Heillos verknäult, filigran entwirrt: Donna Leons 31. Brunetti-Fall „Milde Gaben“

Langsam erwacht Venedig aus dem Tiefschlaf der Pandemie. Die Masken fallen, die Touristen strömen in die Lagunenstadt. In den Bars gönnt man sich einen Blick in die Zeitung, einen Espresso und ein süßes Teilchen, bevor es ins Büro geht. Auch einige Läden, die den Lockdown überstanden haben, öffnen ihre Pforten.

Doch während viele Gewerbetreibende aufgeben mussten, haben andere mit miesen Tricks große Profite gemacht, Scheingeschäfte eröffnet, um Corona-Hilfen abzugreifen. Im „Gazzettino“ kann Commissario Brunetti die ekligen Details über die Folgen der Pandemie nachlesen. Er hat genug Zeit zur Lektüre. Denn Mord und und Diebstahl haben auf das Virus reagiert und gehen gegen Null. Dass sich das schon bald ändern und sein kriminalistischer Spürsinn gefragt sein wird, ahnt Brunetti. Doch bis es so weit ist, lässt er seinen Gedanken freien Lauf, liest seine geliebten griechischen Klassiker und versucht seine Gattin Paola zu beruhigen. Die Spezialistin für englische Literatur ärgert sich darüber, dass an ihrer Universität eine junge Kollegin Karriere macht, die wissenschaftlich wenig leistet, aber die richtigen Kontakte hat und die alten Professoren um den Finger wickelt. Ist das Geplänkel über den Geschlechter-Krieg vielleicht ein erster Hinweis auf kommendes Unheil, dem sich der Commissario wird stellen müssen? Und warum will Tochter Chiara mehr wissen über die „Orestie“ und Klytämnestra, die sich betrogen, verraten und missachtet wähnt und zur blutrünstigen Rachefurie wird?

Donna Leon ist Meisterin der verwischten Spuren und falschen Fährten, des langen Anlaufs, der versteckten Andeutungen und des scheinbar Nebensächlichen, hinter dem sich ein Abgrund an Missgunst und Neid, Hass und Gier auftut. In ihrem neuen Roman „Milde Gaben“ spannt sie die Leser besonders lange auf die Folter. Wir sind bereits auf Seite 32, bis der aus pandemischer Melancholie mühsam erwachende Brunetti aus dem Mund einer ihn in der Questura aufsuchenden alten Bekannten einen Satz hört, der ihn aufhorchen lässt. Elisabetta Foscarini ist besorgt um ihre Tochter Flora, eine Tierärztin, verheiratet mit Enrico, einem Steuerberater und Buchprüfer. Nach einem Streit habe er „etwas gesagt, das sie das Schlimmste befürchten lässt.“ Was genau das sein soll, kann sie nicht benennen. Es dauert weitere 10 Seiten, bis Brunetti seiner Freundin aus verklärten Kindertagen einen Seufzer entlockt: „Ich fürchte, er tut etwas Schlechtes.“

Brunettis Jagdfieber ist geweckt. Aber wonach soll er suchen? Woher nimmt Elisabetta diese nebulösen Anschuldigungen, beruhen sie auf Einbildungen oder konkreten Fakten? Brunetti schart seine Mitarbeiter um sich, den leutseligen Inspektor Vianello, die hartnäckige Kommissarin Griffoni, Computer-Spezialistin Signorina Elettra, die noch jede Datenbank geknackt hat. Bald schon haben sie den Verdacht, dass sie von der sich – angeblich – um ihre Tochter sorgenden Mutter nur benutzt werden, um hinter die Fassade ehrbarer Dienstleistungen zu blicken und kriminelle Machenschaften und menschliche Verfehlungen ans Tageslicht zu fördern, die ihren Stolz und ihre Ehre verletzen, Betrug und Verrat, bei dem sie sich missachtet, ausgeschlossen und zurückgesetzt fühlt.

Brunetti begreift langsam, dass es nicht ums das geht, was gesagt wird und offen zutage liegt, sondern um das, was verschwiegen wird und sich nur dem offenbart, der zwischen den Zeilen zu lesen und Zeichen zu deuten vermag. Als wäre Donna Leon eine Wahlverwandte von Semantik-Deuter Umberto Eco, macht sie Brunetti zu einem Wiedergänger von Mönch William von Baskerville, der in der labyrinthischen Bibliothek eines mittelalterlichen Klosters nach einem verschollenen Buch über die subversive Kraft des Lachens und die Gründe für eine Mordserie fahndet.

Im Labyrinth von Venedigs Gassen und Kanälen findet Brunetti Menschen, die lügen und betrügen und bereit sind, sich selbst und andere zu zerstören. Brunetti folgt der Spur des Geldes. Sie führt ihn zu den „Milden Gaben“, die Elisabettas Ehemann, Bruno del Balzo, den Armen und Notdürftigen zukommen lässt…

Donna Leon weiß, wie man Erzähl-Fäden erst heillos verknäult und dann filigran wieder entwirrt. Ein Genuss, ihr bei der leichthändigen Arbeit am literarischen Fein-Gewebe zu folgen.

Donna Leon: „Milde Gaben“. Commissario Brunettis einunddreißigster Fall. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich 2022, 344 S., 25 Euro. (Das Hörbuch, gelesen von Joachim Schönfeld, erschien gleichfalls bei Diogenes und kostet 18,95 Euro).




„Flüchtiges Begehren“: Mit dem 30. Fall bereitet Donna Leon ihren Commissario Brunetti auf den Abschied vor 

Wir müssen uns Donna Leon als glücklichen Menschen vorstellen. Nachdem die US-Amerikanerin einige Jahre um den Globus getingelt war und sich in verschiedenen Jobs ausprobiert hatte, fand sie in Venedig ihr privates Paradies und beschloss, Schriftstellerin zu werden.

Geschichte und Gegenwart der einstigen Handelsmetropole, das trübe Wasser der Lagune, die verwinkelten Gassen und der schöne Schein der Serenissima: genau der richtige Ort, um über Macht und Mafia und die Verbrechen nachzudenken, die aus Neid und Gier, Liebe und Hass begangen werden. Mit der Erfindung des unbestechlichen Commissario Brunetti, der sich schlafwandlerisch durch das labyrinthische Venedig bewegt, seine Familie abgöttisch liebt und sich in die Lektüre der alten Klassiker vertieft, um die menschlichen Abgründe besser verstehen zu können, gelang ihr auf Anhieb mit „Venezianisches Finale“ der Durchbruch zur Besteller-Autorin.

