Frau Marie. (Foto: Sandra Then)

Als Paul der Tänzerin Marietta begegnet, die seiner verstorbenen Frau ähnlich sieht, kommt die an Hitchcocks „Vertigo“ erinnernde Handlung in Gang. Hin und her gerissen zwischen der Verlockung einer lebenden Frau und der Treue zu einer Toten, gerät Paul in einen zunehmend wirren Alptraum. Erst am Schluss der Oper erwacht er mit der Erkenntnis, dass er sich lösen und nach vorne gehen muss, einer ungewissen Zukunft entgegen.

Gerne hätten wir die AR-Brille zwischendurch abgesetzt, um das Opernerlebnis wie gewohnt zu genießen: live, ungeschnitten, ungefiltert. Das ist zwar möglich, aber dafür muss die Brille vom Handy entkoppelt werden. Mit der Folge, dass beim erneuten Aufsetzen alle Einstellungen neu vorgenommen werden müssen. Das ist lästig und lenkt erheblich ab. Vielleicht ist das der Grund, weshalb so viele die Brille die meiste Zeit aufbehalten?

Fleißig schreibt jemand neben uns während der Vorstellung Textnachrichten. Sollte er sich mehr für sein Handy interessieren als für die Oper? Falsch geraten: Der Sitznachbar entpuppt sich als Mitarbeiter von Vodafone, der Rückmeldungen an seine Kolleginnen und Kollegen gibt. Man stehe mit dieser Technik noch ganz am Anfang, gibt er im Gespräch zu. Es gebe an diesem Zusatzangebot, das rein freiwillig sei, noch viel Verbesserungsbedarf. Dem können wir nur zustimmen.

(Informationen und Termine, auch zu „Das digitale Opernglas“, unter https://www.operamrhein.de.)




Wie sich Wahn in Wirklichkeit drängt: Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ an der Oper Köln

Stefan Vinke als Paul in Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“ in Köln. (Foto: Paul Leclaire)

Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ zu inszenieren, dürfte zu den schwierigsten Aufgaben für Regisseure gehören. Der Symbolismus der Vorlage Georges Rodenbachs („Bruges-la-morte“), das hoffmanneske Changieren zwischen dem Dämmer des Realen und dem Nebel des Traums, das Verschieben der Wahrnehmungsräume, in denen behauptete Lebenswirklichkeit mit Fantasien, Erinnerungen, Wunsch- und Wahnbildern im Kopf verschwimmen: Überzeugende Bühnenlösungen sind rar.

Aber die Rezeption von Korngolds vor 100 Jahren, am 4. Dezember 1920 in Köln und Hamburg gleichzeitig uraufgeführter Oper ist in den letzten Jahren in Schwung gekommen. Armin Petras in Bremen, Anselm Weber in Frankfurt und kurz vor der Pandemie Immo Karaman in Wuppertal etwa haben überzeugende szenische Lösungen vorgelegt.

Tatjana Gürbaca ist ihnen in Köln mit hohem Anspruch gefolgt. Die Premiere am 100. Jahrestag der Uraufführung konnte nicht vor Publikum stattfinden und wurde im Livestream übertragen; eine Serie von Aufführungen im Staatenhaus, der Ersatz- und mittlerweile beinahe Dauer-Spielstätte der Kölner Oper, folgte nun zu Beginn der Saison.

Sein und Schein im Seelenraum

Die breite Spielfläche des Staatenhauses nutzt Bühnenbildner Stefan Heyne für einen kreisrunden Aufbau: ein hoher Zylinder, der sich als Kaiser-Panorama identifizieren lässt – so nannte man einst den hölzernen Guckkasten, in dessen Inneren Bilder zu betrachten waren. Drum herum sitzen Menschen wie an einer Bar, unbeteiligt wie auf Bildern von Edward Hopper („Nighthawks“). Schon dieses Objekt exponiert die Spannung zwischen vermeintlich Realem und raffiniertem Schein: Das massive Möbelholz erweist sich als bloße Stoffmalerei. Wird der Vorhang weggezogen, liegt im Inneren ein surrealer Raum frei, den herabhängende Schnüre unterteilen und verunklaren, erfüllt von rätselhaften Gestalten und Gegenständen, die aus einem Bild von Paul Delvaux stammen könnten.

Spannung zwischen vermeintlich Realem und raffiniertem Schein: Stefan Heyne baut ein „Kaiser-Panorama“ als zentralen Spielort seiner Bühne. (Foto: Paul Leclaire)

In diesem Innenbereich hat sich der Künstler Paul, mit einem Pinsel als Attribut gekennzeichnet, die „Kirche des Gewesenen“ eingerichtet, mit der er seiner verstorbenen Frau Marie huldigt. Im Lauf des Abends erschließt sich dieser Gedankenraum. Er ist erfüllt von manifestierten Symbolen aus der Vorstellung Pauls, die sich verselbständigen und seine Wahrnehmung bestimmen. Drei Frauen in blauen Kleidern stehen offenbar für verschiedene Aspekte der Erinnerung an die Tote. Eine trägt das Haar, das wie eine Reliquie eine entscheidende Rolle spielen soll. Wenn Marietta, in der Paul bei einer zufälligen Begegnung seine „geliebte Tote“ wieder zu erkennen glaubt, in diesem Raum bei den Worten „Bin ich nicht schön?“ ein blaues Kleid anlegt, wird deutlich, dass die junge Frau mit dem Erinnerungsideal im Kopf des vereinsamten Mannes identisch wird.

