Ex-Feuilletonchef der „Zeit“: Ulrich Greiner bekennt sich jetzt entschieden zum Konservatismus

Kulturbeflissene kennen Ulrich Greiner noch als Feuilletonchef der gediegenen Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Damals war der Mann eher linksliberal geprägt – wie wohl die überwiegende Mehrzahl der bundesdeutschen Kulturjournalisten. Nun aber legt er ein Buch mit dem unterschwellig pathetischen Titel „Heimatlos“ vor, in dem er sich entschieden zum Konservatismus bekennt, dem er sich nach und nach genähert habe.

Ulrich Greiner (Jahrgang 1945) konstatiert, was ihm offenbar selbst und zunächst beinahe unmerklich widerfahren ist, als Zeichen einer allgemeinen gesellschaftlichen Bewegung: Die seit Jahrzehnten gültige kulturelle Hegemonie der Linken sei im Schwinden begriffen, ihre Ideologie sei auf breiter Front gescheitert.

Namensliste, die Linke auf die Palme bringt

Als seine geistigen Bezugspunkte nennt er eine Reihe von Dichtern und Denkern, die gestandenen Linken die Haare zu Berge stehen lassen dürfte: Rüdiger Safranski, Sibylle Lewitscharoff, Martin Mosebach, Peter Sloterdijk und Botho Strauß, dessen Abkehr von einer „Totalherrschaft der Gegenwart“ beispielhaft sei.

Greiner redet enttäuscht von Fehlern in der Flüchtlingspolitik, von drohender und akuter Islamisierung, vom seiner Meinung nach unguten „Anpassungsmoralismus“ der tonangebenden Medien. Auch das Diktum von der „Lügenpresse“ sei nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Die Globalisierung ähnele eher einem Kampfplatz als einem Versprechen auf erstrebenswerte Zukunft.

Abendland, Christentum, traditionelle Familie

Auch nimmt Greiner insbesondere die katholische Kirche, sofern sie denn nicht liturgisch herabgedimmt und gar zu verweltlicht ist, ebenso gegen gehässige Angriffe in Schutz wie die traditionelle Familie.

Christentum und Abendland sind hier nicht – wie so oft üblich – Zielscheiben für verächtliche Attacken, sondern Anstöße zur erstrebenswerten „Tiefenerinnerung“. Greiner sucht denn auch das Deutsche, das „Eigene“, vom Fremdem abzuheben, insbesondere vom mitunter schwer integrierbaren Islam, dessen radikalisierten Positionen man nicht so bereitwillig nachgeben solle. Da schwingt der vielfach zerfetzte Begriff von der „Leitkultur“ mit.

Kritik am allfälligen Gleichheitsanspruch

Muss man noch eigens betonen, dass der Autor in der „Ehe für alle“ einen Verlust der natürlichen Genealogie sieht und überhaupt die Selbstermächtigung des Menschen durch Reproduktions-Medizin beklagt? Allüberall sieht er egoistische Selbstverwirklichung im Namen eines prinzipiell unerfüllbaren Gleichheitsanspruchs am Werk. Die Gesellschaft verliere sich in lauter Partikularinteressen. Hier fällt denn auch der uralt-konservative Begriff vom bedauerlichen „Verlust der Mitte“. Als Konservativer, so Greiner, fühle er sich jedenfalls in diesem Lande oft ziemlich heimatlos.

Bloß nicht in AfD-Nähe geraten

So sehr scheint sich Greiner zwischenzeitlich sogar in die Nähe von AfD-Positionen zu schreiben, dass er immer mal wieder (glaubhaft) betonen zu müssen glaubt, wie sehr er das Gebaren jener Partei verabscheue. Nicht ganz so vierschrötig-stiernackige Kreise der CSU könnten freilich den feinsinnigen Feuilletonisten durchaus zu perspektivischen und wahrscheinlich größtenteils einvernehmlichen Hintergrund-Gesprächen einladen.

