Wie eine gute alte Freundin – Die Westfalenhalle wird 70 Jahre alt

Unverkennbare, verheißungsvolle Silhouette: die spätabendliche Westfalenhalle, aufgenommen am 15. März 2008. (Foto: Bernd Berke)

Es mag seltsam anmuten, wenn man dies über ein öffentliches Gebäude sagt, aber es stimmt: Die Westfalenhalle ist mir – wenigstens ein paar Jahrzehnte lang, immer mal wieder – wie eine gute Freundin erschienen und ans Herz gewachsen.

Vor 70 Jahren, am 2. Februar 1952, ist der imposante Rundbau (der ab 1925 schon einen eleganten, im Zweiten Weltkrieg zerstörten Vorläufer hatte) mit einigem Pomp nach Maß der frühen Nachkriegszeit eröffnet worden, der damalige Bundespräsident Theodor Heuss war selbstverständlich Ehrengast. Wie man nachlesen kann, hat es am allerersten Abend jedoch reichlich chaotisch begonnen, weil die Kartenaufdrucke nicht mit der Bestuhlung übereinstimmten.

Zum Beispiel… Santana. Man beachte die günstig erscheinenden Eintrittspreise. Doch damals war das nicht wenig Geld.

Seinerzeit galt die Westfalenhalle 1 mit ihrem damaligen Fassungsvermögen von bis zu 16.000 Leuten (wenn nur ein Boxring in der Mitte stand) als größte Sporthalle Europas. 2017, zum 65. Jubiläum der Halle, zitierte der WDR rückblickend die historisch-euphorische Stimme des Chefredakteurs von „Les Sports“ in Brüssel, der zur Eröffnung wie folgt in die Harfe griff: „Neben diesem fabelhaften Bauwerk“ habe „Köln eine Fabrik, Brüssel eine Garage und Paris eine Bahnhofshalle.“

Abermillionen Menschen haben hier Gipfelmomente des Show-Gewerbes erlebt. Um mal nur von Rock und Pop zu sprechen: Ich selbst habe hier zwar z. B. die Stones und Pink Floyd versäumt (und jeweils anderswo nachgeholt), aber beispielsweise Muddy Waters, Bob Dylan, Neil Young, Leonard Cohen, die Kinks, Santana oder auch Frank Sinatra in der Westfalenhalle gesehen und gehört. Es waren unvergessliche Abende, von denen man eben gern die Eintrittskarten aufhebt; jetzt mal abgesehen von weniger legendären Events wie etwa den Konzerten mit Eric Clapton, Mark Knopfler, Ideal oder den Toten Hosen (not my cup of tea).

Zum Beispiel… Bob Dylan. Damals gastierte er zusammen mit Tom Petty & The Heartbreakers.

Etliche Weltmeisterschaften (u.a. Eiskunstlauf, Eishockey, Handball, Tischtennis) kamen ebenso hinzu wie große Boxkämpfe, die alljährlichen Sechstagerennen sowie zahllose Fernsehshows und Messen, die immerhin ansatzweise internationales Flair nach Dortmund brachten. Auf unserem Schulweg kamen wir einige Jahre an der Halle vorbei und fanden zur Brauereimesse ringsum verstreute Bierdeckel sowie Kronkorken aus aller Welt. In unseren Taschen trugen wir sie nach Hause, aus purer Sammellust. Auch so eine Erinnerung. Nebensächlich und doch einprägsam.

Die goldenen Zeiten der großen Westfalenhalle sind leider vorüber, seit in Köln, Düsseldorf und Oberhausen ähnlich große, modernere Arenen entstanden sind, die mir allerdings bei weitem nicht so beseelt zu sein scheinen wie die Dortmunder Halle, in der so viele Größen gastiert haben. Es ist, als wäre von ihnen allen etwas geblieben, als würde da noch etwas Unnennbares im Raum schweben. Doch ach! Betrüblich, dass dieser genius loci nicht mehr waltet, sondern allenfalls noch in flüchtigen Spurenelementen vorhanden ist.

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Um das Ereignis chronologisch zu flankieren:

2. Februar 1952 Eröffnung der Westfalenhalle
6. Februar 1952 Elizabeth II. Königin – nach Tod ihres Vaters George VI.
7. Februar 1952 Wolfgang Koeppens Roman „Tauben im Gras“ erscheint.




Hier gibt es für Künstler nichts zu lachen – Milan Peschels „Das Vaudeville der Verzweiflung“ im Theater Dortmund

Szene mit Marlena Keil (liegend), Alexander Dakow, Linus Ebner, Anton Andreew, Bettina Engelhardt und Ekkehard Freye (von links). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Leicht zugänglich ist dieses Stück nicht, trotz seines munteren Aufspiels. Vieles geht hier durcheinander, Zeitebenen und Rollenzueignungen bleiben unscharf, der Text trägt eher zu weiterer Verwirrung bei, als daß er die erklärenden Bezüge schaffte. Das Dortmunder Theater zeigt „The Head in The Door oder Das Vaudeville der Verzweiflung“; Milan Peschel hat das Stück geschrieben und führt nun auch Regie.

Das Theater steht im Dortmunder Fredenbaumpark

Die Bühne: Ein Vorhang hinter dem Vorhang und dort, auf der Drehbühne, ein holzlattiges Gebilde mit einem weiteren Vorhang. Dies soll das Vaudeville-Theater sein, das die Inszenierung, köstlicher Scherz, nach Äußerungen der Darsteller im Dortmunder Fredenbaumpark angesiedelt hat. Beziehungsweise sind es die Reste davon, denn schon lange verfällt das ganze, einen Besitzer gibt es nicht mehr, nur eine Gruppe von sieben Schauspielern und Schauspielerinnen harrt in den Kulissen aus und ist dabei pausenlos in Bewegung.

Szene mit Nika Mišković, Bettina Engelhardt, Anton Andreew, Alexander Darkow, Ekkehard Freye, Marlena Keil und Linus Ebner. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Das Ende der Vorstadtbühnen

Der Programmzettel gibt eine historische Verortung, genauer gesagt gleich zwei. Einerseits soll das ganze mehr oder weniger in den 1920er Jahren spielen, als in Amerika der Film, der ja bald auch schon sprechen können würde, den kleinen, schäbigen Vorstadttheatern die Luft abschnürte. Daneben wird aber auch die Jahreszahl 1960 genannt – die Sechziger gleichsam als Symbol für den Verlust von Moral, Hoffnung, Vertrauen in der westlichen Welt, von vielem Althergebrachten, besonders im Showgeschäft. Die Filme veränderten sich, die Helden veränderten sich. Und das schauspielende Fußvolk mußte zusehen, wo es blieb. Doch diese Zeitbeschreibung entnehmen wir, wie gesagt, zunächst einmal nur dem Programmzettel.

Theatralische Erregtheit

All dies ist ja auch längst Vergangenheit, wenn wir die sieben Mimen in ihrem Fredenbaum-Vaudeville persönlich kennenlernen. Das Outfit einiger von ihnen läßt klassische Kinogestalten erahnen, Western-Helden, einen Charly Chaplin, eine Joan Crawford usf. Die Atmosphäre ist, so könnte man vielleicht sagen, mit theatralischer Erregtheit aufgeladen. Man schwelgt in Erinnerungen, man streitet darüber, wie Figuren anzulegen sind, wie die Haare frisiert sein müssen, wie man bestimmte Namen ausspricht. Mal auch, ziemlich zu Beginn, spielt man eine üppige Wildwest-Schießerei durch. In seliger Verklärung erinnert man sich an Rollen und Nebenrollen in trashigen Fernsehvielteilern, Ballerfilmen, Spaghettiwestern und so weiter.

Screwball-Komödie

Nach Art der Screwball-Komödien fliegen die Sätze hin und her; Nebensächlichkeiten werden immer wieder zu kontrovers diskutierten Zentralthemen, oft aber auch gleiten die Gespräche ins Absurde ab oder finden im Paradox ihr plötzliches Ende – es ist eine sehr amerikanische Form der Diskussion, Woody Allen oder auch die Marx-Brothers haben in Filmen manchmal ähnliche Dialoge gehabt. Das amerikanische Comic-Magazin MAD hat Gespräche wie diese zu gezeichneten Geschichten gemacht. Hier in Dortmund, in Peschels Stück, bleiben sie aber immer etwas fahrig, münden selten in zündende Pointen. Doch bleibt das Bühnenpersonal bei alledem heiter und immer unter Dampf, und das ist ja auch was.

Auf der etwas abschreckenden Vaudeville-Bühne (von links): Anton Andreew, Linus Ebner, Alexander Dakow. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Blickwinkel ändert sich

Was haben wir noch? Lustige Tanzeinlagen zu gnadenlosen Ohrwürmern der Unterhaltungsmusik, Jonglage, witzige, schreiend bunte Kostüme. Doch den Personen kommen wir bei alledem in den ersten zwei Dritteln dieses Theaterabends nicht wirklich näher. Künstler eben.

Nach etwa zwei Dritteln der Spielzeit allerdings ändert sich der Blickwinkel dieses eigentümlichen Stücks. Aus schwadronierenden, hyperaktiven, pointengeilen Kunstfiguren werden relativ abrupt armselige, bedürftige Gestalten, die in ihrem (unbeheizten!) Vaudeville-Theater auch übernachten, weil sie sich keine Wohnung mehr leisten können. Und irgendwie ist es ja ein Wert an sich, im Theater zu sein, zumal, wenn da auch noch ein Publikum – Geste in den Zuschauerraum hinein – ist. Gepriesen wird nun ein Leben ohne Zeit- und Arbeitsdruck, ein Recht auf Faulheit und auf schlechte Laune. Warum soll man sich schinden? Franz Kafkas Käfer in Rückenlage, vormals bekannt als Mensch Gregor Samsa, bringt es unerwartet zum Ideal, wenn er überhaupt keine Lust hat, die scheinbar hilflose Position mit Fleiß und Zähigkeit zu überwinden. Nun gut. Allerdings kommt das recht unvermittelt und thesenhaft daher, wird nicht entwickelt oder argumentativ begründet. In einem „Vaudeville der Verzweiflung“ – mit der Betonung auf Verzweiflung – haben solche Vorstellungen eines alternativen Lebensentwurfs wohl eh kaum Chancen auf Verwirklichung.

Ob das stimmt?

Man ahnt Absicht und Anspruch, man fühlt sich kurzweilig unterhalten, aber die Message bleibt verschwommen. Vielleicht soll das ja auch so sein, trotz der Behauptung des Programmzettels, Milan Peschel habe Mitte der 60er Jahre „die Zusammenarbeit mit dem Ensemble des Schauspiel Dortmund“ begonnen, um „in einigen Gebieten des nördlichen Amerika aber vor allem in Europa“ für sein Stück zu recherchieren. Wir vermuten hier Fake, und außerdem: Was will er da recherchiert haben? Unzufriedenheit mit der Welt, wie sie eben gerade ist, war auch in den Sechzigern schon keine ganz neue Entdeckung. Die Verbindung aber von Leistungsverweigerung und Anspruchshaltung, heutzutage auch jenseits des Theaters häufiger wahrzunehmen und mit dem Diktum einer vermeintlichen Chancenlosigkeit eher unzulänglich und auch unzutreffend grundiert, muß nicht zwingend Zustimmung finden.

Überzeugendes Ensemble

Bleibt wieder einmal die Darstellerriege zu preisen, die ganzen Einsatz zeigt und sich durch einen Riesenberg Text hindurcharbeiten mußte: Anton Andreew, Alexander Darkow, Linus Ebner, Bettina Engelhardt, Ekkehard Freye, Marlena Keil und Nika Mišković. Sie bekamen reichlichen Applaus, und den haben sie auch verdient.




Alles so schön bunt hier – „Das Spiel ist aus“ nach Jean-Paul Sartre in Dortmund

Pierre und Eve (Adi Hrustemović und Sarah Yawa Quarshie) sind fast ein Traumpaar. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dotmund)

Bunte Neonröhren an Wänden und Decke illuminieren in rhythmisch getaktetem Aufleuchten die Bühne, Wandflächen konturieren sich in pulsierenden Lichtrahmen, harte, schnelle Beats wummern durch den Raum.

