Die Hoffnung auf Befreiung in der Geschichte: Luigi Nonos „Intolleranza“ als Stream aus Wuppertal

Die Tristesse von Containerbehausungen moderner Arbeitssklaven. Szene aus „Intolleranza“ in Wuppertal. (Foto: Bettina Stöß)

Luigi Nonos Musiktheater ist eine Ikone der Moderne. Immer wenn eines der Werke aufgeführt wird, umweht ein Hauch säkularen Weihrauchs die Stätte, fühlen sich Musiker und Publikum besonders herausgefordert. Eher bewundert als geliebt, stellen „Al gran sole carico d’amore (1975) und sein Erstling „Intolleranza 1960“ (1961) immense Ansprüche an die Ausführenden.

In Wuppertal wurden sie überzeugend eingelöst: Aus Anlass des 200. Geburtstags von Friedrich Engels war die Inszenierung von „Intolleranza“ (mit dem aktualisierenden Zusatz „2021“) dazu gedacht, an das Schaffen des in Barmen geborenen Urvaters des Marxismus zu erinnern. Tatsächlich ist Nonos Protagonist, ein Gastarbeiter in einer schmutzigen Mine eines fremden Landes, ein Prototyp eines Menschen, der seiner selbst als Subjekt der Geschichte bewusst wird und den Kampf mit den ökonomischen Verhältnissen aufnimmt. Auch Nonos Begriff von der Geschichte, in der sich ein Befreiungsprozess vollzieht, lässt sich auf philosophische Vorstellungen Engels‘ zurückführen.

Dass die Premiere von „Intolleranza 2021“ im Wuppertaler Opernhaus erst ein halbes Jahr nach Engels‘ Geburtstag stattfindet, ist der Corona-Pandemie geschuldet. Es bleibt – aus diesem Grund – auch bei einer einzigen Live-Vorstellung für die Presse. Das Publikum bekommt die „szenische Handlung“ ab 18. Juni als Stream zu sehen. Was in diesem Fall bedauerlich ist, weil Johannes Harneit als musikalischer Leiter die sonst kaum gewährte Chance nutzt, nach Nonos Vorstellungen einen mehrdimensionalen Raumklang zu entwickeln, der im Stream wohl kaum akustisch nachvollziehbar wird.

Aus der Not der Pandemie macht Wuppertal eine Tugend: Das Publikum – in diesem Fall die Musikjournalisten – sitzen im Parkett, haben vor sich auf der Hinterbühne, zehn Meter hoch gestaffelt, 12 Schlagzeuger und 12 Blechbläser, im Graben Streicher, Celesta und Harfen, auf den Rängen 12 Holzbläser und die 24 Sängerinnen und Sänger des Wuppertaler Opernchores, verstärkt durch Einspielungen des Chorwerks Ruhr. Harneit dirigiert im Graben und wird durch einen zweiten Dirigenten, Stefan Schreiber, hinter der Bühne unterstützt.

Das Ergebnis ist eine musikalische Wucht: breit gesplitteter Klang, extreme Transparenz, Reibungen statt Vermischung. Harneits präzise Führung der Ensembles und seine minutiöse Klangkalkulation im Raum führen auch zu verdichteten und verschmelzenden Klängen, zu sphärischen Interferenzen und schwebenden Tongespinsten. Harneit entdeckt in Nonos weiterentwickelter Zwölftonmusik nicht nur die scharf geschnittenen Schläge, die schmerzhaften Dissonanzen, die Spannungen zwischen extremen Registerfarben von Instrumenten, sondern auch die Stille, die Finesse, den von den Solisten des Sinfonieorchesters Wuppertal wohlgeformten Klang.