Wäre Greiner nicht Kulturchef der liberalen „Zeit“ gewesen, hätte sein allmählicher Positionswechsel wohl nicht so sehr interessiert. So aber kündet sein Kompendium eines (Neu)-Konservativen womöglich von einem bedeutsamen Paradigmenwechsel, der weitere Felder der Gesellschaft betrifft. Auch Leute, die ganz anders über die Zeitläufte denken, sollten sich damit ernsthaft auseinandersetzen.

Ulrich Greiner: „Heimatlos. Bekenntnisse eines Konservativen“. Rowohlt Verlag, 160 Seiten, 19,95 Euro.

 




Beichte eines Abo-Nomaden

Von Mietnomaden hat man schon Übles gehört. Sie ziehen weiter und weiter, stets Chaos und womöglich Müllberge hinterlassend. Eigentlich müssten sie Mietverweigerungsnomaden heißen, denn sie zahlen nicht fürs Wohnen. So schlimm verhält es sich bei mir nicht. Ich bin ja auch nur ein Abo-Nomade und bezahle meine Zeitungen pünktlich. Aber wechselhaft bin ich doch. Man könnte geradezu von Presse-Promiskuität sprechen. Hier meine schonungslose Beichte:

Das eine oder andere Print-Produkt... (Foto: BB)

Das eine oder andere Print-Produkt… (Foto: Bernd Berke)

Früher war ich mal ein ausgesprochen treuer Leser, habe viele Jahre lang zuerst die Frankfurter Rundschau (FR) abonniert, dann – ebenfalls für sehr lange Zeit – die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Die regionale Westfälische Rundschau (WR) gab’s eh über Jahrzehnte als Freiexemplar, weil ich dort gearbeitet habe.

Als sich der erste Riss auftat

Dann aber tat sich sozusagen ein Riss auf. Es hat mit der Entlassung der kompletten WR-Redaktion Anfang 2013 begonnen. Zwar war ich davon nicht mehr direkt betroffen, dennoch habe ich das (nunmehr kostenpflichtige) WR-Abo daraufhin sofort gekündigt und dem Verlag auch ausdrücklich den Grund genannt.

Für einige Wochen habe ich damals zähneknirschend die Ruhrnachrichten (RN) ausprobiert und vor allem im Mantelteil für unzureichend befunden, dann bin ich bei der WAZ angelangt. Als rundum zufriedenen Leser würde ich mich jetzt nicht bezeichnen wollen, aber zeigt mir bitte eine regionale Alternative.

Zwischenstopp bei Springer

Inzwischen hat das Wechselfieber auf den Umgang mit überregionalen Blättern ansteckend gewirkt. Vor einiger Zeit habe ich die FAZ gekündigt und vorerst nicht ersetzt. Kein herber Verlust, dachte ich, denn meine Frau hält schließlich die Süddeutsche Zeitung – und das ist wörtlich zu nehmen: Getreulich hält sie an dem achtbaren Münchner Produkt fest. Das müsste doch als Tageslektüre vollauf genügen.

Nach ein paar Monaten habe ich gemerkt, dass ich besonders das FAZ-Feuilleton doch vermisse – und habe die Zeitung erneut bezogen. Gleichsam im Gegenzug habe ich freilich die FAZ-Sonntagszeitung (FAS) abbestellt und vorübergehend durch die Welt am Sonntag (WamS) ersetzt. Diese Springer-Zeitung ist ideologisch nicht so einseitig, wie man es von früher her gekannt hat und bietet überdies einen kleinen NRW-Teil. Doch, ach: Den füllen sie über Gebühr auch mit nichtigen Promi-Bildchen, vorwiegend aus Düsseldorfer Schnöselkreisen.

Die Sonntags-Illusion

Nicht nur deswegen erfolgte kürzlich die nächste Volte: WamS aufgeben und dafür die ehrwürdige „Zeit“ ordern. Hintergedanke: Man kommt zwar donnerstags nicht dazu, sich die immense Stofffülle der „Zeit“ vorzunehmen, könnte dies aber sonntags nachholen, wenn dann keine andere Gazette ins Haus käme. Pustekuchen! Schon jetzt, im Vorfeld, habe ich gemerkt, dass das nicht funktionieren wird. Sonntags will man denn doch nicht mehr auf den nachrichtlichen Stand von Donnerstag zurückfallen, es darf auch schon mal etwas Aktuelleres sein; zumal die FAZ freitags noch mit einem Wochenheft dazwischen funkt.

