Ein Prinzip wird Gestalt: Ilaria Lanzino deutet Mozarts „Don Giovanni“ in Dortmund als zeitlose Figur

„Don Giovanni“ in Dortmund: Gleich umzingeln die Schlangen eines Medusenhaupts den Titelhelden (Denis Velev); sein Kumpan Leoporello (Morgan Moody, rechts) ist fassungsloser Zeuge des unheimlichen Geschehens. (Foto: Björn Heckmann)

Ein großbürgerlicher Wohnsalon. Eine Dame sitzt da und langweilt sich, während nebenan im Raucherzimmer zwei Herren angeregt parlieren, offensichtlich der Komtur und Don Ottavio. Es ist zu vermuten, dass da die Konditionen der Verheiratung verhandelt werden.

Die Frau ist dabei nicht gefragt. Mit Staunen blickt sie auf einen Mann im Kostüm eines Kavaliers des 18. Jahrhunderts. Doch die Faszination weicht rasch nacktem Entsetzen: Donna Anna wird auf dem Tisch vergewaltigt.

Don Giovanni bricht in diese Welt ein wie ein Anachronismus, ein Dämon aus der Vergangenheit zwischen all die Menschen, die Emine Güner an der Oper Dortmund in Kleider von heute gesteckt hat. Mal scheint es, als bleibe ihnen der Held der Oper unsichtbar, mal reagieren sie auf ihn wie auf eine Erscheinung. Für Ilaria Lanzino ist dieser Kontrast eines der Mittel, mit denen sie in ihrer Regie am Opernhaus Dortmund Don Giovanni einer konkreten Individualität entkleidet. Er ist ein Gestalt gewordenes Konzept, eine Unperson. Eine Metapher des Bösen, das sich im Gewand einer schrankenlosen Männlichkeit zeigt.

Hier geht es nicht mehr um Moral, Schicklichkeit oder Standesehre. Lanzino deckt auf, wie dieses aus der Vergangenheit überkommene Konzept einer rücksichtslosen, gewalttätigen, aber auch getriebenen Übergriffigkeit Frauen aus drei Generationen beschädigt. Sie bleibt dabei nahe am Stück und nahe an der Musik. Und sie offenbart, was vordergründige Deutungen, die sich an Erotik oder Sexualität abarbeiten, nicht einholen können: Don Giovanni ist bei Mozart und Lorenzo da Ponte kein bloß viriler Verführer. Er ist die Verkörperung eines Prinzips, ein Widersacher jeder Humanität. Eine Macht, die erst gestoppt wird, als sie die Übermacht des Transzendenten herausfordert.

Ohne Moral: Das Ende einer metaphorischen Figur

Lanzino verfällt in der letzten Szene aber nicht auf die vordergründige Lösung, die Power der Frauen-Solidarität von Anna, Elvira und Zerlina über die besoffene Männerhorde siegen zu lassen, die sich zum finalen Gastmahl versammelt. Die Stimme des Komturs tönt aus einem riesenhaften Medusenhaupt, dessen Schlangenhaare Don Giovanni umzingeln und verschwinden lassen. Die Lösung braucht die offene Perspektive des Mythos; in der konkreten Welt finden Leporello und Donna Elvira, zwei geschundene Opfer Don Giovannis, als Paar zueinander. Auch Ilaria Lanzino beendet – wie Roland Schwab in seiner tiefsinnigen Berliner Inszenierung – die Oper wie die Romantiker des 19. Jahrhunderts ohne das abschließende Sextett. Das Ende einer metaphorischen Figur entzieht sich der Moral.

Ihr Konzept will Lanzino durch eine detailreiche Durchzeichnung der Personen verdeutlichen. Frank Philipp Schlößmanns Bühne eröffnet dafür konkrete Raum-Orte: die vornehme Wohnung Donna Annas und Don Ottavios, ein Jugendzimmer mit Herzchen-Luftballons für Zerlina, in dem als Bild an der Wand allerdings schon das Gorgonenhaupt des Finales zu erkennen ist. Und für Donna Elvira ein Badezimmer, in dessen Wanne sie sich die Beine rasiert. Don Giovannis Sphäre dagegen ist von einer schwarzen, schräg nach hinten gekippten Neonröhren-Wand gekennzeichnet – ein undefinierbarer, mythischer Ort.

Nicht immer gehen die szenischen Chiffren so auf wie diejenige eines blauen Tuchs, das Donna Anna zunächst fasziniert ihrem Verführer überreicht – Blau als Farbe der Romantik? – und an dem sie ihn später wiedererkennen wird. Dass Donna Anna schwanger ist und später ein Baby mit sich trägt, fügt der Figur keine entscheidende Facette hinzu. Auch Donna Elvira ist als ältere, offenbar an ihrer schwindenden äußerlichen Attraktivität leidende Frau mit furiosen Zügen ziemlich verzeichnet. Dass sie ähnlich wie Leporello eine Liste führt, signalisiert eine Beziehung zwischen den beiden, die bis zum Finale verdichtet wird, ohne dass sie zu mehr Klarheit über die Personen beiträgt. Überzeugender ist, wie der Mythos mittels einer Horde von Männern trivialisiert wird: In der finalen Szene stimmen sie – ausgelassen das Mahl Don Giovannis mitfeiernd – ein, als Mozart im Orchester das Zitat aus „Le Nozze di Figaro“ erklingen lässt; fassungslos erkennt Zerlina, dass auch Masetto demonstrativ in der Schar der Möchtegern-Don-Juans mitmacht.

Ohne Romantisierung: Musik in striktem Tempo

Musikalisch führt George Petrou am Pult die Dortmunder Philharmoniker durch einen „Don Giovanni“ ohne Überraschungen. Manchmal fehlt es an Trennschärfe und Konzentration. Düsteres Moll wird nicht romantisiert. Anklänge an zu Mozarts Zeit schon „alte“ Musik, wie sie etwa Donna Elvira begleiten, wirken angemessen rhetorisch. Die Ensembles machen Freude, weil sie in den Tempi strikt, aber nicht steif, in der Gliederung durchsichtig, aber nicht konstruiert klingen.

Bei den Sängern wünscht man sich den Feinschliff, mit dem zum Beispiel die Streicher des Orchesters ihre Töne formen. Denis Velev fühlt sich als Don Giovanni am wohlsten, wenn er mannsbildhaft mit vollem Sound protzen kann; für die eleganten, verführerischen Töne des Duetts mit Zerlina („La ci darem …“) und die Canzona „Deh, vieni alla finestra“ ist sein Bass nicht geschaffen. Sein unfreiwilliger Kumpan Leporello wird von Morgan Moody anfangs eher üppig als schlank, später mit angemessen buffonesken Zügen gesungen. Sein Herr hat deutlich auf ihn abgefärbt – das Rot des Jackettfutters signalisiert es –, aber im Wettstreit mit der Aura Don Giovannis kann er als Mensch aus Fleisch und Blut nur den Kürzeren ziehen. Sungho Kim bleibt trotz seines feinfühlig geführten Tenors als Bühnenerscheinung noch blasser, als es die Rolle selbst vorsieht. Imposant, aber ein Riese auf wackligen Beinen: Artyom Wasnetsov als stimmstarker Komtur.