Mit der Bezeichnung „azione scenica“ (szenische Handlung) setzt sich Nono bewusst von der „Oper“ ab. „Intolleranza“ erzählt nur skizzenhaft eine äußere Handlung, reiht eher innere Prozesse aneinander und verknüpft diese mit politischen Statements, die vor sechzig Jahren als so brisant angesehen wurden, dass der Schott-Verlag in der deutschen Übersetzung auf Entschärfung drängte. Schon Peter Konwitschny hat in seiner Berliner Inszenierung 2001 darauf hingewirkt, die Geschichte klar und unmissverständlich zu erzählen. Dem ist auch Dietrich Hilsdorf in Wuppertal gefolgt.

Dietrich Hilsdorf aktualisiert die 60 Jahre alte szenische Handlung: Anspielung auf den Fleischskandal während der Corona-Pandemie. (Foto: Bettina Stöß)

Dieter Richter stellt die Bühne voll mit einem unwirtlichen Wohncontainer-Aufbau, eine schäbig eingerichtete Behausung für den Arbeitsmigranten. Ein Datum wird eingeblendet, der 11. Januar 2021, der Tag, an dem die zweite Verschärfung des Lockdowns bekanntgegeben wurde. Gestalten in weißer Schutzkleidung mit blutigen Schürzen hecheln über die dunkle Bühne (Kostüme: Nicola Reichert). Markus Sung-Keun Park, der Emigrant, klagt mit gequält positioniertem, aber dramatisch effektvoll attackierendem Tenor über die verzehrende Sehnsucht nach seiner Heimat, beschließt, seine Geliebte (Solen Mainguené) zu verlassen und zurückzukehren. Er gerät durch Zufall in eine Demonstration, wird festgenommen, verhört, erfährt in Folter und Konzentrationslager die Allmacht des Staates und die Ohnmacht des Einzelnen. Das Verlangen nach seiner Heimat verwandelt sich in den Willen zur Freiheit. Eine neue Gefährtin (Annette Schönmüller) gibt ihm neue Hoffnung in der Einsamkeit; beide versinken in einer gewaltigen Sintflut.

Hilsdorfs Verweise auf den Tönnies-Fleischarbeiterskandal und das Schicksal moderner Arbeitssklaven aktualisieren das Provokante des Stücks. Die Videos Gregor Eisenmanns sind im Sinne Nonos, der Filmeinblendungen und Projektionen vorgesehen hatte. Sie holen das Außen nach Innen, lassen sich aber auch als überhöhende Momente lesen, die das Einzelschicksal transzendieren. Und während sich – so eine Regieanweisung Nonos – die Projektionen von „Albträumen der Intoleranz“ fortsetzen, sieht man in den Fenstern des Containers die Flut steigen: Die Natur übernimmt am Ende den Willen der marschierenden Arbeiter, „mit dem Hochwasser einer zweiten Sintflut die Städte der Welten zu waschen“. Spätestens in diesem Bild mündet Nonos politisch gemeinte Aktion in eine apokalyptischen Vision, für die er im Schlusschor Textteile aus Bertolt Brechts Gedicht „An die Nachgeborenen“ montiert. Hilsdorf inszeniert dazu sparsam-stille Bilder, die an ein Oratorium erinnern. Was bleibt, ist die Hoffnung auf eine Zeit, in der „der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“.

Luigi Nonos „Intolleranza“ 2021 ist ab 18. Juni im Online-Streaming zu sehen. Weitere Termine, jeweils um 19.30 Uhr, sind 26. Juni, 2. Juli, 13. und 27. August 2021. Tickets zu 12 Euro über die Webseite der Wuppertaler Bühnen: www.oper-wuppertal.de




Menschheitsfamilie mit Gott und Teufel: Dietrich Hilsdorf inszeniert in Essen Alessandro Scarlattis „Kain und Abel“

Ein von der Zeit ausgezehrter, nobler Raum, verblichene Tapeten, ein halbblinder Spiegel. Man sitzt bei Tische, zwei Violinisten spielen Tafelmusik. Die Gewänder entsprechen der Mode kurz nach Beginn des 18. Jahrhunderts. Es ist die Zeit, in der Alessandro Scarlatti in Venedig sein Oratorium über Kains Mord an seinem Bruder Abel geschrieben hat, eine der Schlüsselgeschichten des Alten Testaments aus dem vierten Kapitel des Buches Genesis.

