„Der Mensch entgleitet sich immerzu“ – ein Gespräch mit dem Schriftsteller Dieter Wellershoff

Von Bernd Berke

Frankfurt. Der in Köln lebende Dieter Wellershoff zählt seit Jahrzehnten zu den am meisten beachteten deutschen Autoren. Er hat nicht nur zahlreiche Romane, Novellen und Hörspiele verfasst, sondern ist auch als gewichtiger Theoretiker der Roman-Gattung hervorgetreten.

Am 3. November wird Wellershoff 75 Jahre alt – auch aus diesem Anlass ein Gespräch über seinen neuen Roman „Der Liebeswunsch“, geführt am Buchmessestand seines Verlages Kiepenheuer & Witsch.:

In ersten Kritiken zu Ihrem Buch ist bemerkt worden, es ähnele in gewisser Weise Goethes „Wahlverwandtschaften“: Zwei miteinander befreundete Paare, zwischen denen zunächst ein labiles Gleichgewicht herrscht, das dann durch Treuebruch aus der erotischen Balance gerät.

Dieter Wellershoff: Solch eine Vierer-Dramaturgie gibt es in der Tat auch in den „Wahlverwandtschaften“. Es ist aber auch eine Grundstruktur des Lebens. Goethe sieht eine anonyme Schicksalshaftigkeit walten, eine Art Chemie. Meine Figuren sind zwar auch Getriebene. es sind aber auch Elemente von Wahlfreiheit und Zufall dabei. Mein Roman hatte einen langen Vorlauf. Über anderthalb Jahrzehnte habe ich mich mit dem Thema beschäftigt, es hat allmählich immer mehr Stoff aufgesaugt. Es begann damit, dass sich eine Frau aus unserem ferneren Bekanntenkreis aus dem Hochhaus gestürzt hat – so wie meine Romanfigur Anja.

Sie ist das Opfer der Vierer-Konstellation…

Wellershoff: Ja. Ich verstehe den Menschen als Lebewesen, das sich immerzu entgleitet – im Gegensatz zum Tier, das immer dasselbe tut, will und fühlt. Deshalb kann sich der Mensch auch in beliebigen Möglichkeiten verlieren. Oder er kann in falschen Notwendigkeiten feststecken, zum Beispiel in einer unglücklichen Ehe. Während der Leser gleich am Anfang weiß, dass Anja sich umgebracht hat und dann erfährt, wie es dazu gekommen ist, machen die Figuren ihre Erfahrungen schrittweise – im „Dunkel des gelebten Augenblicks“, wie der Philosoph Ernst Bloch einmal gesagt hat.

Sie erzählen abwechselnd aus den Perspektiven Ihrer Figuren. Auf welche Person bezieht sich der Titel „Der Liebeswunsch“? Auf alle?

Wellershoff: So kann man es sehen. Explizit aber nur auf Anja, sie ist abhängig von Emotionen, sie heiratet aus Lebensangst. Sie ist wie eine Leerstelle, Liebe kommt ihr wie die letzte Rettung vor. Von dieser Ausschließlichkeit fühlen sich die anderen bedroht, sie wollen nicht verschlungen werden. Diese anderen haben ja praktischen Lebenserfolg. Anjas Mann Leonhard ist Richter, er wird zum Gerichtspräsidenten befördert. Paul, der ihr Geliebter wird, und seine Frau Marlene sind Ärzte.

Es gab zuvor längere Zeit keinen Roman von Ihnen .

Wellershoff: Der letzte liegt 17 Jahre zurück, ich hatte viele andere Projekte. Mit diesem neuen Roman bin ich übrigens sehr zufrieden. Ich werde in einigen Tagen 75 Jahre alt – und ich glaube nicht, dass man das dem Buch anmerkt. Es ist kein „Alterswerk“ mit den Spuren meines Alters.

Sie kommen bei Ihrem Thema nicht umhin, Sexualität zu schildern.

Wellershoff: Im 19. Jahrhundert hat man diesen Bereich nie dargestellt. Von Henry Miller bis Harold Brodkey ist es dann oft ziemlich rücksichtslos geschildert worden. In Brodkeys Text „Unschuld“ wird über 40 Seiten ein einziger Koitus vorgeführt: Ein Mann bemüht sich, eine frigide Frau zum Orgasmus zu bekommen. Das ist meine Sache nicht. Für mich ist Sexualität kein rein körperlicher Vorgang.




