Es war ein Sommer ohne Festivals – aber Innsbruck trotzt dem Virus mit einer römischen Prachtoper

Die Menschen baumeln an den Schicksalsfäden. Szene aus „L’Empio punito“ bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik. Foto: Birgit Gufler

Ein öder Sommer verblasst über der Landschaft der Festivals. Von Schleswig-Holstein bis Macerata, vom Rheingau bis nach Griechenland – alles abgesagt. Leer lag das Nest in Bayreuths prangendem Saal, allzu früh schwand die Triennale an der Ruhr und still lag das Wildbader Tal im Schwarzwald, wo sonst Rossinis liebliche Melodiegirlanden in den Himmel der Musik flattern.

Seit den hungerschlotternden Nachkriegsjahren nach 1945 hat es keinen solchen tonlosen Sommer mehr gegeben. Die Folgen für die Künstler und die Veranstaltungsbranche sind fatal, von den Millionenverlusten für Reise- und Gastro-Gewerbe ganz zu schweigen.

Wie hoch der künstlerische Verlust ausfällt, lässt sich wohl nur schwer einschätzen. Sicher fehlt kaum etwas, wenn das „Traumpaar“ Netrebko – Eyvazov nicht ein weiteres Mal vor beseligten 400-Euro-Karten-Besitzenden altbekannte Opernschlager schmettert. Doch dass Salzburg sein 100jähriges Bestehen geschrumpft und glamourarm begehen musste, war ein herber Schlag, den das Festival mit Mut und Zähigkeit – und einem künstlerisch beachtlichen Ergebnis – abzufedern wusste.

Zu bewundern ist, wie sich im gebeutelten Italien Festivals dagegen gewehrt haben, einfach von der Landkarte zu verschwinden: Pesaro mit einem ehrgeizigen Rossini-Rumpfprogramm. Torre del Lago, wo der Dirigent Enrico Calesso eine hochgelobte „Madama Butterfly“ musikalisch erblühen ließ. Oder Verona, wo sich Intendantin Cecilia Gasdia und ihr Team nicht kleinkriegen lassen wollten und das steinerne Riesenrund wenigstens mit Puccinis hintersinniger Komödie „Gianni Schicchi“ mit Leben füllten. Doch was schmerzlich fehlt, sind die vielen sommerlichen Aktivitäten, die Kultur in die Fläche bringen, die sich originellen Programmen und Entdeckungen widmen wie das Festival „Raritäten der Klaviermusik“ in Husum, die jungen Künstlern die Chance eines Auftritts oder die Gunst gemeinsamen Arbeitens und Lernens gewähren.

Neustart an Ruhr und Inn

Der Mut eines verzweifelten „Dennoch“ nützt leider nichts gegen ein Virus, das unbeeindruckt an Körperzellen andockt, sein Erbgut einschleust und sein Zerstörungswerk weiterträgt. Aber dieses „Dennoch“ gibt es, abgesichert durch peinlich genau erarbeitete Hygienekonzepte, viel logistischen Aufwand und strikte Disziplin im Publikum. Das Ruhrgebiet spielte dabei eine international beachtete Vorreiterrolle, als das Klavier-Festival Ruhr bereits im Juni wieder mit Konzerten begann.

Aber auch Musiktheater sollte möglich sein und die Menschen wieder erreichen: Davon waren die Festwochen Alter Musik in Innsbruck überzeugt. „Euphorisch“ kündigte Intendant und Dirigent Alessandro de Marchi die 44. Festwochen an: Beide geplanten Opern konnten – wenn auch in adaptierter Form – aufgeführt werden, darunter nach einer neuen kritischen Ausgabe Ferdinando Paërs „Leonora“ von 1804 mit dem Libretto von Jean Nicolas Bouilly, das Beethoven ein Jahr später für seinen „Fidelio“ heranzog. Das Werk sollte neben den Opern von Johann Simon Mayr und Pierre Gaveaux auf den gleichen Stoff beim Beethoven-Fest in Bonn gezeigt werden – im vorläufigen Programm 2021 sind sie leider nicht mehr enthalten.