Das Drama kennt keinen Ausweg: „Kain und Abel oder der erste Mord“ (Cain, overo il primo omicidio) von Alessandro Scarlatti am Aalto-Theater Essen. Von links: Bettina Ranch (Kain), Dmitry Ivanchey (Adam), Tamara Banješević (Eva), Xavier Sabata (Gott), Philipp Mathmann (Abel). (Foto: Matthias Jung)

Am Aalto-Theater Essen kleidet sie Dietrich Hilsdorf mit seinen Ausstattern Dieter Richter (Bühne) und Nicola Reichert (Kostüme) ins Ambiente der Entstehungszeit, doch er pflegt damit keinen Historismus, sondern entwickelt ein hochartifizielles Zeichensystem, das für Scarlattis verkappte Oper aus dem Jahr 1707 komplexe Aspekte einer Deutung zulässt.

In seiner 20. Inszenierung für das Essener Theater – erinnert sei an die Skandale mit Verdis „Trovatore“ und „Don Carlo“, aber auch an spannende psychologisch fundierte Kammerspiele – macht Hilsdorf aus der biblischen Geschichte ein Familiendrama: Gott und der Teufel sind keine aus dem Off dröhnenden Übermächte, sondern heben am Tisch mit den Menschen das Glas, geraten mit ihnen in körperlichen Kontakt. Wesen aus Fleisch und Blut und dennoch durch ihre Positionen im Geschehen auf der Bühne oft seltsam enthoben: Ein treffend erfundenes Bild für die Präsenz des Transzendenten in, aber nicht seine Identität mit den Lebensvollzügen der Menschen.

Spannung in jedem Moment

Hilsdorfs Fähigkeit, die Bühne auch bei stillstehender Interaktion mit Leben und Spannung zu erfüllen, macht aus diesem pausenlosen 140-Minuten-Stück einen Abend ohne Leerlauf. In jedem Moment auf die Personen auf der Bühne konzentriert, erschließt er mit seinen Darstellern in präzis ausgeformten Gesten und Gängen ihre seelische Verfassung, ihre Emotionen, ihre inneren Entscheidungen. Und das in einem äußerlich handlungsarmen Verlauf, denn das Libretto des Kardinals Pietro Ottoboni – der gleichzeitig mit Scarlatti auch den jungen Händel förderte – stellt die theologische Reflexion gleichrangig neben die biblische Erzählung. Hilsdorfs Vorzug ist, dass er diese Ebene in seine Inszenierung integrieren kann. Der Provokateur von früher hat sich zum genau analysierenden Beobachter gewandelt.

Die Verführung tarnt sich weiblich-erotisch: Baurzhan Anderzhanov (Teufel), Bettina Ranch (Kain), Dmitry Ivanchey (Adam). (Foto: Matthias Jung)

Hilsdorfs Zeichensystem lebt aus sinnenfrohen Details, die sich dennoch zu einem schlüssigen Ganzen fügen: Adam und Eva tragen Gewänder in der Bußfarbe Violett. Der Teufel tritt, in eine kostbar gearbeitete Prachtrobe gehüllt, als mondäne Frau auf – mit einer Anmutung von Macht und Erotik, die Kain in ihren Bann ziehen muss. Dass der Böse die Macht Gottes nachäfft, wird deutlich beim Entschluss zum Brudermord: Wie der Schöpfergott Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle streckt er den Finger aus, der quasi den mörderischen Funken auf Kain überträgt.