Endlich betreten die beiden Hauptpersonen die Bühne. Sie sind, das wird bald klar, durch Farb-, Licht- und Klangwirren hindurch im Totenreich angelangt, wo nun Nummern aufgerufen werden, mit denen die Neuen sich zur Registratur zu begeben haben. Ordnung muß schließlich sein. Man prüft, man sieht: etwas ist hier nicht in Ordnung, ein Fehler der Verwaltung, der korrigiert werden muß. Das ganze nimmt Fahrt auf, und nur am Rande irritiert, daß das Stück „Das Spiel ist aus“ heißt. Denn ganz im Gegenteil folgt nun eine relativ fest gefügte Handlung, die auch Azeret Kouas Inszenierung auf der Studiobühne des Dortmunder Schauspiels nicht verschweigt.

Film aus dem Jahr 1947

Vorlage für diesen Theaterabend ist der Film gleichen Titels aus dem Jahr 1947, für den Jean-Paul Sartre das Drehbuch schrieb und den die Kritik bis heute einhellig lobt. Lediglich das „Handbuch der katholischen Filmkritik“ glaubte 1960 anmerken zu müssen, daß der Film „aber nur für wirklich reife Menschen von Nutzen“ sei. Diese sauertöpfische Einlassung muß man verstehen, geht es doch darum, daß der existentialistische Philosoph Sartre hier den Zwang der Verhältnisse über die gleichsam göttlichen Regelungen von Leben und Tod stellt, die bekanntermaßen zur Kernkompetenz der Kirchen gehören.

Queen und King of Nebenrolle, hier zu sehen im Bürokratiehäuschen des Totenreichs: Antje Prust und Raphael Westermeier. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Eve und Pierre

Die Geschichte erzählt von Eve und Pierre, die beide ermordet wurden und nun im Totenreich aufeinandertreffen. Es stellt sich heraus, daß sie eigentlich füreinander bestimmt waren und ihre Verbindung auf Erden durch einen (quasi himmlischen) Verwaltungsfehler unterblieb; daher bekommen sie die Möglichkeit, innerhalb von 24 Stunden das Versäumte auf Erden nachzuholen. Und was in Hollywood eine himmlische Komödie hätte werden können, endet bei Sartre – zwei Jahre nach Kriegsende recht nachvollziehbar – im Desaster. Zurück auf Erden will Pierre, Arbeiterführer und Revolutionär, seine mißtrauischen Genossen zunächst von einem Aufstand abhalten, von dem er weiß, daß er verraten wurde; Eve muß feststellen, daß ihr Mann sie ermordete, der lange schon ein unbemerktes Techtelmechtel mit ihrer Schwester hatte. Wie unter diesen Umständen die große Liebe finden? Bevor sich Eve und Pierre final in die Arme fallen können ist die Zeit um, und zurück geht es ins Totenreich. Dumm gelaufen.

Streit mit Schwester und mörderischen Gatten, beide links im Bild. Darsteller von links: Raphael Westermeier, Antje Prust, Sarah Yawa Quarshie und Adi Hrustemović (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Einiges zu klären

Heutzutage, da das Fernsehen überquillt von soften Liebesgeschichten mit garantiertem Happy End, wirkt das Scheitern der Liebe von Pierre und Eve auf das Publikum möglicherweise irritierend. Da wäre von der Theaterinszenierung einiges zu erklären, einiges auch zunächst zu klären. Die Dortmunder Produktion jedoch zeigt wenig Interesse daran, Motiv- und Problemlagen ernstlich auszuleuchten. Dabei, es soll nur ganz leise angedeutet werden, ist doch gerade die Liebe zwischen Mann und Frau oft eine recht komplizierte Angelegenheit. Gern bemüht man zur Verdeutlichung das Sprachbild vom Wechselbad der Gefühle; und wenn es die erste (große) Liebe ist, wird es noch schwieriger.

Nach Art des Hauruck-Kaspers

Aber Psychologie kommt auf der Dortmunder Studiobühne nicht vor. Ganz nach Art des Hauruck-Kaspers auf der Kirmes wird die Geschichte in 80 Minuten atemlos und hoch motorisch durchgebolzt. Laut und grell ist das ganze, aber nicht wirklich lustig und auch nicht tragisch, weil den Figuren die individuelle Zeichnung vorenthalten bleibt. Möglichkeiten der Intensivierung durch den direkten Kontakt zum Publikum, über die nur das Theater verfügt, bleiben ungenutzt. Das Geschwurbel schließlich vom „patriarchalen Kapitalismus“ auf dem Programmzettel, mit dem das alles irgendwie zu tun haben soll, wirkt gänzlich abwegig.

Sportlichkeit und Präsenz

Wenn aber Schauspielkunst kaum nachgefragt wird, haben es die Schauspieler schwer. Auf jeden Fall ist Adi Hrustemović, Antje Prust, Sarah Yawa Quarshie und Raphael Westermeier viel Sportlichkeit und Präsenz zu attestieren. Ihnen zu wünschen bleiben Inszenierungen, in denen sie mehr von ihrem Können zeigen können.

  • Weitere Termine
  • 25., 26. Januar, 2., 19. Februar, 5., 24. März
  • www.theaterdo.de



Früher war einfach mehr Kneipe!

Schankraum der Gaststätte Lohsträter, Herringen (Hamm), um 1920. (Gustav-Lübcke-Museum/Sammlung Heinz Hilse)

Ach, wo sind sie nur geblieben, die vielen Eckkneipen Westfalens, zumal im Ruhrgebiet? Wo sind die knarzigen, urigen Typen, die dort Abend für Abend gehockt und frei von der (wohl arg strapazierten) Leber weg geredet oder stundenlang schweigend gesüffelt haben?

Früher war’s nicht besser, aber anders. Da gehörten mindestens zwei Dinge zwingend zum Kneipenwesen: eine Jukebox und ein Flipper. Aber halt! Das war ja schon eine Weiterentwicklung für die damals jüngeren Jahrgänge. Noch vorher zählten zum unverbrüchlichen Inventar die gemeinschaftlichen Sparkästen mit nummerierten Fächern – und Soleier im Glas, das möglichst auf der Theke zu stehen hatte. Zuallererst natürlich stets das „Grundnahrungsmittel“: frisch gezapftes Bier, zünftiger noch in Form des „Herrengedecks“, also Bierchen und Schnäpschen in ritueller Abfolge.

Richtige Arbeiterkneipen habe ich kaum noch kennengelernt. Eine Frage des Jahrgangs und des Wohnviertels. Immerhin hat mein Vater mich (es muss wohl 1958 gewesen sein, zur Fußball-WM in Schweden) im Schatten der Dortmunder Zeche Germania als Kind mal zum Fußballgucken in eine solch proletarische Kneipe mitgenommen. Da flackerte einer der frühen Fernsehapparate – und es ging ziemlich hoch her, wenn ich mich recht entsinne.

O grelles frühes Tageslicht!

Die Zeit, als ich öfter in Kneipen gegangen bin, ist auch schon lange her. Die Lokale hatten sich allerdings schon damals verändert. Wir haben uns meist im vormals kleinbürgerlichen Dortmunder Kreuzviertel herumgetrieben, wo sich in den 1970er Jahren allmählich Szenekneipen herausbildeten, also eher studentische Treffs. Ein abendlicher Lebensmittelpunkt war für uns der „Bunker“, tatsächlich ein ehemaliger Weltkriegsbunker, in dem man sich – buchstäblich unterirdisch – ganze Nächte um die Ohren schlug. Frühmorgens gegen vier ließ der Wirt nach all dem Rock-Gedöns unversehens „Guten Morgen Sonnenschein“ von Nana Mouskouri laufen. Ein Schock. Draußen zwitscherten schon die Vögel. O grelles frühes Tageslicht im Sommer!

Wirtin Ingrid Brede in der Hammer Kneipe „Blauer Affe“, 1962. (Gustav-Lübcke-Museum/Sammlung Ludger Moor, Hamm)

An solche harmlosen Eskapaden bin ich jetzt durch eine Ausstellung im Hammer Gustav-Lübcke-Museum erinnert worden: „Treffpunkt Kneipe“ erzählt die Geschichte, die mit allerlei klösterlichen und privaten Braustätten (wenn etwas übrig war, stellte man halt Bänke auf und bat Gäste hinzu) als Kneipen-Vorläufern beginnt. Anno 1719 hat es allein in Hamm rund 50 Braustellen gegeben, mit der Industrialisierung wuchs die Isenbeck-Brauerei, die mittlerweile auch Geschichte ist. Warsteiner hat die Marke gekauft.

Funktionen gewonnen, Funktionen verloren

Die Kneipe, so erfährt man in der Schau, hat im Laufe der Zeit viele Funktionen gewonnen und nach und nach wieder verloren. Ehedem dienten die Lokale als politische Versammlungsstätten, als Vereinsheime, Orte für Gymnastik und Boxsport (im Rahmen der Arbeiterbewegung), Proben- und Auftrittsräume für Chöre oder sonstige Musikensembles. Überhaupt gab’s hier Kultur sämtlicher Sparten. Etliche Kneipen hatten Theaterbühnen oder dienten mangels Museum als Ausstellungsräume. Zeitweise fanden Modenschauen oder Auktionen statt, es wurden bizarre kleine Weltwunder vorgeführt, auch schauten Zahnärzte nebst anderem ambulanten Gewerbe vorbei. Das ganze bunte Leben.

Bergleute der Zeche Radbod beim Umtrunk, 1913. (Gustav-Lübcke-Museum/Sammlung Christa Weniger)

Zwei westfälische Stätten haben sich mir vor Jahren besonders eingeprägt: zum einen das gediegene, urgemütliche Gasthaus Porten Leve in Warendorf – und die ganz anders geartete „Klosterkanne“, ein bahnhofsnaher Schuppen just in Hamm. Heute kann man’s ja freimütig zugeben: In dieser Spelunke sind auch gewisse Lokaljournalisten verschiedener Blätter gelegentlich schon mal untertags „versackt“. Alle Gäste rauchten wie die Teufel, aus der Jukebox plärrten damals Gassenhauer wie „Waterloo“ von Abba und „Sugar Baby Love“ von den Rubettes, wahlweise auch Schunkler wie „Drink doch eine mit“ von den Bläck Fööss oder „Die kleine Kneipe“ von Peter Alexander. Andere Zeiten, andere Songs, andere Sitten.

Wie es wohl weitergehen wird?

All das war nicht annähernd vergleichbar mit dem, was wir zu jener Zeit in Irland erleben durften. Das war eine andere Kneipen- oder eben Pub-Kultur! Wenn zu so manchem „Pint of Guinness“ der ganze proppenvolle Laden zusammen aus voller Brust Folk-Songs anstimmte, wurde es einem auch ums westfälische Herz recht warm.

Inzwischen hat es einigen Niedergang oder jedenfalls Wandel gegeben. Ganze Kneipenquartiere, wie etwa jenes um den Dortmunder Ostwall herum, sind praktisch restlos verschwunden. Ob das Bochumer „Bermuda-Dreieck“ ein Ersatz ist? Nun ja, es ist nicht dasselbe. Ansonsten sind reine Kneipen vielfach Speiselokalen mit internationaler Anmutung gewichen. Statt von Kneipen redet man öfter von Clubs. Im Gefolge der Corona-Pandemie und erst recht seit Aufkommen der Omikron-Mutation ächzt die gesamte Gastronomie nicht nur unter Personalnot.

Wie es weitergehen wird? Hoffentlich bald wieder vital und betriebsam. Darauf heben wir die Gläser und bringen den landesüblichen Trinkspruch aus: „Wohlsein!“

Lokal fokussierte Ausstellung zum Thema: „Treffpunkt Kneipe. Hammer Lokalgeschichten“. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße. Noch bis 20. März. Mehr Infos:

https://www.museum-hamm.de/ausstellungen/aktuell/treffpunkt-kneipe/
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Der Text ist zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ (Münster) erschienen. www.westfalenspiegel.de




Katze im Sack und ein früher Weihnachtsbaum – Lerne staunen mit der Stadtteilzeitung!