Das neue Innsbrucker Haus der Musik. Foto: Werner Häußner

Der zweite Opernabend, aus dem Innenhof der Theologischen Fakultät verlegt ins neue „Haus der Musik“, kleidete Alessandro Melanis „L’Empio punito“ („Der bestrafte Frevler“) in eine vollgültige szenische Aufführung mit zehn Darstellern auf der Bühne und einem Elf-Musiker-Orchester vor dem Podium. Die Oper, auf der Basis eines Autographs aus der Vatikanischen Bibliothek von Musikwissenschaftler Luca della Libera kritisch ediert, gilt als früheste musikalische Adaption des 1630 im Druck erschienenen Don-Juan-Dramas von Tirso de Molina.

Von Spanien nach Makedonien

Melanis Werk ist ein Dokument für die kulturellen Verflechtungen im Europa der Mitte des 17. Jahrhunderts. Der Komponist stammt aus einer musikalischen Sippe in Pistoia, zu der sein komponierender Bruder Jacopo und der Kastratensänger (und Spion) Atto Melani gehörten. Aus Pistoia stammt auch Papst Clemens IX., der Melani kurz nach seiner Wahl 1667 zum Kapellmeister der römischen Basilika S. Maria Maggiore berief. Auch als Opernkomponist glänzte Melani; Aufführungen seiner Werke sind aus Bologna, Siena, Florenz und Reggio Emilia dokumentiert. Zwei Jahre später eröffnete eine der einflussreichen römischen Familien, die Colonna, ihr neues Theater mit Melanis „L’Empio punito“. Das aufwändige Werk, in Innsbruck von mehr als vier auf zweidreiviertel Stunden gekürzt, bot ein rauschendes Fest: 67 Statisten und 16 Bühnenbilder sorgten für Pracht und Prunk.

Auch wenn die Nähe zu Tirso de Molinas Don Juan in vielen Details deutlich wird: Melani und sein Librettist Filippo Accaiuoli passten den Stoff geschickt an die Bedürfnisse ihres Publikums an. Bei der Verlegung des Schauplatzes aus Sevilla in ein sagenhaftes Makedonien war wohl weniger die Zensur bestimmend. Eher die Erwartung der für griechische Mythologie aufgeschlossenen „Arkadier“, die zudem spanischer Literatur schlechten Geschmack attestierten. Accaiuoli war später einer der ersten Mitglieder der „Accademia dell’Arcadia“ die auf Literatur und Dichtung in Europa einen erheblichen Einfluss ausüben sollte – nicht zuletzt durch den Patriarchen aller Librettisten, Metastasio, auch auf die Oper.

Arkadische Gelehrsamkeit und derbes Volkstheater

Fingierte Vergiftung: Atamira (Theodora Rafti) mit ihrem untreuen Ehemann Acrimante (Anna Hybiner). Foto: Birgit Gufler)

So wird also aus Don Juan ein „Acrimante“ und aus dessen Diener Catalinon (bei Mozart: Leporello) ein „Bibi“, eine herrlich pralle Komödienfigur. Der „Wüstling“ bei Melani verführt keine Frauen am laufenden Band, sondern verguckt sich nach einem Schiffbruch sofort in Ipomene, die Schwester des Königs Atrace von Makedonien, die dummerweise aber bereits mit seinem besten Freund Cloridoro verbandelt ist. Seiner Ehegattin Atamira dagegen gibt Acrimante einen brutalen Korb nach dem andern, aber dieser Schatten der späteren Mozart’schen Donna Elvira bleibt ihm verbunden bis hin zu einem fingierten Giftmord. Sie wird so zum spannendsten Charakter der Stücks, das auf der anderen Seite mit Bibi und der Amme Delfa ins derbe Volkstheater greift, dem auch obszöne Anspielungen nicht fremd sind – von wegen Zensur also.