Das Böse bleibt in der Welt

Zwei Kerzen signalisieren die Opfer: Abels Kerze flammt hoch, Kains Kerze raucht nur. Zurücksetzung und die damit empfundene Ungerechtigkeit, Neid und der Dünkel des „Erstgeborenen“ motivieren die Tat Kains. Er bläst die Kerze des Bruders aus und erschlägt ihn unter der festlichen Tafel. Kain und Luzifer trinken sich zufrieden zu. Später wird Gott den Teufel aus dem Reifrock schälen und so die Täuschung aufheben: Im Untergewand am Rande sitzend, wird dieser die Trauer Adams und Evas beobachten und dabei versonnen einen Apfel schälen. Das Böse bleibt Bestandteil der Welt; es ist aber auch an der Rettung beteiligt: Wenn Adam am Ende auf die Menschwerdung Gottes in Jesus anspielt („aus meinem Blut soll der Erlöser geboren werden“), nagelt der Teufel ein Kreuz mit einem Corpus an die Wand. Das Ende bleibt ambivalent: Dass alle Protagonisten am Tisch die Suppe auslöffeln, wirkt unverkennbar ironisch, lässt aber eine endzeitliche Versöhnung nicht außer Acht. Familiendrama und universales Schöpfungs- und Erlösungsdrama gehen ineinander über.

Hilsdorf ist ein Regisseur, der – ursprünglich aus dem Schauspiel kommend – selbst in seinen provozierendsten Arbeiten nie vergessen hat, szenisch mit der Musik zu interagieren. In Essen führt die musikalische Sensibilität zu einer glücklichen Einheit von Bild und Klang, die über die Integration des Orchesters in das Bühnenbild hinausgeht. Dirigent Rubén Dubrovsky hält so den direkten Kontakt zu Szene, die Sänger und die Musiker stellen sich ideal aufeinander ein.

Inspirierte Musik Alessandro Scarlattis

Scarlattis Musik erweist sich in ihrer Tonarten-Dramaturgie und in ihrer vielfältigen, klangsensiblen Durcharbeitung geradezu als theologisch inspiriert. In ihrer Arie „Sommo Dio“ etwa äußert Eva die bittende Hoffnung auf Befreiung durch das „heilige Holz“ und das „geopferte Lamm“ und bringt damit die neutestamentliche, christologische Perspektive ein. Das Lamm, das Abel opfern will, ist ein anderer Verweis auf Christus, das „Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt“. Die Arie steht in g-Moll, und in dieser Tonart kündigt sich das Erscheinen Gottes in einer Sinfonia – also zunächst rein instrumental – an.

Gott und Abel: Philipp Mathmann (Abel) und Xavier Sabata (Gott). (Foto: Matthias Jung)

Gottes Arie – durch die Art („mezzo carattere“) mit Abel verbunden – steht dann in F-Dur und hebt sich damit deutlich ab – die Transzendenz des Erlösung verheißenden Gottes wird betont, während er, wenn er Kain die Folgen seiner Tat klarmacht, das „menschliche“ g-Moll in G-Dur moduliert, verbunden mit einem unerbittlichen Streicher-Ostinato, welches das Schicksal des mit dem Kainsmal zugleich gezeichneten und vor dem Tod geschützten Mörders in scharfen, harten Akzentuierungen verdeutlicht.

Auf diese Weise schafft die dramatisch begründete, dennoch souverän formal gestaltete Musik Scarlattis eine enge Verbindung mit der Szene. Die Essener Philharmoniker sind in ihrem wachen, flexiblen, in Klang, Phrasierung und Artikulation nahe an historisch informierten Spezial-Ensembles. Eine fabelhafte Leistung der Musiker, die sich ja mit Repertoire aus allen Epochen befassen müssen, aber auch von Dubrovsky: Der Wahl-Wiener, der demnächst Händels „Alcina“ in Hannover und „Giulio Cesare“ in St. Gallen dirigiert, stellt die Beziehung zwischen Bühne und Orchester her und führt die Sänger sicher und in organischen, wenn auch manchmal sehr beschaulichen Tempi. Die Instrumente, etwa das Fagott in den g-Moll-Arien Evas oder die beiden Flöten sind szenisch zugeordnet, und für den Auftritt des Teufels pervertiert Felix Schönherr mit unheimlich schnarrenden Registern den sakralen Klang der Orgel.