Warum lässt man im Lokalteil oft erst so spät „die Katze aus dem Sack“? Die Auflösung gibt’s erst im Text… (Symbolbild: Bernd Berke)

Schon öfter habe ich mich über die Dortmunder Stadtteilzeitung geärgert, die von den Ruhrnachrichten erstellt wird und – oh, wunderbare Pressevielfalt in einer Stadt mit rund 600.000 Einwohnern – auch in der WAZ-Lokalausgabe und in der seit fast neun Jahren redaktionslosen Phantomzeitung „Westfälische Rundschau“ erscheint.

Gewiss: Gelegentlich gibt’s auch mal interessante Artikel. Gar oft aber finden sich z. B. Senioren, die auf einen mehr oder weniger geringfügigen Missstand deuten (buchstäblich: Auf den Fotos zeigen sie gern demonstrativ drauf, etwa auf Schlaglöcher), welcher dann länglichst bekakelt wird. Überhaupt ist die Qualität der Fotos oft erbärmlich. Man merkt, dass vielfach Amateure am Werk sind. Die Zeilen- und Bildhonorare für freie Mitarbeit sind ja auch dementsprechend geringfügig.

Textlich hat sich, seit die Parole „online first“ gilt, quer durch den Lokalteil die früher verpönte Unart breitgemacht, mit entscheidenden Infos 1.) nicht in die Überschrift zu gehen, sondern dort noch alles offenzuhalten und 2.) selbige Infos auch im Fließtext erst weit hinten zu bringen, am liebsten ungefähr im vorletzten Absatz. Dass man derart hinter dem Berg hält, erklärt sich daraus, dass das geneigte Publikum mit der wortgleichen Online-Version möglichst lange bei der Stange bleiben soll. Also lässt man die redensartliche Katze erst ganz spät aus dem Sack. Das kostet auf Dauer richtig Lese- und Lebenszeit.

Baum schon geschmückt? Wow! Das ist der Aufmacher…

Ein anderweitiger Tiefpunkt ist mit der heutigen Ausgabe erreicht. Wenn jemand mal ganz groß in der hiesigen Stadtteil-Ausgabe rauskommen will, muss er/sie lediglich bereits den Weihnachtsbaum aufgestellt und geschmückt haben. Ja, das reicht offenbar schon. Dann kommt sogar der Redaktionsleiter höchstselbst und widmet dem ungeheuren Umstand zwei Drittel der Seite, garniert mit nicht weniger als drei Fotos. Die Frau, die da alle Einzelheiten zu ihrem Weihnachtsbaum ausbreiten darf, sagt auch noch, dass frühzeitiger Baumschmuck eh ein Trend zu sein scheine. Ganz normal also. Egal. Die Sache wird trotzdem riesig aufgemacht, fünfspaltig, nahezu blatthoch! Gegen Schluss kommt auch noch die (im Lokalen häufiger übliche) Werbung geschlichen. Ja, die Tannenbaum-Frau betreibe bei Instagram auch noch eine Ernährungsseite. Wie überaus schade, dass man in der Print-Ausgabe nicht direkt darauf verlinken kann…

Diese ganz gewöhnliche Petitesse soll das Wichtigste im gesamten Dortmunder Nordosten gewesen sein? Is‘ eh wurscht, wenn es am Ort keine nennenswerte Medienkonkurrenz mehr gibt. Wie geht nochmal das Emoticon für bitteres Auflachen?




Sozialer Aufstieg hat seinen Preis – Theater Dortmund zeigt „Der Platz“ nach dem Roman von Annie Ernaux

Marlena Keil, Antje Prust, Mervan Ürkmez, Linda Elsner, Lola Fuchs, Raphael Westermeier (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Was, so könnte man zu Beginn vielleicht fragen, macht den Wert einer Biographie aus? Bei Herrschern, Künstlern oder Verbrechern, beiderlei Geschlechts sie alle natürlich, fielen uns schnell Antworten ein; stets gilt es von der Lebensleistung zu berichten, von großen Taten oder großen Irrtümern, von Wahnsinn oder tragischer Verstrickung.

Macht und Reichtum begünstigen fraglos die Entstehung von Biographien, doch auch arme Leute können ein interessantes – und somit berichtenswertes – Leben geführt haben. Wenn aber nur ein zu jeder Zeit ausgesprochen durchschnittliches Leben gelebt wurde, es bis zum etwas frühen Tod mit 68 keine dramatischen Brüche und Wendungen gab – ja was soll man da erzählen? Und vor allem: warum?

Musikerin Houaida (links) (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Laden und Kneipe

Annie Ernaux (Jahrgang 1940), französische Schriftstellerin mit starker Neigung zum Autobiographischen, hat es in ihrem Buch „Der Platz“ (1983) getan. Sie erzählt die Geschichte ihres Vaters, der zuerst Knecht auf einem normannischen Bauernhof war, später Industriearbeiter, und sich schließlich mit einem kleinen Laden nebst Kneipe selbstständig machte. Die kleinbürgerliche Selbstständigen-Existenz wird als sozialer Aufstieg gesehen, wenngleich die Einkommensverhältnisse bescheiden bleiben. Der Vater bemüht sich um ein gewandtes Auftreten, um seine vermeintlich bessergestellte Kundschaft zu beeindrucken, doch Minderwertigkeitsgefühle und die Angst vor dem Zurücksinken in eine proletarische Existenz bleiben lebenslang.

Das ist im Grunde die Geschichte. Erzählt wird sie rückblickend von der erwachsenen Tochter, die Gymnasiallehrerin geworden ist und durch ihre Verbeamtung Teil der bewunderten, beneideten, privilegierten Mittelschicht. Vom Vater hat sie sich dadurch entfremdet, beklagt sie.

Und nochmal, von links: Antje Prust, Linda Elsner, Raphael Westermeier, Lola Fuchs, Marlena Keil, Mervan Ürkmez (Foto: Theater Dortmund/Birgit HupfeldEEei

Endlich im Großen Haus

Im Schauspiel Dortmund hat Julia Wissert Annie Ernaux’ Buch „Der Platz“ nun als Stück auf die Bühne gebracht. Es ist dies die erste Inszenierung von Dortmunds immer noch neuer Intendantin im Großen Haus, wenngleich sie schon seit der vergangenen Spielzeit im Amt ist, Corona hat Schuld.

Gleich sechs Darstellerinnen und Darsteller bietet sie für den Monolog der Annie Ernaux auf, um das Leben des Vaters in recht straff geordneten Rückblenden zu erinnern. In etwa, ganz genau ist das nicht immer zuzuordnen, stehen verschiedene Akteure für die unterschiedlichen Entwicklungsstadien der heranwachsenden, später erwachsenen Tochter. Ihr Leiden unter der Nicht-Intellektualität des Elternhauses, ihre Minderwertigkeitsempfindungen gegenüber Kindern aus dem bürgerlichen Milieu, ihre Trauer um die Förderung, die das eigene Elternhaus ihr trotz gutem Willen nicht geben konnte – das sind, wenn man einmal so sagen darf, wesentliche Befindlichkeiten dieses Vortrags, der die Tochter (oder auch, wenn man so will, die Romanautorin) weitaus gründlicher zum Gegenstand autobiographischer Betrachtung macht als den Herrn Papa: Der schwere Aufstieg aus dem proletarischen Milieu – voilà.

Peinlicher Alter

Noch einmal ketzerisch nachgefragt: Sind solche Biographien es wert erzählt zu werden? Wie gesagt, Besonderes geschieht angeblich nicht. Oder könnte es sein, daß die Tochter an ihrem Vater vieles nicht oder nicht hinreichend wahrgenommen hat? Oder daß sie gar Dinge weggelassen hat, die nicht in das letztlich recht schlichte Konzept von ungebildetem Vater und zu kurz gekommener Tochter paßten? Ein dialektisch grundiertes Verfremdungsgeschehen ist nicht zu erkennen, und das häufige Hantieren mit Zentralbegriffen wie Scham und Entfremdung vermag nicht gänzlich zu überzeugen. Der Alte war ihr peinlich, könnte man respektlos vermuten, auch weit über die Pubertät hinaus. Mehr jedenfalls wird uns nicht berichtet.

Die Frage nach den Ressourcen wird nicht gestellt

Dabei wäre die Frage nach den Ressourcen der erfolgreichen Tochter wichtig gewesen, von denen es ja auch einige gegeben haben muß. Warum zum Beispiel kommt die Mutter mit wenigen kleinen Ausnahmen in all den Lebenserinnerungen nicht vor? Sie dürfte doch auch wichtig gewesen sein für das Kind – und übrigens auch für den gemeinsamen, mutigen Beschluß der Eheleute, eine selbstständige Existenz aufzubauen. Beim Vater wird zumindest deutlich, daß er, wenn er seine Tochter auch nicht intellektuell fördern konnte, doch stolz auf sie war und ihr den sozialen Aufstieg gönnte.

Etwas somnambul und etwas rätselhaft: das Ensemble in steter Bewegung (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Recht ordentlich

Wenn man so schnell bei den inhaltlichen Valeurs eines Stückes anlangt, dann spricht das für die Qualität der Inszenierung. Zwei Männer und vier Frauen tragen in sachlich-engagiertem Ton vor, machen neugierig auf zukünftige Taten des neuen Ensembles: Antje Prust, Linda Elsner, Lola Fuchs, Marlena Keil, Mervan Ürkmez, Raphael Westermeier.

Ihre Körperlichkeit steht dabei in einem gewissen Widerspruch zum nüchternen Textprotokoll. Alle sind sie mehr oder weniger immer in Bewegung, getrieben suchend, schematisch agierend, ein wenig rätselhaft, ein wenig somnambul. Etwas emotionale Aufladung durch feinen Gesang hier und da (Musik: Houaïda) wirkt entspannend. Glücklicherweise widersteht die Inszenierung der Versuchung, Motive von Ausgrenzung, Rassismus, Klassengesellschaft oder ähnlichem einzuflechten. Kluge Theaterbesucher kommen auch von alleine darauf, daß es da Bezüge gibt.

Wenig Publikum

Leider kann nicht unerwähnt bleiben, daß zur fünften Aufführung kaum 30 Zuschauer den Weg ins Dortmunder Theater (Großes Haus!) fanden. Vermutlich war es keine gute Idee, in den letzten Wochen der Spielzeit 2020/2021 nicht mehr zu spielen, als dies bei Beachtung der Hygieneauflagen wieder möglich gewesen wäre. Auch ein abgespecktes Sommerprogramm wäre vorstellbar gewesen, um für Aufmerksamkeit zu sorgen. In Dortmund aber herrschte zu lange zu viel Ruhe. Zudem haben Intendantenwechsel, wie eben in Dortmund, oft auch den Verlust von Teilen des alten Stammpublikums zur Folge. Und Korona hat seinen Schrecken noch nicht verloren. Heißt: Das Theater Dortmund muß sein Publikum zurückgewinnen. Wünschen wir ihm Glück dabei.

 

 




Im Schlepptau der Tourismus-Werbung: Wenn die Badische Zeitung einen Trip nach Dortmund empfiehlt

Kommt en passant auch vor: Kreativzentrum „Dortmunder U“. (Foto von 2019: Bernd Berke)

In der „Badischen Zeitung“ blättern wir nicht allzu häufig, auch nicht online. Das Blatt erscheint in der gemeinhin als besonders edel, schön und gut geltenden Stadt Freiburg. Ausgerechnet die dortige Redaktion lockt nun ihre Leserschaft nach – Dortmund. Nanu?

In einem längeren Artikel, der am letzten Wochenende erschienen ist, wird die größte Stadt Westfalens als lohnenswertes Reiseziel – zumindest für einen Tag – gepriesen. Die Revier-Metropole sei „mit 63 Prozent Grünfläche eine der grünsten Europas“. Schon wollen wir uns lokalpatriotisch geschmeichelt fühlen, jedoch…

Im Rahmen des Erwartbaren, beginnt die Tour gleich mit dem BVB-Stadion „Signal-Iduna-Park“. Autorin Katharina Hensel wäre freilich noch etwas besser beraten gewesen, hätte sie zumindest erwähnt, dass der Fußballtempel im hiesigen Volksmund unbedingt Westfalenstadion genannt wird. Reisende aus der Freiburger Gegend, die demnächst nach dem Dortmunder Stadion fragen, sollten möglichst die zweite Variante wählen. Sonst fällt die Antwort vielleicht etwas einsilbig aus. Oder gönnerhaft.

