Abenteuer des Adrian Tuppek im Ruhrgebiet – ein Glücksfund aus der E-Book-Szene

Glücksfall CoverKalt ist es in Dorsten, doch nicht nur deswegen schüttelt es den erfolglosen, aber ambitionierten Schriftsteller Adrian Tuppek.

Special Agent Jankowiak vom Finanzamt Marl sitzt ihm im Nacken und überhaupt – der Nebenjob als Testdieb hilft auch nur sehr bedingt über die Runden. Da liest er eine Bemerkung eines Erfolgsautors über die kurze Ent­stehungszeit seines Krimis und denkt bei sich, das kann er auch. Krimis gehen schließlich immer, das löst seine Finanzprobleme und wenn er sich selber unter Druck setzt, einen Krimi in sechs Tagen zu schreiben (unter Druck ist er immer am besten), dann schafft er das auch.

Eine Idee, ach was, zwei oder drei hat er bereits und probiert sie alle aus. Da braucht man ja nur in die Tageszeitung zu gucken, Diebstahl, Stalking, Börsenbetrug, Fälschung, Mord und Totschlag – alles frei Haus. Doch irgendwer will ihm Übel, irgendwer klaut ihm seine Ideen und ist gar so dreist, seine Geschichten als Hörer-Kommentar im Lokalfunk zu verbreiten, als Tuppek gerade zu Gast ist. Und woher kommt der Dachziegel, der plötzlich – ihn knapp verfehlend – auf dem Bürgerstieg landet?

Tuppek verdächtigt schließlich sein ganzes Umfeld, selbst seine ewige Jugendfreundin Lena ist vor Verdacht nicht gefeit. Und überhaupt – was hat Brad Pitt damit zu tun? Tuppek lässt sich nicht entmutigen, da ist er stur. Er hat schließlich seine Prinzipien – deswegen zieht er auch nicht weg aus dem Ruhrgebiet. Denn wenn er es hier nicht schafft, gute Geschichten zu schrei­ben, schafft er es woanders auch nicht.

Wie Tuppek lebt auch seine Schöpferin Doris Brockmann im nordöstlichen Ruhrgebiet (in Dorsten) und führt damit die Tradition erzählfreudiger Schriftstellerinnen aus dieser Stadt fort. Ihr Roman ist als Kindle-Version verfügbar und wird von ihr in Eigenregie vermarktet. So gesehen, war das Lesen dieses Romans durchaus ein Glücksfall. Denn genau das will man, wenn man sich  durch die Angebote der Indie-Autoren klickt. Eine kleine, feine Buch-Perle, sorgfältig recherchiert, klug beobachtend eine unterhaltsame Geschichte erzählend. Doris Brockmann ist dies gelungen. Behutsam ausformulierend, wohl auch ein wenig aus dem eigenen Erfahrungsschatz schöpfend, begibt sie sich auf die Ebene der Metafiction und begleitet ihren Adrian Tuppek mit viel Empathie, aber auch augenzwinkernd bei seinem Kampf mit dem inneren Schweinehund. Das Ganze garniert mit ruhrischem Lokalkolorit, der den Ortskundigen immer wieder zustimmend grinsen lässt.

Was zunächst irritiert, ist der abrupte Schluss. Man muss schon zweimal darüber nachdenken, bis man ihn akzeptiert und als folgerichtig und gelungen einordnen kann.

Mehr über Tuppek und über die Autorin erfährt man auf ihrer Internet-Seite walk-the-lines, aber auch auf der Nominierungsliste zum Leipzig Award für Indie-Autoren.

Doris Brockmann: „Das Schreiben dieses Romans war insofern ein Glücksfall“. E-Book, ASIN: B005YF0WG8, Dateigröße: 834 KB, Seitenzahl als Print-Ausgabe: 117 Seiten. 0,99 Euro.

