Abi 2013: Nach der Feier ist vor der Studienplatzsuche – und manches ist ungewiss

Neulich war ich mit meiner Patentochter in der Stadt. Die Liste für die Einschulung abarbeiten. Bleistift HB, besonders weicher Radiergummi, Deckfarbkasten. 13 Jahre ist es her, dass ich dies zum allerersten Mal tat. Damals, anno 2000 mit meinem ältesten Sohn. Gestern war es soweit, die Bleistifte aller Härtegrade hatten ihre Schuldigkeit getan – die Zeugnisse der Reife wurden verliehen. Welch ein langer kurzer Weg dies war.

AbizeugnisI

Allüberall werden im Lande dieser Tage die Abizeugnisse überreicht. In NRW, dem Bundesland der mit heißer Nadel gestrickten G8-Reform ist es vielerorts anders als sonst. Der Doppeljahrgang hebelt die Tradtionen aus. Manche Schulen feiern zweimal, nach Jahrgangsstufen getrennt. Manche suchen Alternativen. So auch bei uns. Viele haben es bedauert. Keine Messe in der schnuckeligen Gymnasialkirche, keine Feier in der Aula – alles zu klein.

Wenigstens haben wir in Recklinghausen das Festspielhaus, auch für solche Feiern ein würdiger Rahmen. 166 Zeugnisse wurden dort gestern überreicht, 166 mal Aufregung und verhaltene Freude. Dass die Freude nur verhalten war, war vielfach zu spüren, auch in den Reden.

Die Ungewissheit, wie der Doppeljahrgang zurecht kommen wird, schimmert durch. Etliche werden nicht direkt durchstarten, einige machen ein freiwilliges soziales Jahr, andere gehen als Au-Pair oder mit work-and-travel-Programmen ins Ausland. Nur wenige wollen direkt an die Unis. Besagte Mathe-klausur lässt grüßen. Sie hat zwar keinem das Genick gebrochen, aber sie hat Punkte gekostet. Hier im Hause gibt es keinen Plan B, unsere Nachwuchshoffnung will einen Studienplatz. Den Rechtswissenschaften will man die nächsten Jahre widmen. Ich werde berichten.

166whiteBalloons

Zunächst aber bemühten sich alle, den höchsten im Lande erreichbaren Schulabschluss gebührend zu würdigen. Ich, die ich einst Abi-technisch sozusagen mit qualmenden Reifen durchs Ziel kam, verhehle nicht, sehr stolz auf mein Kind zu sein. Wir schauen jetzt ungebrochen hoffnungsfroh in die Zukunft. 166 weiße Ballons stiegen gestern in den netterweise sonnigen Himmel über dem Hügel in Recklinghausen. Hier und heute sagen wir allen Abiturienten im Lande einen aufrichtigen Glückwunsch und ein von Herzen kommendes Glückauf !




Rätsel der Pyramide – Umstrittene Abi-Klausur in Mathe wird nicht wiederholt

Soeben kam es über den Ticker. Die umstrittene Klausur für den Grundkurs Mathematik der diesjährigen Abiturientia wird nicht wiederholt.

NRW-Bildungsministerin Löhrmann sieht keinen Grund für eine Wiederholung oder ein Noten-Upgrade. Die Hoffnung stirbt zwar zuletzt, aber wir hatten es nicht anders erwartet. Warum auch? Schon die gestrige Abwesenheit der Ministerin, als wütende Schüler vor ihrem Ministerium demonstrierten und ihre später nachgeschobene schmallippige Erklärung, man werde die Argumente der Schüler prüfen lassen, ließen nichts anderes erahnen. Passt ja. Es ging ja nur um ein paar Chancen für so manchen, einen Numerus Clausus zu schaffen, es ging ja – zugespitzt formuliert – nur um die Zukunft unserer Kinder.