Es folgen nach und nach weitere Attraktionen, sozusagen die „üblichen Verdächtigen“, wie etwa der familienfreundliche Westfalenpark (aber nicht der ungleich schönere und noch dazu kostenlos zu besuchende Rombergpark), der vor einigen Jahren künstlich angelegte Phoenixsee auf dem früheren Hoesch-Stahlwerksgelände, das beliebte Kreuzviertel mit angrenzendem Südwestfriedhof und Westpark. Dann geht’s flugs in die Innenstadt zum Westenhellweg und zur Shopping Mall „Thier Galerie“ (die ich persönlich nach Kräften meide), rasch zum Deutschen Fußballmuseum und diversen Kirchen sowie zum Wochenmarkt. Von ruppigeren, aber auch markanteren Ecken wie Nordstadt oder Brückstraßenviertel erfährt man nichts. Da schickt man ja auch keine Freiburger*innen hin…

Aber die Kultur? Wird punktuell abgehakt. Das imposante Kreativzentrum „Dortmunder U“ mit Ostwall-Museum, die schmucke Zeche Zollern als Zentrale des Westfälischen Industriemuseums. Theater und Konzerthaus kommen hingegen nicht vor. Ganz offenkundig hatte die Verfasserin abends keine Zeit mehr. Wahrscheinlich musste sie den Zug nach Freiburg erwischen, den sie am Ende erwähnt.

Und woher hatte Katharina Hensel die Tipps für die Sehenswürdigkeiten? Vielleicht auch aus einem Reiseführer. Vor allem aber wohl von Sigrun Späte von der Agentur „Dortmund Tourismus GmbH“. Wenn man all die unentwegt eingestreuten, natürlich durchweg empfehlenden Späte-Zitate zur Kenntnis nimmt, muss man argwöhnen, dass Frau Hensel ihr auf Schritt und Tritt gefolgt ist. Andere Quellen werden erst gar nicht zitiert. Die Lesenden in und um Freiburg müssen sich ganz und gar auf Sigrun Späte verlassen. Ob nun berechtigt oder nicht: Das Lob für die Stadt erweist sich quasi als Eigenlob.




Wo selbst Prominentengräber unscheinbar sind – ein Gang über den Dortmunder Südwestfriedhof

Recht unscheinbar: Grabinschrift des Dada-Dichters Richard Huelsenbeck. (Foto: Bernd Berke)

Blickt man über den etwas seitwärts gelegenen „Ehrenfriedhof“ (mit Gräbern u. a. aus dem Ersten Weltkrieg) hinweg, so erhebt sich dahinter mit seiner gigantischen gelben Stützkonstruktion das Westfalenstadion, vulgo Signal-Iduna-Park. Zugleich hört man den Lärm von der stark befahrenen B1. Der Dortmunder Südfriedhof (offizieller Name; vielen Leuten jedoch als Südwestfriedhof geläufig) befindet sich in exponierter Lage, am Rande des Dortmunder Kreuzviertels. Fast könnte man denken, dass hier keine Totenruhe möglich sei.

Es ist stets lehrreich, einen der geführten Dortmunder Kunst- und Kulturspaziergänge mitzumachen – beispielsweise mit Marco Prinz, der sich zumal auf die Dortmunder Friedhöfe spezialisiert hat. Diesmal also der Süd(west)friedhof, dessen Hauptachse von einer prächtigen Platanenallee gebildet wird.

Das Verwalterhaus von 1893, dem Gründungsjahr des Südwestfriedhofs. (Foto: Bernd Berke)

Das kulturgeschichtlich vielleicht bedeutendste Grab liegt freilich abseits dieser Hauptstrecke und ist überhaupt recht unscheinbar. Man würde es – wüsste man’s nicht besser – gar nicht in Dortmund vermuten. Beinahe könnte man übersehen, dass hier der dadaistische Dichter Richard Huelsenbeck (1892-1974) begraben liegt, so unscheinbar wirken Stein und Inschrift. Wenn sich Huelsenbecks Geburtstag am 23. April 2022 zum 130. Mal jährt, wird es hier vielleicht wieder mal eine passend schräge Feierlichkeit mit literarischen und musikalischen Elementen geben. Er selbst hätte so etwas wahrscheinlich goutiert. Alles Gravitätische war ihm jedenfalls fremd.

Auch eine vor Zeiten prominente Schauspielerin liegt auf diesem Friedhof, doch ihr Name steht auf keinem Grabstein. Beigesetzt wurde sie quasi anonym in der Familiengruft. Die Rede ist von Fita Benkhoff (1901-1967). Die gebürtige Dortmunderin hat vor allem in zahlreichen ablenkenden Unterhaltungsfilm(ch)en der 1930er und 1940er Jahre komödiantisch getönte Nebenrollen gespielt. Doch auch nach dem Krieg hatte sie einigen Erfolg, etwa in Wolfgang Liebeneiners „Auf der Reeperbahn nachts ums halb eins“ (1954) – neben Hans Albers und Heinz Rühmann.

Gedenken an die Gründung des BVB: Grabmal von Franz und Lydia Jacobi. (Foto: Bernd Berke)

Ganz ohne BVB geht es auch hier nicht

Ganz ohne Fußball-Zusammenhänge geht es in Dortmund schwerlich, so auch hier. Eigentlich waren Franz und Lydia Jacobi, die 1909 den BVB mitbegründet haben, in Salzgitter beigesetzt worden. Die dortige Grabstätte war praktisch schon aufgegeben, weil der emotionale Bezug fehlte. Ganz anders natürlich in Dortmund. Hier machte man sich dafür stark, dass die Gebeine hierher umgebettet wurden und nunmehr in Sichtweite des Westfalenstadions bzw. des Stadions Rot(h)e Erde zu finden sind. Nur wenige Schritte weiter steht man vor dem Grab des früheren BVB-Torhüters Heinrich Kwiatkowski.

Ein veritables Mausoleum hat Josef Wilhelm Julius Cremer für sich und die Seinen errichten lassen. Cremer war einst Inhaber der Dortmunder Thier-Brauerei, auf deren früherem Innenstadt-Gelände sich heute die ausgedehnte Shopping-Mall „Thier-Galerie“ erstreckt. Dass gewisse Verzierungen am Mausoleum keine Jakobsmuscheln, sondern Dukaten darstellen, ist durchaus anekdotenreif. Doch hier sei nichts Näheres darüber verraten. Wie wir denn überhaupt nicht so viel vorwegnehmen wollen. Man sollte sich all das bei nächster Gelegenheit vor Ort erzählen lassen.

Einst Inhaber der Thier-Brauerei: Mausoleum der Familie Cremer. (Foto: Bernd Berke)

Wie viele Friedhöfe gibt es denn eigentlich?

Zu Beginn des Rundgangs hat Marco Prinz einen Blick zurück auf die allgemeine Dortmunder Friedhofsgeschichte geworfen: Nach Verfügungen in napoleonischer Zeit, die Bestattungen nur außerhalb der damaligen Ackerbürger-Stadt erlaubten, wurde 1811 eine erste Begräbnisstätte auf dem Gelände des heutigen Westparks eingerichtet – nicht weit entfernt vom späteren Südwestfriedhof, sozusagen am anderen Ende des Kreuzviertels.

1876 entstand der Ostfriedhof, bis heute die wohl schönste Parkanlage mit den imposantesten Grabstätten Dortmunds. Vor allem einige Industriellen-Dynastien haben dort ihre letzten Ruhestätten erworben. 1893 kam der besagte Südwestfriedhof hinzu, erst 1921 – also vor 100 Jahren – folgte der Hauptfriedhof, einer der weitläufigsten in ganz Deutschland. Er ist beispielsweise rund doppelt so groß wie der Westfalenpark, der aus der 1959 in Dortmund veranstalteten Bundesgartenschau hervorgegangen ist.

„Etwa“ 32 größere und kleinere Friedhöfe soll es heute geben, verstreut übers ganze Stadtgebiet. Andere Quellen sprechen von rund 40. Man müsste vielleicht mal nachzählen – und vorher genauer festlegen, welche Areale überhaupt mitgezählt werden sollen.

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Infos über die Führungen zur Kunst im öffentlichen Raum gibt es hier.




Ausstellung in der Dortmunder DASA: „Künstliche Intelligenz“ – Wer sie steuert und wer sie erleidet

Eine solche Bildschirmwand, wie sie jetzt in der DASA steht, kann das ungreifbare Phänomen „Künstliche Intelligenz“ nur sehr unzureichend illustrieren. Das Thema entzieht sich vielfach einer leicht fassbaren Bebilderung. (Foto: Bernd Berke)

Nanu? Da steht man in einer Art Spiegelkabinett und glaubt, es ginge nun auch noch durch ein Labyrinth hindurch. Leichte Irritationen im Eingangsbereich der neuen Schau in der Dortmunder DASA (Arbeitswelt-Ausstellung). Sie entsprechen dem Thema, geht es doch ums Für und Wider der „Künstlichen Intelligenz“ (KI); ein vielfältiges Phänomen, das für Verunsicherung sorgt.

Der Rundgang führt durch allerlei Anwendungsgebiete der Künstlichen Intelligenz. Es gibt keine Ruhrzonen: Überall flackern Videos, an vielen Stellen locken Mitmach-Gelegenheiten und stiften zur Aktivität an. Die Spannweite reicht vom mittlerweile schon recht gewöhnlichen Staubsaug-Roboter bis zur „mitdenkenden“ Zahnbürste, vom virtuell hochgerüsteten Spiegel bis zum (hundeförmigen) Möbelstück, das auch schon mal gestresste Menschen zum Hinsetzen auffordert; vom maschinell überprüften Müllsortieren (testen Sie doch spaßeshalber mal die Anzahl Ihrer „Fehlwürfe“) bis zur Apparatur, die den Inhalt von Zeichnungen erkennen und benennen soll, damit aber schnell überfordert ist.

Derlei Unvollkommenheit ist beinahe schon tröstlich. Doch die Technik wird immer ausgefeilter, sie lernt sozusagen hinzu und wird sich vielleicht eines Tages vollends über die Menschen erheben. Vor allem dann, wenn wir sie immer weiter mit schier endlos vielen Daten füttern. Just davon lebt die Künstliche Intelligenz, die noch dazu Unmengen an Energie verbraucht und für deren Chips Rohstoffvorkommen rabiat ausgebeutet werden.

Wenn das „autonome“ Auto über Leben und Tod entscheidet

Wollen wir wirklich in rundum vernetzten Häusern leben, in denen die Gegenstände irgendwann alles besser wissen als wir? Wollen wir mit „autonomen“ Autos fahren, die in brenzligen Fällen für uns Blitz-Entscheidungen auf Leben und Tod treffen? Wollen wir diesen gruseligen Mischwesen aus Mensch und Maschine begegnen, mit deren Vorläufern wir hier schon mal erste Bekanntschaft machen können? Soll es so weit kommen wie in der DASA, wo in einer Ecke die Horch- und Sprech-Systeme Siri und Alexa miteinander streiten, wer denn nun wem überlegen sei? Oder sollten wir die Dinger einmotten, bevor sie uns Befehle erteilen?

Weder gerecht noch inklusiv

In der DASA herrscht Skepsis. Künstliche Intelligenz, so argwöhnt das vielköpfige Ausstellungs-Team (und legt solches Misstrauen auch uns nahe), diene bislang vorwiegend privatwirtschaftlichen Interessen. Sie schwebt nicht etwa aus dem Nirgendwo herbei, sondern ist allemal menschengemacht, programmiert und gesteuert. Dabei, so eine weitere, nicht nur zeitgeistgemäße These, gehe es weder geschlechtergerecht noch anderweitig egalitär oder inklusiv zu, sprich: KI sei überwiegend eine von weißen Männern für ihresgleichen betriebene Angelegenheit.

Nach keinesfalls transparenten Kriterien werden per KI Wohnungen, Jobs oder Kredite vergeben bzw. verweigert, werden Menschen einsortiert und kontrolliert. Auch kostet die Technologie höchstwahrscheinlich etliche Arbeitsplätze. In der DASA kann man an einer Station seinen Beruf eingeben – und sogleich ablesen, wieviel Prozent der Stellen im jeweiligen Tätigkeitsfeld künftig wohl verloren gehen. Probe aufs Exempel mit einer Mitarbeiterin der Ausstellung: In ihrem Beruf werden durch KI angeblich 22 Prozent der Stellen entfallen. Das hört sich noch vergleichsweise glimpflich an. Kurz darauf erfasst einen eine Kamera und gibt per Bildschirm Rückmeldung über den „Schönheits-Index“, den sie einem zubilligt. Bloß nicht persönlich nehmen! Wer weiß, wer da welche Maßstäbe vorgegeben hat.