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Auch ohne E-Reader kann man das Buch lesen, indem man sich eine kostenlose App herunterlädt. Das Verfahren wird hier beschrieben (bis zum Seitenende scrollen): http://www.walk-the-lines.de/buch/

 




Emotionen im Blick – Fotos als Seelenspiegel

Aino Kannisto: White Stones

Da steht sie nun, mit leeren Händen: eine junge Frau, rothaarig, schwarzweißes Kleid und kalkige Finger, inmitten einer grau-weißen Steinwüste. Sie blickt – ins Leere? Oder doch mit ängstlichen, erstaunten Augen in die Kamera? Das Bild, nein, diese Frau, die finnische Fotografin Aino Kannisto, ist uns ein Rätsel. Sie hat sich selbst abgelichtet, wieder und wieder. Doch es sind keine Porträts, die uns die Bochumer Galerie m hier zeigt, sondern sorgfältig vorbereitete, klar strukturierte Inszenierungen. Und der Titel der Schau, „She and She“, führt zu einer weiteren Erkenntnis: Kannisto schlüpft in Rollen, als wollte sie sagen „Ich bin eine andere“.

Was den jeweiligen Ort betrifft, scheint er vieles auszudrücken, nur nicht eins, die reale Welt. Die Frau im Bade: Ein Foto in unwirklichem Weiß, gebrochen nur durch Terrakotta-Kacheln und den von Patina durchsetzten Armaturen der Wanne. Ihr Blick scheint die Frage „Was soll ich hier“ auszudrücken. Die Frau im Garten sitzend: Sie mag Héléne heißen, so sagt es jedenfalls die Tasse, die vor ihr steht. Sie piekt mit der  Gabel wie lustlos in ihrem Kuchen herum. Doch was bedeuten die drei anderen Tortenstücke? Ist da jemand nicht gekommen?

Schließlich, die Frau neben einer rostrot bepinselten Holzwand. Eine wunderbare Licht-Schatten-Komposition. Sie trägt das Haar offen, ein schwarzes Kleid, die sommersprossigen Arme sind frei. Das einzige Bild von 20 Exponaten, in dem uns ein leicht herausfordernder Blick anschaut. Doch eigentlich, auch hier die große, irritierende Melancholie.

Aino Kannisto: Woman sitting in the garden

Kannistos Fotos wirken bisweilen wie Filmstills.  Standbilder inmitten einer Geschichte, die der Fantasie des Betrachters entspringen darf. Doch gleichzeitig bedeutet dieses Auf-den-Punkt-Bringen ein Verharren in der Lautlosigkeit, ja Einsamkeit. Kein Lächeln – eine Künstlerin stellt sich ins Zentrum von Inszenierungen, die vor allem eins suggerieren: Ich habe viel Bekümmernis.

Dieser Kummer nimmt seinen Lauf in teils unwirtlicher Umgebung. Die Frau unter einem weißen Tuch auf einer abgenutzten Steinbank liegend – ein Bild wie aus der Pathologie. Oder sitzend in einem schäbigen Zimmer, widerwillig in einer geknackten Walnuss pulend. Anderswo in einem heruntergekommenen Treppenhaus stehend, die braune Tür neben sich, selbst wie dramatisch gealtert wirkend. Ein düsteres Foto, wären da nicht die hellen Hautpartien, die sehr plastisch für die Ausgewogenheit der Lichtverhältnisse sorgen.

Viele sagen, Porträtfotographie ist dann gelungen, wenn es gelingt, in die Seele der Person zu blicken, die sich vor der Kamera befindet. Streng genommen hat Kannisto nicht sich selbst porträtiert, aber in die Seele schauen kann der Betrachter dieser Frau/diesen Frauen schon.

Ganz offensichtlich und von beiden auch so verstanden, handelt es sich indes bei den Fotos von Nevin Toy-Unkel und Dirk Vogel, zu sehen im Jüdischen Museum Dorsten, um Porträts. Um Bilder von Menschen, die eine Vergangenheit mehr oder weniger mit sich herumschleppen, die recht oder schlecht in der Gegenwart verankert sind und skeptisch bis hoffnungsfroh in die Zukunft schauen.