Keine Erleichterung für den Jahrgang 2013 – im Gegenteil

Von vorne. Die schriftlichen Klausuren im Abi Doppeljahrgang 2013 sind absolviert. Ich war ja klammheimlich immer davon ausgegangen, dass der Jahrgang 2013 „geschont“ wird und man es ihnen leichter machen würde als den Jahrgängen davor. Schließlich ist es das erste Jahr, in dem auch Schüler nach nur 8 Jahren Gymnasium (G8) zur Reifeprüfung antreten und die Politik mit einem guten Notendurchschnitt beweisen könnte, dass G8 leichterdings machbar ist. Damit habe ich weit gefehlt. Sehr weit gefehlt. Gut, dass ich diese irrige Annahme vorher schön für mich behalten habe. Denn leichter ist hier gar nichts in diesem Jahr.

Vorherrschender Tenor in der mir bekannten Schülerschaft vom ersten Tag an: Die Klausuren sind schwerer als in den letzten Jahren, schwerer und umfangreicher. Zugegeben, jeder Jahrgang empfindet subjektiv seine Prüfungen als „die schwersten von allen je dagewesenen und allen, die noch kommen werden“. Zur umfangreicheren Aufgabenstellung lässt sich natürlich auch sagen: Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wenn eine Aufgabenstellung umfangreich und dezidiert ist, läuft man nicht so schnell Gefahr, in eine falsche Richtung abzudriften. Lassen wir dieses allgemeine Gefühl also unkommentiert.

Tangential zur Horizontalen verlaufende Gerade in der Rampe des BMX-Fahrers

Dann gab es ja noch die umstrittene Mathematik-Klausur. Mein Sohn und einige seiner Freunde haben diese auch geschrieben. Ihr Gefühl ist – vorsichtig ausgedrückt – mies. Die Pyramide, die eigentlich ein regelmäßiger Polyeder/Tetraeder ist, gab ihnen etliche Rätsel auf. Vor allem die Ebene mit drei Unbekannten, deren Fläche ausgerechnet werden musste. Keiner aus dem Grundkurs hat das gekonnt. Die Schüler des Leistungskurses allerdings schon. Bei denen kam das aber nicht dran. Noch schlimmer war die tangential zur Horizontalen verlaufende Gerade in der Rampe des BMX-Fahrers. Ausgebaggert werden sollte auch noch was an dieser Rampe. Dumm nur, dass das keiner berechnen konnte, weil die Formel fehlte. Und selbst wenn man vorher diese Formel hätte lernen wollen, im Tafelwerk Mathematik hätte man sie auch nicht gefunden. Die Formel bei dieser Zeitvorgabe selbst zu entwickeln hätte im übrigen auch die Leistungskurs-Schüler überfordert.

Rampe des BMX-FahrersPyramide des Grauens

 
Die Mathe-Klausur strotzte nur so von Spezialfällen, so hatte es das in den vergangenen Jahren in der Tat noch nie gegeben. Vom Oktaeder des Grauens 2008 mal abgesehen. Zudem war die Klausur in der vorgegebenen Zeit nicht zu schaffen. Mein Sohn hat eine Aufgabe, für die es 18 von 100 Punkte gab, für sich selbst zurückgestellt und hatte am Schluß noch max. 5 Minuten Zeit, diese in Angriff zu nehmen. Viele andere Schüler haben eine Aufgabe, für die es 50 von 100 Punkten gab, nicht. Und soweit reicht das Rechenvermögen auf jeden Fall, um zu wissen, bei welcher Note man damit gelandet ist. Mein Sohn hat mir erklärt: Für jede Klausur gibt es drei Gebiete, die egal in welchem Fach, berücksichtigt werden müssen. 1. Re-Organsisation: die Wiedergabe des Gelernten. 2. Transfer: Übertragung des Gelernten auf gestellte Aufgaben. 3. Eigenständiges Denken: in Mathe z.B. die Entwicklung von Formeln, die nicht gegeben sind. Für Punkt 3 hat die Zeit einfach nicht gereicht.