Hoffnung auf Veränderbarkeit

Zurück zur Erkenntnis, die Künstliche Intelligenz sei menschengemacht. Daraus lässt sich Hoffnung schöpfen, ebnet es doch eventuell Wege zur Veränderbarkeit. Oder sind nur noch kleine Fluchten aus einer Zukunftswelt möglich, die in den Grundzügen längst vorgezeichnet ist? Immerhin lernen wir die eine oder andere Strategie kennen, mit der sich gleichsam „Sand ins Getriebe“ der Künstlichen Intelligenz streuen ließe. Amüsiert, ja schadenfroh vermerken wir’s: Da gibt es beispielsweise spezielle Masken oder ablenkende T-Shirt-Aufdrucke, mit denen man die auf KI basierende Gesichtserkennung überlisten kann. Mit einem speziellen Hütchen, flugs über Alexa-Lautsprecher gestülpt, lässt sich „weißes Rauschen“ erzeugen und somit verhindern, dass das Gerät einen abhört. Findig auch der Künstler, der Dutzende von eingeschalteten Handys auf einem „Bollerwagen“ hinter sich her zog und damit den Navi-Programmen einen Autostau auf seiner Strecke vorgaukelte.

Jetzt aber doch noch das Positive, das utopische Potential! Als Ahnung zeigt sich auch dies: Anders als bisher gehandhabt, könnte Künstliche Intelligenz die Städte lebenswerter machen, indem sie hilft, z. B. Verkehrs- und Energieströme sinnreicher zu lenken oder soziale Projekte zu flankieren. Es ließen sich Modelle entwerfen, mit denen man Mechanismen des Klimawandels noch besser versteht und gezielter darauf reagieren kann. Auch sind KI-gestützte Erfolge im Kampf gegen den Krebs und andere Krankheiten vorstellbar. Sollten wir etwa doch noch auf bessere Zeiten zusteuern?                                       

DASA, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1. Bis 9. August 2022. Geöffnet Mo-Fr 9-17, Sa/So 10-18 Uhr.

dasa-dortmund.de

(Anschließend wandert die Schau nach Wien, Stockholm und Granada).




Gar nichts ist gewiss – die rätselhaften „Weltgeist“-Bilder des René Schoemakers

Selbstporträt des Künstlers als Bezwinger des rosaroten Panthers – René Schoemakers‘ Gemälde „Der böhse Paul“, Acryl auf Leinwand 180 x 120 cm, 2019/2020 (Bild: © René Schoemakers)

Da schau her: Dieses rosarote Stofftier ist doch Paulchen Panther! Und der Mann, der ihm mit einem (total verpixelten) Spielzeug-Schwert den Kopf abgeschlagen hat, ist offenkundig der Künstler und hat dieses stellenweise bluttriefende Bild gemalt. Sein gar nicht so triumphales Ganzkörper-Selbstbildnis changiert zwischen Grau und Pink. Was sollen wir davon halten?

Im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte bleibt man mit diesem und vielen anderen rätselhaften Bildern zunächst ohne Hilfestellung. Die Arbeiten haben Titel, die aber nicht vorgezeigt werden. Also wird man sogleich aufs genaue Hinschauen verwiesen. Aber das allein nützt nicht viel. Denn man muss zusätzlich parat haben, dass die rechtsradikale NSU-Mörderbande ausgerechnet die Panther-Figur in einem Bekennervideo verwendet hat. Doch selbst danach ist man nur bedingt schlauer, zumal auch noch ein Frauenakt zum Panther-Ensemble gehört. Etwas mehr Aufklärung halten Katalog und Internet-Auftritt bereit.

Irritationen und sinnliche Schauwerte

Der in Kleve geborene und in Kiel lebende Künstler René Schoemakers zieht in seine stupend fotorealistisch, geradezu altmeisterlich gemalten Bilder (2011 hat er den Cranach-Preis erhalten) gar viele Sinn-Ebenen ein, die sich auch stilistisch verzweigen. Irritierend sind die zahllosen Brüche und Widersprüche, die Ironisierungen, Verschiebungen und Verfremdungen, die Variationen und Überlagerungen. Hier ist nichts gewiss. Sobald man den Sinn eines Bildes halbwegs zu erhaschen glaubt, scheint der Künstler schon wieder ein paar Ecken und Hirnwindungen weiter zu sein. Es ist kompliziert. Doch die Ausstellung lockt auch mit sinnlichen Schauwerten.

Schoemakers hat nicht nur Kunst, sondern auch Philosophie studiert. Er denkt sich mancherlei Vertracktes aus. Doch wenn er vor der Leinwand steht, sagt er, sei er völlig spontan. Dann gehe es nur noch um die Wirkung des Bildes – und sonst um gar nichts mehr. Allerdings bereitet er jedes Werk penibel vor, oftmals mit dreidimensionalen Modellaufbauten als Vorlagen.

Der Schrecken kommt harmlos und clownesk daher

So kommt es beispielsweise, dass wir – als sei’s eine Dokumentation vom Tatort – die blutigen Spuren des rechtsradikalen Münchner Oktoberfest-Attentats von 1980 sehen, freilich wie mit Spielzeug bühnenhaft nachgestellt. Eine bestürzende Mischung aus vermeintlicher Harmlosigkeit, Nüchternheit und namenlosem Schrecken. Hier kann überall Gewaltsamkeit lauern, zuweilen auch seltsam verquickt mit Clownerie. Totenköpfe können hier aus Lego-Bausteinen bestehen oder als Papier-Faltungen herumliegen. Anspielungen auf Terrorismus werden auch schon mal mit dem Playboyhäschen-Logo unterlegt.

Rund 70 Arbeiten auf etwa 170 Leinwänden, nicht in Öl, sondern Schicht für Schicht mit schnell trocknender Acrylfarbe ausgeführt, sind in der Dortmunder Werkschau zu sehen. Die ungleichen Zahlen erklären sich daraus, dass Schoemakers eine Vorliebe für Triptychen hat, also für dreiteilige Bilder nach dem fernen Vorbild christlicher Altäre. An einem anderen Ende des Spektrums finden sich Schautafeln nach Art von Gebrauchsanweisungen oder Flugblättern, die freilich inhaltlich alles andere als simpel sind.

Gewagte Darstellung mit Bezug zum Massenmörder Anders Breivik: das Katalog-Cover mit René Schoemakers‘ Gemälde „Anders (Mummenschanz)“, Acryl auf Leinwand 160 x 120 cm, 2019. (Bild: © Foto René Schoemakers)

Christian Walda, stellvertretender Museumsdirektor und eigentlich Kurator der Ausstellung, sagt, Schoemakers habe ihm weitgehend die Aufbauarbeit abgenommen. Walda begibt sich auf die philosophischen Fährten, die der Künstler gelegt hat. Der setzt sich gedanklich und malerisch mit dem Idealismus und seinen Weiterungen (oder auch Verengungen) auseinander. Im Gefolge Hegels – die Schau trägt den hegelianisch inspirierten Titel „Weltgeist“ – seien  bloße Ideen vielfach übermächtig geworden und hätten sich gegen jegliche Realität durchgesetzt. Daraus seien die verschiedensten Ideologien mitsamt ihrem Gewaltpotential erwachsen.

Allmachts-Phantasien aus dem Idealismus

Die Allmachts-Phantasien, die sich darin verbergen, nehmen in der Historie und in Schoemakers‘ Bildern diverse Gestalt an. Hier gibt es einen Raum, in dem etwa Porträts von Martin Luther, des Islamisten Pierre Vogel und des US-Rechtsaußen Steve Bannon einander zugesellt werden – ergänzt um etliches Beiwerk. An anderer Stelle heißt es im Goebbels-Brüllton und in Frakturschrift: „Wollt ihr die totale Metapher?“ Mindestens ebenso abgründig ist solcher „Mummenschanz“: Eine Frau steckt in der Phantasie-Uniform, in der sich der rechtsextreme Massenmörder Anders Breivik gefallen hat. Dieselbe Frau posiert ebenso frontal mit Militärklamotten, Knarre und Theater-Schnurrbart – als „Karl-Heinz“ von der rechten „Wehrsportgruppe Hoffmann“.

Schoemakers scheint, allem Gedankenreichtum zum Trotz, kein Grübler zu sein. Für einen Mann vom Jahrgang 1972 hat er sich staunenswert jung erhalten, vielleicht just durch intellektuelle Wendigkeit. Seine Frau und fünf Kinder stehen ihm immer wieder Modell. Welch ein spezielles „Familienalbum“! Es hält seine ansonsten divergierenden Kunstwelten zusammen.

Seine Bilder lassen einen mit ihrer Überfülle möglicher Bezugspunkte nicht in Ruhe. Sie leisten Widerstand gegen Interpretation. Doch wer sie sieht, will ihnen zwangsläufig Sinn verleihen. Keine leichte, aber eine lohnende Übung.

René Schoemakers: „Weltgeist“. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Hansastraße 3. Noch bis zum 9. Januar 2022.

https://weltgeist-mkk.de

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Der Beitrag ist zuerst im „Westfalenspiegel“ erschienen:

www.westfalenspiegel.de




Eine Frau leitet künftig das Aalto-Theater: Merle Fahrholz wechselt aus Dortmund als Intendantin nach Essen

Stellte sich bei einer Pressekonferenz vor: Dr. Merle Fahrholz, ab der Spielzeit 2022/23 Intendantin des Aalto-Theaters und der Essener Philharmoniker. (Foto: Werner Häußner)

Zum ersten Mal werden das Essener Aalto-Theater und die Essener Philharmoniker von einer Frau geleitet: Merle Fahrholz, bisher stellvertretende Intendantin und Chefdramaturgin an der Oper Dortmund, folgt zu Beginn der Spielzeit 2022/23 Intendant Hein Mulders nach, der die Leitung der Oper Köln übernimmt.

Ein Arbeitsausschuss des Aufsichtsrats der TuP (Theater und Philharmonie Essen GmbH) hatte die 38jährige promovierte Musikwissenschaftlerin in einem „straffen und intensiven Prozess“ – so der Essener Kulturdezernent Muchtar al Ghusain – aus über vierzig Persönlichkeiten aus der nationalen und internationalen Opernszene ausgewählt. Die einstimmige Entscheidung bedeutet auch, dass die Philharmonie Essen künftig eigenständig geleitet wird.

Fahrholz, in Bad Homburg geboren, war nach dem Studium als Dramaturgin an den Theatern in Biel-Solothurn (Schweiz), Heidelberg und Mannheim tätig. Erfahrungen auch im Bereich der Kulturvermittlung sammelte sie bei den Berliner Philharmonikern, der Semperoper Dresden, der Metropolitan Opera New York und bei einem interkulturellen Händel-Projekt in Serbien. Ferner arbeitete sie mehrfach an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis, so etwa mit den Universitäten Heidelberg, Zürich und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Uni Bayreuth. 2015 promovierte sie in Zürich über den Komponisten Heinrich August Marschner. Mit Merle Fahrholz tritt in Essen eine „neue Generation von Führungskräften“ an, die „wissenschaftliche Sorgfalt mit hohen Anforderungen an künstlerische Projekte verbindet“, so die Vorsitzende des TuP-Aufsichtsrats, Barbara Rörig.

In Dortmund war Fahrholz ab 2018 an der Konzeption eines ehrgeizigen Spielplans beteiligt, der u.a. Raritäten wie Daniel François Esprit Aubers „Die Stumme von Portici“ vorgesehen hatte, aber durch die Corona-Pandemie weitgehend nicht realisiert werden konnte. In der laufenden Saison betreut sie u.a. die moderne Erstaufführung von Gaspare Spontinis „Fernand Cortez oder Die Eroberung von Mexiko“ (Premiere 7. April 2022) und die Ausgrabung von Ernest Guirauds unvollendeter, von Camille Saint-Saëns fertiggestellter Oper „Frédégonde“ (Premiere 20. November 2021).