Um ihren Leidenschaften zu frönen, barocke Ensembles zu alimentieren und der geliebten Musik von Georg Friedrich Händel zu lauschen, wo immer sie zur Aufführung kommt, musste sie „nur“ jedes Jahr einen neuen Brunetti-Krimi schreiben. Die spezielle Melange aus venezianischem Flair, sanfter Ironie und einem Setting mit dem immer gleichen Personal (die kluge und warmherzige Gattin Paola, die engagiert-aufbrausende Tochter Chiara, der rebellisch-pfiffige Sohn Raffi, der beharrlich-bauernschlaue Mitarbeiter Vianello, die Internet-affine Elettra, der dumpfbackig-eitle Vorgesetzte Patta) war stets Garant für gute Unterhaltung. Dass der Autorin allmählich (beim 30. Fall) die Puste ausgeht und sie der Stadt Venedig und ihres sympathischen Commissario überdrüssig scheint, ist ebenso bedauerlich wie verständlich.

Es beginnt mit harmlosen Flirts

Der neue Band „Flüchtiges Begehren“ ist angekränkelt von menschlicher Trübsal und literarischer Trauer: Abschied liegt in der Luft, das Ende scheint nahe. Das spürt auch Brunetti. Er schleppt sich nur noch lustlos ins Büro. Er blättert in den Zeitungen, trinkt einen Espresso nach dem anderen. Wartet auf den Dienstschluss. Dass sich etwas menschlich Fehlbares ereignet, das sich bald zu einem widerlichen Abgrund weiten wird, merkt Brunetti erst, als ihn seine neue Mitarbeiterin, Claudia Griffoni, darauf hinweist. Sie ist kürzlich von Neapel nach Venedig versetzt worden, sorgt für Frauen-Power und verdrängt allmählich den Kollegen Vianello, der nur noch als Nebenfigur schattenhaft durch den Roman geistert.

Die kriminalistischen Verwicklungen beginnen ganz harmlos. Zwei venezianische Burschen flirten auf dem Campo Santa Margherita mit zwei jungen amerikanische Touristinnen, unternehmen mit dem Boot eine Spritztour durch die Lagune. In der Dunkelheit rammen sie einen Pfahl, stürzen durcheinander und verletzten sich schwer. Die verängstigten Männer legen die bewusstlosen Frauen auf einem Steg des Hospitals ab, bevor sie das Weite suchen. Entdeckt werden die Frauen nur, weil ein Krankenhausmitarbeiter nachts auf dem Steg eine Zigarettenpause macht. Die beiden Flüchtigen sind schnell ermittelt. Doch was steckt hinter dem Unfall und dem befremdlichen Verhalten der Männer? Was verschweigen die beiden? Wovor haben sie Angst?

Wer ist überhaupt frei von Mafia-Kontakten?

Um Licht ins Dunkel zu bringen, müssen Brunetti und Griffoni das Leben der beiden jungen Männer durchleuchten, die schon zusammen die Schulbank gedrückt haben und mehr als nur kumpelhafte Freundschaft füreinander empfinden. Der eine, Berto Duso, ist inzwischen Jurist, der andere, Marcello Vio, ist Handlanger seines Onkels, Pietro Borgato, der ein paar Boote besitzt, mit ihnen Waren durch die Lagune schippert und schon öfter ins Fadenkreuz der Hafenpolizei geraten ist. Doch bisher konnte man dem gewalttätigen Borgato nicht stichhaltig nachweisen, dass er Kontakte zur Mafia unterhält und sich als Schmuggler betätigt.

Bis Brunetti das Geheimnis von Berto und Marcello lüften kann und herausfindet, warum sich die beiden vor Borgato fürchten und in welche schändlichen Verbrechen der Bootsbesitzer verwickelt ist, vergehen Tage und Wochen. Aqua Alta, das herbstliche Hochwasser, schwappt durch Venedig, kalter Nebel legt sich wie ein grauer Schleier über die vom Massentourismus verschandelte Stadt. Brunetti verzettelt sich in einfühlsame Gespräche mit den beiden verschreckten Jungs und führt langwierige (und langweilige) Besprechungen mit Küstenwache und Carabinieri der Inseln. Wem kann er trauen und wer ist frei von Mafia-Kontakten?

Ein Wiedergänger des Sisyphos

Es ist ein Buch des Grübelns und Zweifelns. Lange bewegt sich fast gar nichts. Brunetti ist von Gott und der Welt verlassen, er wartet nur noch darauf, entweder sanft zu entschlafen oder endlich den gordischen Knoten des menschlichen Elends durchschlagen zu können. Auf einen langen, zähen Stillstand folgt irgendwann ein kurzes, tödliches Finale. Zurück bleibt Brunetti, der den Stein wieder allein den Berg hinauf rollen muss. Doch als glücklichen Menschen können wir ihn uns kaum mehr vorstellen. Eher als einen melancholischen Wiedergänger von Sisyphos, der kurz davor ist, alles hinzuschmeißen und für immer seinen Abschied zu nehmen.

Donna Leon: „Flüchtiges Begehren“. Commissario Brunettis dreißigster Fall. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich 2021, 315 S., 24 Euro.

(Auch das Hörbuch, gelesen von Joachim Schönfeld, ist bei Diogenes erschienen. Preis: 21,99 Euro in CD-Form, 528 Minuten)




Trübe Lauge: Donna Leons Kriminalroman „Geheime Quellen“

Immer sehnt sich der Mensch nach dem, was er nicht hat – oder in Zeiten von Corona nicht darf. Wäre es nicht herrlich, jetzt nach Venedig zu reisen, durch die leer gefegten Gassen zu flanieren, die von Trubel und Tourismus befreite Lagunenstadt genießen zu können? Mit dem Boot hinüberzusetzen auf den Lido und dort, unbehelligt von Ramschverkäufern und Strandanimateuren, zu spazieren oder eine erfrischendes Bad zu nehmen. Das würde bestimmt auch Donna Leon gefallen.

Wie sehr die amerikanische Autorin darunter leidet, dass ihre Wahlheimat durch den Massentourismus ausgelaugt und durch die pausenlos anlandenden Kreuzfahrtschiffe zerstört wird, hat sie immer wieder in ihren Romanen beschworen. Manchmal schien es so, als sei ihr Commissario Brunetti seiner von Sandalen-Touristen und Nippes-Läden verunzierten Stadt überdrüssig und er stehe kurz davor, seine Mord-Ermittlung und Mafia-Bekämpfung hinzuschmeißen und sich in irgendein abgelegenes Tal der Alpen zur Ruhe setzen zu wollen.