Ayse Simon, Anästhesistin aus Herne. Foto: Nevin Toy-Unkel

Sie alle leben in Deutschland, sie alle kamen aus der Fremde. Jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, denen sich der Dortmunder Dirk Vogel mit Behutsamkeit und sensiblem Gespür für den rechten Moment, den Auslöser zu drücken, nähert. Andererseits Migranten aus der Türkei, oder Deutsch-Türken der jüngeren Generation, die Nevin Toy-Unkel, in Marl lebend, überwiegend als freundlich dreinblickende Menschen fotografiert hat.

Wie etwa das smarte Unternehmer-Paar, das gleichsam für sich wirbt oder die Anästhesistin, die lächelnd und stolz in die Kamera schaut. Alle abgelichtet in ihrer jeweiligen Lebenssituation, in vertrauter Umgebung also, die im übrigen  wichtiger Bestandteil des Bildaufbaus ist.

Valeria Geruhmanova im geblümten Kleid. Foto: Dirk Vogel

Dirk Vogel wiederum ist seinen „Modellen“ an deren Lieblingsplätze gefolgt. Er fokussiert mehr auf die Gesichter, pflegt gleichzeitig die Liebe zu Details, die auf den jüdischen Glauben der Porträtierten verweisen. Da ist etwa die Dame im blütenbunten Kleid, die melancholisch in die Ferne schaut, im Hintergrund ein siebenarmiger Kandelaber. Oder die junge Frau mit Hut und schmalem Gesicht, die an den Film „Yentl“ mit Barbra Streisand erinnert.

Große Texttafeln sagen uns etwas über den Lebenslauf dieser Menschen, ihr Befinden und ihre Wünsche. Doch auch ohne das Geschriebene lassen die Bilder von Vogel und Toy-Unkel Deutungen zu. Das ist beeindruckend.

www.jmw-dorsten.de

www.m-bochum.de

 




Jüdisches Museum Westfalen: Die Würde der Tradition

Von Bernd Berke

Dorsten. Es ist nicht ganz leicht, das „Jüdische Museum Westfalen“ zu finden. Ein Hinweisschild erblickt man in Dorsten erst dann, wenn man die umgebaute alte Villa an der Julius-Ambrunn-Straße auch schon vor sich sieht. Und obwohl die Stadt ja nicht allzu groß ist, scheinen die wenigsten Einwohner den richtigen Weg weisen zu können.

Ein bißchen traurig ist dies lokale Schattendasein schon. Aber das Museum, weit und breit das einzige seiner Art, setzt ohnehin mehr auf Fernwirkung. Zumal aus den Niederlanden kommen häufig Besucher hierher, aber auch aus den USA und Israel.

Vor fast genau fünf Jahren wurde die Stätte der Erinnerung vom örtlichen „Verein für jüdische Geschichte und Religion“ begründet. Stadt und Land bezahlten den Ausbau des Domizils und trugen Betriebskosten. Die Betreuung der wertvollen Exponate muß dennoch weitgehend ehrenamtlich geleistet werden.

Einen Sammelschwerpunkt bilden kostbare jüdische Kultgeräte zu den Feiern im Jahreskreislauf. Größte Aufmerksamkeit gilt der Geschichte jüdischen Lebens in Westfalen. Torarollen, Bücher und Bilder sieht man hier ebenso wie etwa silberne Speisenbehältnisse zu bestimmten Festtagen.

Ein erschütternder Fund füllt einen Weidenkorb im Erdgeschoß: jene Sammlung von Büchern, die vor einigen Jahren auf einem Dachboden in Bottrop gefunden wurden. Diese Bücher haben jüdischen Familien gehört, die in Konzentrationslager deportiert wurden. Ausführlich dokumentiert man die Entwicklung des Antisemitismus, der im Mittelalter bereits Wurzeln geschlagen hatte.