Das Ende kennt den steinernen Gast und den Höllensturz Acrimantes, nicht aber Tirso de Molinas moralische Schlussfolgerung: Der spanische Dramatiker aus dem Orden der Mercedarier macht seinen Zuschauern unmissverständlich klar, dass sie wie der Spötter Don Juan „des Staubes Kleid“ tragen, ihre Lebensfrist unkalkulierbar und das Gericht Gottes jederzeit zu erwarten ist. Dort bleibt dann „keine Schuld unbezahlt“. In Melanis Oper fährt Acrimante in die Unterwelt, weil er seine Seele dem Gott der Toten, Pluto, versprochen hat, der ihm vorher in einer Traumszene den Orkus als einen Ort neuer Liebesfreuden vorgegaukelt hat – wer denkt nicht an Wagners Venus, wenn er die Göttin Proserpina rufen hört: „Zum Vergnügen, zu den Freuden“? Unser Proto-Don-Giovanni darf dann noch mit Charons Nachen die Wellen des Styx zum Hafen des Acheron kreuzen, bis er endlich in den Tartarus gelangt. Ein Finale, in dem die dramaturgische Folgerichtigkeit immer brüchiger wird.

Heitere Oberfläche ohne Kratzer

Anna Hybiner singt die Rolle des bestraften Frevlers Acrimante. Foto: Franziska Schrödinger

Daher ist es auch schwierig, aus Melanis „Empio punito“ einen roten Faden herauszulösen. Eher drängt sich der Eindruck auf, es gehe um eine geistvolle, gelehrte Unterhaltung, die gleichermaßen die Lust am schlüpfrigen Witz, das Interesse an antiker Mythologie und einen Hauch katholischer Bestrafungstheologie miteinander verbindet. Die Innsbrucker Inszenierung von Silvia Paoli hält diese inhaltlichen Elemente leichtfüßig in der Schwebe: Drei graue Wände genügen in Andrea Bellis Bühne, um die verspielten Kostüme von Valeria Donata Bettella wirken zu lassen: eine fröhliche Mixtur aus spanischen und barocken Schnitten, Trachten à la tyrolienne und Commedia dell’arte-Anklängen; Acrimante und Atamira in noblem Schwarz, das Personal schon mal in Lederhose.

Die vier Stallknechte, die frappierend ähnlich zu Lorenzo da Pontes Eröffnungsszene für Mozarts „Don Giovanni“ über die Plage des Arbeitens murren, sind beflügelte Amoretten in kurzen Höschen. Sie ziehen die Fäden des Geschicks, lassen die Figuren an roten Schnüren baumeln, werfen sich manchmal von den handelnden Personen unbemerkt ins Geschehen, steuern sie als Puppenspieler von oben. Was ist Schicksal, was Verhängnis, was eigene Entscheidung? Die Frage bleibt offen, wird im lebendigen Spiel auch nicht weiter thematisiert. Die heitere Oberfläche bekommt keine Kratzer. Nur die bezaubernden Lamenti, die Melani seinen Sängern schrieb, bringen den Hauch von Wehmut mit, der die Marionetten zu Menschen wandelt.

In solchen Momenten, etwa der bewegenden Arie der Atamira „Piangete occhi“, zeigt Melani, dass er den Kontakt zur „alten“ Musik eines Claudio Monteverdi nicht verloren hat und sich mit seinen berühmten Zeitgenossen wie dem Innsbrucker Hofkapellmeister Antonio Cesti oder dem jüngeren Alessandro Scarlatti messen kann. Im turbulenten Spiel korrespondiert seine Musik mit der raschen Folge der Szenen, passt sich in Kurzarien, freien Ariosi und treffsicheren Rezitativen dem dramatischen Fluss an. Sein vielgestaltiger, pointierter Umgang mit dem Rhythmus hebt ihn aus seinen Zeitgenossen heraus.

Spielfreude bei den jungen Sängern

Die jungen Sänger, allesamt Teilnehmer des Innsbrucker Cesti-Gesangswettbewerbs, erfüllen mit ihrer modisch harten, gelegentlich zu flachem Ansatz neigenden Tonbildung Melanis vokale Anforderungen in Rhythmus und Phrasierung recht geschickt. In der flexiblen Färbung des Klangs kommen sie an Grenzen – so etwa Theodora Raftis in den Arien der Atamira, aber auch Dioklea Hoxha als Ipomene. Die Titelfigur Acrimante wirkt weder gierig noch zynisch (wie später Molières Don Juan), sondern bleibt ein lüsterner Galan, wie ihn manch andere Opern dieser Zeit kennt. In der Uraufführung von einem Kastraten gesungen, wird er in Innsbruck dem Mezzo Anna Hybiner anvertraut. Die Sängerin, derzeit am Nationaltheater Mannheim in der Uraufführung von Hans Thomallas „Dark Spring“ zu erleben, setzt das Unbekümmerte ins stimmliche Licht, aber auch die bittere Erkenntnis, im Vergnügen wie im Leiden stets allein gewesen zu sein.