Anna Sohn kann als Donna Anna ihren zuverlässigen, rund und klangvoll gebildeten Sopran zeigen, kommt an technische Grenzen, läuft aber in der Arie „Non mi dir, bell’idol mio“ zu großer Form auf. Tanja Christine Kuhn kann als Darstellerin eindrücklicher überzeugen als mit ihrer überforderten Stimme, die immer wieder stumpf und nicht ausreichend in den Raum projiziert wirkt. Sooyeon Lee spielt als Zerlina den Soubretten-Liebreiz aus, der mit dem frischen Bariton ihres Masetto, Daegyun Yeong, bestens harmoniert.

Letzte Vorstellung am 15. März. Tickets unter www.theaterdo.de und telefonisch unter (0231) 50 27 222.




Unsterblicher Mythos: Der künftige Essener Orchesterchef Andrea Sanguineti dirigiert Berliner „Don Giovanni“

Finale von Mozarts „Don Giovanni“ in der Deutung von Roland Schwab an der Deutschen Oper Berlin mit Mattia Olivieri (Don Giovanni), Lidia Friedman (Donna Elvira) und Tommaso Barea (Leporello). (Foto: Bettina Stöß)

Dem Mythos „Don Giovanni“ hatte sich Roland Schwab 2010 in Berlin genähert. Die Arbeit des Regisseurs, der am Aalto-Theater Essen mit Verdis „Otello“ und Puccinis „Trittico“ bildmächtige Inszenierungen geschaffen hat, stand an der Deutschen Oper wieder für vier Vorstellungen auf dem Kalender. Am Pult: der designierte Essener GMD Andrea Sanguineti.

Der Mythos Don Juan ist unerschöpflich. Nicht einmal über Faust wurde so viel gedacht und geschrieben wie über den vom spanischen Mönch Tirso de Molina in die literarische Welt erhobenen „Burlador de Sevilla“. Viriler Verführer, lustbetonter Eroberer, amoralisches Scheusal, Leidender in einer absurden Welt, zynischer Nihilist, scheiternder Gottsucher, Metapher des Bösen: In tausenderlei Gestalten tritt er uns entgegen. Der kluge, theologisch gebildete Dichter Lorenzo da Ponte hat ihn für Wolfgang Amadé Mozart in ein vielsagendes Libretto, der Komponist hat es in unsterbliche Musik gekleidet. Heute ist „Don Giovanni“ auf der Bühne vor allem in dieser Oper präsent. Entsprechend vielgestaltig sind die Deutungen.

Roland Schwab gelang vor gut zwölf Jahren mit einer von seiner Lehrerin Ruth Berghaus geschulten Hand, die innere Spannung von Mozarts „dramma giocoso“ zu inszenieren, ohne seine Kraftpole auszuschalten. Denn da ist die erzählte Handlung, eine Geschichte voller (Wort-)witz und bedeutungsvollen Momenten. Und auf der anderen Seite das Bewusstsein des Mythos, die Repräsentation einer Figur auf der Bühne, die unerschöpflich ist und ein zeitloses Geheimnis in sich trägt.

Schwab verzichtet mit seinem Bühnenbildner Piero Vinciguerra auf jeden Schauplatz. Und nicht ein einzelner Don Giovanni, nicht nur ein Leporello werden in ihren Konturen in der Schwärze der Bühne sichtbar: Sie vervielfachen sich, werden zum Kollektiv, oder, wenn man so will, zu einem Schwarm ihrer Erscheinungsformen im Lauf ihrer Geschichte. Auch der Komtur – am Ende nur noch dröhnend mahnende Stimme – schält sich als einer aus den Vielen heraus. Ein sinniges Bild für den Mythos, der sich in der Zeit vervielfacht hat, der, wenn er denn greifbar wird, nur einen Ausschnitt seiner ganzen Wirklichkeit kolportiert.

Ein Sisyphus der Lust

In Schwabs Deutung konkretisiert sich der Mythos aus purer Notwendigkeit im Individuum eines Don Giovanni (Mattia Olivieri) und seinem Leporello-Alter-Ego Tommaso Barea. Doch sie erinnern immer daran, dass sie keine Personen im klassischen Sinne sind. Auch die Kostüme von Renée Listerdal variieren die Konkretion immer wieder: In der komödiantischen Verwechslungsszene im zweiten Akt wird etwa das alte Mantel-und-Degen-Stück zitiert. Und wenn das Outfit der beiden Akteure sich immer deutlicher an Fetisch-Leder aus der SM-Szene annähert, entspricht das der ambivalenten Rolle des Don Giovanni: Er ist der Quäler der Menschen seines Umfelds und er wird gequält von seiner Existenz, die sich in der ständigen Wiederholung des Immergleichen erschöpft.

Schwab sieht offenbar Parallelen zu Sisyphus. Doch wenn der antike Steinroller zumindest bei Albert Camus‘ im Moment, in dem er die Absurdität seines Daseins annimmt, ein glücklicher Mensch ist, macht Schwab das Leiden seines Protagonisten deutlich: Geradezu flehentlich senkt er im ersten Finale den Kopf, um den Schwerthieb von Don Ottavio zu empfangen – aber sein Widersacher hat nicht das Format, um zuzuschlagen. Am Rand der Bühne strampelt derweil ein halbnackter Athlet auf einem Hometrainer – ein Fahrrad, das trotz größter Anstrengung nicht von der Stelle weicht.

Existenzieller Schmerz und Sehnsucht nach Erlösung. Szene aus dem ersten Finale von Mozarts „Don Giovanni“ an der Deutschen Oper Berlin (Aufnahme von 2015). (Foto: Bettina Stöß)

Zum genial komponierten musikalischen Chaos Mozarts drehen sich zwei Gestänge-Burgen wie gigantische Mahlwerke gegeneinander; eine davon erinnert an eine Parabolantenne, die Signale aus galaktischen Fernen empfangen könnte. Sie scheinen wie das magische Theater in Hermann Hesses „Steppenwolf“ alle zu verschlingen, nur Zerlina wandelt wie in Trance außen vorüber. Eine enge Pforte, einer Flughafenschleuse ähnlich, zitiert das Inferno-Motto Dantes: Lasst alle Hoffnung fahren. Eine bestürzende Umsetzung des Perpetuum-mobile-Kreiselns, das Mozart in der sogenannten Champagnerarie Don Giovannis musikalisch ausgeformt hat.