Vorzügliche Sänger

Gesungen wird in Essen ebenfalls vorzüglich. Bettina Ranch führt ihren Mezzo elegant durch die Bravour und das Cantabile der Arien Kains, beleuchtet stimmlich die Facetten dieses Charakters, der sich keineswegs im „Bösen“ erschöpft und im Widerstand gegen die zweite Versuchung des Teufels, sich selbstbestimmt das Leben zu nehmen und damit ultimativen Widerstand gegen Gott zu leisten, einen heroischen Zug erhält.

Tamara Banješević kleidet die Trauer und Reue Evas, aber auch ihre Hoffnungen mit einem weich formenden, innigen, flexibel ausgestaltenden Sopran. Dmitry Ivanchey als gebrochener, am Stock gehender Mann in edlem Justaucorps, muss sich in seiner ersten „aria di bravura“ noch mit Mühe und fest sitzender Stimme durch Sechzehntelketten kämpfen, gewinnt aber im Lauf des Abends souveräne Präsenz. Xavier Sabata setzt einen virilen Alt für die Stimme Gottes ein, die er auch mit Schärfe und profunder Energie dramatisch aufladen kann.

Baurzhan Anderzhanov als mondäner Teufel. (Foto: Matthias Jung)

Baurzhan Anderzhanov kann mit seinem unverschleierten, in der Artikulation unbestechlichen, klanglich schlank-leuchtenden Bass in einer weiteren Glanzrolle am Aalto-Theater brillieren. An Philipp Mathmanns Stimme werden sich die Geister scheiden: Der Counter intoniert traumsicher, singt aber die Töne steif, manchmal überzogen schrill an und pflegt das geradlinige „weiße“ Timbre, das in Alte-Musik-Kreisen bisweilen sehr geschätzt wird, mit italienischem Belcanto aber wohl wenig zu tun hat. Dietrich Hilsdorf, der nach sieben Jahren an das Essener Haus zurückgekehrt ist – und in zwei Jahren eine neue Inszenierung verantworten wird – erhielt einhellige Ovationen; das gesamte Ensemble genoss den langen, herzlichen und verdienten Jubel des Publikums.

Vorstellungen am 30. Januar, 20. und 29. Februar, 4., 8., 13., 20. März und 3. Mai. Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/kain-und-abel/3798/




Für die Ruhmeshalle der Opernregie: Hilsdorfs überwältigender „Eugen Onegin“ in Köln

Es war einer jener Opernabende, die – wie es Zerbinetta in Strauß‘ „Ariadne auf Naxos“ sagt – hingegeben stumm machen. Bei dem man den Eindruck hat, noch so gewählte Worten blieben schmerzhaft ungenügend hinter der Tiefe des Erlebten zurück. Bei dem jede Beschreibung vergeblich ist, die versucht, dem unmittelbaren Eindruck einen Begriff zu geben. Bei dem es dem Rezensenten schwer fällt, die professionelle Distanz zu wahren.

Geschafft hat das kein „neuer Gott“, sondern ein erfahrener Regisseur, in Einklang mit einem wunderbaren Team: Dietrich Hilsdorf hat in Köln im Zeltbau am Hauptbahnhof einen „Eugen Onegin“ erarbeitet, der es zumindest auf einen Spitzenplatz bei den diversen Umfragen zur besten Inszenierung der Saison schaffen müsste.

Olesya Golovneva (Tatjana) und Andrei Bondarenko (Onegin) in der Kölner Inszenierung von Tschaikowskys "Lyrischen Szenen". Foto: Paul Leclaire/Oper Köln

Olesya Golovneva (Tatjana) und Andrei Bondarenko (Onegin) in der Kölner Inszenierung von Tschaikowskys „Lyrischen Szenen“. Foto: Paul Leclaire/Oper Köln

Das schier unglaubliche Maß des Gelingens ist zuallererst dem Menschenbeobachter Hilsdorf zu verdanken. Tschaikowskys „Lyrische Szenen“ eignen sich ja nicht für den Aktionismus, mit dem andere Regieführer sie aufzupeppen suchen. Aus dem Zusammentreffen eines in das fiktive Leben und Lieben seiner Romane versponnenen Mädchens mit einem jungen Mann, der schon (zu) viel erlebt haben dürfte, sind kaum szenischen Funken zu schlagen. Es sei denn, man heißt Dietrich Hilsdorf und hat einen ausnehmend scharfen Blick für die menschliche Psyche.