Der Berater des Königs, Tidemo (Juho Punkeri, links) wird ermordet und kommt als steinerne Statue wieder. Andrew Munn ist der König Atrace, der am Ende die von ihrem untreuen Gatten befreite Atamira heiratet. Foto; Birgit Gufler

Allein schon wegen ihrer unbändig spielfreudigen Partien werden Lorenzo Barbieri als Bibi mit allzu losem Mundwerk und der Tenor Joel Williams als mit allen Wassern gewaschene Amme Delfa in Erinnerung bleiben. Nataliia Kukhar zeigt mit ihrem in der Emission nicht ganz kontrolliertem Mezzo bewegende Gestaltungskunst in der Klage des Cloridoro „Uccidetemi, sospiri“. Der Bass Andrew Munn verfügt nicht über den Kern in der Stimme, um die königliche Autorität seiner Partie des Atrace zu vermitteln.

Als Dirigentin des Barockorchester:Jung fördert Mariangiola Martello einen geschmeidig weichen, manchmal allzu kantenlosen Klang, hebt aber den variationsreichen Rhythmus Melanis hervor und verzahnt vor allem die breiten melodischen Arienteile sensibel mit den Sängern. Dass die Wut der Sturmmusik ebenso wie die komisch überzogenen Tremoli zu Bibis Höllenangst wirkungsvoll platziert sind, dafür sorgen Florian Brandstetter und Tabea Seibert mit den Blockflöten sowie Bálint Kovács mit dem Fagott. Melani hat über dem Basso continuo zwei Melodiestimmen ausgeschrieben, die gewagt gesetzte Harmonien zulassen, und notiert Hinweise auf eine Instrumentierung. Die Harfen im Continuo hatte man sich in Innsbruck gespart; alles andere aber klang sehr stilsicher und ausgefeilt – auch wenn sich Melanis Musik dramatischer, flammender denken lässt. Eine Bühnenproduktion in Deutschland wäre nach der Erstaufführung 2003 beim Bachfest Leipzig mal wieder fällig; vielleicht gibt Innsbruck einen Anstoß dazu.




Magierin am Schlagzeug – Evelyn Glennie und die Dortmunder Philharmoniker retten Alberich

Evelyn Glennie, Schlagzeugerin von Gnaden, gastierte bei den Dortmunder Philharmoniker. Foto: Jim Callaghan

Evelyn Glennie, Schlagzeugerin von Gnaden, gab sich die Ehre bei  den Dortmunder Philharmonikern. Foto: Jim Callaghan

Am Ende von Richard Wagners „Götterdämmerung“, die den vierteiligen „Ring des Nibelungen“ beschließt, ist eben jener Nibelung, Alberich, mit dem alles begann, verschwunden. „Er ist entmachtet – schlimmer: er scheint vergessen“, schreibt der Wagnerexeget Peter Wapnewski. Und in der Tat: Alberichs letzter Auftritt, eine düster somnambule Begegnung mit dem Sohn Hagen inmitten der „Götterdämmerung“, ist zugleich sein gespenstischer Abschied aus dem Zyklus.

Wagners Opernmythos im Allgemeinen, besonders aber das geheimnisvolle Abtauchen des Auslösers dieses Strudels aus Fluch, Verrat und Mord, endend erst im reinigenden Weltenbrand, inspirierte den Amerikaner Christopher Rouse zur Komposition des Stücks „Der gerettete Alberich“.

Es soll offenbar eine Art Ehrenrettung sein. Der Nibelung darf sich noch einmal austoben, in Form eines Konzerts für Schlagzeug und Orchester. Weil Rouse diesen Fiesling als Getriebenen, Ausgegrenzten sieht, dessen üble Taten als Abwehr zu verstehen sind. Der musikalische Fortgang ist indes alles andere als ein Freispruch: Das Wüten fasziniert, verschreckt zugleich und endet nicht in Wohlgefallen. Im Grunde verschwindet Alberich erneut.