Der Butler stolpert über eine Leiche

In der letzten Szene überschlagen sich dann die Assoziationen: In den schemenhaft sich abzeichnenden Trümmern einer beständig gegenwärtigen Vergangenheit imitiert Leporello Freddie Frinton in „Dinner for one“, stolpert aber statt über den Tigerkopf übe die Leiche einer ermordeten jungen Frau. Don Giovanni füttert schwarze Gestalten wie Hunde, als säße er in Pasolinis „Salò – Die 120 Tage von Sodom“, Leonardos „Abendmahl“ wird heraufgerufen. Das Ende imaginiert Schwab wie die Romantiker des 19. Jahrhunderts ohne das abschließende Sextett. Das Schicksal des bestraften „Wüstlings“, eines von allen humanen Bindungen freien Charakters, entzieht sich der Moral. Eine entscheidenden Abweichung, die den Mythos für unsterblich erklärt. Die Tortur des Sisyphus geht weiter.

Dirigent des Berliner „Don Giovanni“: der künftige Essener GMD Andrea Sanguineti. (Foto: Volker Wiciok)

Musikalisch hinterlässt die Aufführung unter Andrea Sanguineti einen zwiespältigen Eindruck. Das liegt in erster Linie an einer akzentarmen, die Melodiestimmen betonenden Spielweise des Orchesters, der Sanguineti offenbar keine Impulse zu geben hat. Die Ouvertüre, schlank und ohne Abgründe, wirkt im Adagio eine Spur zu schnell, zu unverbindlich, wechselt mit dem Tempo im Allegro ihre musikalische Haltung nicht und bildet so keinen Kontrast aus.

Im Lauf des Abends zeigt sich Sanguineti als bedachter Begleiter der Sänger. Die reüssieren unterschiedlich: Mattia Olivieri singt „Fin ch’an dal vino“ vital und draufgängerisch, zeigt im Ständchen eine Stimmkultur, die es zu einem wehmütig-poetischen Intermezzo machen. Aber in den Rezitativen stößt er wie Leporello an seiner Seite die Silben heraus. Man mag diesen Verzicht auf elegante Formulierung dem Konzept der Figuren anrechnen, aber das forcierte Spucken der Silben macht wenig Freude und eröffnet in Tommaso Bareas „Registerarie“ keinen expressiven Zugewinn. Der Don Ottavio Giovanni Salas singt gepflegt, muss aber rollengemäß blass bleiben. Artur Garbas erfüllt die Erwartungen, die man an einen Masetto stellt, stimmlich mühelos, im Spiel zum Glück ohne übertreibende Möchtegern-Komik. Patrick Guetti darf als Commendatore aus dem Lautsprecher dröhnen.

Elvira ohne Schweißtropfen

Unter den Damen gebührt Lidia Fridman als Donna Elvira die Palme: Sie bewältigt den Umfang, die heiklen Sprünge und die heroinenhafte Attacke anstandslos, mit gleichmäßig geformten und verfärbungsfrei positionierten Tönen bei einwandfreier Artikulation. Endlich einmal eine Elvira, die der Partie ohne Schweißtropfen auf der Stimme gerecht wird. Elisa Verzier macht als Zerlina mit unverbrauchtem Timbre und sorgsamer Gestaltung auf sich aufmerksam. Flurina Stucki hat für die Donna Anna die Beweglichkeit und die melancholischen Töne, in dramatischen Momenten wirkt die Stimme im Kern zu klein und hilft sich mit aufgeblähtem Vibrato.

Roland Schwab hat mit dieser Arbeit die riskante Herausforderung bewältigt, den „Don Giovanni“-Mythos komplex chiffriert in all seinen Spannungen sinnlich erfahrbar zu machen; dass die Inszenierung nach zwölf Jahren noch so unmittelbar wirksam ist, dürfte auch der Spielleitung (Silke Sense) zu verdanken sein.

 




Der „andere“ Don Giovanni: Vor 200 Jahren starb der italienische Komponist Giuseppe Gazzaniga

Anmerkungen zu einer Fußnote der Musikgeschichte: Heute, am 1. Februar vor 200 Jahren, starb in Crema in Italien der Schöpfer des „Don Giovanni“. Wie? Mozart, das wissen wir doch, verblich am 5. Dezember 1791, und zwar in Wien. Richtig, dennoch gilt es, eines Komponisten zu gedenken, der eine der mindestens siebzig Don-Juan-Versionen für die Opernbühne geschaffen hat – und zwar nicht die schlechteste: Giuseppe Gazzaniga.

Der Komponist Giuseppe Gazzaniga um 1780. (Bild: Wikimedia /gemeinfrei - Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Giuseppe_Gazzaniga.jpg)

Der Komponist Giuseppe Gazzaniga um 1780. (Bild: Wikimedia /gemeinfrei – Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Giuseppe_Gazzaniga.jpg)

Heute meist nur noch beiläufig erwähnt, war Gazzaniga zu Lebzeiten eine europäische Berühmtheit. Seine Opern, er hat mindestens 50 geschrieben, wurden zwischen 1770 und 1800 – also zu Lebzeiten Mozarts – in ganz Europa gespielt. Und sein „Don Giovanni“ mit einem Text des Wiener „kaiserlichen Poeten“ Giovanni Bertati begann erstmals am 5. Februar 1787 die Damen auf den Brettern des Teatro San Moïsè in Venedig zu verführen.

Das Grausen wird weggelacht

Mozarts Librettist Lorenzo da Ponte hat sich allen Anscheins nach bei der venezianischen Karnevalsoper Gazzanigas und Bertatis bedient: Die Eröffnungsszene mit Leporello – der bei Gazzaniga Pasquariello heißt –, dem Terzett und dem Tod des Komturs, die „Registerarie“ des Dieners, das letzte Mahl Giovannis und seine Höllenfahrt finden sich in der früheren Oper in verblüffend ähnlicher Form.

Das Finale freilich ist ein karnevalesker Scherz: Während Don Giovanni mit Krach-Bumm und sprühendem Feuer in teuflische Gefilde abfährt, starten die Überlebenden eine schmissige Tarantella. Das Grausen vor dem dämonischen Ende wird gekonnt weggelacht und weggetanzt.

Karriere auf europäischer Ebene

Gazzaniga war bereits ein Jahr zuvor von seinem Förderer Antonio Sacchini in Wien eingeführt worden – mit einer Oper auf ein Libretto von Lorenzo da Ponte: „Il finto cieco“ („Der falsche Blinde“), die am 20. Februar 1786 eine offenbar viel beachtete Premiere feierte. Zu dieser Zeit war Gazzanigas europäische Karriere schon in Gang gekommen. „La vendemmia“ etwa, 1778 in Florenz uraufgeführt, erreichte bis 1785 Wien, Dresden, Prag, London, Lissabon und als „Die Weinlese“ Berlin.