Was habe ich wohl getan? Richtig. „Zeit“ gekündigt, FAZ-Sonntagszeitung wieder bestellt. Und das fühlt sich jetzt richtig an. Einige FAS-Spezialitäten haben mir doch gefehlt, auch hat man sich ans ansprechende Erscheinungsbild gewöhnt.

Falsche Kundennummer

Mittlerweile hält man mich offenbar per se für einen unsteten Patron. So erhielt ich kürzlich ein Schreiben der FAZ, die meine Kündigung bedauerte, ihr aber selbstverständlich entsprechen wollte. Nanu? Diesmal hatte ich wirklich nichts dergleichen veranlasst. Ein Anruf klärte das Missverständnis rasch. Es waren zwei Kundennummern vertauscht worden. Eine Dame hatte abbestellt – und das wurde auf meine Nummer verbucht…

Als vermeintlich Fahnenflüchtigem hat mir die FAZ jedoch schon ein spezielles Angebot unterbreitet, das mich zum Bleiben verlocken sollte. Zwölf Monate lesen, neun Monate zahlen. Schnäppchenjagd ist sonst nicht mein Metier, doch das habe ich als Pseudo-Neuabonnent mal dankend angenommen. Aber pssst! Nehmt es euch nicht zum Beispiel. Bleibt euren Blättern gewogen, wenn sie es wert sind. Oder habt ihr etwa gar keine mehr?

Ein haltloser Geselle

Blickt ihr noch durch? Wollt ihr noch hören, dass ich zwischenzeitlich auch jeweils kurz den „Freitag“, „Cicero“ und „The Guardian Weekly“ im Briefkasten hatte (ihr seht, politisch bin ich nicht so starr festgelegt)? Interessiert es euch überhaupt noch, dass ich – wie hier schon dargelegt – zeitweise ein Online- statt ein Print-Abo der FAZ bezogen und ebenfalls wieder verworfen habe?

Wir fassen zusammen: Alles in allem bin ich, was Zeitungen anbetrifft, schon ein haltloser Geselle geworden. Aber in Zukunft will ich die Blätter nur mit Büchern betrügen und ansonsten standfest bleiben. Um es mit „Monaco Franze“ ebenso schillernd wie herzig zu sagen: „Seelisch bin i dir treu, Spatzl“.

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P.S.: Genau! Spiegel, Focus und Taz habe ich bei all den Wechseln immer ausgelassen, also niemals bestellt. Und das dürfte auch so bleiben.

P.P.S.: Bin mal gespannt, welche Abo-Werbung mir demnächst ins Haus und in die Mailbox flattert.




Wie uns das Grusel-Etikett mit der Aufschrift „Donald T.“ auf die Buchseiten locken soll

Die blau unterlegte Ankündigung auf der Titelseite der heutigen „Zeit“ umfasst nur wenige Zeilen, doch hat sie mich irritiert, um nicht zu sagen: verärgert.

Ich zitiere wörtlich, was unter der spätherbstlichen Wer-jetzt-kein-Haus-hat-Überschrift „Bücher für stürmische Zeiten“ steht:

Ausriss aus der heutigen Titelseite der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit".

Ausriss aus der heutigen Titelseite der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“.

„Donald Trump sagt, schon der Geruch von Büchern mache ihn müde. Uns macht er Lust aufs Lesen…“

Was mich an diesen unschuldigen Sätzchen stört? Zum einen die gar wohlfeile Distanzierung von Donald T. Ach, wie sehr wir uns doch von ihm unterscheiden! Er ist dumpf, wir sind kultiviert. Ebenso gut könnte man sich öffentlich rühmen, kein gottverdammter „pussygrabber“ zu sein.