Nun haben die Dortmunder Philharmoniker dieses außergewöhnliche Werk in ihr Programm genommen. Und mit der Solistin Evelyn Glennie die Grande Dame des Schlagzeugs gewonnen, eine Könnerin von Gnaden, Magierin des Rhythmus, die gleichermaßen impulsiv wie konzentriert zu Werke geht. Ja, die britische Musikerin ist ein Phänomen, hat sie doch bereits im Kindesalter den Großteil ihres Gehörs verloren.

Mario Venzago, Gastdirigent des Dortmunder Orchesters. Foto: Alberto Venzago

Mario Venzago, Gastdirigent des Dortmunder Orchesters. Foto: Alberto Venzago

Das wilde Spiel des Alberich beginnt ohne ihn – wenn das Orchester unter Leitung von Mario Venzago die letzten Takte eben der „Götterdämmerung“ intoniert, noch einmal das Liebesmotiv aufklingen lässt. Dann erst ergreift Glennie, kniend, als gelte es, eine Beschwörung einzuleiten, das hölzerne, hohle Guiro (ein lateinamerikanisches Schrapinstrument), und erzeugt durch Reibung eine krächzende Geräuschkulisse. Fast klingt es wie das hämische Lachen des Nibelungen.

Das Orchester grummelt einstweilen vor sich hin, dann aber steigt die Erregung, die Solistin hämmert auf Woodblocks und Tom Tom ein, das Tempo zieht massiv an, um sich alsbald zu beruhigen. Das Fluch-Motiv macht sich breit, Glennie nutzt es zu einer Kadenz auf dem Marimbaphon, bis sich schließlich die Musik in einem dissonanten Schrei entlädt. Höhepunkt vor dem Ausklang: das orgiastisch anmutende perkussive Duell zwischen der Solistin und den wunderbaren Schlagzeugern der Philharmoniker.

Trotzdem ist der Komponist Rouse kein Neutöner. Er nimmt Wagners Motive, teils im Original, teils verfremdet oder in Verschränkung, und webt sie ein in seine Musik, die auf die Collagetechnik Charles Ives’ verweist, mitunter auch die „Rock meets classics“-Abteilung streift. Aufregend ist das allemal, zumal die Solistin, die das Stück bereits zur Uraufführung spielte, voller Elan zu Werke geht. Da bleibt kein Auge trocken, vielleicht aber der eine oder andere Wagnerianer ratlos zurück.

Umringt wird dieser „Alberich“ von Richard Strauss’ Tondichtung „Don Juan“ und Beethovens 7. Sinfonie. Alle drei Werke dirigiert Mario Venzago mit nervöser Energie, stets nach vorn gebeugt, wenn auch ohne größere körperliche Mätzchen. Gleichwohl schafft er es kaum, wo nötig, die Musik zu beruhigen. Oft fehlt es an dynamischer Ausgewogenheit. Der berühmte rauschhafte Aufschwung des „Don Juan“ klingt nicht wie aus einem Guss, die unterschwellige, betörende Erotik kann sich selten großzügig verströmen. Die Feinheiten der Strauss’schen Instrumentationskunst gehen im fahrigen Dirigat unter. Dieser Verführer rast wie ein Gespenst an uns vorbei.

In Beethovens großer Sinfonie vom Rhythmus wiederum geht es kontrollierter zu, klingen die Aufschwünge des 1. Satzes aber ziemlich kurzatmig, wird die dynamische Sprengkraft, der eruptive Gestus dieser Musik nicht wirklich ausgereizt. Und wo die Holzbläser es verstehen, schöne, warme Linien zu formen, bleiben andererseits die Hörner ungewöhnlich blass. So pendelt dieser Konzertabend zwischen Spannung und Enttäuschung.




Festspiel-Passagen IX: Lust am Neuen und Seltenen

Während Händel mittlerweile im Repertoire der Opernhäuser eine wichtige Rolle spielt, gibt es bei anderen Komponisten von Weltgeltung noch einiges zu entdecken. Unermüdliche Arbeit für Gioachino Rossinis breit gefächertes Opernschaffen leistet seit Jahren das Rossini Festival in Bad Wildbad. Intendant Jochen Schönleber legt besonderen Wert auf Sänger, die den zum Teil exorbitanten Ansprüchen Rossini’scher Partien entsprechen. In den vergangenen Jahren hat das Festival manchem jungen Belcantisten zum Durchbruch verholfen.