Gürbaca arbeitet mit szenischen Signalen – einer blauen Laute, dem Haar der toten Marie, einem Kindertorso als Reinheitssymbol –, um die Spirale der Entillusionierung zu verdeutlichen, in der sich die Tänzerin Marietta immer weiter vom Entwurf des vielleicht nur imaginierten Vorbilds entfernt, bis Paul sie in einem Ausbruch höchster emotionaler Erregung erdrosselt. Diese Szenen sind diffizil erarbeitet, aber Gürbaca neigt – wie etwa auch in ihrem kürzlich wieder aufgenommenen Essener „Freischütz“ – dazu, die Vorgänge mit Details aufzuladen, die eher verunklaren als verdeutlichen.

Die falsche Auferstehung

Die bedeutungsvolle Theaterszene im zweiten Bild etwa, in der die teuflische Rückkehr dreier Nonnen aus dem Grab aus Giacomo Meyerbeers „Robert le Diable“ parodiert wird, knüpft in ihrer distanzierten Gestaltung keinen rechten Zusammenhang zum Rest der Inszenierung, obwohl in ihr etwas Entscheidendes verhandelt wird: Die Untoten thematisieren einen falschen Begriff von Auferstehung – genau jenen, der Pauls Imagination der „wiederkehrenden“ Marie zugrunde liegt und gegen den die Marietta der Außenwelt im Namen des Lebens den Kampf aufnimmt. Ein Kampf, der zum Ausstieg aus dem „Traum der Fantasie“ und zur Erkenntnis führt, es gebe kein Wiederauferstehen. Wer in Gürbacas Inszenierung die Leiche ist, die am Ende deutlich erkennbar in der Gedankenkirche Pauls liegt, bleibt sinnigerweise offen; ebenso unbestimmt bleibt, ob es Paul gelingt, Brügge (die „tote Stadt“) zu verlassen. Sein Freund Frank – von Gürbaca deutlich als „Alter Ego“ Pauls gestaltet – verlässt den Bannkreis des Unheils, Paul dagegen schneidet sich die Schlagader durch.

Korngold war ein begnadeter Virtuose der Instrumentierung, ein Sensualist der Klänge, aber auch ein Könner in der Konstruktion üppiger, schillernder Harmonien. Gabriel Feltz, GMD in Dortmund, kostet die sinnlichen Eruptionen der Musik passioniert aus. Aber das Gürzenich-Orchester sitzt zu breit auseinandergezogen, um die sublimen Mischungen des Klangs, die opalisierenden Effekte verschmelzender Instrumente, die Piano- und Mezzoforte-Raffinessen und Reibungen zu erreichen. So hört man unter Feltz‘ temperamentvoller Leitung mehr von der Technik Korngolds als von seinem koloristischen Zauber. Die Musik bleibt gleißend-kühl und oft sehr laut. Das Orchester wird von Feltz auch nicht so zurückgenommen, dass die Stellen, an denen sich Klangpracht und Kraft der Attacke entfalten könnte, vorbereitet und spannend ausgefüllt werden könnten.

Keine Gnade für die Sänger

Für die Sänger kennt Korngold keine Gnade. Die Partie des Paul dürfte eine der schwersten Tenorpartien im jugendlich-dramatischen Fach sein – und Stefan Vinke bringt ein unglaubliches Durchstehvermögen und bewundernswert ungebrochene Kraft mit. Er hat sich nach anfänglicher Beklemmung energisch freigesungen, verfügt auch in der gesteigerten Emphase des Finales noch über Reserven. Freilich bleiben bei einer so überhitzten vokalen Stichflamme die Momente des Zurücknehmens, der Melancholie, der lyrischen Bewegung äußerlich.

Auch Kristiane Kaiser powert sich durch die Partie der Marietta/Marie, singt durchgestützte Linien in hoher Tessitura, erschrickt nicht vor der drängenden Attacke. Ihr Sopran hat keinen sinnlichen Samt, kein geschmeidiges Legato. Kaiser rettet sich immer wieder in kraftvoll gepushte Töne. Mit Druck bleiben aber Farben und Klangdifferenzierung auf der Strecke. Eine eher imponierende als berührende Tour de force, die allerdings auch dem Dirigenten geschuldet ist: Auf die Sänger nimmt Feltz keine Rücksicht. Miljenko Turk lässt als Frank und als Pierrot einen noblen, technisch solide abgesicherten Bariton hören.

Szene aus der „Toten Stadt“ mit Dalia Schaechter als Brigitte (rechts). (Foto: Paul Leclaire)

Für Dalia Schaechter bietet die Partie der Haushälterin Brigitte keine stimmliche Herausforderung. Als Gegenspielerin von Marietta entfaltet sie aber ihre wunderbare Vertrautheit mit allen Nuancen der Bühnenkunst. Im Ausdruck untergründigen Begehrens, in den von Paul übersehenen Signale der Sehnsucht, beachtet zu werden, im Versuch, den Mann aus den Wirren seiner eigenen Imagination zu befreien und für sich zu gewinnen, zeigt sich die Meisterschaft der großen Darstellerin.

100 Jahre nach der Uraufführung bewegt sich diese Produktion der Kölner Oper auf der Höhe der Zeit und öffnet jenseits kulinarischer Opulenz den Weg zum Nachdenken über die Frage, wie Realität entsteht und welche Wirkung unsere innere Disposition auf das Erfassen unserer Welt hat. Wahrlich alles andere als ein belangloses Thema.

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