Außerdem behagt es mir nicht, dass die „Zeit“-Feuilletonisten (oder die Titelseiten-Gestalter?) offenbar meinen, selbst den Buchbesprechungen als Lockmittel noch dieses allgegenwärtige politische Label aus dem Gruselkabinett aufpappen zu müssen, womöglich noch mit dem Holzhammer-Hintergedanken „Wer das liest, setzt ein Zeichen gegen Trump…“

Man weiß ja, dass das mit der autonomen Literatur nicht so ohne Weiteres geht. Und doch wünscht man sich hin und wieder eine von derlei Tageskram entschlackte, (nur vermeintlich) zeitenthobene Kultur, die sich um Einzelheiten solch schrecklich konkreter Gestalten nicht immerzu schert und statt dessen die Tiefenschichten und allzeit gültigen Archetypen aufsucht. Auch und gerade im Literaturteil der „Zeit“ finden sich Bücher besprochen, die sich auf diesen steinigeren Weg begeben. Sie haben den trumpelnden Anreißer auf Seite 1 nun wirklich nicht nötig.

In diesem Sinne hat uns beispielsweise Shakespeare mal wieder ungleich mehr übers Machtgebaren von Trump, Putin, Erdogan und Konsorten zu sagen, als jedes mit Zeitgeist getränkte Analyse-Unterfangen.




Dies und das in schmalen Spalten: Michael Angeles Buch „Der letzte Zeitungsleser“

Vom Buch mit dem Titel „Der letzte Zeitungsleser“ hatte ich mir einiges versprochen. Eine kulturgeschichtliche, womöglich auch ansatzweise literarische „Aufarbeitung“ des leidigen Themas war zu erhoffen.

Michael Angele, stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung „Der Freitag“, hat sich – vielleicht auch aus beruflicher Drangsal – der Malaise des gedruckten journalistischen Wortes angenommen.

9783869711287

Sein Buch ist in zeitungshafter Spaltenbreite von nur rund 30 Anschlägen pro Zeile gesetzt. Auf die Weise bringt man sehr schnell einige Buchseiten hinter sich. Furchtbar viel Text steht also nicht in diesem Band.

Zum Inhalt. Als besonderer Gewährsmann der früher weit verbreiteten Zeitungsleidenschaft wird der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard herangezogen, der beispielsweise kein Caféhaus gelten ließ, in dem man die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) nicht hielt. Einmal soll er 350 Kilometer gereist sein, um endlich eine NZZ zu bekommen.

Gleich das einleitende Zitat erfasst einen Moment, in dem der Sänger Udo Jürgens entgeistert feststellte, dass ihm gegenüber just Thomas Bernhard saß. Beide aßen Wurst und lasen dabei Zeitung. Welch eine Gleichzeitigkeit. Damals blätterten eben (fast) noch alle Leute.

Als Bernhards Gegenpol gilt ein weiterer Österreicher: Peter Handke, der Zeitungen und Journalismus verachtete, sich aber gleichwohl angelegentlich nach der einen oder anderen Rezension erkundigte.

Durchaus nostalgisch gestimmt, erinnert sich Angele, ehemaliger Macher der „Netzeitung“, an die entschleunigte Tageslektüre jener Zeiten, in denen es kein atemloses Internet mit wahnwitzigen Live-Tickern und allfälligen Hasskommentaren („Shitstorm“) gegeben hat. Selbst wenn es mal ein paar böse Leserbriefe hagelte, dann wurden sie in Form und Inhalt stark kanalisiert.

Bis in die mittleren 90er Jahre hinein (auch schon wieder rund 20 Jahre her), eröffnete die Zeitung noch einen hauptsächlichen Zugang zur Welt, die besten Blätter waren wahrhaft kosmopolitisch, aber eben noch nicht „globalisiert“. Überdies war die Zeitung eine ideale Tarnung für Menschenbeobachter, hinter der man sich gut verstecken konnte. Nicht der geringste Vorzug…

Besagter Thomas Bernhard tat in einem Interview kund: „…es ist ja in den Zeitungen überhaupt alles zu finden, was es gibt (…) Mehr kann man nicht finden.“ Gerade im boulevardesken Bereich lag eine wesentliche Stärke des Mediums, das merkwürdige Vorfälle aus aller Welt festhielt, welche oft genug literarische Werke anregten. Ja, Heinrich von Kleist brachte mit den „Berliner Abendblättern“ selbst eine Vorform späterer Boulevardblätter heraus.