In Rossinis kurzer Farce „Adina ossia Il Califfo di Bagdad“ ließ vor allem eine Nebenrolle aufhorchen: Christopher Kaplan als Ali – Mitglied des Jungen Ensembles der Semperoper Dresden – verbindet darstellerische Präsenz mit einem wohlgeformten Tenor. Auch Rosita Fiocco würde man gerne wieder hören, auch wenn die Koloraturen noch etwas schwer im Ansatz gebildet sind. Antonio Petris‘ Regie bemühte sich ohne Erfolg, dem Werk eine interessante Seite abzugewinnen. Ausnahmsweise mal ein Rossini, der für die Bühne zu Recht vergessen werden kann.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

2013 wird solches wohl nicht der Fall sein: So wie in diesem Jahr Rossinis „Semiramide“ steht dann das monumentale Abschlusswerk von Rossinis Opernschaffen im Programm: „Guillaume Tell“, konzertant und so vollständig wie möglich. Ein geradezu vermessenes Vorhaben; eine Herausforderung, der man sich in den Staatsopern-Sphären von Berlin oder München bisher nicht zu stellen wagte.

Auf keinen Fall wieder in die Geschichte zurücksinken sollte die andere Rarität des Wildbader Festivals 2012: „I Briganti“ ist eine nach Schillers „Räubern“ entworfene Oper Saverio Mercadantes. Uraufgeführt 1836 in Paris, war sie ein von Rossini unterstützter Versuch, Paris für diesen damals in Italien weithin bekannten Kollegen zu gewinnen. Ein Projekt, das trotz exquisiter Sängerriege scheiterte: Mercadantes konservativer Ansatz, zu sehr dem italienischen „Melodramma“ verpflichtet, konnte sich gegen die moderne Oper Giacomo Meyerbeers nicht durchsetzen.

Wildbad versuchte, das Stück erstklassig zu besetzen. Unter der wenig geschmeidigen, metrisch oft schematischen Leitung von Antonino Fogliani boten die Virtuosi Brunenses aus Brünn kaum mehr als eine solide Unterstützung der Solisten. Der hoch gelobte Tenor Maxim Mironov war als Ermano den virtuosen Anforderungen seiner Partie gewachsen, aber die Stimme hat Stetigkeit und warmen Klang zu gewinnen. Petya Ivanova als Amelia agiert wie eine Diva der fünfziger Jahre; ihre Stimme verliert im Lauf des Abends den Kontakt zum Körper, wird hart, dünn und im Klang prekär.

Bruno Praticó, der alte Haudegen, zeigt, wie es geht: Als alter Graf Moor entfaltet er im Duett mit seinem Sohn Ermano wundersam die Aura des technisch zuverlässigen Singens mit schier endlosen Bögen und sprechendem Klang. Die Regie ließ die Akteure alleine, die sich mit allen Peinlichkeiten abgelebter Opern-Gepflogenheiten über Wasser hielten und ständig auf den Dirigenten starrten. Mercadantes Oper aber sollte wegen ihrer dramatischen Anlage und ihrer feurig-sensiblen Musik einen Weg zu weiteren Inszenierungen finden.

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Weiter im Süden, in der Ostschweiz, brachten die siebten St. Galler Festspiele Hector Berlioz‘ „La Damnation de Faust“ auf die weiträumige Freilichtbühne vor der Kulisse der barocken Stiftskirche. Carlos Wagner inszenierte die „Legende dramatique“ als Welttheater mit Méphistophéles als Zirkusdirektor. Das wirkte nicht willkürlich bunt, sondern entspricht dem Charakter der Stücks.