Das Aalto-Theater in Essen wird künftig zum ersten Mal in seiner Geschichte von einer Frau geleitet. (Foto: Werner Häußner)

Da die Essener Spielzeit 2022/23 bereits vorgeplant ist, werde sie ihren Spielplan ab 2023 in „ausgewogener Programmatik“ gestalten, gab sie bei einer Pressekonferenz im Aalto-Theater bekannt. Neben die Klassiker des Repertoires sollen unbekannte, für die heutige Gesellschaft mit ihren Ausprägungen und Bedürfnissen relevante Werke verschiedener Epochen treten, die „einen neuen Blick verdienen“.

Schwerpunkt auf Komponistinnen

Fahrholz plant einen Komponistinnen-Schwerpunkt auf der Opernbühne und im Konzert. Dabei werde es um zeitgenössische Komponistinnen gehen, sagte Fahrholz. Aber auch aus vergangenen Jahrhunderten gebe es viele Werke von Frauen zu entdecken. Nicht zu kurz kommen solle die sogenannte leichte Muse. „Die Oper spricht Emotionen an. Ihr geht es um das Mitfühlen und im besten Fall das Ausleben von Emotionen“, so Fahrholz. „Ich lege Wert auf das Erzählen von Geschichten“. Für eine „Vielfalt der Ästhetik“ plant sie mit verschiedenen Regiehandschriften von in Essen bekannten Persönlichkeiten, aber auch mit neuen Gesichtern aus der Regieszene.

Unter dem Schlagwort „Open up“ möchte Merle Fahrholz mit künstlerischen Projekten Essen entdecken und sich gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern intensiv mit ihrer Stadt auseinandersetzen. Ein zentrales Anliegen sei dabei der Ausbau der Arbeit mit und für Kinder und Jugendliche. Die Zukunft des Theaters, über die jetzt gesprochen werden müsse, sieht Fahrholz auch in partizipativen Projekten, die es zu einem „Brennglas von Sehnsüchten, Wünschen und Utopien“ machen. Das Aalto-Theater solle sich zu einem Ort des Begegnung und des sozialen Miteinanders entwickeln, an dem sich alle willkommen fühlen.




Vom IT-Campus zum „Theatermacher“ – eine kleine Dortmunder Betrachtung in Zeiten des Home-Office

Dort, wo jetzt noch ein markanter Hallenbau am Ufer der Emscher das Bild beherrscht, soll der neue IT-Campus entstehen. (Bild: p)

„Hoesch-Spundwand“, abgekürzt HSP, war viele Jahre ein Sorgenkind unter den Dortmunder Industriebetrieben, bis es dann 2015 endgültig zumachte – keine profitablen Aufträge und keine Aussicht auf Besserung. Was blieb, war im Westen der Stadt ein großes Industrieareal entlang der Emscher mit einer imposanten Halle, von der Emscherallee aus in ganzer Schönheit zu bestaunen. Und dann kamen die Planer.

„Wie das Google-Hauptquartier“

Im Lokalteil der Dortmunder Zeitungen – ja, für die, die nicht von hier sind und es nicht wissen: es gibt nur noch einen Lokalteil in Dortmund, der von den Ruhr-Nachrichten produziert und den die Funke-Titel WAZ und Westfälische Rundschau übernehmen – war nun zu lesen, wie toll das dort alles wird, auf dem ehemaligen HSP-Gelände und darüber hinaus. Rund um die Fachhochschule, die sich hier ansiedeln soll, werden so genannte „Science Factories“ entstehen, die so etwas wie „fliegende Klassenzimmer“ für die Fachhochschulstudenten sein sollen und in denen aus Ideen konkrete Anwendungsfälle werden. In der Informationstechnologie, so Klaus Brenscheidt von der Industrie- und Handelskammer, gelte es, „den Kampf gegen China aufzunehmen“. „Wie das Google-Hauptquartier“ soll die Geschichte funktionieren, Mitte der 2030er Jahre sollen rund 210 Unternehmen mit durchschnittlich jeweils 43 Arbeitsplätzen entstanden sein, was rechnerisch 9030 Arbeitsplätze ergibt und 26 Millionen Euro jährlich in das Dortmunder Steuersäckel spülen soll.

Die Kunst ist schon da: „Zur kleinen Welle“ heißt die archaisch-bedrohliche, gleichwohl begehbare Skulptur, die raumlabor Berlin vor einigen Jahren an den Rand der renaturierten Emscher stellte. (Foto: p)

Lieber zu Hause bleiben

Etwas nüchterner betrachtet ist gemeint, daß die Firma Thelen Gruppe für eine Gesamtsumme von rund zwei Milliarden Euro (immerhin) viel neue Bürofläche schaffen will, in 150 würfelförmigen Gebäuden mit einer Bruttogeschoßfläche von 200.000 Quadratmetern, so genannten Innovationskuben. Das sind beeindruckende Zahlen, keine Frage.

Doch scheint an dieser Stelle ein fußballkaiserliches „Schau’n mer mal“ angebracht. Als man mit diesen Planungen begann, hieß der Oberbürgermeister Sierau, gab es Covid 19 noch nicht, und keiner redete vom Home-Office. Mittlerweile kann man durchaus Zweifel haben, ob die fröhliche Campus-Idee noch funktioniert, oder ob die Damen und Herren Informationstechnologiker nicht lieber zu Hause bleiben zum arbeiten. Dann würde es nichts mit dem innovativen Würfelspiel. Aber wir wollen nicht unken.

Theater im Home-Office

Das Prinzip Home-Office, wir wechseln den Schauplatz, hat die Dortmunder Theaterleitung schon stark verinnerlicht. Seit 2020 ist Julia Wissert im Amt, doch das Große Haus konnte bislang noch nicht bespielt werden, wegen Corona. Als wieder etwas möglich war, hatte die Dortmunder Kulturverwaltung schon beschlossen, es gut sein zu lassen in der Spielzeit 20/21. In einer gewissen Folgerichtigkeit gab es Auskünfte zur anstehenden Spielzeit 2021/22 dann auch nur als Pressetext. Die anderen Bühnen in der Nachbarschaft, stellvertretend sei Bochum genannt, veranstalteten hingegen recht ordentliche Programm-Pressekonferenzen im Internet; für Dortmund bleibt lediglich die Hoffnung, daß im Herbst endlich wieder Leben im Theater einzieht. Wenn die Inzidenzen mitspielen, sozusagen.

Kay Voges, von 2010 bis 2020 Intendant des Dortmunder Theaters und ist seitdem Direktor der Wiener Volksbühne. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Dortmunder „Theatermacher“ für Wien

Schauen wir jetzt noch nach Wien: Dort arbeitet Kay Voges, etliche Jahre Dortmunder Schauspielchef, an seiner Eröffnungspremiere im Oktober. Das Publikum des Wiener Volkstheaters, dessen Chef er seit einiger Zeit ist, will er mit einem, wenn man so sagen darf, überaus österreichischen Stoff in den Bann schlagen, verfaßt von einem erklärten Österreich-Hasser. Der Witz daran ist, daß wir in Dortmund die Inszenierung schon lange kennen – mit dem stattlichen Andreas Beck in der Titelrolle und einigen weiteren bekannten Namen aus Voges’ Dortmunder Zeit (u.a. Uwe Rohbeck). Den „Theatermacher“ von Thomas Bernhard hatte Voges seinerzeit gut begründet auf die Bühne des Dortmunder Theaters gestellt, weil es dort die erste große Produktion nach langem renovierungsbedingtem Exil in der Industriehalle „Megastore“ war.

Die Wiener sind schwierig

Also eine Win-win-Situation – eine Inszenierung, zwei Theater? Gelegentlich wird man mal nachschauen müssen, wie die Wiener es aufgenommen haben. Sie, die Wiener, gelten nämlich als schwieriges, verwöhntes Publikum, kein Vergleich mit den freundlichen Ruhris. Ob die Wiener sich von einem Piefke erzählen lassen wollen, wie sie so sind?

Smartes Rhinozeros

Ach ja, dies soll nicht unerwähnt bleiben: Das bombastische IT-Bauprojekt auf dem HSP-Gelände in Dortmund hat längst auch schon einen innovativen Namen erhalten. „Smart Rhino“ haben sie es genannt. Das klingt nach Kleinwagen mit alternativer Antriebstechnik, soll aber, so ist dem bereits zitierten Lokalteil zu entnehmen, Bezug nehmen auf das Plastik-Rhinozeros, das im Konzerthaus das Licht der Welt erblickte und das das Stadtmarketing der Stadt in vielen bunten Ausführungen als zweites Wappentier verordnet hat. Eigentlich würde der Adler reichen, auch zukünftig. Das wäre dann so etwas wie „Smart Eagle“. Doch vielleicht fällt dem Volksmund noch ganz etwas anderes ein.

 

 




Filigran, trivial und dreidimensional – Stephanie Brysch zeigt Ausgeschnittenes im Torhaus Rombergpark

Wehe, wenn sie ausgeschnitten: Bedrohlich quellen Pflanzen aus dem Buch Karl Blossfeldts hervor. (Foto: rp)

Eigentlich sollte eine Ausstellungsbesprechung ja nicht mit dem Handwerklichen beginnen, das jeder künstlerischen Arbeit innewohnt. Doch wenn man beschreiben will, was Stephanie Brysch (Jg. 1976) macht, bleibt einem kaum etwas anderes übrig. Die Dortmunder Künstlerin schneidet aus, was ihr des Ausschneidens wert zu sein scheint, Blumen aus dem Blumenkatalog zum Beispiel oder Schmetterlinge aus einem alten Lehrbuch, Singvögel, Raupen; aber auch Szenen und Details aus Comic-Heften, Felsformationen aus selbstgemachten alten Schwarzweißfotografien und vieles mehr.

Leider läßt die „einäugige“ Fotografie die Dreidimensionalität des Objekts nur ahnen. Doch die Schatten der Pilze sind echt. (Foto: rp)

Pures Handwerk

Ausgeschnittenes wird thematisch geordnet archiviert und in Form und Ordnung gebracht, wenn eine Bildidee nach Verwirklichung verlangt. Was dann entsteht, ist keine flächige Collage, sondern ein höchst filigranes dreidimensionales Gebilde, in dem Ausgeschnittenes, auf unscheinbaren, unterschiedlich hohen Schaumstoffsäulchen montiert, ein (überwiegend) buntes, frappierendes Raumerlebnis schafft. Dieses Raumerlebnis verdankt sich purer Handwerksarbeit, keine 3D-Brille ist vonnöten, kein Computer hat mitgewirkt. Eine entfernte Verwandtschaft scheint höchstens zu den Theater-Guckkästen vergangener Jahrhunderte zu bestehen, in denen ebenfalls durch das Einfügen von Kulissen, Figuren usw. in unterschiedlichen Tiefen beeindruckende Raumeffekte entstanden.

Fröhliche Raupen (Foto: rp)

Ökologie

Im Dortmunder Torhaus Rombergpark, einer hübschen, kleinen, kuscheligen städtischen Galerie, sind nun nach langer Corona-Schließung einige Arbeiten von Stephanie Brysch zu sehen, ebenso luftig in den Ausstellungsraum gestellt, wie auch die Kompositionen selbst in sich recht luftig und wohlproportioniert gehalten sind. Wer will, und jetzt verlassen wir die handwerkliche Ebene des Kunstbeschreibens, mag die farbenfrohen Darstellungen von Tieren und Pflanzen als ökologisches Memento lesen, als Erinnerung an das, was in dieser Vielfalt bald schon nicht mehr so sein könnte, aber der Gedanke drängt sich nicht unbedingt auf.