Auch nicht völlig neu, aber immer noch gültig ist, dass die Zeitung mit dem Journalisten „einen recht windigen Menschenschlag hervorgebracht hat“, wie es zuerst in dieser Schärfe Honoré de Balzac in „Verlorene Illusionen“ beschrieben hat.

Von der „Renovierung“ der Süddeutschen Zeitung, insbesondere der Wochenendausgabe, ist noch en passant die Rede, von der sonntäglichen FAZ und der ungemein umfänglichen, durch schiere Fülle geradezu belastenden „Zeit“. Kann man nur einen Bruchteil lesen, bleibt ein Ungenügen, ein schlechtes Gewissen zurück. Wozu man sagen muss, dass auch die „Zeit“ früher noch dicker gewesen ist und längere Artikel enthalten hat.

Andererseits findet Angele die Schritt-für-Schritt-Erklärseite des „Tagesspiegel“ eher deprimierend. So sieht es aus, wenn man die Leser – wie die abgenudelte Formel lautet – „da abholt, wo sie sind“.

Geradezu rührend die Episode um den Vater einer Freundin, der tagtäglich das „Trostberger Tagblatt“ las, am Wochenende aber den Ehrgeiz aufbrachte, die Süddeutsche Zeitung ausgiebig zu absolvieren. Eine Hommage an den unbekannten Leser. Tempi passati.

Und auch das Klo als vielfach bevorzugter Ort der Zeitungslektüre bekommt seine pflichtgemäßen Zeilen. Warum denn nicht?

Um dem Buch doch noch etwas mehr namentliches Gewicht zu verleihen, hat Angele noch Franz Xaver Kroetz (inzwischen vorwiegend Online-Leser) und Claus Peymann befragt. Peymann sagt, er lese 10 bis 15 Zeitungen täglich. Wann inszeniert der Mann eigentlich noch?

Und so hangelt sich Angele von Einfall zu Einfall, vermeldet dies und das, als gelte es, einen längeren Beitrag für eine ambitionierte Wochenendbeilage zu bestreiten, nicht aber ein Buch. Gewiss, ein paar hübsche kleine Passagen und Anekdoten kommen da zusammen. Doch wird man nicht so richtig satt.

Michael Angele: „Der letzte Zeitungsleser“. Verlag Galiani Berlin. 160 Seiten (153 Seiten reiner Text), 16 €.




Raddatz-Tagebücher: Im Haifischbecken der Literatur

Diese Lektüre hat sich hingezogen. 907 Seiten (plus Register) umfassen die Tagebücher der Jahre 1982-2001, die der Großkritiker, Autor und Publizist Fritz J. Raddatz jetzt vorgelegt hat. Es ist ein Wechselbad aus spannenden und ärgerlichen Passagen.

Frank Schirrmacher, FAZ-Mitherausgeber und früher FAZ-Kulturchef, wird auf der Rückseite des Buchs in goldenen Großbuchstaben zitiert: „Dies ist er endlich, der große Gesellschaftsroman der Bundesrepublik!“ Wie zum Dank für die jubelnde Empfehlung erscheint Schirrmacher in Raddatz‘ Tagebüchern nahezu als Lichtgestalt, als gebildet, höchst intelligent und allzeit gedankenschnell, überdies habe er zeitweise das beste Feuilleton der Republik geleitet. Beinahe so etwas wie eine jüngere Ausgabe seines Vorbildes Raddatz also.

Man kennt sich, man hilft sich? Nun ja. Meist ist das Gegenteil der Fall: Im grässlich eitlen, zunehmend verkommenen Kulturbetrieb, so jedenfalls der Grundtenor des gesamten Bandes, denke jeder nur an sich selbst. Hauen und Stechen, jeder gegen jeden. Da ist man als normalsterblicher Leser heilfroh, nicht mit bekannten Schriftstellern befreundet zu sein und nicht solche Imponier-Sätze notieren zu müssen: „Ich gebe auf dem Postamt Briefe an Grass, Botho Strauß, Hochhuth und Enzensberger auf…“ Pointe: Selbst der Postbeamte hieß (welch’ Zufall) Max Frisch.