Begonnen hatte der 1743 in Verona geborene Gazzaniga, der eigentlich Priester werden sollte, vor 250 Jahren mit einem 1768 in Neapel vorgestellten Intermezzo („Il barone di Trocchia“), dem eine Reihe von Buffonerien für den unersättlichen venezianischen Opernbetrieb folgten. Unter Titeln wie „Das Grab des Merlin“ oder „Die Insel der Alcina“ kann man sich noch etwas vorstellen – aber was sich hinter dem 1773 in Mailand erschienenen „Zon-zon, Fürst von Kibin-kin-ka“ verbirgt, hätte zu wissen doch einen gewissen Reiz. Allerdings versuchte sich Gazzaniga auch an ernsten Stoffen wie „Ezio“ auf das oft vertonte Libretto von Metastasio, „Armida“ oder „Perseus und Andromeda“. Auch ein „Idomeneo“ (1790) steht im Verzeichnis seiner Werke.

Kurzlebige Werke für den unersättlichen Opernbetrieb

Gazzanigas „Don Giovanni“ habe ich vor mehr als 35 Jahren einmal im Heidelberger Schlosshof gesehen: In einer turbulenten Inszenierung nach Art einer Wanderbühne, mit einem großen Knall am Ende – ein sommerlicher Gute-Laune-Spaß mit einer spritzigen, gekonnt fabrizierten Musik, freilich meilenweit von der Tiefgründigkeit Mozarts entfernt. Gazzanigas Musik spiegelt die neapolitanische Oper der Mitte des 18. Jahrhunderts, wie sie seine Lehrer Antonio Porpora und Niccoló Picinni verkörpert haben. Die (spärliche) Literatur hebt seinen Sinn für Situationskomik und seine melodische Erfindungsgabe hervor, die offenbar schon seine Zeitgenossen gerühmt haben.

Als Komponist gehört Gazzaniga zu den zahlreichen Produzenten kurzlebiger Werke für den täglichen Bedarf der italienischen Opernhäuser, vergleichbar vielleicht heutigen Spielfilm- oder Fernsehserienproduzenten. Unter welchen Bedingungen gearbeitet werden musste, wird in einer Episode aus den Memoiren Lorenzo da Pontes deutlich: Von der Theaterdirektion beauftragt, ein Libretto für Gazzaniga zu verfassen, schusterte da Ponte in ein paar Tagen aus einer französischen Komödie ein Stück zusammen. Eine wohl heftige Liebschaft beschäftigte Gazzaniga und hinderte ihn, die Oper in der festgesetzten Zeit fertigzustellen. So bastelte er zwanzig Jahre zuvor geschriebene Musik und Szenen aus eigenen und fremden Werken zu einem Mischmasch zusammen, der „weder Hand noch Fuß“ hatte und nach drei Aufführungen „in den Schlaf geschickt“ wurde.

Als sein kompositorischer Stil unmodern wurde

Da Ponte bezeichnet Gazzaniga in seinen Erinnerungen als Komponisten von einigem Verdienst, dessen Stil aber nicht mehr modern sei. Und das genannte Machwerk verhöhnt er mit einem unübersetzbaren italienischen Begriff: „guazzabuglio“, der so etwas wie Kuddelmuddel bedeutet.

Dass der rasche Wandel und die Entwicklung in der Opernmusik Italiens und Europas seine Art zu komponieren unmodern werden ließ, scheint Gazzaniga selbst bemerkt zu haben: 1791 übernahm er das Amt des Domkapellmeisters an der Kathedrale von Crema, das er bis zu seinem Tod 1818 versah. In dieser Zeit entstanden zahlreiche geistliche Kompositionen, deren Handschriften in Verona und Bologna in Archiven schlummern.

Sich von seinen Opern ein Bild zu machen, wäre ebenfalls nur durch ausgiebige Quellenstudien möglich. Die Produktion für das Musiktheater hat Gazzaniga bis 1807 weitergeführt, wenn auch nicht so intensiv wie vorher. Hin und wieder taucht sein „Don Giovanni“ auf der modernen Bühne auf, zuletzt meines Wissens 2015 in Pisa, ein reizvoller Kontrast zum unvergänglichen Meisterwerk Mozarts.




Wilde Träume des bürgerlichen Unterbewusstseins: Ben Baur inszeniert Mozarts Oper „Don Giovanni“ in Gelsenkirchen

Zerlina (Bele Kumberger) wird schwach angesichts der Avancen von Don Giovanni (Piotr Prochera). (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Was hat Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ mit der Oper „Don Giovanni“ von Wolfgang Amadeus Mozart zu tun? Im Gelsenkirchener Musiktheater derzeit eine ganze Menge. Der aus dem südhessischen Reinheim stammende Bühnen- und Kostümbildner Ben Baur, der sich zunehmend dem Regiefach zuwendet, deutet den nimmersatten Frauenhelden jetzt als finsteres Alter Ego seines Dieners Leporello, als morbide nächtliche Fantasie eines bürgerlichen Unterbewusstseins.

Viele Rezitative zwischen Don Giovanni und Leporello fallen dieser Sichtweise zum Opfer. Einige Arien schneidet Ben Baur heraus, um sie an anderer Stelle zu positionieren. Das ist durchaus machbar, ohne das Stück zu zerstören: Als Ausgangs- und Knotenpunkte der Handlung funktionieren die Arien dieser Oper eigentlich immer. Zudem hat sich Mozarts ebenso geniales wie mehrdeutiges „Dramma giocoso“ von Beginn an wenig um Opernkonventionen und Gattungsgrenzen geschert.

Das Geschehen auf der Bühne zu verstehen, dürfte freilich erhebliche Probleme bereiten, wenn im Vorfeld die Lektüre des Programmhefts unterbleibt. Schon während der Ouvertüre findet auf der Szene ein so munteres „Bäumchen wechsel Dich“-Spiel statt, dass man bald nicht mehr begreift, wer da alles wem und warum um den Hals fällt. Die komische Seite des Spiels bleibt wenig belichtet. Selbst Zerlina und Masetto, das naiv-burleske Bauernpaar, ringt um ein vertrauensvolles Leben zu zweit.

Don Giovanni (Piotr Prochera, li.) mit Zerlina (Bele Kumberger) und Masetto (Michael Dahmen). (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

Die mit Totenmasken ausgestattete Statisterie soll vermitteln, dass diese Nacht mit dem Totentanz des Titelhelden endet, bevor es endlich Tag wird und der Spuk ein Ende hat. Warum aber muss Don Giovanni vor seinem Ende in das Brautkleid der Donna Elvira steigen? Ein seltsames Totenhemd für einen Super-Macho.

Baurs Lesart, wiewohl weit hergeholt, entfaltet gleichwohl Reize für den, der sich auf sie einlässt. Als magische Traumgestalt oder Ausgeburt einer überhitzten Fantasie lässt sich die mythische Titelgestalt, an deren rätselhafter Anziehungskraft sich Dichter, Denker und Philosophen abgearbeitet haben, vielleicht noch am ehesten begreifen. Elegant sind die Bühnenbilder, für die ebenfalls Ben Baur verantwortlich zeichnet.