Stephanie Brysch mit Schmetterlingen (Foto: Susanne Henning, Kulturbüro Dortmund)

Spielart der Pop Art

Stephanie Brysch hatte sich in früheren Arbeiten – mit gleicher Ausschneide- und Montagetechnik – auch dem Bergbau zugewandt, einige ihrer Arbeiten waren 2018 in der Ausstellung „Kunst und Kohle: Schichtwechsel“ im Dortmunder „U“ zu sehen. Comic-Figuren wühlten sich durch den Untergrund, suchten nach Schätzen in dunklen Verliesen, die Panzerknacker gruben – erfolglos natürlich – einen Tunnel zu Dagobert Ducks Geldspeicher, und so fort: lustig, respektlos und auch ein bißchen überwältigend in dieser Verdichtung. Zudem formte sich in der Wahrnehmung eine Spannung zwischen dem doch recht massiven Gegenstand der Schau (Kohle), der Trivialität der verwendeten Bildmotive und der schier unglaublichen Genauigkeit in der Ausführung. Vertraute Proportionen verschoben sich, man konnte sich in einer speziellen Spielart der Pop Art wähnen, deren Kennzeichen hier aber nicht ein unerhörtes „Blow up“ bis zum letzten Rasterpunkt der Vorlage war, sondern ein akribisches „Cut out“ von Comic-Bildchen, deren Papierqualität so mies war, daß die Rückseiten durchschienen.

Serielle Reihung mit Comic-Helden auf Bänken (Foto: rp)

Comic-Helden

Nur eine Comic-Arbeit hat es in das Torhaus Rombergpark geschafft, und sie hat mit Flora und Fauna nichts zu tun. In serieller Reihung zeigt sie Sitzende auf Bänken, manchmal auch Bänke ohne Personen. Wir treffen Donald Duck und Gustav Gans, Asterix und Obelix, den rosaroten Panther, Schlümpfe und Goofy und andere alte Bekannte mehr – ein federleichter Spaß, für den diese Technik offensichtlich sehr gut taugt.

Fotos von Karl Blossfeldt

Und dann ist das noch eine Vitrine im Raum, bei der alles ganz anders ist. In ihr steht, aufgefächert, ein altes Lehrbuch, aus dem die Bildmotive – ausgeschnitten natürlich – gleichsam herausquellen. Es ist ein Buch des Fotografen und Gelehrten Karl Blossfeldt, der, stark verkürzt gesagt, die Formensprache der Antike in der Natur suchte und fand und sie mit eindrucksvollen Fotografien dokumentierte. Auch diese Motive hat Stephanie Brysch mit der Nagelschere freigestellt, und wie hier nun die Pflanzen das Buch verlassen, wie sie flüchten oder sich ausbreiten, man weiß es nicht recht – das hat was. Da fühlt man sich unbehaglich.

Fußball und Tourismus

Wie wirksam diese Kunst aus Zitaten ist, mag ein entdeckungsfreudiges Publikum für sich selbst entscheiden, am besten bei einem Besuch im Torhaus. Und was kommt als nächstes? Das Ausschneiden, sagt Stephanie Brysch, mache ihr nichts aus, habe für sie etwas Entspannendes. Und deshalb wird sie wohl bis auf weiteres dabei bleiben. Fußball könnte ein Thema werden, sagt sie. Und auch einige alte Tourismus-Führer harren der Durcharbeitung.

  • Stephanie Brysch: „Pflanzen, Tiere, Schlumpf“
  • Ausstellung im Torhaus Rombergpark, Am Rombergpark 50, Dortmund
  • Bis 25. Juli. Geöffnet di-sa 14 – 18 Uhr, so und feiertags 10 – 18 Uhr.
  • Eintritt frei.
  • In der Ausstellung gilt Maskenpflicht.



„Dortmunder U“ im Disco-Rausch: Ausstellung feiert den legendären Club „Studio 54″

Rose Hartman (American, born 1937): Zu Pferde zelebriert Bianca Jagger am 2. Mai 1977 ihren 27. Geburtstag im Studio 54. Auf dieser Aufnahme nicht zu sehen: Ein nackter Mann hielt die Zügel. (Black and white photograph. Courtesy of the artist. © Rose Hartman)

Hört sich doll an: Premiere hatte die Schau in New York, in Toronto fiel sie wegen Corona aus, jetzt ist sie in Dortmund zu sehen – und sonst nirgendwo. Es geht um die legendäre Clubdisco „Studio 54″, deren verbliebene Essenzen nun im „Dortmunder U“ wiederbelebt werden sollen.

Die seinerzeit weltberühmte Kult-Disco an der 54. Straße in Manhattan gab es nur 33 Monate lang, zur Eröffnung im April 1977 kamen Celebrities wie Frank Sinatra, Cher oder auch Donald Trump. Bis zur Schließung im Februar 1980 wogten dort schräge, schrille und rauschhafte Partys mit Stars und Sternchen sonder Zahl. Zu nennen wären beispielsweise Glamour-Gestalten wie Mick und Bianca Jagger, Andy Warhol, Liz Taylor, Michael Jackson, Grace Jones oder Liza Minnelli.

Ausstellungsansicht mit Mode-Beispielen: „Studio54: Night Magic“ (Foto: Roland Baege)

Schrille Mode zur Selbstinszenierung

Stop! Wir müssten nahezu die gesamte damalige Prominenz nennen. In der Ausstellung geben 14 Seiten maschinenschriftliche Gästelisten der Eröffnungs-Nacht eine ungefähre Vorstellung. Sinnlich weitaus eindrucksvoller sind die glitzernden, schillernden Modebeispiele, die damals der Selbstinszenierung auf die Sprünge halfen. Viele Originale aus privaten Kleiderschränken finden sich da, aber auch getreulich Nachgeschneidertes und Entwurfsskizzen. Angesichts etlicher Fotografien oder typischer Relikte und Reliquien (z. B. von Andy Warhol himself gestaltete Eintrittskarten) mag man gleichfalls schwelgen. Es geht ums (Nach)-Erleben, nicht so sehr um eine kritische Würdigung, die eh reichlich verspätet käme. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass der Club 1980 wegen Steuervergehen schließen musste und die Betreiber in den Knast kamen.

Christian Piper (German, born 1941) for Fiorucci (Italian, founded 1967): Poster zur Eröffnungs-Nacht im Studio 54, 1977. (Printed color poster. Courtesy of The Estate of Antonio Lopez and Juan Ramos)

Die vom renommierten Brooklyn Museum reich bestückte, von Matthew Yokobosky kundig kuratierte Ausstellung ist natürlich keine gewöhnliche Vitrinenschau, sondern setzt einiges in Gang, um die Atmosphäre jener frühen, wilden Disco-Zeiten aufleben zu lassen – beispielsweise mit zahlreichen Lichteffekten, mit den tanzbaren Hits jener Jahre, Bühnenbildern oder einem Rundum-Erlebnis im „360-Grad-Fulldome“. Besucherinnen und Besucher sollen Tanzlust verspüren und sodann – wenn irgend möglich – in die örtliche Clubszene ausschwärmen, die sich gerade wieder aufzurappeln beginnt.

„Unglaublich divers“ muss es sein

Das „Studio 54″ bestand zwar nur recht kurz, hatte aber weit reichende Lifestyle-Auswirkungen, es stand und steht also für ein gehöriges, in gewissen Kreisen global wirksames Stück Kulturgeschichte. Damals war’s nicht leicht, an den Türstehern vorbeizukommen, für die Dortmunder Disco-Schau braucht’s nur eine (nicht ganz billige) Eintrittskarte – und schon geht es rein ins kuratierte Vergnügen, das als „Night Magic“ umschrieben wird.

Ron Galella (American, born 1931): New York City, Studio 54, „Grease“-Premieren-Party, Andy Warhol und Grace Jones, 1978. (Courtesy of the artist. © Ron Galella)

Jede nachfolgende Zeit liest aus Phänomenen wie dem „Studio 54″ ihre eigenen Schwerpunkte heraus. Die deutsche Ko-Kuratorin Christina Danick, die gemeinsam mit Yokobosky und Stefan Heitkemper (Leiter des „U“) die über 450 Exponate aufs Dortmunder Format gebracht hat, schwärmt mit einer gängigen Formel unserer Tage davon: „unglaublich divers“ sei diese Ausstellung. Alle Leute könnten ihr etwas entnehmen, die Älteren sich in ihre Disco-Jahre zurückversetzen, die Jüngeren mit eigenen Club-Erfahrungen vergleichen. Mode- und Popmusikfans würden ebenso angeregt wie Liebhaber künstlerischer Fotografie. Nicht auf einzelne Stücke komme es hierbei an, sondern auf die Gesamtheit der Atmosphäre. Yokobosky spricht schlichtweg von „Mood“. Und diese Stimmung sollte eben jede(r) selbst erfahren.

„Hedonistisches Paradies“

Tatsächlich war das „Studio 54″ Katalysator und Ausdruck einer damals zeittypischen Befreiung – mit Langzeitwirkung. Normen und Zwänge waren weitgehend aufgehoben: Wenn Leute irgendwie zu den Schönen, Schrillen und Reichen gehörten oder zu ihnen passten, spielten Herkunft, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung im Club keine Rolle. Nicht zuletzt die Schwulenkultur, seinerzeit noch längst nicht so ausgeprägt wie heute, erhielt hier neue Impulse.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, Dortmund setze mit dieser Schau (oder besser: Show) mal wieder alles auf eine populäre Karte – wie 2018/19 mit der in Sachen Besucherandrang und Einnahmen denn doch enttäuschenden „Pink Floyd“-Ausstellung. Doch Kulturdezernent Jörg Stüdemann (er nennt das Studio 54 ein „hedonistisches Paradies“) dämpft allzu hochfliegende Erwartungen. 10.000 Besucher(innen) wären in Ordnung, alles darüber hinaus erfreulich. Allerdings wisse man noch nicht, ob Corona mit der Delta-Mutante einen Strich durch die ganze Rechnung machen werde.

Zusätzlich zur Schau im „U“ werden einige Dortmunder Clubs vom Hartware MedienKunstVerein (HMKV) mit medienkünstlerischen Aktionen bespielt. Unter dem Titel „hello again“ steuert der HMKV auf seiner 2. Ebene im „U“ überdies Impressionen zur lokalen Clubszene bei. Zum umfangreichen Begleitprogramm gehören ferner Cocktail-Mixabende oder DJ-Workshops.

Guy Marineau (French, born 1947): Pat Cleveland on the dance floor during Halston’s disco bash at Studio 54, 1977. (Photo: Guy Marineau / WWD / Shutterstock)

Eine Bühne für den nächtlichen Exzess

Befragt, warum gerade das nicht gar so glamouröse Dortmund die Ausstellung ausrichte, sagt Matthew Yokobosky, die allermeisten Museen wollten sich nicht auf eine solche mutimediale Darbietung einlassen, die der reinen Kunst-Lehre kaum entspreche. Das Dortmunder U sei eine rühmliche Ausnahme. Yokobosky will ja auch keinen Tingeltangel anrichten, sondern eine Synthese aus musealer Würde („dignity“) und aufregenden („exciting“) Elementen. Großen Wert legt er auf zeit- und kulturgeschichtliche Authentizität.

Zwei Jahre haben allein Yokoboskys Recherchen und rund 100 Interviews mit Zeitzeugen gedauert, dabei habe er allmählich herausbekommen, wo die (nunmehr 85) Leihgeber zu finden waren. Der erfahrene Museumsmann erinnert daran, dass das „Studio 54″ in einem vormaligen Opernhaus eingerichtet wurde. Die Menschen tanzten auf der Bühne, in jeder Nacht konnte eine andere Szenerie zur Selbstdarstellung entstehen. Der exzessiven Phantasie waren in diesem Fegefeuer der Eitelkeiten kaum Grenzen gesetzt. Der Ausstellung zum Trotz: Diese Zeiten kommen nicht wieder. Es kommen andere.

„Studio 54: Night Magic“. 26. Juni bis 17. Oktober 2021 im „Dortmunder U“, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. Geöffnet Di, Mi, Sa, So 11-18, Do/fr 11-20 Uhr. Montags geschlossen. Normalticket 18,90 €, ermäßigtes Feierabendticket 11,90 €.

www.studio54.dortmunder-u.de

 




„Menschen, Makel und Abgründe“: Dortmunds neue „Stadtbeschreiberin“ Anna Herzig

Wahl-Salzburgerin, jetzt für einige Monate in Dortmund wohnhaft: die Schriftstellerin Anna Herzig. (Foto: Roland Gorecki/Dortmund Agentur)

Dortmunds neue „Stadtbeschreiberin“ Anna Herzig hat schon Ende April ihre Wohnung im Kreuzviertel bezogen, doch hat man noch gar nicht viel von ihrem hiesigen Wirken gehört. Jetzt aber, da die Pandemie nach und nach zu schwinden scheint, soll sich das spürbar ändern.