Bloß nicht mit bekannten Autoren befreundet sein

Im Haifischbecken der egomanischen Literaten erkundigen sich selbst altgediente Freunde, wie etwa die Autoren Günter Grass oder Rolf Hochhuth, kaum einmal näher nach Arbeitsvorhaben und Befinden des Fritz J. Raddatz. Er leidet unter solcher Ignoranz wie ein Hund. Und nimmt permanent übel. Viele seiner Notizen sind (auch pekuniär besehen) buchstäblich „Abrechnungen“: Demnach würdigt man ihn stets zu wenig und lässt sich auch noch von ihm aushalten. Kaviar, Schampus oder edle Bordeaux-Weine gingen allzu oft auf seine Kappe. Ist er hingegen anderswo zu Gast, geht’s eher schäbig zu. Fast alle sind geizig, er ist großzügig. Du meine Güte!

Überaus leicht verletzliche Eitelkeit ist ein Wesenszug dieses Tagebuchschreibers, der darum ringt, nicht nur als erstklassiger Journalist, sondern als veritabler Schriftsteller zu gelten. Ergo: Ein eitler Pfau hält all den anderen Pfauen ihre Pfauenhaftigkeit vor. Und das über so viele Seiten hinweg. Es ist mitunter quälend. Gemildert wird die Suada bisweilen durch zerknirschte Selbsterkenntnis: „Ich habe mich in den Fäden der selbstgesponnenen Eitelkeit verfangen und finde nun aus diesem Netz nicht mehr heraus…“ Oder sogar: „Ich muß mich schon fragen, ob ich mich, meine angebliche Lebensleistung und meine nebbich Bedeutung, nicht enorm überschätze.“ Zwiespältiger Befund: „Weiß also nicht, was ich will. Man will ,beachtet‘ werden – und zugleich in Ruhe gelassen.“

Ungeachtet aller Widrigkeiten ging’s immer wieder frisch ins Getümmel. Über die Buchmesse jammern, aber sich jedes Jahr hinein stürzen. Auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten darf „man“ eben nicht fehlen. Doch manchmal übermannt Raddatz der Überdruss, der Ennui: In Zürich langweilen ihn die Museen, einschließlich der Cézanne-Bilder. Demonstrativer Seufzer des übersättigten Ästhetizisten: „Was soll man mir schon Neues bieten?“

Von 1977 bis 1985 war der frühere Rowohlt-Cheflektor Raddatz Feuilletonchef der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Es waren dort wohl die lebendigsten Jahre dieses Ressorts. Dank Raddatz‘ vielfältigen Verbindungen zu Akteuren des hassgeliebten Literaturbetriebs schrieben damals die erlauchtesten Geister regelmäßig für das Blatt. 1985 wurde Raddatz wegen eines gar nicht mal so gravierenden, sondern eher lässlich-lachhaften Fehlers als Ressortleiter geschasst (er hatte in einer Buchmesse-Glosse Goethe mit dem – seinerzeit noch nicht existierenden – Frankfurter Bahnhof in Verbindung gebracht), blieb aber Autor der Zeitung, mit offenbar bestens gepolstertem Spesenkonto.

„70. Geburtstag. Grabstein gekauft.“

Dennoch: Das Leiden am Karrierebruch füllt viele Seiten des Tagebuchs. Eigentlich kein Wunder, dass der zusehends wehleidige Raddatz die Entwicklung der „Zeit“-Redaktion fortan als Niedergang wahrnimmt; erst recht, als Sigrid Löffler das Feuilleton übernimmt. Sein Selbstwertgefühl ist angekratzt und muss mühsam behauptet werden, zudem verspürt Raddatz Anzeichen des Alters. Später heißt es einmal wunderbar lakonisch: „70. Geburtstag. Grabstein gekauft.“ Vergällte Lebenslust – allem Luxus zum Trotz. Gegen Melancholie helfen natürlich weder die kunstsinnig ausstaffierten Wohnungen in Hamburg, auf Sylt und in Nizza, noch die teuren Fahrzeuge (erst Porsche, dann Jaguar).