Das Museum befaßt sich vornehmlich mit der Historie des Judentums, weniger mit Israels gegenwärtiger Entwicklung. Es dominiert die Würde des althergebrachten Kultes und damit die orthodoxe Lesart. In dieses Konzept fügt sich nun die bis 15. Juni dauernde Ausstellung des Künstlers Uri Shaked aus Tel Aviv ein. Seine „Bilder zu den jüdischen Festtagen“ erzählen, in scheinbar „naivem“ Duktus und frohen hellen Farben, von Menschen, die aus ihrer Religion heitere Hoffnung schöpfen. Die Gesichter aller Figuren, auch wenn sie in Rückenansicht gezeigt werden, sind stets dem Betrachter zugewandt. Es wirkt wie eine Einladung zur Teilhabe.

Jüdisches Museum Westfalen. Dorsten, Julius-Ambrunn-Straße 1 (in Bahnhofsnähe an der A 223). Tel. 02362/45 279. Di-Fr 10-12 und 15-18 Uhr, So 14-17 Uhr. Eintritt 5 DM. Bestandskatalog 280 Seiten, 38 DM.

 




Tisa von der Schulenburg: Skizzen zum Leben der Bergarbeiter

Von Bernd Berke

Essen. „Heute läßt man mich nicht mehr runter“, bedauert Tisa von der Schulenburg (80), daß sie nicht mehr in Bergwerke einfahren darf. Und man glaubt ihr, daß ihr die damit verbundenen Strapazen wenig ausmachen würden. Im Essener Ruhrlandmuseum, bei der Vorstellung ihres neuen Buchs „Meine dunklen Brüder“ (Herder-Verlag, Freiburg, 80 Seiten, 6,90 DM), wirkt sie beileibe nicht wie eine 80-Jährige.

Unerläßlich sind einige Stichworte zu ihrer Biographie: 1903 als Offizierstochter Elisabeth („Tisa“) Gräfin von der Schulenburg geboren; Kunststudien in Berlin und Paris, Begegnungen mit Bert Brecht, Heinrich Mann, dem Bildhauer Henry Moore und anderen bedeutenden Künstlern. 1933 folgt sie ihrem jüdischen Mann ins britische Exil, wo sie erstmals Szenen aus dem Bergarbeiterleben zeichnet. 1938 kehrt sie nach Deutschland zurück, arbeitet aktiv im Widerstand gegen die Nazis mit; 1947 wird sie Zeitungskorrespondentin im Ruhrgebiet, seit 1950 lebt sie als „Schwester Paula“ im Ursulinenkloster in Dorsten.

Ihr neues Buch enthält Berichte und Zeichnungen aus dem Umkreis des Bergarbeiteriebens in Großbritannien (30er Jahre) und im Ruhrgebiet (1947-1960). 40 Originale dieser Zeichnungen sind – leider nur bis zum Freitag – im Ruhrlandmuseum zu sehen: einfache, aber höchst ausdrucksvolle Skizzen in der Tradition von Käthe Kollwitz. Detailtreu, aber nicht detailversessen. Von der schweren Arbeit gebeugte Gestalten, illusionslos und doch mitfühlend festgehalten. Adolf Schmidt, Vorsitzender der IG Bergbau und Energie (IGBE), schrieb das Buchvorwort. Kernsatz: „Ich schätze an ihr besonders, daß sie den Schritt aus dem elfenbeinernen Turm der Kunst herausgewagt hat und sich mit dem arbeitenden Menschen befaßt.“

Für den Herbst kündigt ihr Verlag bereits das nächste Buch Tisa von der Schulenburgs an: In „Umkehr in die Freiheit“ wird sie ihre Erfahrungen mit dem Ordensleben darstellen.