Die anderen Ursachen für das Kölner Opernwunder heißen Marc Piollet und das Gürzenich-Orchester. Sie treiben die Verfeinerung der ohnehin in ausgesuchtem Raffinement schwelgenden Partitur auf die Spitze. Das liegt nicht nur an der stets lockeren, gelassenen Phrasierung, der sanften Brechung der Orchesterfarben, der dynamischen Delikatesse. Piollet versteht es, die milde Wehmut und den zitternden Enthusiasmus in noblen Klang zu kleiden; das Orchester ist in den neblig-depressiven Momenten des zweiten Akts ebenso sensibel bei der Sache wie in der auffahrenden Aggressivität der Polonaise oder der nervösen Rastlosigkeit des Finales. Und der intensiven Glut der emotional hochfahrenden Musik Tschaikowskys, die ja nicht nur lyrische Verinnerlichung kennt, folgt Piollet nicht mit vordergründiger Brillanz oder saftigem Ausspielen, sondern mit einem gebändigten, untergründigen Drängen.

Was „macht“ Hilsdorf mit den „lyrischen Szenen“, dass sie so eindringlich wahrhaft wirken? Dass die Kunstfiguren der Oper an die tragischen Charaktere aus einem Tschechow- oder Gorki-Drama erinnern? Die Antwort: Eigentlich nichts. Er beobachtet nur genau, was in ihnen vorgeht, und weiß mit sicherer Hand seine Darsteller zu animieren, jeden Moment auf der Bühne zu leben. Dieser „Eugen Onegin“ ist ein Abend subtiler Interaktion, erschlossen mit minimalen Gesten, mit sprechender Mimik, mit genau austarierten szenischen Reaktionen auf die Musik. Hilsdorf ist einer der Regisseure, die auf die Musik achten – auch wenn er aus dem Schauspiel kommt, hat er selbst in seinen provozierendsten Arbeiten nie den Blick auf die Musik vergessen.

Präzise szenische Darstellung innerer Zustände

Wie präzis Hilsdorf innere Zustände szenisch zu repräsentieren versteht, erweist zum Beispiel die entscheidende Begegnung zwischen Tatjana und Onegin: Wie den jungen Andrei Bondarenko bei der Lektüre des Briefes der Überschwang des Bekenntnisses nervt, wie er um pubertäre Gefühlslagen wissend grausam gerecht urteilt, mit einer Mischung von wissender Anteilnahme und der eisigen Klugheit seiner abgebrühten Erfahrungen. Auch Onegin ist ein mehrdimensionaler Charakter – und Bondarenko macht das im Spiel und im Tonfall seines schlanken, gestaltungswilligen Baritons deutlich.

Ein Buch der Gefühle ist das Antlitz Tatjanas: Olesya Golovneva, die in Köln in so einigen großen Rollen brillierte, lebt diese Rolle geradezu: Wie sich vorausschauender Schmerz mit vager Hoffnung paart, wie sie die Tränen zurückhält, unter den Worten Onegins immer mehr die Fassung verliert, wie sie die Fäuste im Schoß ballt und die stumme Bitte formuliert, es möge vielleicht doch glücklich ausgehen – alles das ist große Menschendarstellung. Und durch den manchmal etwas schwer schwingenden, aber tadellos geführten und zum enthusiastischen Aufschwingen ebenso wie zu lyrischer Verinnerlichung und traumatischer Blässe fähigen Sopran Golovnevas erfüllt sich die szenische Intensität auch musikalisch aufs Wahrhaftigste.