Und der „Gesellschaftsroman“? Raddatz zeigt uns zahllose Prominente aus Kultur und Politik in Nahansicht. Der Mann hat so gut wie alle gekannt, die Rang und Namen hatten. Wer mitunter brillant formulierte Sottisen über Deutschlands wirkliche und vermeintliche Elite sucht, wird reichlich fündig. Darüber hinaus bietet das Buch tatsächlich Bruchstücke oder Bausteine einer bundesrepublikanischen Sittengeschichte. Doch ein Roman ist das alles bei weitem nicht.

Schreckenskabinett betrüblicher Gestalten

Wollte man eine Negativ-Rangliste aufstellen, so wären „Spiegel“-Begründer Rudolf Augstein (angeblich auf seine älteren Tage ein erbärmlicher Alkoholiker), die einstige „Zeit“-Mitherausgeberin Marion Gräfin Dönhoff („Kuh“), der selbstverliebt schwatzhafte Rhetoriker Walter Jens, dito „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki, Suhrkamp-Chef Siegfried Unseld und der hochmütige Germanist Hans Mayer einige der missliebigsten Figuren im Schreckenskabinett des Fritz J. Raddatz. Also vorwiegend Leute, die mit Raddatz um Kronjuwelen des Kulturbetriebs bzw. des Pressewesens rivalisier(t)en, so auch ein weiterer Kritiker-Kollege, der „miese Herr Karasek“ vom herzlich verachteten Schmutzblatt namens „Spiegel“. Namenlose Schreiberlinge sind in solchen Sphären ohnehin nicht satisfaktionsfähig.

Altkanzler und „Zeit“-Mitherausgeber Helmut Schmidt kommt nach Raddatz‘ Lesart – wie nahezu alle Politiker – als banausenhafter Simpel daher, TV-Promi Ulrich Wickert wird als ahnungsloser „Fernseh-Ansager“ vorgeführt. Raddatz bekundet, von tagtäglichen Politiker-Sorgen nichts wissen zu wollen, denn – so wörtlich – „man will ja auch nicht die Sorgen der Müllabfuhrmänner hören.“ Klar, mit denen kann man ja nicht über James Joyce oder die besten Bordeaux-Lagen reden. Zu solchem Dünkel passt diese Notiz von einer Lesereise: „Mich interessiert ‚mein Publikum‘ nicht; sie sollen lesen und die Klappe halten.“

Einmal in Fahrt, schmäht Raddatz auch Klassiker der Literatur als mindere Skribenten, so u. a. Tolstoi, Montaigne, Balzac, Proust und Roland Barthes. Wie denn überhaupt Frankreich vorwiegend mit Oberflächlichkeit assoziiert wird. Ein alter, erzdeutscher Topos, erstaunlich beim erklärten Linken Raddatz. Im Zuge der deutschen „Wende“ 1989/90 ereilt der Bannstrahl (Stichwort „Stasi-Connection“) auch Heiner Müller und Christa Wolf. Mehr Abschätziges gefällig? Nur wenige Beispiele: Dürrenmatt ist „etwas dumm“ (S. 83), Thomas Bernhard ein bloßer Literatur-Clown (S. 278), Adolf Muschg flach (S. 510), Fontanes Tagebücher sind nichtssagend (S. 579), Elfriede Jelinek ist läppisch und infam (S. 663), Kavafis banal (S. 724), das „Bürschlein“ Harry Rowohlt lediglich „von Beruf Erbe“ (S. 816).

Nur selten, aber immerhin blitzt zwischen all den harschen, längst nicht immer triftigen, ja oft haltlosen Urteilen auch Selbstkritik auf: „Oder irre ich mich aus Verdrossenheit?“ Zum Ausgleich werden ein Autor wie Kurt Drawert oder der eng befreundete Maler Paul Wunderlich in hohen Tönen gelobt. Stimmen hier noch die Maßstäbe?