Alles beginnt in einem mit Stuckaturen verzierten Salon mit eingezogenem Theatervorhang. Wenn diese Kulisse schließlich komplett Richtung Schnürboden gezogen wird, bleibt ein feierliches, von Kerzenleuchtern und Blumengestecken geschmücktes Spielfeld der Liebe und des Todes.

Das quirlige Ensemble des Musiktheaters (MiR) eilt dem Orchester zuweilen bedenklich davon, aber die teils erheblichen Unstimmigkeiten zwischen Graben und Bühne mögen auch dem Premierenfieber geschuldet sein. Piotr Prochera, von Statur und Stimmvolumen nicht der Größte, meistert die Titelpartie auf intelligente Weise. Er gibt „seinem“ Don Giovanni strizzihaften Charme und samtige Eleganz, die er bei passender Gelegenheit ins Forcierte und Brutale umschlagen lässt. Stimmlich überzeugend zeichnet er das Porträt eines Edelmanns mit sadistischen Zügen.

Der schwedische Bariton Urban Malmberg muss als Leporello eine Bass-Partie bewältigen, weshalb er sich im tiefen Register dementsprechend müht. Gleichwohl findet er passend gallige Töne für einen Diener, der seinen Herrn satt hat bis zum Überdruss.

Nacht und Kerzenschein: In Ben Baurs Lesart von „Don Giovanni“ ringen die Figuren um das Leben zu zweit. (Foto: Pedro Malinowski/MiR)

 

Wunderbar besetzt sind die beiden Sopran-Partien: Alfia Kamalova bringt als Donna Anna lyrischen Schmelz und edle Dramatik zum leuchten, und Bele Kumberger ist eine Zerlina, die herrlich zwischen mädchenhafter Scheu und gewitzter Koketterie schwankt. Petra Schmidt gibt der Donna Elvira gehörigen Rache-Furor, in den sich zuweilen auch spitze oder verhärmte Töne mischen.

Die Partie des Masetto scheint Michael Dahmen perfekt zu liegen: Bei ihm verschmelzen stimmliche und schauspielerische Darstellung zu genau der Einheit, die Mozarts Figuren so ungeheuer lebendig macht. Dong-Won Seo gibt dem Komtur nachtschwarz drohende Wucht. Ibrahim Yesilay entwickelt als Don Ottavio tenoralen Schmelz, hat bei der Premiere aber das Pech, einmal fast komplett den Anschluss zum Orchester zu verlieren.

Die metaphysische Wucht des d-Moll, die im „Don Giovanni“ den Einbruch einer rächenden Instanz aus dem Jenseits markiert, will sich im Orchestergraben zunächst nicht recht einstellen. Die Neue Philharmonie Westfalen braucht eine ganze Weile Anlauf, bis sie sich in den rechten Esprit für Mozarts ebenso transparente wie anspruchsvolle Partitur hinein spielt. Nach der „Zauberflöte“ im Jahr 2009 hatte sich Chefdirigent Rasmus Baumann eben eher auf Riesenrösser des Repertoires konzentrierte – man denke nur an „Lady Macbeth von Mzensk“, „Die Frau ohne Schatten“ oder „Tristan und Isolde“. Der Offenbarungseid, dem Mozarts Werke für Sänger und Musiker gleich kommen, fällt in Gelsenkirchen vielleicht nicht immer brillant, aber doch vielversprechend aus.

(Folgetermine im Mai, Juni und Juli 2017. Informationen: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2016-17/don-giovanni/)




Festspiel-Passagen XI: Mozart und Strauss – Neuinszenierungen in Salzburg

Dich, düstre Halle, grüßte keiner: Rolf Glittenbergs Hotel-Einheitsbühnenbild für den Salzburger "Don Giovanni". Foto: Michael Poehn

Dich, düstre Halle, grüßte keiner: Rolf Glittenbergs Hotel-Einheitsbühnenbild für den Salzburger „Don Giovanni“. Foto: Michael Poehn

Wenn sich nach sexueller Bedrängnis und ohnmächtiger Eifersucht Zerlina und Masetto in einem Moment der Ruhe wiederfinden, wenn sie sich in Duettino und Arie der Zerlina („Vedrai carino“) nach allen emotionalen Stürmen wiederfinden, entkleiden sich Valentina Nafornita und Alessio Arduini, schlüpfen in Unterwäsche in eines der Zimmer des düsteren Hotels, entziehen sich dem Zugriff des allgegenwärtig scheinenden Don Giovanni. Und dem sehnsuchtsvoll dem Paar nachblickenden Don Ottavio zeigen sie, was die Sinnspitze sexuellen Begehrens sein sollte: die liebende Begegnung, auf die er – mit Donna Anna – vergeblich hofft.

Sven-Eric Bechtolf. Foto: Julia Stix

Sven-Eric Bechtolf. Foto: Julia Stix

Das war einer der flüchtigen Momente im Salzburger „Don Giovanni“ Sven-Eric Bechtolfs, der gezeigt hat, wohin diese Inszenierung hätte führen können. Es gab noch andere solche Augenblicke verdichteter Deutungs-Energie in der Arbeit des Salzburger Schauspielchefs: Etwa, wenn Donna Anna ein Messer in der Hand hält und Don Giovanni ihren Arm zum Todesstoß gegen den Komtur führt.

In solchen Momenten gewinnen Personen eine Dimension, die über das konkrete Spiel hinausgeht – sie werden zu Symbolgestalten des psychischen Dramas: Donna Anna befreit ihre Persönlichkeit, vom triebhaften Impuls Giovannis geleitet, aus patriarchalischen Fesseln. Dass sich dann ihre Schuldgefühle in Rachegelüsten manifestieren, für die sie Don Ottavio benutzt, bleibt in der Inszenierung unausgeleuchtet – so wie manche Ecken in der ragenden Halle eines Dreißiger-Jahre-Hotels, die Rolf Glittenberg als Einheits-Schauplatz auf die breite Bühne des „Hauses für Mozart“ gebaut hat.

Kraftlose Bühne für einen überflüssigen „Don Giovanni“

Es mag an dem unverbindlich kraftlosen Schauplatz liegen, dass Bechtolfs Inszenierung die konsequente Verortung auf der Meta-Ebene des existenziellen Dramas verfehlt hat und letztlich doch bei der Komödie um einen Testosteronbolzen hängengeblieben ist, dem der Teufel den Cocktail für die „Champagnerarie“ mixt. Es mag auch am plakativen Don Giovanni von Ildebrando d’Arcangelo liegen, der die Zwischentöne der Figur weder szenisch noch stimmlich präsent zu setzen verstand: Wenn auch von der Anlage der Rolle her Eleganz oder Subtilität nicht gefragt waren, sind doch massive Attacke im „Ständchen“ und uniformierter, klobiger Ton selbst in Rezitativen nicht angemessen.