Die Wut richtet sich nicht gegen die Lehrer

Mich macht das Ganze auf der einen Seite traurig, aber auch noch wütender als ich vorher schon war. Ich kann auch rechnen und ich weiß, wenn nicht wenigstens eine 1 vor dem Komma steht, dann war es das mit dem Studienplatz. Ich erinnere an die Benchmark: 1,2 für Germanistik in Bochum in diesem Jahr. Die Wut der Schüler. die sich in sozialen Netzwerken und bei der gestrigen Demonstration entlud, ist berechtigt und verständlich. Die Wut richtet sich übrigens in keiner Weise gegen die Lehrer. Dort ist die Meinung einhellig: Die Lehrer haben in den vergangenen Jahren viel Einsatz gezeigt und getan, was sie konnten, um das eigentlich Unmögliche zu ermöglichen. Wir haben nachgezählt: Wenn man für alle Spezialfälle, die der Lehrplan vorsieht, auch nur eine einzige Stunde veranschlagen würde, wäre man gerade so damit durchgekommen. In G9 wohlgemerkt. Moderne pädagogische Gesichtspunkte wie „Inhalte selbst erarbeiten“ hätte man da allerdings nicht berücksichtigen können, mit der Brachialmethode „Nicht verstehen, einfach lernen“ wäre es vielleicht gegangen.

Von der Bildungspolitik im Stich gelassen

Mittlerweile dürfte auch dem letzten der diesjährigen Abiturienten klargeworden sein, dass sie der im Stich gelassene Jahrgang sind. Jahrelang hat man hier fahrlässig zusammengezimmerte Experimente auf dem Rücken unserer Kinder gefahren, nun sieht man das dicke Ende in Form von überfüllten Unis nahen. Und als Konsequenz stellt man Aufgaben, die kaum lösbar sind, um damit zu „sieben“ und den Notenschnitt möglichst zu drücken? Echt gute Idee. Unglaublich motivierend. So löst man das Bildungsproblem. Bundesländer dieser Nation, schaut auf NRW. Das Bundesland der einfachen Lösungen. Wenn auch nicht in Mathe.

Wir schauen jetzt nach vorne, hoffen das Beste und wünschen dem BVB heute abend mehr Glück, als es unsere Abiturienten mit der Mathe-Klausur hatten…

(Die von mir abfotografierten Skizzen zu den Aufgaben hat mein Sohn nach der Klausur aus dem Gedächtnis gezeichnet, um mir zu erklären, was so schwierig war. Ich habe überhaupt nichts verstanden, das gebe ich ehrlich zu. Fragen dazu kann ich nicht beantworten, aber gerne an den Schöpfer der Skizze weiterleiten.)




Verschärfte Startbedingungen – für den Abitur-Jahrgang 2013 wird es eng

Ich wusste es. Ich wusste es. Ich wusste es. Hab ich es nicht immer gesagt? Hab ich. 2013 wird der Numerus clausus verschärft. Der doppelte Abitur-Jahrgang lässt grüßen. 1,2 für Germanistik in Bochum. Das ist der Richtwert, Stand der Gerüchte, die durch ruhrische Schulen wabern. Da schon von einigen Medien offiziell aufgegriffen, darf ich mich wohl auch offiziell empören. Ich wiederhole: 1,2 für Germanistik in Bochum. Ja, nee iss klar.

Man hat es ja auch nicht kommen sehen. Ist so wie mit Weihnachten. Kommt immer völlig überraschend. Haben etwa Schulen rechtzeitig informiert und ihre Bedenken im Ministerium angemeldet? Haben Eltern schon frühzeitig gewarnt, Initiativen gegründet, Unterschriften gesammelt? Haben sie? Ja, verdammt. Das haben sie. War da was?