Stellenweise verwies die Inszenierung den Zuschauer auf farbige Zeit-Panoramen und epische Großbilder, wie sie in Romanen von Charles Koster (Ulenspiegel), Victor Hugo (Der Glöckner von Notre Dame) oder Umberto Eco (Der Name der Rose) geschildert sind. Die Fantasie der Kostüme (Ariane Isabell Unfried) verhinderte peinliche Anklänge an Monumentalfilm-Ausstattungen; die Spielfläche (Rifail Ajdarpasic) mit ihren verschiedenen Ebenen und Plateaus ließ bewegungsreiches „Augenfutter“ zu. Dass er am Ende in einem Hamsterrad endet, lässt Méphistophéles ein wenig wie den betrogenen Teufel erscheinen: Sein Werk, Menschen – hier mit Hilfe von Marguerite als dienstbarem Geist – zum Bösen zu verführen, ist eine Sisyphusarbeit, die dank göttlicher Gnade und Barmherzigkeit zum vergeblichen Mühen verurteilt ist.

Berlioz‘ farbige und klanglich subtile Partitur eignet sich nicht für eine Freilicht-Produktion, bei der das Sinfonieorchester St. Gallen unter der Bühne sitzt und mittels Lautsprecher verstärkt wird. Da mag sich Dirigent Sébastien Rouland noch so um die Finessen mühen: Der Klang bleibt oft grob und eindimensional. In den Opern der letzten Jahre, von Gaetano Donizettis Sintflut-Rarität „Il Diluvio universale“ über die frühen Verdi-Opern „Giovanna d’Arco“ und „I Lombardi alla prima crociata“ – heuer in Erfurt bei den Domstufen-Festspielen wieder aufgenommen – war das weniger problematisch, weil deren Partituren nicht so visionär klanglich gearbeitet sind wie die Musik des französischen Orchester-Revolutionärs. Mit Verdis selten gespielter Oper „Attila“ steht Sankt Gallen im Juni/Juli 2013 – im 200. Geburtsjahr Verdis – wieder auf der sicheren Seite (Premiere am 21. Juni 2013).

In Nürnberg rückten die Internationalen Gluck-Opern-Festspiele zum vierten Mal einen Komponisten ins Blickfeld, der hohe akademische Ehren genießt, im Bühnenalltag aber nicht allzu häufig präsent ist. Dass es nicht an stiller Einfalt und edler Größe liegen kann, zeigte das Staatstheater Nürnberg mit einer bestürzend konsequenten Aktualisierung von Glucks „Ezio“. Das finstere Machtspiel verlegte Andreas Baesler – in Nordrhein-Westfalen durch Regiearbeiten in Gelsenkirchen, Essen oder Münster kein Unbekannter – in die Überdrussgesellschaft einer außer Rand und Band geratenen Wohlstandszeit.

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Erpressung, sexuelle Gewalt, Mord gehören zum Verhaltensrepertoire. Ein derart geschärftes, in die Gegenwart geholtes antikes Drama lässt nicht kalt. Zumal der Schauplatz passt: Hermann Feuchter und Lilith-Marie Cremer bauten in der Theater-Tiefgarage hölzerne Verschläge, bei denen nicht klar war, ob die Darsteller oder die Zuschauer Gefangene oder Gaffer sind.

Die Darsteller agierten auf gefährliche Weise präsent, und die Musiker der Accademia Bizantina, der Neuen Nürnberger Ratsmusik und der Nürnberger Musikhochschule gaben unter Leitung von Nicola Valentini Glucks Musik trotz der akustischen Probleme Schlagkraft und Kontur. Eine tiefsinnige Choreografie des immer erfolgreicher agierenden Nürnberger Ballettchefs Goyo Montero zum ewigen Mythos des Don Juan und eine konzertante Aufführung der Oper „Das Goldene Vlies“ des gebürtigen Nürnbergers Johann Christoph Vogel (1756 bis 1788) rundeten die Festspiele zu einer kurzen, aber entdeckungsreichen Zeit. Peter Theiler, bis 2008 Intendant des Musiktheaters im Revier, hat bisher immer wieder Opern für die Bühne wiederentdeckt. So bleibt zu hoffen, dass er seine Linie 2014 – im 300. Geburtsjahr Glucks – mit ebenso viel Lust am Neuen und Ungewöhnlichen fortsetzen wird.