Doch Brunetti muss durchhalten und immer weitermachen. Statt seiner hat sich Donna Leon, die Erfinderin des kulturbeflissenen und melancholischen Kommissars, in die Schweizer Berge zurückgezogen und kommt nur noch gelegentlich nach Venedig. Wozu auch? Sie kennt sowieso jede alte Kirche, jeden bröckelnden Palast und jedes sich dort mal offen, mal versteckt abspielende Drama.

Der 29. Fall für Commissario Brunetti

In seinem nunmehr neunundzwanzigsten Fall muss Brunetti „Geheime Quellen“ suchen und herausbekommen, ob es bei der Wasserversorgung von Venetien mit rechten Dingen zugeht. Oder ob dunkle Mächte das klare Nass in trübe Lauge verwandeln und dabei auch noch ordentlich abkassieren. Es geht um Umweltsünden und Korruption, nackte Geldgier und fiese Gewalt. Aber auch um einsames Sterben und verletzliche Seelen. Doch bis Brunetti erkennt, wie gefährlich das Wasser ist, das er täglich trinkt, und welche Profite man damit erzielen kann, indem man es entweder reinigt oder verschmutzt, fließt einige eklige Brühe durch den Canal Grande.  

Es ist Sommer, die Hitze ist kaum zu ertragen. Der Anzug klebt Brunetti durchgeschwitzt am Körper. Doch während man früher zu jedem Espresso ein kostenloses Glas Wasser bekam, muss man jetzt dafür mindestens einen Euro blechen. Aber der Luxus-Ärger ist schnell verflogen, als Brunetti mit wirklichem menschlichen Elend konfrontiert wird. Eine von tödlichem Krebs zerfressene Frau von gerade einmal Anfang 40 lässt ihn zu sich ins Hospiz rufen. Bevor sie in seinen Armen stirbt, kommen noch ein paar kryptische Worte aus ihrem Mund. Ihr Mann, Vittorio Fadalto, der vor einigen Wochen (laut Polizei) bei einem Motorradunfall ums Leben kam, sei in Wahrheit ermordet worden. Außerdem habe er, um ihre teure Behandlung zu finanzieren, „schlechtes Geld“ genommen.

Gefährliche Wasserverschmutzung

Als Brunetti zu ermitteln beginnt, stößt er auf Ungereimtheiten, Widersprüche, Lügen und eine Mauer des Schweigens. Fadalto hat für ein Unternehmen gearbeitet, das die Reinheit des Trinkwassers untersucht, an Brunnen und Flüssen in Venetien sensible Messinstrumente installiert hat und jede Abweichung und Verunreinigung sofort erfasst. Aus den Unterlagen und Analysen der Firma, die Brunetti und seinen Mitarbeiter vorliegen, ist aber nicht ersichtlich, wie Fadalto Manipulationen vorgenommen und wofür er Geld kassiert haben könnte. Oder geht es vielleicht gar nicht um Wasserverschmutzung und Bestechung, sondern um blinde Eifersucht und verschmähte Liebe? Das Gefühlsleben der Mitarbeiter im Unternehmen gleicht jedenfalls einem stickigen, morbiden Dschungel. Musste Fadalto sterben, nicht weil er zu viel wusste oder zu gierig war, sondern weil er zu wenig Empathie für seine Untergebenen hatte und die Avancen einer liebeshungrigen Kollegin nicht erwidern mochte?

Als wäre all das nicht schon kompliziert genug, muss Brunetti sich auch noch mit einem nervigen Anliegen seines Vorgesetzten herumschlagen. Vice Questore Patta will Venedig besenrein machen und von allen Taschendieben befreien. Wenigstens für ein paar Tage, damit ein Zeitungsartikel ins Leere läuft, der sich mit dem kleinkriminellen Treiben von Roma-Banden beschäftigt und die Polizei von Venedig in ein schlechtes Licht rückt. Brunetti braucht wieder einmal viel Geduld und Fingerspitzengefühl sowie einige Vertraute, die zum einen Patta beruhigen und ihm in der Roma-Angelegenheit Sand in die Augen streuen, zum andern Brunetti dabei behilflich sind, das komplexe Geflecht aus kriminellen Fäden, emotionalen Verwicklungen und menschlichen Schicksalsschlägen in der Fadalto-Affäre zu entwirren.

Wenn Brunetti müde und verschwitzt nach Hause kommt, wartet nicht nur eine kalte Dusche auf ihn, sondern auch die Lektüre seiner geliebten griechischen Klassiker. Natürlich hilft ihm auch gern Paola, seine geduldige und kluge Gattin, mit einem Gläschen Wein den Sommer-Blues zu überwinden und den Fall aufzudröseln. Hoffentlich schickt Donna Leon ihren Commissario nicht so bald in Rente. Wir würden ihn und seine misanthropischen Gedanken vermissen. Und wann, bitte, dürfen wir wieder nach Venedig?

Donna Leon: „Geheime Quellen.“ Commissario Brunetti neunundzwanzigster Fall. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, 336 S., 24 Euro.




Grübeleien in Zeitlupe: Donna Leons 28. Brunetti-Krimi „Ein Sohn ist uns gegeben“

Es kommt nur selten vor, dass der in seinem venezianischen Palast residierende Conte Falier seinen Schwiegersohn eindringlich, ja fast flehentlich zum Gespräch bittet. Commissario Guido Brunetti fürchtet schon, dass er seinem oft in dunkle Geschäfte verwickelten Schwiegervater aus einer kriminellen Patsche helfen soll. Doch es kommt anders.

Der zerbrechlich gewordene Conte ist eher melancholisch gestimmt, fast ein wenig traurig. Lange Zeit räsoniert er über Freundschaft und Familie, Tradition und Werte. Es dauert – für den irritierten Brunetti genauso wie für ungeduldige Leser – eine gefühlte Ewigkeit, bis der Conte seine Sorgen offen auf den Tisch legt: Gonzalo Rodríguez de Tejeda, ein in Spanien geborener Freund aus alten Kindertagen, der es zunächst als Viehzüchter in Südamerika, später als Kunsthändler in Europa zu einem Vermögen gebracht hat und jetzt seinen Lebensabend in Venedig verbringt, scheint eine riesige Dummheit zu begehen. Als bekennender Homosexueller ist er zeitlebens ohne Kinder geblieben. Nun aber will er seinen jungen Liebhaber, den kaum jemand richtig kennt und der manchen etwas halbseiden vorkommt, als Sohn adoptieren.