Wenn Raddatz seine Schwester (Kosename „Schnecke“) schildert, genießt man einige der besten Passagen des Buches. Doch manchmal trägt er Privates unangenehm stolzgeschwellt zu Markte. So renommiert der schwule Kulturkritiker damit, dass er es in jüngeren Jahren u. a. mit Größen wie dem Beat-Poeten Allen Ginsberg oder dem Tänzer Rudolf Nurejew getrieben habe. Vollends peinlich ist das sexuelle Eigenlob auf dem Umweg über „Stimmen zum Spiel“: Raddatz lässt wissen, dass viele Herrschaften ihn als jeweils besten Liebhaber ihres Lebens bezeichnet hätten (S. 749).

Das üppige Textkonvolut hätte man kürzen können, es ist hie und da arg wiederholungsträchtig. Dann wäre Platz gewesen für erläuternde Anmerkungen (und aussagekräftige Fotografien), die man schmerzlich vermisst. Schon heute sind etliche Personen und Vorfälle nicht mehr vielen Menschen geläufig, in ein paar Jahren werden sie noch mehr verblasst sein.

Fritz J. Raddatz: „Tagebücher 1982-2001“. Rowohlt Verlag. 939 Seiten. 34,95 Euro.




Spukhafte Schraffuren – Werkschau über Paul Flora in Münster

Von Bernd Berke

Münster. Als Karikaturist der Wochenzeitung „Die Zeit“, auf deren Titelseite er von 1957 bis 1971 präsent war, ist er weithin bekannt geworden. In welchen kunstgeschichtlichen Zusammenhhängen Paul Flora (63) und seine filigranen Federzeichnungen stehen, macht jetzt eine Retrospektive im Westfälischen Landesmuseum Münster mit über 200 Exponaten deutlich (ab Sonntag, bis 18. August, Katalog 18 DM).

Schon die skurrilen Erfindungen der frühen Jahre – gezeigt werden Arbeiten ab 1940 – verdanken sich jener johen Kunst des Weglassens und dem lakonisch-souveränen Spiel mit Form und Linie, über die Flora später fast nach Belieben verfügte. Manche Blätter führen auf die Spur eines gewichtigen künstlerischen Ahnherrn: Paul Klee. Den Blick fürs abseitig-groteske Detail und immerwährende Todedrohung schärfte der Österreicher Flora eingestandenermaßen bei Alfred Kubin.

Aus gespinstartigen Schraffuren, deren mal akkurates, mal mal wirres Geflecht außerordentlich differenzierte Schattierungen ergibt, schichtet Flora ganze Bilder auf. Die hauchfeinen Linienkaskaden verdichten sich zu präzisen Augenblicks- und Zustands-Schilderungen. Auch wenig greifbare Phänomene wie Nebelschwaden nehmen so spukhafte Gestalt an. Und die verhaßten Militärs erscheinen da auch schon mal als pflanzlich-ornamentale Strukturen.

Floras makabre Ader tritt u. a. in seiner „Dracula“-Serie hervor, aber auch in zielsicher hingeworfenen Chaos-Studien wie dem „Eisenbahnattentat“ (1958) oder dem „Unhold als Menschenschlächter“.

Flora schritt nicht den ganzen Themenkreis der Kunst aus, sondern wählte enge Bezirke, deren bildnerische Möglichkeiten er (zuweilen obsessiv) in allen Nebenverästelungen ausschöpfte. Beispiele dafür sind eine subtile Serie über Könige, die in Sänften getragen werden, sowie sein düsteres „Markenzeichen“: der Rabe, der in ungezählten Variationen auftaucht, auch als Schnabelmaske mittelalterlicher „Pestärzte“.

Ein großer Teil der Ausstellung widmet sich natürlich den politischen Karikaturen für „Die Zeit“, deren tagesaktuelle Anlässe zwar verblaßt sind, deren formale Grundlagen und Qualitäten aber hier, im Kontext des Gesamtwerks, erst recht verblüffen.