Die Treue des Verführers – Peter Handkes Buch „Don Juan (von ihm selbst erzählt)“

Von Bernd Berke

Hier steht etwas, worüber sich Feministinnen ärgern dürften, nämlich ein Zitat über offenkundig devote Damen: „Ihn, Don Juan,…betrachteten jene Frauen als ihren Herrn, den alleinigen, auf immer…“

Der alte Mythos des Frauenverführers Don Juan lebt also wieder auf, unverfrorener denn je? Nicht doch! Peter Handke, der die legendäre Figur erscheinen lässt, meint „Herr“ ausdrücklich nicht im Sinne von „Gebieter“.

Überdies hegt der Autor ein eher keusches Verständnis von Verführung. Vom Körperlichen ist in seinem neuen Buch „Don Juan (erzählt von ihm selbst)“ nur im Vorübergehen die Rede, buchstäblich en passant: Dieser Don Juan ist ein Vagabund. Eines Tages aber sitzt er unvermittelt in Haus und Garten des namenlosen Ich-Erzählers auf der Île de-France (weit vor den Toren von Paris), lässt sich bewirten und erzählt dafür just eine Woche lang seine Erlebnisse der vorherigen sieben Tage. Der Gastgeber erweist sich als gutgläubiger Zuhörer.

Es herrschen Eigenmaß und Eigenzeit

Handke setzt Stunden und Orte nach Gutdünken, hier herrschen Eigenmaß und Eigenzeit. In sieben Ländern, so die Geschichte, sei Don Juan in jenen sieben Tagen gewesen – die immense Strecke reicht von Georgien über Syrien und die nordafrikanische Enklave Ceüta bis nach Holland und Norwegen. Und überall hat Don Juan je eine bestürzend einsame, doch wunderschöne Frau so besonders angeschaut, dass sie ihm gleich verfallen ist. Sein Blick weckte ihr Begehren. Er selbst nennt diese Phase füglich seine „Frauenzeit“. Don Juans Diener lieferte derweil die Farce, indem er sich jeweils die hässlichsten Frauen aussuchte und sie halb lüstern, halb widerstrebend herzte.

Um Sexualität geht es bei Handke allenfalls unterschwellig, auch wenn da anfangs ein Geschlechtsakt in freier Natur zelebriert wird. Doch sein Don Juan ist auf anderes aus: auf den heiligen, alles umfassenden Eros, auf eine innere „Bewegung“, die den ganzen Leib und Geist ergreift, kurzum auf Erweiterung des Bewusstseins, das sich öffnet für die reine Wahrnehmung der vollen Welt.

Belagert von Amazonen

Don Juans karge Berichte, die so vieles aussparen, ziehen gleichwohl den Ich-Erzähler des Buches in Bann. Als gegen Ende die versammelten Frauen sein Refugium bedrohlich wie Amazonen belagern, blüht seine Hoffnung aufbessere Tage: „Sogar ich, der, was Frauen anging, mich längst als ausgezählt ansah, dachte… auf der Stelle: / ,Zählt mich neu dazu.‘ Mit diesen Frauen da war noch etwas zu erleben – Gott weiß was.“

Auch dabei geht’s wohl nicht um Orgien. Zitat: „Ich kann es bezeugen: Don Juan ist ein anderer. Ich sah ihn als einen, der treu war – die Treue in Person.“ Doch wem ist er treu? Sich selbst? Einer Vielzahl von Frauen? Seiner untröstlichen Traurigkeit, allen Frauen zum Trotz? Der Leser darf es für sich entscheiden.

Vergleichsweise heitere Prosa

Zwischendurch gerät Don Juan in arge Verwirrung und krankhaften Zählzwang, er wird im rein zeitlichen und mitmenschlichen Sinne „taktlos“. Doch das gibt sich. Wie dies denn überhaupt eine vergleichsweise heitere Handke-Prosa ist.

Der Autor bekräftigt Visionen und Erleuchtungen mit allemal sorgsam abgewogenen Worten, zudem mit allerlei Doppelungs-Formeln wie „noch und noch“ oder gar „gelbgelb“, wenn es denn unvergleichlich gelb sein soll.

Dringlich wirkt diese Erzählweise, doch oft auch wunderbar entspannt wie ein langes Mantra. Es macht tatsächlich Lust aufs Unterwegssein, auf Ruhe im steten Wandel – und noch auf manches mehr…

Peter Handke: „Don Juan (von ihm selbst erzählt)“. Suhrkamp. 159 Seiten; 16,80 Euro.