Salzburg: Ildebrando D'Arcangelo als Don Giovanni. Foto: Michael Poehn

Salzburg: Ildebrando D’Arcangelo als Don Giovanni. Foto: Michael Poehn

Wie überhaupt die Salzburger Sängerbesetzung enttäuschte. Selbst Luca Pisaronis stimmschönem Leporello gelang es nicht, sich zu flexibler Leichtigkeit zu befreien. Die Donna Anna der Lenneke Ruiten schlug sich mit dünn-gefährdetem Timbre und verquälten Spitzentönen durch ihre Partie.

Anett Fritsch dagegen überzeugte als Donna Elvira mit substanzreichem Klang und ausgeglichenen Koloraturen. Andrew Staples gab Don Ottavio in der Tradition englischer Kathedraltenöre mit dünn-blassem Klang und substanzlos verengter Höhe; Tomasz Konieczny bewegte sich als Komtur am anderen Ende der Tonskala mit unfreiem Bass. Nur das Paar Zerlina – Masetto (Valentina Nafornita und Alessio Arduini) ließ den Reiz entspannten Singens und drucklos gebildeter Phrasen erleben.

Auch das Dirigat von Christoph Eschenbach rettete die Aufführung nicht: zu spannungslos schon das Adagio der Ouvertüre, die Tempi ohne vibrierende Brillanz, die Artikulation ohne Prägnanz. Den Wiener Philharmonikern gelangen Momente faszinierender Piano-Kultur.

Doch Festspiel-Faszination blieb aus – dafür stellt sich die Frage ein, wozu man in Salzburg nach nur drei Jahren überhaupt eine „Don Giovanni“-Neuinszenierung, einen „Da Ponte-Zyklus“ braucht. Einen echten Zyklus mit den vorzüglichen Libretti des Dichters hat es noch nie gegeben – da müssten sich Theater oder Festspiele einmal verständigen, auch diejenigen zur Diskussion zu stellen, die Antonio Salieri, Vicente Martín y Soler, Stephen Storace oder auch Francesco Bianchi vertont haben. Und Mozart – Da Ponte – Zyklen sind, mit Verlaub, überflüssig, da die drei Opern sowieso überall und ständig im Repertoire zu finden sind.

Atmosphäre des Epochenabschieds in Kupfers „Rosenkavalier“

Krassimira Stoyanova als Feldmarschallin im Salzburger "Rosenkavalier" Harry Kupfers in den atmosphärisch dichten Bildern von Hans Schavernoch. Foto: Monika Rittershaus

Krassimira Stoyanova als Feldmarschallin im Salzburger „Rosenkavalier“ Harry Kupfers in den atmosphärisch dichten Bildern von Hans Schavernoch. Foto: Monika Rittershaus

Die zweite Neuinszenierung dieser Festspiele gilt einem ihrer Mitbegründer: Richard Strauss. Zum 150. Geburtstag dieses so bedeutenden wie schillernden Komponisten des 20. Jahrhunderts hatte Noch-Festspielchef Alexander Pereira ausgerechnet das gängigste Werk gewählt: „Der Rosenkavalier“ ist als Epochen-Abschiedswerk mit Blick auf den Ersten Weltkrieg keine originelle, aber eine sinnvolle Wahl – und Altmeister Harry Kupfer vergegenwärtigte dieses unbestimmte Gefühl des Abschieds – für das die Fürstin Maria Theresia von Werdenberg steht – mit einer sich jeder plumpen Aktualisierung enthaltenden Regie.

Entscheidende Anteil an der atmosphärischen Dichte des Abends haben die Bühnenbilder von Hans Schavernoch: Raumfüllende Projektionen illustrieren beziehungsreich Schauplätze und geistige Haltungen: vergehende Barock-Herrlichkeit, aber auch zeitgeistiger Klimt-Jugendstil für die Marschallin; gusseiserne Dachkonstruktionen für den aufsteigenden Faninal, der sich freilich zu gerne im Glanz herrschaftlichen Barocks spiegeln würde. Und die Riesenrad-Gestänge des Praters drohen hinter einem Beisl, das als Illusionsarchitektur unter doppeltem Aspekt aufzufassen ist: In seinem imitierten Realismus steht es für die Kulisse des Schmierentheaters, das ebenso für den Lerchenauischen Gefoppten gespielt wird wie es der Ochs selbst als tragikomischer Wiener Vorstadt – Don Juan aufführt.

Sophie Koch (rechts, als Octavian) und Mojca Erdmann (Sophie). Foto: Monika Rittershaus

Sophie Koch (rechts, als Octavian) und Mojca Erdmann (Sophie). Foto: Monika Rittershaus

Dass sich Harry Kupfer keiner Regie-Outrierung bedienen muss, um seine Figuren in Ruhe und Tiefe zu entwickeln, wird auch sichtbar. Intensive, beziehungsvolle Momente – wie die vor dem Bild herbstlich kahler Praterbäume im Nebel in Gedanken versunkene Marschallin – entstehen nicht im unermüdlichen Drang von Regisseuren, deutungswütig auch noch die marginalste Szene mit Bewegung füllen zu müssen.

Für dieses Konzept war Krassimira Stoyanova die passende Besetzung: eine Marschallin, die in einem Moment jugendlich spontan, im anderen abgeklärt, ja melancholisch wirkt. Auch die feinen Mezzo-Lasuren ihrer positionssicheren Stimme, der ruhevolle Atem der Legati, die ausgeglichenen Register, die lyrische Innigkeit leuchten den Charakter einer Frau aus, die nicht nur die eigene Jugend im Wissen um die Zeit schwinden sieht.

Kupfer deutet den Epochenabschied fein aus, wenn er es am Ende offen lässt, ob nicht der dunkelhäutige Chauffeur ihres Luxuswagens an die Stelle des Grafen Rofrano treten wird. Kupfer gibt der Marschallin so einen Zug ins Ambivalente, der sie ihrem Vetter Ochs annähert und ihre philosophische und moralische Unfehlbarkeit mildert.

Den "Walfisch" gab es wirklich. Das Traditions-Restaurant im Wiener Prater ist abgerissen; auf Hans Schavernochs Salzburger "Rosenkavalier"-Bühne ist es Schauplatz des Dritten Aktes. Foto: Monika Rittershaus

Den „Walfisch“ gab es wirklich. Das Traditions-Restaurant im Wiener Prater ist abgerissen; auf Hans Schavernochs Salzburger „Rosenkavalier“-Bühne ist es Schauplatz des Dritten Aktes. Foto: Monika Rittershaus

Mit Günther Groissböck rührt Kupfer auch an der überkommenen Konzeption des Barons Ochs auf Lerchenau: Nicht der gemütliche rotwangige Tölpel, sondern ein schneidiger, gewandter Typ, skrupellos, hochmotiviert, wenn es darum geht, die Frauenzimmer auf die vielerlei Arten, wie sie es (angeblich) wollen, zu nehmen.