Ist der junge Schnösel ein Erbschleicher?

Das späte Liebes- und Familien-Glück sei dem alten Mann von Herzen gegönnt. Doch mit der Adoption fiele im Todes-Fall das gesamte Vermögen an den jungen Schnösel. Was ist, wenn der junge Mann sich als Erbschleicher entpuppt und es nur darauf abgesehen hat, seinen reichen alten Liebhaber unter die Erde zu bringen?

„Ein Sohn ist uns gegeben“ ist Commissario Brunettis achtundzwanzigster (!) Kriminalfall, den er unter der Regie von Autorin Donna Leon lösen muss. Doch bis sich der mit einem langwierigen und verklausulierten Gespräch über familiäre Bande und freundschaftliche Verbindungen beginnende Roman wirklich zu einem „Kriminalfall“ entwickelt, fließt sehr viel Wasser durch den Canal Grande.

Als Liebhaberin der Antike hat Donna Leon ihren Commissario oft mit philosophischen Gedanken bekränzt, als Fan barocker Musik hat sie ihn gern in die Oper geschickt. Neid und Hass, Mord und Mafia: Das waren manchmal nur Beigaben zu einer intellektuellen Schnitzeljagd. Die war fast immer ziemlich spannend und überraschend. Das kann man jetzt leider nicht behaupten: So zeitlupenhaft und – Donna Leon möge es verzeihen – langweilig war wohl noch keiner ihrer Venedig-Romane.

Von den Schweizer Bergen herab auf Venedig blicken

Vielleicht ist ihr die Puste ausgegangen. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass sie – angeekelt von der Zerstörung ihrer Wahlheimat durch Massentourismus und Billigläden – Venedig nach Jahrzehnten verlassen hat und jetzt von den Schweiz Bergen aus auf ihre hassgeliebte Lagunenstadt hinunterblickt. Ihre Trauer und Melancholie haben auch alle Romanfiguren, insbesondere den Conte und Brunetti angesteckt. Rasender Stillstand. Und dann geht auch noch Signorina Elettra in Urlaub und kann den Commissario nicht mehr mit Informationen aus den Untiefen des Internets versorgen. Damit Brunetti nicht einschläft, traktiert ihn Vice-Questore Patta mit seinen privaten Nöten. Aber auch das sind nur Randnotizen, die zu nichts führen.

Irgendwann stirbt der reiche Gonzalo tatsächlich. Fällt einfach auf der Straße tot um. Herzversagen. Wieder kein Mord. Doch gemach. Als alles gesagt scheint und betrauert ist und der in einen arglosen Dämmerzustand versetzte Leser sanft weg döst, geschieht auf der Zielgeraden des Romans doch noch etwas. Eine fast aus dem Nichts auftauchende Person, die mit dem verstorbenen Gonzalo gut bekannt war, wird erwürgt. Ihr Tod und die Motive ihrer Ermordung werfen plötzlich ein ganz Neues Licht auf die Adoption und die Erbschaft.

Die makabre Pointe wirkt schließlich wie aus dem Hut herbei gezaubert, als wäre Donna Leon nicht besseres mehr eingefallen, um das grüblerische Tableau und das Nachdenken über alte Liebe und neues Leid, selbstbestimmten Lebenswandel und familiäre Abgründe in einen echten Krimi zu verwandeln.

Donna Leon: „Ein Sohn ist uns gegeben“. Commissario Brunettis achtundzwanzigster Fall. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich. 309 Seiten, 24 Euro.




„Das Gesetz verurteilt, die Liebe verschont“: Donna Leons 27. Brunetti-Krimi „Heimliche Versuchung“

Immer mehr Einheimische nehmen Reißaus, halten die tagtäglich durch Venedig strömenden Touristen-Fluten, die billigen Ramschläden und riesigen Kreuzfahrtschiffe nicht mehr aus oder können sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten. Und die Wenigen, die geblieben sind, verheddern sich in einem Knäuel offenbar unlösbarer Probleme.

Ein begabter Schüler nimmt Drogen, ein gesetzestreuer Mann wird eines Nachts schwer verletzt am Fuße einer Brücke gefunden. Eine alte Dame hortet wertlose Coupons. Ein vermeintlich gewissenloser Dealer erweist sich als ein von Krebs zermürbtes menschliches Wrack. Eine von Schuld und Geldsorgen zermarterte Ärztin unterstützt einen gierigen Apotheker, um die Schlupflöcher des Gesundheitssystems besser auszunutzen zu können.

Zwischen „Antigone“ und Händels „Esther“

Und Commissario Brunetti? Der streift melancholisch durch seine hassgeliebte Lagunenstadt und neigt neuerdings, von feucht-ungemütlichen November-Nebeln umwölkt, zu voreiligen Schlüssen und liest das antike Drama über die von Macht und Moral heillos zermürbte Antigone, um die Nöte seiner Mitmenschen im Hier und Heute besser zu verstehen. Und was hat das Ganze ausweglose Verwirrspiel mit Georg Friedrich Händel zu tun, bei dem es in seinem „Esther“-Oratorium heißt: „Das Gesetz verurteilt, / die Liebe verschont“?

Eigentlich ist alles wie immer bei Donna Leon, und doch ist in „Heimliche Versuchng“, dem siebenundzwanzigsten Fall von Commissario Brunetti, alles ein bisschen anders. Natürlich sind sie alle wieder dabei: Paola, die kluge Gattin, die Brunetti bei einem guten Essen die Flausen austreibt; Chiara und Raffi, die aufgeweckten Kinder, die Brunetti das Herz erwärmen; Patta, der arrogante Vorgesetzte, und Scarpa, der fiese, intrigante Polizist, die Brunetti zur Verzweiflung treiben; Vianello, der aufopferungsvolle nette Kollege; Elettra, die schöngeistige Computer-Spezialistin, die noch jede brauchbare Information aus dem Internet herausfischt hat.