Hilsdorf verliert mit der Konzentration auf Schlüsselszenen nicht den Blick auf die Figuren, die scheinbar am Rand stehen, tatsächlich aber dem Drama unersetzlich Akzente mitgeben: Da ist Dalia Schaechter als Larina, eine ernüchterte Frau, pragmatisch, durch das Schicksal hart geworden. Tatjanas Bücherverliebtheit akzeptiert sie nur mühevoll und mit einer Spur scharfen Hohns. Eine Frau, die dem Chaos der Welt ein beherrschtes System gesellschaftlich kontrollierten Verhaltens entgegensetzt, das durch Onegins und Lenskis Ausbruch zusammenbricht. So geht es auch ihr: Teilnahmslos sitzt sie zuletzt im Rollstuhl, vom Schlaganfall gelähmt.

Raum und Licht stützen Hilsdorfs Menschenstudien

Schaechter, eine großartige Darstellerin, bringt mit Anna Maria Dur als Filipjewna das Quartett mit Tatjana und Olga in der ersten Szene musikalisch so wunderbar auf den Punkt, wie man es selten zu hören bekommt. Der „Njanja“, ebenfalls vom Leben gezeichnet, gibt Dur mütterlich-verständnisvolle Züge, ausgedrückt in kleinen Gesten und Zwischentönen. Adriana Bastidas Gamboa ist die attraktive Olga, die sich eigentlich nur langweilt, während Lenski seine Liebesschwüre vorträgt, als würde er eine Lesung seiner eigenen Gedichte veranstalten. Sie steht auf der „realistischen“ Seite und wäre die geeignete Nachfolgerin der Hausherrin im System Larina. Dass sie sich – wie in der Vorlage Puschkins – schnell mit einem Soldaten tröstet, zeigt Hilsdorf in einem Streiflicht während der Polonaise des dritten Akts, die eher Züge einer Totenzugs als eines Festes trägt.

Die Schärfe der Analyse lässt nur in der Episode mit dem Fürsten Gremin nach. Das mag an Robert Holl liegen, der szenisch eher neutral einherschreitet, leider auch in den Höhen ins Schwimmen gerät und den Schmelz für die Legati nicht mitbringt. Auch Matthias Klink erfüllt die Rolle des Lenski nicht ganz glücklich. Bei aller darstellerischen Sensibilität, die sich mit musikalischem Verstehen eint, fehlt ihm der freie, gelöste Ton.

Alexander Fedin macht aus Monsieur Triquet eine bitter-komische Variante des Hoffmann’schen Kapellmeisters Kreisler: Er ist für ein bisschen Unterhaltung gut, aber verstehen wird ihn in dieser rustikalen Ballgesellschaft niemand. Dass er die letzte Strophe seines Couplets der geduldigen Filipjewna im allgemeinen Trubel unbeirrt vorträgt, trägt die Züge einer Groteske. Auch Stefan Kohnke als Hauptmann, Luke Stroker als Saretzkij und Rolf Schorn als Guillot machen aus ihren marginalen Figuren große, weil im Detail durchgestaltete Rollen. Nicht zu vergessen: Der Chor gibt – dank Andrew Ollivant – nicht nur musikalisch, sondern auch in seiner präzisen Bühnenaktion sein Bestes.

Dieter Richter hat für Hilsdorfs Menschenstudie eine im besten Sinne unspektakuläre Bühne gebaut: Einen Salon, wie man ihn in russischen Herrenhäusern heute noch finden kann, lichtvoll, dezent in Pastellfarben, mit zurückhaltender florealer Dekoration. Das elektrische Licht ist nachträglich eingebaut; die Leitungen führen in schwarzen Röhren zu altertümlichen Bakelit-Schaltern. Liebe zum Detail verbindet diesen Raum, der sich zur Halle erweitern lässt, mit Renate Schmitzers Kostümen, die sich stilistisch zwischen der Zeit Tschaikowskys und den fünfziger Jahren bedienen. Dass Raum und Licht (Andreas Grüter) die Inszenierung kongenial stützen, trägt dazu bei, für diesen Kölner „Eugen Onegin“ schon mal einen Platz in der Hall of Fame der Opernregie zu reservieren.