Die aufgemachten Striche in diesem ungekürzten „Rosenkavalier“ verdeutlichen die aggressive Sexualität dieses Vertreters der Moderne, der Moral auf Konvention eindampft, die nur zu beachten ist, wenn sie nützlich ist oder dem adligen Blute dient.

Kupfer braucht keine Braunhemden oder Hakenkreuze, um zu zeigen, wohin der Weg dieser Moderne führt. Ochs ist einer ihrer Protagonisten, und Kupfer zeigt nach dem so wundervoll konzentriert wie virtuos inszenierten dritten Aufzug, dass der Rückzug seiner Truppe – auch die keine lerchenauischen Tölpel, sondern bedrohliche Schläger – keine Niederlage sein muss.

Melancholie des Abschieds - und eines Neubeginns? Sophie Koch (Octavian), Mojca Erdmann (Sophie) und Krassimira Stoyanova (Feldmarschallin) im Finale des "Rosenkavalier". Foto: Monika Rittershaus

Melancholie des Abschieds – und eines Neubeginns? Sophie Koch (Octavian), Mojca Erdmann (Sophie) und Krassimira Stoyanova (Feldmarschallin) im Finale des „Rosenkavalier“. Foto: Monika Rittershaus

Groissböck ist Niederösterreicher und beherrscht das Idiom perfekt, um dem Charakter seiner Figur Ausdruck zu geben; für den Sänger gibt es noch Entwicklungspotenzial, nicht nur in der Tiefe, auch in der Freiheit der Tonbildung.

Die Liste der luxuriösen Besetzung setzt sich fort mit Sophie Koch, wohl derzeit die prominenteste Darstellerin des Octavian, und Mojca Erdmann als selbstbewusst zu ihrem „Ich“ vordringender Sophie, deren kleiner Soubrettenstimme freilich blühender Glanz und eine tadellose Höhe fehlt. Adrian Eröd bestätigt als Faninal seinen Rang, für den er als Bayreuther Beckmesser die Messlatte hoch gelegt hatte.

Andere blieben hinter ihren Möglichkeiten zurück, so Silvana Dussmann als zu spitzstimmige Marianne Leitmetzerin, Rudolf Schasching als Valzacchi und Stefan Pop als italienischer Sänger mit flackerndem Legato und dünn gefüllter Höhe.

Die Wiener Philharmoniker durften im wie zu Karajans Zeiten hochgefahrenen Graben demonstrieren, wie vertraut sie mit dem Strauss’schen Idiom umgehen. Franz Welser-Möst bemüht sich, leider oft vergeblich, die Lautstärke zu zügeln, die Sänger nicht zu verdecken. Er legt offen, etwa im Vorspiel, dass die „Rosenkavalier“-Musik bei aller silbrigen Geschmeidigkeit und süßen lyrischen Verführung auch mit „Salome“ verwandt ist. Doch den schimmernden Glanz der Übergabe der „Silbernen Rose“ lässt er nicht geheimnisvoll-innig, das weltentrückte Terzett am Ende nicht ätherisch enthoben aus dem Orchester fließen. Ein handfester, kein subtiler „Rosenkavalier“: Welser-Möst hat noch einen Weg vor sich, bis er die Deutungs-Raffinesse seiner Vorgänger erreicht hat.




Grandiose Deutung: „Don Giovanni“ an der Rheinoper

Wer – oder was – ist Don Juan? Die Frage hat die geistige Welt schon umgetrieben, als Tirso de Molina sein barockes Spiel vom bestraften Wüstling verfasst und auf die Bühne gestellt hat. Seither hat Don Juan eine Weltkarriere gemacht: Es gibt tausende von literarischen Werken, Dutzende von Opern und hunderte von Büchern über die Gestalt, deren historisches Werden ebenso im Dunkel liegt wie die inneren Schichten seiner Seele.

Spätestens seit Wolfgang Amadé Mozart, seit E.T.A. Hoffmann und Søren Kierkegaard ist der Don-Juan-Stoff mit Musik verbunden. Don Giovanni ist ein idealer Opernheld, denn seine Uneindeutigkeit und sein wesenloses Sein, seine symbolische Kraft und seine sinnliche Existenz lassen sich in und mit Musik – zumal, wenn ein Mozart am Werke ist – am sinnenfälligsten einkreisen. Kein Wunder also, dass sich die geistige Auseinandersetzung mit dem unsterblichen Mythos Don Juan immer wieder an Mozarts und da Pontes Oper entzündet und zu ihr zurückführt.

Kein Wunder auch, dass die Welt der Oper nicht müde wird, die Geschichte von dem Mann mit den tausendunddrei spanischen Geliebten in immer neuen Inszenierungen auf seine Relevanz für das Heute zu befragen. Das geschieht nicht selten in ratlos erzählender Kapitulation vor dem gewaltigen Stoff, nicht selten auch in hysterischer, fundamentloser Zuspitzung, hin und wieder – wie jetzt in Duisburg – aber auch in einer grandios gekonnten, auf der Grenze zum Abgründigen balancierenden Deutung.

Dabei muss man Karoline Grubers gedanklichen Ansätzen nicht in allem folgen: Don Giovanni ist nämlich keineswegs, wie die Regisseurin im Interview des Programmhefts meint, ein Prinzip der Freiheit, sondern eher das Gegenteil. Er ist – zumindest bei Mozart – kein Träger einer lustvoll-erotischen Anarchie, die den moralischen oder kirchlichen Autoritäten so lange amüsante Schnippchen schlägt, bis ihn endlich der Teufel (oder bloß die Theater-Hölle) holt. Dazu finden wir in der Oper zu viele Personen, die an Don Giovanni einfach nur leiden. Aber die Regisseurin, die der Deutschen Oper am Rhein endlich einmal einen klugen und eminent theatralischen Don Giovanni geschenkt hat, weist in ihrer Durchdringung des Mythos auf eines der entscheidenden Elemente hin: Don Giovanni ist Träger einer unbedingten erotischen Energie. Sie setzt in allen Menschen, die mit ihr in Kontakt kommen, unwiderstehliche, anarchische Kräfte frei.