Flucht vor dem Touristen-Mob in Venedig

Außerdem Brunettis Liebe zu den griechischen Klassikern, die Einbettung der vorgeblich kriminalistischen, in Wirklichkeit aber moral-philosophischen Handlung in ein wohl überlegtes Händel-Zitat: Wir kennen (erwarten und lieben) das alles von einer Autorin, die eigentlich nur schreibt, um ihre Passion für Barock-Musik auszuleben, mehrere Orchester finanziell zu alimentieren und sich vor dem Touristen-Mob in Venedig immer häufiger auf ihren abgelegenen Bauernhof in die Schweizer Berge zu retten.

Die Weltsicht von Brunetti, das kann man nicht mehr überlesen, wird immer trüber, seine Lust, sich durch den Schlamm der kriminellen Machenschaften zu wühlen und die Wahrheit über die sündhaften Verbrechen ans Tageslicht zu fördern, lässt spürbar nach. Eigentlich möchte er nur noch in Ruhe lesen, in der Bar einen heißen Café trinken und sich die komplexe Lage mit einfachen Erklärungen zurechtbiegen. Ihm geht es wie allen Personen in diesem Roman, der betont langsam, ja fast langweilig daher kommt und doch einen seltsamen Sog entwickelt.

Wie wollen wir eigentlich miteinander leben?

Alle sind von „heimlichen Versuchungen“ befallen. Einer peilt den leicht und schnell verdienten Profit an, der andere will sich als Besserwisser und Rechthaber erweisen und sich selbst erhöhen. Auch die Versuchung, tiefgründige Recherche durch kurzschlüssige (Vor)Urteile zu ersetzen, ist groß. Statt miteinander zu reden und den Dingen auf den Grund zu gehen, bestimmen irrationale Gefühle und Ängste das Handeln. Auch ist es wenig befriedigend, das Gesetz wie eine Monstranz vor sich her zu tragen und die Schuldigen dingfest zu machen, wenn man nicht lieben und verzeihen kann.

Ja, es geht auch um Drogen, und ja, es geht auch um kriminelle Abzockerei im Gesundheitswesen. Aber eigentlich geht es darum, wie wir miteinander leben und ob wir weiter unsere Umwelt verschandeln und unsere Beziehungen vergiften wollen, warum wir so gern Gerüchten aufsitzen und alternativen Fakten trauen, wieso wir glauben, es reiche, der komplizierter werdenden Welt mit schnellen Antworten und kernigen Vorurteilen zu begegnen.

Nein, es macht wirklich keinen Spaß, den neuen Roman von Donna Leon zu lesen. Einfühlsam und eindringlich geschrieben und von einer unerschütterlichen humanen Hoffnung auf ein besseres anderes Leben getrieben ist er trotzdem allemal.

Donna Leon: „Heimliche Versuchung“. Commissario Brunettis siebenundzwanzigster Fall. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Diogenes, Zürich, 328 Seiten, 24 Euro.




Vorsicht, trügerische Idylle! – Donna Leons „Stille Wasser“

Auch erfolgreiche Ermittler können irgendwann nicht mehr, sie sind dann müde und ausgelaugt. Immer nur Verbrechen, Diebstahl und Mord. Überall nackte Gier und purer Hass…

Jetzt, im Hochsommer, hängt auch noch die bleierne Hitzeglocke über Venedig, dazu die permanent durch die engen Gassen flutenden Touristenmassen, die die fragile Lagunenstadt in eine laute und dreckige Event-Bude verwandeln: alles kaum auszuhalten.

Und auch wenn der Schwächeanfall, den der Commissario während eines Verhörs mit einem ekelhaften Kerl hat, nur vorgetäuscht ist, um einen aufgebrachten Kollegen vor Handgreiflichkeiten gegenüber dem sich keiner Schuld bewussten reichen Fiesling zu bewahren: Brunetti braucht wirklich Ruhe und Erholung, Abstand vom Alltag.

Wie wäre es mit einer Auszeit auf einer der vielen kleinen Inseln in der Lagune? Viel schlafen und lesen, schwimmen und rudern, die Seele baumeln lassen und die schlaffen Muskeln ertüchtigen. Doch Vorsicht, Idylle! Denn stille Wasser sind bekanntlich tief, und auch alte Männer wie Casati, mit dem sich Brunetti während seiner Reha anfreundet, und der sich scheinbar nur noch um seine Ruderboote und Bienenstöcke kümmert, können ein dunkles Geheimnis haben. Eines Tages jedenfalls sind Casati und sein Boot plötzlich verschwunden. Brunetti befürchtet das Schlimmste und meldet sich zum Dienst zurück.

Auch wenn wir uns Donna Leon als glückliche Schriftstellerin vorstellen müssen, die mit leichter Hand jedes Jahr einen Brunetti-Bestseller aufs Papier wirft, mit den üppigen Honoraren ihrer musikalischen Händel-Leidenschaft frönen und großzügig einige Barock-Orchester alimentieren kann: Genervt ist auch sie von dem touristischen Wahnsinn, der sich da täglich in Venedig abspielt und ihre langjährige geliebte Wahlheimat in ein überkandideltes, unbewohnbares Disneyland verwandelt hat.

Seit kurzem lebt Donna Leon deshalb auf einem alten Bauernhof in der Schweiz und blickt von dort mit mildem Spott und verwundetem Herzen auf die wunderschöne, doch nun langsam aber sicher zerfallende Stadt. Auch Brunetti, dieser wie aus der Zeit gefallene Schöngeist und melancholische Intellektuelle, der seine Familie liebt und die klassische Literatur verehrt, kann das Ende nicht aufhalten. Aber er kann sein Bestes geben, um die kriminellsten Auswüchse zu verhindern und die widerlichsten Schurkereien ans Tageslicht zu bringen.

„Stille Wasser“ ist denn auch weniger ein Kriminalroman als vielmehr eine klug komponierte Reflexion über die Vergänglichkeit und das Alter, die verlorenen Illusionen und die Notwendigkeit, sich – trotz allem – nicht abzufinden mit den unmoralischen Gelüsten des Kapitalismus und zerstörerischen Tendenzen des Zeitgeistes.

Das alles braucht seine Zeit. Es dauert 150 Seiten, bis Brunetti einen Toten aus dem Wasser zieht, seine Alarmglocken zu schrillen beginnen und sein Jagdinstinkt geweckt wird: Denn was wie ein tragischer Boots-Unfall aussehen soll, könnte auch ein hinterhältiger Mord sein. Um Klarheit zu gewinnen, muss Brunetti tief in die Vergangenheit der Beteiligten abtauchen und sich näher mit dem ebenso stillen wie trüben Wasser in der Lagune beschäftigen. Dass es um kriminelle Müllentsorgung und gemeingefährliche Umweltsünden geht, ahnt der Leser bald. Doch die Lösung des Falles ist eigentlich gar nicht so aufregend. Viel spannender ist es, in den Abgrund der Lebenslügen alter Männer zu schauen.