Es wird eine Lösung gefunden werden. Ich seh und hör sie noch alle vor mir. Die gesammelten Schulminister(innen) der letzten 13 Jahre. Wie sie geschwurbelt versichern, dass man das Problem des doppelten Abi-Jahrgangs 2013 nicht unterschätzen werde, für Lösungen werde gesorgt. Am Allerwertesten wurde gesorgt. Nix iss. Numerus clausus wird hochgesetzt. That’s it. Fertig. Lehrstellen sind übrigens so früh wie selten alle vergeben. Dies als kleine Info am Rande für die, die eine Umorientierung in Erwägung ziehen sollten. Braucht Ihr nicht.

Unser Ältester begann im Jahr 2000 seine Schulkarriere, gehört also zu den Letzten, die noch nach 9 Jahren Gymnasium (kurz G9) zur Reifeprüfung antreten. Gemeinsam mit der Stufe, die erstmals nach 8 Jahren Gymnasium (kurz G8) ihr Abitur macht. So alles gut geht, werden wir im nächsten Jahr eine Abi-Feier haben, bei der noch nicht mal alle Eltern in die Aula passen. Patchwork-Familienstiefväter und Mütter müssen draussen bleiben. Omas und Opas sowieso. Von Geschwistern gar nicht zu reden. Das ist in dem Fall aber auch nicht so schlimm. Die haben sowieso keine Zeit, die hängen nämlich im G8-System und haben bestimmt noch Unterricht. Wie unser Jüngster. Dieser orientiert sich derzeit in der Orientierungsstufe. In erster Linie an wahnwitzigen Stundenplänen. Täglich bis mindestens 16:00 Uhr, Dienstag sogar bis 18:30 Uhr. Aber er hat noch Glück. Seit diesem Jahr gibt es endlich eine Mensa. Wird aber nicht genutzt. Weil ziemlich teuer. Und die meisten Eltern müssen ja sparen. Es warten Studiengebühren. Wenn das so weiter geht, wahrscheinlich sogar im Ausland. Gut, dass wenigstens der Jüngste einen Platz im stark nachgefragten Niederländisch-Kurs bekommen hat. Ich fand Maastricht ja immer schon schön.

Seit der Älteste im Jahr der Jahrhundertwende seine Schulkarriere begann, haben wir unzählige Reformen und Reförmchen mitgemacht. Alle mit der heißen Nadel gestrickt, alle unausgegoren, angefangen mit der gleitenden Grundschuleinführung, weiter über Grundschule ohne Noten bis nun zum Gedöns um G8/G9.

Ich betone übrigens ausdrücklich, ich klage in diesem Punkt nicht über die Schulen. Die haben getan, was sie konnten und stimmen in mein Klagelied mit ein. Ich erinnere mich an Schuljahre ohne Bücher, weil diese noch nicht an G8 angepasst waren, an Lehrer, die Stunden um Stunden am Kopierer verbrachten, um Unterrichtsmaterial zu haben. Ich freue mich, dass mir die diversen Lücken im Unterrichtsplan Raum lassen, um meinen Kindern Brecht und Böll nahezubringen. Und fein, dass ich Zeitzeugin bin, dann kann ich glatt noch was zur Wiedervereinigung vermitteln, bis dahin werden wir es im Umterricht wohl nämlich nicht mehr schaffen. Ich erinnere mich genau an Elternabende, in denen das Ministerium ausrichten ließ, für den Abi-Jahrgang 2013 würden die Stufen getrennt bleiben und entsprechend des Wissensstandes unterrichtet werden. War da nicht mal was? Ging nicht. Ach so. Ja dann. Gut, dass die Schule reagiert und für die G8er, die nächstes Jahr ran müssen, Förderunterricht einplant. Das können die Eltern nämlich nicht auch noch leisten. Die gehen schließlich arbeiten. Es warten Studiengebühren. Ich weiß, ich wiederhole mich. Aber so ist das. Endlos könnte ich mich aufregen, endlos.

(Die Autorin beherbergt und kümmert sich um einen, der 2013 nach 13 Jahren Schule Abi macht; um eine, die 2013 nach 12 Jahren Schule Abi macht und einen, der 2015 nach 12 Jahren Schule macht. Zufrieden ist keiner der drei. Ich darf mich also aufregen.)