Ihr bisheriges Dasein zwischen den Polen einer beherrschten, gesellschaftlich eingebundenen Sexualität und den von sozialer Zuordnung und moralischen Prinzipien geregelten Lebensformen wird gesprengt. Die Wucht ist ungeheuer und entwurzelt die Menschen: Donna Anna wird von der dunklen erotischen Kraft Giovannis auf ewig verwundet und zu einer „geregelten“ Liebesbeziehung nicht mehr fähig sein; Donna Elvira wird ihren heroischen Kampf, der Existenz Don Giovannis humane Züge zu geben, im Kloster beenden, sich also von der Welt ab und Gott zuwenden. Zerlina und Masetto werden vielleicht äußerlich unversehrt, aber innerlich gebrochen in ihr Bauern-Dasein zurückkehren. Und für Don Ottavio gilt: Wie er war zu aller Zeit, so bleibt er in Ewigkeit; eine Figur, die sich jedem Wandel in unerschütterlicher Resistenz entzieht. Ein starres Gegenbild zu Don Giovannis ewig geschmeidiger Wendigkeit, das ebenso erschreckende Züge trägt.

Gruber realisiert das magnetische Prinzip von Anziehung und Abstoßung in einem Bühnenbild von Roy Spahn, das sich konsequent durchgeformt jedem opulenten Dekorationswillen entzieht. Arnold Böcklins Bild „Odysseus und Kalypso“ als – immer wiederkehrendes – Element signalisiert, dass mythische Bezüge und seelische Abgründe in dieser Inszenierung ihren Platz finden. Hinter Türen, die an Blaubarts Kammern erinnern, hausen Gespenster: weiße Frauen, bleiche Bräute, von Don Giovanni ihres Lebens beraubt – ein kluger Hinweis auf die Verschränkung von Sex, Tod und Teufel, wie wir sie etwa in Heinrich Marschners „Der Vampyr“, einer Schlüsseloper der Romantik, wiederfinden.

Unverzichtbar für Grubers tiefgründige Arbeit am „Don Giovanni“ erweisen sich die bedeutungsvollen Kostüme Mechthild Seipels. Endlich einmal keine Kostümbildnerin, die sich in Designer-Klamotten oder Disco-Fetzchen flüchtet, sondern Epochen und Stile in den Dienst einer Deutung stellt. Donna Annas Robe erinnert an Madame Bovary oder Anna Karenina; Donna Elvira trägt den – stellenweise anzüglich geschürzten – barocken Aufwand einer Heroine zur Schau; Don Ottavio tritt in blauem Morgenmantel als getreue Kopie des ermordeten Komturs, später mit dem unauffälligen Anzug der Arrivierten und der Mütze einer Burschenschaft auf. Leporello verweist mit zerbrochenen Handschellen auf eine spezielle Beziehung zu seinem Herrn; Masetto und Zerlina sind in der Gegenwart verortet: Sommerkleidchen und Handtasche, Hornbrille und Karo-Pullover. Vielsagende Kostüme also, die mit der Dynamik oder Statik der Figuren im Verlauf des Stücks korrespondieren.

Dass der Komtur am Ende mit einer angedeuteten Mitra und einer monströs verunstalteten Gesichtshälfte wiederkehrt, wird der Figur gerecht: Er ist Vertreter der Hölle ebenso wie Symbolfigur für die göttliche Ordnung der Welt. Dass der finale Übergriff Don Giovannis – die Herausforderung des Göttlichen – seinen Untergang auslöst, spielt in Grubers Lesart freilich kaum eine Rolle; der blasphemische Zug der Figur Don Giovannis wird nur einmal in einer Parodie des geneigten Hauptes Jesu am Kreuz angedeutet.

Gruber zeigt die Personen des Stücks im Bannkreis eines Don Giovanni, der seinerseits seltsam ungreifbar bleibt – und damit bildet die Regisseurin den Charakter des Bühnenhelden präzis ab. Mozart hat ihm keine selbstreflektierende Musik gegeben, nur einen musikalischen Rausch, ein „perpetuum mobile“, und ein verlogenes Ständchen. Zutreffend beschreibt Dramaturg Alexander Meier-Dörzenbach im lesenswerten Programmheft Don Giovanni als „seelisches Sinnbild“, das vor allem ex negativo in den anderen Figuren zu finden ist. Don Giovanni als Nicht-Existenz, als Kraftfeld, als Chimäre – die perfekte Chiffre des Bösen.

Auf diesen „Don Giovanni“ sich einzulassen, lohnt sich; er ist auch der verästelten Inszenierung Stefan Herheims in Essen überlegen, weil Karoline Gruber die Bild- und Bewegungswelt bündelt statt sie assoziativ schweifen zu lassen. Auch musikalisch beschert diese – für die Nikikai Opera Foundation in Tokio entstandene und an die Deutsche Oper übernommene – Produktion viel Mozart-Glück. Friedemann Layer, ans Pult der Duisburger Philharmoniker zurückgekehrt, durchschwimmt zwar das Adagio der Ouvertüre eher, bekommt aber schnell Boden unter die Füße und entfaltet einen kernigen, nervigen, klarsichtigen Mozart-Sound. Die Tempi sind nicht übertrieben; das Cello lässt in der Begleitung der Rezitative aparte Farben zu.

In der Sängerliste überwiegen Namen aus dem Osten; entsprechend hört man eine gesangliche Stilistik, die mit Mozarts Eleganz wenig anzufangen weiß. Roman Polisadov orgelt sich durch die paar Sätze des Komturs; Olesya Golovneva bringt zwar die dramatische Substanz für die Donna Anna mit, findet aber erst in der – dann aber meisterlich gestalteten – Arie „Non mi dir, bell‘ idol mio“ zu ausgeglichenem Singen und einer flüssigen Tonproduktion. Nataliya Kovalova müht sich mit flach hupenden Tönen um die Donna Elvira, ohne für eine ihrer Arien die technische Façon zu gewinnen. Alma Sadé treibt zwar den einen oder anderen Ton ohne Leichtigkeit in die Höhe, versteht sich aber auf gut phrasiertes Singen mit unverkrampften Linien. Darin tut es ihr Torben Jürgens als Masetto gleich: ein musikalisch erfreuliches Paar. Corby Welch scheint nicht seinen besten Abend gehabt zu haben; sein Tenor ist zwar präsent und treffend timbriert, bleibt aber seltsam schwammig in der Tonemission, als fehle ihm die rechte Fokussierung.

Laimonas Pautienius verfügt über einen flexiblen Bariton, fast immer leicht ansprechend und schlank geführt, beweglich im Rezitativ: ein überzeugender Don Giovanni, der die Farben der Ironie und der Willensstärke ebenso hat wie einen träumerischen voix mixte – Klang für das Ständchen („Deh, vieni alla finestra“). Nur in seiner Arie kommt er an die Grenze seines Atems. Den vokalen Glanzpunkt des Abends setzt Adam Palka als Leporello mit einer sicher positionierten, im Klang fülligen, konturscharfen Stimme, die nicht nur sauber artikulierend, sondern auch rhetorisch brillant und charakterisierend eingesetzt wird.

Der „Don Giovanni“ ist wieder ab 7. Dezember in Düsseldorf zu erleben. Hingehen!