Donna Leon: „Stille Wasser. Commissario Brunettis sechsundzwanzigster Fall“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich 2017, 343 S., 24 Euro. Als Hörbuch ebenfalls im Diogenes Verlag erschienen, gelesen von Joachim Schönfeld, 8 CD, 25 Euro.




„Beschädigtes“ Mädchen: „Ewige Jugend“ – Donna Leons 25. Brunetti-Krimi

„Weh´ mir! Grausamer Gott, / Warum ließest du mich nicht sterben / Im Wasser, warum wurde ich errettet?“ In seiner Oper „Radamisto“ hat Georg Friedrich Händel die verzweifelte Todessehnsucht eines aus den Fluten geretteten Menschen in allerschönste Noten verwandelt. Ein Fingerzeig für die US-amerikanische Autorin Donna Leon, die ihre kriminalistischen Streifzüge durch ihre Wahlheimat Venedig gern mit einem aus der Opern-Literatur geborgten Motto beginnt und damit die Richtung vorgibt, in die sich ihr Commissario Brunetti bei der Lösung seines jeweiligen Falles bewegen wird.

978-3-257-06969-3

Aus dem Wasser gerettet, und doch mehr tot als lebendig, so steht es um Manuela, einst ein kluges und bildschönes 15jähriges Mädchen, heute ein 30jähriges Kleinkind. Denn bei dem Sturz in einen venezianischen Kanal war sie so lange im Wasser und hat sich so schwere Verletzungen zugezogen, dass in ihrem längst erwachsenen Körper die geistigen und emotionalen Fähigkeiten eines kleinen Kindes wohnen.

Ihre alte und sterbenskranke Großmutter, Contessa Lando-Continui, mag sich bis heute nicht damit abfinden und will, bevor sie das Zeitliche segnet, unbedingt Klarheit darüber erlangen, was damals wirklich geschah, ob es nur ein Unfall oder vielleicht ein Mordanschlag war. Für die Contessa ist Manuela seitdem, und sie mag das Wort kaum aussprechen, ein „beschädigtes“ Mädchen.

Und wer könnte besser Licht in die dunklen Geheimnisse der Vergangenheit bringen als Commissario Brunetti? Ist er doch nicht nur jemand, der aktuelle mafiöse Machenschaften aufdeckt, sondern auch ein Faible für die Fallstricke der Geschichte hat. Denn so wie die Autorin Liebhaberin des Barock und ausgewiesene Kennerin von Händels Musik ist, wandelt eben auch ihr Commissario bisweilen auf klassischen intellektuellen Pfaden, besucht die Oper in Venedig, La Fenice, oder schmökert in den Werken der griechischen und römischen Klassiker. Das macht er natürlich auch diesmal, bei der Lösung seines 25. Falles, in einem Roman, dem Donna Leon den Titel „Ewige Jugend“ gegeben hat.

Immer das gleiche, kaum variierte Spiel

Euripides und dessen „Medea“ liegen gerade auf Brunettis Nachttisch. Aber ob und was das Drama um die von ihrem Gatten betrogene und von ihrer Heimat entwurzelte Fremde mit dem Schicksal von Manuela zu tun hat, sollte jeder Leser selbst herausfinden. Das gehört schließlich zum literarischen Spiel, das Donna Leon nur allzu gern in Gang setzt, um den Ausflügen in mörderische menschliche Abgründe einen ironischen intellektuellen Überbau zu geben.

Zum irgendwie immer gleichen, nur leicht variierten Spiel gehört auch, dass Brunetti zu Hause mit Gattin Paola bei köstlichem Essen und gutem Wein über die Verrücktheiten der Moderne diskutiert und sich über die touristische Verwüstung der Lagunenstadt erregt. Klar ist auch, dass sein Vorgesetzter, Vice-Questore Patta, dem Commissario Steine in den Weg legt. Und dass Computerspezialistin Signorina Elettra aus den Untiefen des Internets wichtige Informationen empor zieht.

Neu ist aber, dass Brunettis Kollegin, Claudia Griffoni, jetzt eine so dominierende Rolle spielt. Inspektor Vianello dagegen läuft diesmal nur am Rande mit. Aber um das Vertrauen von Manuela zu erlangen, braucht es halt keinen kauzigen Kerl, sondern eine einfühlsame Frau. Zumal eine, die, wie einst Manuela, einen Hang zu Pferden hat und weiß, wie man hoch zu Ross sitzend auf die schnöde Welt herunter blicken kann. Denn genau das ist die Welt: schnöde, banal und hundsgemein.

Manuelas Retter, der sie aus dem Wasser zog, ist ein schwerer Säufer, will sein Wissen mit Geld veredeln und unterschreibt damit sein eigenes Todesurteil. Und der Mann, der Manuela „beschädigte“ und jetzt zum Mörder wird… Ach nein, dass wollen wir lieber nicht verraten.

Fazit: Auch dieser Fall ist als Krimi nicht besonders aufregend, aber unterhaltsam und literarisch filigran in Szene gesetzt.

Donna Leon: „Ewige Jugend. Commissario Brunettis fünfundzwanzigster Fall.“ Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Diogenes, Zürich 2016, 324 S., 24 Euro.

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Fakten über die Autorin:
Donna Leon, geboren 1942 in Montclair/New Jersey, lebt seit 1981 in Venedig. Bevor sie Erfolgsautorin wurde, arbeitete sie als Reiseleiterin, Werbetexterin und Lehrerin, lebte in der Schweiz, im Iran, in China und in Saudi-Arabien.
Ihren ersten Brunetti-Roman veröffentlichte sie 1992 („Venezianisches Finale“), seitdem ist jeder neue Venedig-Krimi ein internationaler Bestseller.
Weil Donna Leon ein normales Leben in Venedig führen möchte, erscheinen ihre Romane nicht in der Sprache ihrer Wahlheimat Italien. Donna Leon ist Liebhaberin klassischer Musik, weiß alles über Georg Friedrich Händel und unterstützt zwei musikalische Barock-Ensembles. Fast alle Brunetti-Krimis laufen als TV-Verfilmungen im deutschen Fernsehen.