Ist Sprache nur mit Schuld beladen? – Kontroverse Debatte über Schreiben in gewaltsamer Zeit

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Kann man der rechten Gewalt mit Worten Einhalt gebieten? Darf man dabei hoffnungsvolle Gegen-Begriffe wie „Solidarität“ und „Utopie“ noch ganz unschuldig verwenden, als seien sie nicht vom zerfallenen Kommunismus in Mißkredit gebracht worden? Um solche gewichtigen Fragen drehte sich jetzt eine prominent besetzte Autorendiskussion beim Jahrestreffen des bundesdeutschen P.E.N.-Zentrums in Düsseldorf.

Motto des Abends und der gesamten Tagung der Autorenvereinigung: ein vieldeutiger Satz von Roland Barthes, der da lautet „Sprache ist niemals unschuldig“. Moderator Klaus Bednarz (ARD-„Monitor“) wählte als Einstieg in die Debatte über „Schreiben in gewalttätiger Welt“ eine Brecht-Geschichte vom „Herrn Keuner“. Der begegnet der Gewalt, indem er sie zwar nicht bejaht, aber zuwartet, bis sie endlich entkräftet von selbst verschwindet – und erst dann aufatmend „Nein!“ zu ihr sagt.

Haben die Begriffe „rechts“ und „links“ noch Sinn?

Daran entzündete sich die Kontroverse. Günter Grass befand, so sei es in Deutschland ja stets. Nachher, wenn es vorüber sei, seien immer alle dagegen – gegen die NS-Diktatur, gegen das SED-Regime usw. Die duldsame Brecht’sche List im Umgang mit der Gewalt sei gefährlich. Man müsse hier und heute widersprechen. Er, Grass, lasse sich auch von niemandem Worte wie „Utopie“ ausreden. Er werde wütend, wenn man sich – wie es gegenwärtig Mode sei – über eine so wichtige Sache wie „Betroffenheit“ lustig mache oder wenn man schlankweg behaupte, die Begriffe „rechts“ und „links“ hätten gar keinen Sinn mehr.

Herta Müller („Niederungen“, „Der Fuchs war damals schon der Jäger“), die die Ceausescu-Diktatur in Rumänien durchlitt, bezog vehement die Gegenposition: „Das Wort ,Utopie` kann ich nicht mehr hören. Wenn jemand ,Solidarität‘ sagt, muß ich kotzen.“ Unter Ceausescu seien derlei Worte mörderisch mißbraucht worden. Also sei die Sprache mit Schuld beladen.

Und was bleibt? Herta Müller: Nur die Verantwortlichkeit in jeder einzelnen Situation. Die großen übergreifenden Gedankengebäude hätten keinen Wert mehr. Für solche Sätze gab’s Beifall vom zahlreich erschienenen Publikum in der Düsseldorfer Kunsthalle.

Die Demagogen auf der Straße zur Rede stellen

Der zuletzt über die Maßen gelobte junge Lyriker Durs Grünbein (ehemals DDR) meinte, nicht Literatur sei derzeit Schauplatz des Meinungskampfes, sondern die Straße. Vielleicht müßten Autoren sich auf die Straße begeben, um dort die Demagogen zu stellen. Ähnlich wie Herta Müller, die als Beispiel die furchtbare Bedeutung des Wortes „Abholen“ zur NS-Zeit nannte, sah auch Grünbein viele Ausdrücke ideologisch „kontaminiert“ und verseucht. Selbst ein so harmlos klingendes Wort wie „Treuhand“ sei auch Nazi-Deutsch gewesen. Den Schriftstellern selbst dürfe man nie trauen, man müsse ihnen vielmehr „alles zutrauen“. Schöngeister seien oft zu Tätern geworden. Der Diktator und Massenmörder Pol Pot habe Lyrik geliebt…

Autor Dieter Wellershoff wehrte sich gegen den geballten Sprachzweifel. Sprache könne immer noch „Ort der persönlichen Wahrheit“ sein, sie sei nicht von vornherein mit Schuld behaftet.

Doch wie begegnet man nun als Schreibender der akuten rechten Gewalt? Sind radikale Skinheads überhaupt mit (literarischer) Sprache erreichbar? Da blieb man recht ratlos, denn die Aufklärungs-Versuche all der zurückliegenden Jahre scheinen ja bei etlichen Leuten wirkungslos verpufft zu sein. Überdies speist sich Gewaltsamkeit längst nicht nur aus Sprache, sondern aus Bildern und Verhältnissen. Durs Grünbein: Schon das heftige Zuschlagen einer Autotür enthalte verkapselte Gewalt, unsere übertechnisierte Umwelt mache uns aggressiv…

Nach solchen Gedankenflügen vernahmen Podium und Publikum am Schluß ziemlich verblüfft die Wortmeldung eines Exil-Afghanen, der die Frage nach Worten wie „Solidarität“ ganz praktisch entschied: „Wir Ausländer in Deutschland brauchen Solidarität!“ So einfach ist das.