Bedrohlicher Rosenkavalier – Donna Leons Opernkrimi „Endlich mein“

Die Rückkehr von Gesangs-Diva Flavia Petrelli nach Venedig gleicht einem Triumph. Das Opernhaus La Fenice ist jeden Abend ausverkauft. Tatsächlich scheint Flavia die Titelrolle der „Tosca“ auf den Leib geschneidert, und wenn sie beim dramatischen Finale sich über ihre Widersacher erhebt und selbstbewusst in den Tod flieht, sind ihr stehende Ovationen gewiss.

Doch in die Freude über die Liebe der Opernfans mischen sich neuerdings Nervosität und Angst. Eigentlich hat sie gelernt, mit Ruhm und Rummel umzugehen, auch noch zu lächeln und Autogramme schreiben, wenn sie todmüde ist und nur noch ins Bett möchte. Aber seit es jeden Abend beim Schlussapplaus gelbe Rosen regnet und ein unbekannter Verehrer ihre Garderobe in ein Blumenmeer verwandelt, ist ihr doch etwas mulmig zumute.

DonnaleonWer ist dieser namenlose „Rosenkavalier“, warum gibt er sich nicht zu erkennen und was bezweckt er mit seinen Nachstellungen, die – wenn sie sich recht entsinnt – bei ihren Auftritten in Sankt Petersburg und London begonnen haben und jetzt in Venedig geradezu ausufern?

Schon zweimal, im „Venezianischen Finale“ und in „Acqua Alta“, hat Commissario Brunetti das Vergnügen gehabt, sich um Flavia Petrelli zu kümmern und Schaden von ihr abzuwenden. Das ist lange her, aber nicht vergessen – vor allem nicht von Opern-Kennerin und Schriftstellerin Donna Leon, die verschiedene Barock-Ensembles finanziell unterstützt, als Händel-Spezialistin einen guten Ruf genießt und sich weltweit auf dem Opern-Parkett bewegt.

Wenn Donna Leon für ihren nunmehr 24. Brunetti-Krimi die lange vermisste Opern-Diva reaktiviert und zu einem Gastspiel nach Venedig einlädt, gibt es mithin nicht nur pure Wiedersehensfreude und opulente Opernfeste, sondern auch einen handfesten Kriminalfall. Denn was so harmlos mit gelben Rosen beginnt, da ist sich Brunetti gleich beim ersten Treffen mit der angespannt wirkenden Flavia ziemlich sicher, könnte böse und blutig enden.

Werden die Liebes-Bekundungen des Stalkers nicht erwidert, können sie schnell in Hass umschlagen und könnte aus dem unbekannten auch ein tödlicher Rosenkavalier werden. Oder ist der Fan, der anonym im Dunkeln agiert und bald beginnt, Flavias Bekannte als unerwünschte Nebenbuhler zu betrachten und zu attackieren, vielleicht gar eine Frau?

Nach dem einen oder anderen eher langweiligen Brunetti-Roman ist die seit vielen Jahren in Venedig lebende US-Autorin Donna Leon diesmal wieder in Hochform. Man spürt auf jeder Buchseite, welche Freude es ihr bereitet, über Schönheit und Abgründe der Opernwelt zu philosophieren. Und wie traurig es sie macht, dass Venedig zur bunten Kulisse für unaufhörliche Touristenströme geworden ist. Wo einst kleine Läden und Bars ihren morbiden Charme hatten, haben sich längst billige Ramschläden breit gemacht. Flavia Petrelli erkennt ihr geliebtes Venedig kaum wieder.

Der sympathische Melancholiker Guido Brunetti und seine – wie immer – äußerst kultivierte und belesene Gattin Paola schütteln nur noch angewidert den Kopf und verschanzen sich, natürlich bei einem guten Glas Wein und einem klugen Gespräch über Musik und Literatur, auf ihrer Dachterrasse. Doch dann muss Brunetti wieder rein ins reale Leben. Denn die Liste der Opfer wird immer länger, es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch Flavia – im wahrsten Sinne des Wortes – zu Tode geliebt wird.

Brunetti, von einigen polizeiinternen Intrigen kurzzeitig abgelenkt, braucht jetzt viel Feingefühl und – wie stets – die Hilfe der Computer-Fachfrau Signorina Elettra und seines Kollegen Vianello. Dass es schließlich zu einem spannenden Showdown in der Oper und im Bühnenbild von „Tosca“ kommt, hätte man sich eigentlich denken können.

Donna Leon: „Endlich mein.“ Commissario Brunettis vierundzwanzigster Fall. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich. 307 Seiten, 24 Euro.




„Himmlische Juwelen“: Donna Leons Krimi auf den Spuren eines Barock-Komponisten

Caterina Pelligrini teilt das Schicksal vieler Akademiker der Generation Praktikum. Sie weiß zwar alles über Händel und Bach, Mozart und Haydn, aber als hoch spezialisierte Musikwissenschaftlerin findet sie keine feste Anstellung.

Ihr schlecht bezahlter Job in Manchester hat zudem den Nachteil, dass sie weder England noch die postindustrielle Metropole besonders mag. Die Sonne Italiens, das Essen und das wuselige Chaos fehlen ihr. Als eine Stiftung ihr eine Arbeit in ihrer Heimatstadt Venedig anbietet, verdrängt sie schnell alle Zweifel und kehrt in die geliebte Lagunenstadt zurück.

Dass die Stiftung kaum arbeitsfähig ist, noch nicht einmal einen eigenen Computer besitzt, findet sie zwar etwas seltsam. Doch Caterina ist wie geblendet von ihrer Aufgabe, soll sie doch herausfinden, ob sich in den Truhen, die auf mysteriöse Weise ihren Weg aus den Archiven des Vatikans nach Venedig gefunden haben und die den Nachlass des Komponisten und Kirchenfürsten Agostino Steffani beherbergen, womöglich Schätze von großem Wert befinden.

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Die zwei geldgierigen Cousins, die sich um den Nachlass ihres Vorfahrens streiten und sich von einem zwielichtigen Anwalt beraten lassen, hoffen jedenfalls, dass Caterina wertvolle Notenblätter oder gar kostbare Edelsteine zutage fördert. Und ist nicht in den Briefen Steffanis tatsächlich von „Himmlischen Juwelen“ die Rede?

Jahr für Jahr veröffentlicht die in Venedig lebende amerikanische Autorin Donna Leon einen neuen Kriminalroman. Ihr ebenso sympathischer wie melancholischer Commissario Brunetti hat nun schon 20 Fälle gelöst, sich mit Menschenhandel und Mafia, Atomschmuggel und Giftmüll herumgeschlagen. Brunetti ist Liebhaber der klassischen Literatur und Musik. Eigentlich schade, dass er nicht dabei sein darf, wenn Donna Leon sich unter dem Titel „Himmlische Juwelen“ auf Spurensuche nach dem fast vergessenen Komponisten Agostino Steffani (1654-1728) begibt. Aber wahrscheinlich hätte der gewiefte Brunetti die Sache mit den geheimnisvollen Truhen sofort durchschaut.

Weil die Biografie des Komponisten Agostino Steffani bis heute Rätsel aufgibt und es möglich ist, dass er ein Spion und Kastrat war, kann man aus dem historischen Dunkel kriminalistischen Honig saugen. Genau das ist die Aufgabe von Donna Leon, die ohnehin ein Faible für Barockmusik hat und keine Premiere einer Händel-Oper verpasst. Also wühlt sich ihre Musikwissenschaftlerin Caterina durch die Archive, rekonstruiert das Leben des Komponisten, der in Bayern kurfürstlicher Geheim-Diplomat und Kammermusik-Direktor war, in Hannover zum Minister aufstieg, als Bischof die Rekatholisierung des protestantischen Nordens vorantreiben sollte und, so wollen es Gerüchte, in ein Mordkomplott verstrickt war.

Genug Stoff also für einen Krimi, der den Bogen vom Gestern ins Heute schlägt. Dass er diesmal nicht ganz so spannend ist, liegt daran, dass die Steffani-Erben im Roman reichlich einfältig sind und dass historische Dokumente manchmal ziemlich verstaubt sein können.

Donna Leon: „Himmlische Juwelen“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich. 298 Seiten, 22,90 Euro.




Der Kommissar sehnt sich nach heiler Welt – Donna Leons neuer Krimi führt die Bestsellerliste an

Von Bernd Berke

Eine US-Amerikanern mit ausgesprochenem Faible für Italien steht an der Spitze der deutschen Bestsellerliste: Donna Leon mit „Sanft entschlafen“. Was ist dran an diesem Krimi?

Suor Immacolata ringt mit ihrem Gewissen. Die junge Frau, bis vor kurzem Nonne und immer noch gläubig, will kein falsches Zeugnis ablegen wider ihre Nächsten, aber dann wendet sie sich doch an Kommissar Brunetti: Ausgerechnet in jenem Altenheim des Ordens, in dem auch Brunettis Mutter betreut wird, haben sich rätselhafte Todesfälle gehäuft. Und es sieht so aus, als seien die Verstorbenen zuvor gedrängt worden, ihr Hab und Gut der Kirche zu vermachen. Wer weiß, wer weiß…

Brunetti ist eine eingeführte Figur, Donna Leon hat bereits fünf Romane über die Fälle des beleibten Ermittlers vorgelegt, die allesamt in Venedig spielen. Eigentlich dem Wohlleben zugeneigt, ist Brunetti doch von einem Gerechtigkeitssinn beseelt, der ihn aus müßigen Tagträumen oder kulinarischen Vergnügungen reißt. Vollends zornig wird er, wenn er an Augiasställe wie die korrupte Verwaltung oder das marode Gesundheitswesen Italiens denkt.

Im vorliegenden Falle kann er aber nur äußerst diskret ermitteln. Schon ein falscher Zungenschlag kann alles verderben. Denn zum einen ist alles zunächst nur vager Verdacht, zum anderen muß Brunetti hohe Kleriker und adlige Herrschaften mit Samthandschuhen anfassen. Bei den ersten Befragungen kommt denn auch kaum etwas heraus.

Ein Geheimbund, mit dem man sich nicht anlegen sollte

Der Kommissar ist drauf und dran, die Akten zu schließen. Hirngespinste einer Frau, die im Kloster etwas weltfremd und überängstlich geworden ist? Doch dann wird just diese Suor Immacolata, die jetzt wieder bürgerlich Maria Testa heißt, Opfer eines schweren „Unfalls“, und kurz darauf kommt ein Zeuge in seinem Badezimmer zu Tode. Das kann wohl kein Zufall sein. Tatsächlich führt die Fährte alsbald zu Fällen von Kindesmißbrauch und zu einer erzkonservativen Geheimorganisation katholischer Fundamentalisten, mit der man sich nicht ungestraft anlegt.

Als Leser begleitet man diesen Brunetti bei seinen Nachforschungen gern. Beruflich mit einer verderbten Welt konfrontiert, die ebenso faulig ist wie das Brackwasser in Venedigs Kanälen, hat dieser Kommissar selbst etwas liebenswert Anheimelndes, verkörpert er doch eine Ahnung davon, was heile Welt bedeuten könnte. Denn er ist Fixstern in einem Mikrokosmos gelingender menschlicher Beziehungen – ganz so, als sei die Utopie des richtigen Lebens nur einen Schritt entfernt.

Wenn nur die Spitzen der Gesellschaft nicht wären…

Mit seiner feministisch und sozialistisch angehauchten Frau Paola führt er auch nach vielen Jahren eine gute Ehe nach dem Leitsatz „Was sich liebt, das neckt sich“; seine Kinder Raffi und Chiara sind recht wohlgeraten, seine Sekretärin ist stets charmant und überaus klug, die übrigen Mitarbeiter enorm diensteifrig. Nur: Sobald es höher hinauf geht zu den Gipfeln der venezianischen Gesellschaft, weht ein eisiger Wind.

Ein Krimi in (unaufdringlich) linksliberaler Tradition also, geschrieben auf beachtlichem Niveau und bis in bizarre Nebenrollen hinein auf prägnante Charakterisierungen bedacht. Kleine Besessenheiten der Figuren werden ebenso ironisch abgehandelt wie tiefere Einsichten, etwa über die Habgier und die Vergänglichkeit irdischen Besitzes.

Bemerkenswert, daß ein solch ambitioniertes Buch Platz eins unserer Sellerliste erklimmt. Keine Nahrung für Kulturpessimisten: Wo sich Werke z. B. von Donna Leon, Javier Marias, Peter Hoeg oder Umberto Eco so gut verkaufen, dürfte es um die Lesekultur nicht gar so schlecht bestellt sein, oder?

Donna Leon: „Sanft entschlafen“. Kriminalroman. Diogenes-Verlag. 336 Seiten, 39 DM.