Die sonst in Salzburg lebende Stipendiatin steckt offenbar voller Pläne und Energien. Es gibt kaum ein Gebiet des Schreibens, auf dem sie sich nicht erproben möchte. An Romanen und einem Kino-Drehbuch arbeitet sie ebenso wie an dramaturgischen Exerzitien fürs Theater. Auch Bühnenstücke dürften nicht lange auf sich warten lassen.

In Österreich, so verriet Anna Herzig heute, habe sie oftmals zu kämpfen gehabt. Immerhin hat sie auch dort schon Stipendien erhalten (Land Salzburg, Villach). Ganz anders jedoch in Deutschland. Gleich mehrfach betont sie, wie sie hier überall mit offenen Armen und offenen Sinnes empfangen worden sei, ob nun in Leipzig, Dresden, Frankfurt oder eben Dortmund. Hier wird sie u. a. Veranstaltungen für die örtliche Volkshochschule, das Literaturhaus und das Kulturbüro bestreiten und sich darüber hinaus mit der regionalen Literaturszene vernetzen. Gespräche mit Menschen und Beobachtungen außerhalb des Kulturbetriebs gehören selbstverständlich dazu.

Sichtbar auf der literarischen Landkarte

Es war eine nachhaltig wirksame Entscheidung der Stadt Dortmund, das Amt der Stadtbeschreiberin (Stadtbeschreiber nicht ausgeschlossen) auszuloben. Die westfälische Reviermetropole nimmt jetzt wieder einen besser sichtbaren Platz auf der literarischen Landkarte ein. Begonnen hatte die Autor(inn)en-Residenz im Vorjahr mit der prominenten Judith Kuckart, die vor allem einem Kiez in Dortmund-Hörde, dem Schauplatz einiger ihrer Kindheits-Sommerferien, ästhetischen Mehrwert abgewonnen und überhaupt beste Eindrücke hinterlassen hat.

Demgegenüber ist Anna Herzig hierzulande bislang weniger bekannt. Falls das denn ein Maßstab sein sollte: Es ermangelt immer noch eines eigenen Wikipedia-Eintrags für die Autorin. Doch was soll’s? Schon als Kind hat sie Geschichten ausgesponnen, im Alter von 14 ernsthaft zu schreiben begonnen, mit 17 Jahren dann ihr erstes Buch veröffentlicht und seither ordentlich „nachgelegt“. Etliche Kurzgeschichten sowie zwei Romane („Sommernachtsreigen“, 2018 / „Herr Rudi“, 2020) sind bereits erschienen, zwei weitere sind in Arbeit. „Herr Rudi“ soll in absehbarer Zeit ins Kino kommen, Anna Herzig arbeitet an einer Drehbuchfassung.

„…zum Teil bösartiger Stil“

Geboren wurde die heute 33-jährige Anna Herzig als Tochter einer Kanadierin und eines Ägypters in Wien. Kein Wunder also, dass Fragen der Herkunft und Identität in ihren Texten eine besondere Rolle spielen. Ansonsten, so heißt es in einem städtischen Pressetext etwas kryptisch, interessiere sie sich speziell für „Menschen, Makel und Abgründe“. Das klingt schon mal nicht nach glatter Eingängigkeit. Laut Jury-Begründung überzeuge vielmehr ihr „hintergründig-skurriler, zum Teil bösartiger Stil, der die Tiefen menschlicher Beziehungen ausleuchtet“. Bei ihrer heutigen Vorstellung wirkte sie so gar nicht „bösartig“, aber Leben und Schreiben sind ja eh nicht bruchlos eins.

Man erhofft sich von Anna Herzig „einen originellen, unverstellten Blick auf die Topografie des Ruhrgebiets“, wie die Jury weiter verlauten ließ. Die Autorin selbst freut sich über die Dauer des Stipendiums (Ende April bis Ende Oktober), die es erlaube, „mich ganz auf die Stadt einzulassen, in Ruhe zu beobachten und mich auf die Kunst zu konzentrieren.“ Nach den vergangenen schwierigen Monaten sei sie froh, „dass ich mit den Menschen nun auch wieder ins Gespräch kommen kann“.

Schon jetzt ein „Fan“ dieser Stadt

Fürs Ruhrgebiet und hier speziell für Dortmund scheint Frau Herzig ein Faible entwickelt zu haben, vielleicht liegt’s just auch am deutlichen Kontrast zu Wien und Salzburg. Durch YouTube-Videos habe sie Dortmund, das sie zuvor nicht gekannt hat, als erstaunlich grüne Stadt wahrgenommen. Inzwischen sei sie geradezu ein Dortmund-„Fan“. Apropos: Die sonst handelsübliche Frage nach dem BVB wurde bei Anna Herzigs heutiger Pressevorstellung wohlweislich nicht gestellt. Es müssen ja auch Rätsel und Geheimnisse bleiben.

Wie auch immer: Jedenfalls will Anna Herzig in Dortmund an ihrem Roman „Die Auktion“ weiterarbeiten, der zu wesentlichen Teilen im Intercity zwischen Wien und Dortmund spielt. Das mag sich noch halbwegs gemächlich anhören, doch die Handlung spielt vor dem Hintergrund einer dystopischen (also unwirtlichen) Welt, in der die Männer den Krieg gegen die Frauen verloren haben. Im Mittelpunkt: drei Herrschaften, die damit erst einmal fertigwerden müssen. Ob sie wenigstens bei der besagten Auktion Glück haben? Und was es da wohl zu ersteigern gibt?

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Veranstaltungen mit Anna Herzig:

Virtuelle Matinee mit der Stadtbeschreiberin: „Meet & Greet“, moderiert vom Salzburger Comedian Sebastian Hochwallner. Link zur Teilnahme: https://bit.ly/3vsWCRa

Achtung! Die ursprünglich für den 20. Juni (11 Uhr) geplante Matinee muss aus Krankheitsgründen verschoben werden. Der neue Termin steht noch nicht fest.

VHS-Online-Kursus „Creative Writing“ mit Anna Herzig: nächster Termin am Dienstag, 15. Juni, 17.45 Uhr. Anmeldung online unter vhs.dortmund.de (Veranstaltungs-Nummer 211-62319W).

Drei Lesungen im Literaturhaus am Neuen Graben – mit weiblichen Gästen, die Anne Herzig selbst auswählen durfte und deren Auftritte sie moderieren wird: Irene Diwiak und ihr Roman „Malvita“ (24. Juli, 19.30 Uhr), Olivia Kuderewski  und ihr Roman „Lux“ (20. August, 19.30 Uhr) und schließlich Nora-Eugenie Gomringer mit Lyrik (2. Oktober, 19.30 Uhr).

 




Jede Menge Licht: Der Dortmunder Filmemacher Adolf Winkelmann wird 75

Adolf Winkelmann vor dem „Dortmunder U“, auf dem seine Film-Installationen laufen. (Foto: Roland Gorecki / Dortmund Agentur)

Sagen wir mal so: Adolf Winkelmann war so klug und weitsichtig, praktisch zeitlebens in Dortmund zu bleiben. In Städten wie Berlin oder Hamburg hätte er sich anfangs wohl gegen viele durchsetzen müssen, hier aber ist er sozusagen gleich singulär hervorgetreten und hat zeitig etwas gegolten. Von hier aus, in der „unaufgeregtesten Großstadt der Republik“ (wie die „Zeit“ mal schrieb), konnte er nach und nach bundesweit bekannt werden. Noch dazu dürfte sein Hiersein stets eine Herzensangelegenheit gewesen sein.

Von nichts kommt nichts: Der Mann, der an diesem Samstag (10. April) 75 Jahre alt wird, verfügt – ganz gleich, an welchem Ort – natürlich über technische und kreative Begabungen, die längst reiche Früchte getragen haben und zu großen Verdiensten angewachsen sind. Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann würdigt ihn so: „Adolf Winkelmann ist ein herausragender Filmemacher, Ausbilder und als Künstler ein Glücksfall für Dortmund“, kurzum: „einer unserer wichtigsten Kulturbotschafter“. Wohl wahr. Wer, wenn nicht er? Wo doch andere große Söhne der Stadt – Peter Rühmkorf, Martin Kippenberger, Norbert Tadeusz usw. – anderswo ihren Weg gemacht haben.

Mit „Die Abfahrer“ (1978) und „Jede Menge Kohle“ (1981) hat Adolf Winkelmann sozusagen d i e authentischen Ruhrgebietsfilme jener Jahre gedreht, gleichermaßen komödiantisch wie präzise und zeitgemäß in der sozialen Beschreibungskraft. Gewiss keine Glorifizierung der Gegend, aber doch Liebe zur Region und ihren Menschen mitsamt allen Brüchen und Verwerfungen. Auch heute noch, beim Wiedersehen, haben diese frühen Filme Bestand. Das Kultpotenzial ist unverwüstlich, legendär zudem das Repertoire an schnoddrig-coolen Haltungen und Sprüchen Marke Revier, allen voran der Klassiker: „Es kommt der Tag, da will die Säge sägen.“

Es folgten kaum minder prägnante Streifen wie „Super“ (1984), „Peng! Du bist tot!“ (1987), „Der Leibwächter“ (1989) und das um den Revierfußball kreisende Werk „Nordkurve“ (1993). 2016 reichte Winkelmann mit der Romanverfilmung „Junges Licht“ (Vorlage von Ralf Rothmann) einen weiteren, alsbald ebenfalls preisgekrönten Ruhrgebietsfilm nach, der im Dortmund der 1960er Jahre spielt und höchst eindringlich die Kinder- und Jugendjahre eines Bergarbeitersohnes schildert. Wenn man so will, ist es eine Vorgeschichte zu den „Abfahrern“ und zu „Jede Menge Kohle“. Und es ist ein grandioser Heimatfilm der ganz anderen Art, der sich einfach „richtig“ anfühlt. Zwischendurch kam – neben etlichen anderen Produktionen – die bewegende und bestürzende Pharma-Skandalchronik „Contergan“ (ARD-Zweiteiler, 2007) heraus.

Mehrfach erhielt der Regisseur den Deutschen Filmpreis, auch der Grimmepreis blieb kein Einzelstück. Aber wir wollen nicht alle Trophäen aufzählen und nur noch kurz erwähnen, dass er 2003 zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Filmakademie gehörte.

Wenn man sich noch einmal vor Augen führt, welche Darsteller(innen) in Winkelmanns Filmen zu sehen waren, so weiß man, dass er mit seinem soliden Können und seinen Stoffen einige der Besten überzeugt hat. Die Skala reicht – um nur wenige Beispiele zu nennen – von Hermann Lause und Martin Lüttge über Günter Lamprecht und Gottfried John bis zu Matthias Brandt, August Zirner und Peter Fitz. Sogar in Nebenrollen (!) traten Größen wie Hannelore Hoger und Ulrich Wildgruber auf. Und selbstverständlich hatte die unvergessene Tana Schanzara mehrmals einen Ehrenplatz im Winkelmann-Kosmos.

Über alle Kinofilme hinaus, hat Winkelmann in Dortmund ein weithin sichtbares Zeichen seines Wirkens setzen können: Zum Ruhrgebiets-Kulturhauptstadtjahr 2010 entwarf er – als Krönung fürs „Dortmunder U“ – die „Fliegenden Bilder“, eine bei Tag und Nacht aufleuchtende Film-Installation hoch droben auf der ehemaligen Brauerei. Seine Arbeit steigert die Aura des ohnehin schon imposanten Dortmunder Wahrzeichens. Inzwischen gehören 150 Filme zum Bestand, darunter Szenen mit meterhohen Tauben (quasi die Wappentiere des einstigen Reviers), schwarzgelber Kickerseligkeit oder schäumendem Bier, doch auch Kreationen, die über regionale Befindlichkeiten hinausweisen. Außerdem gibt es zuweilen tagesaktuelle Bezüge. Um all das fortzuführen, nahm die nicht gerade übermäßig reiche Stadt richtig Geld in die Hände: Ende 2020 wurden die mit rund 6000 LEDs ausgestatteten Lamellen ersetzt und die Technik wurde runderneuert. Kostenpunkt dafür: 2,6 Millionen Euro. Aber wer will da kleinlich sein? So gut wie alle Auto-, Rad-, Bahn- oder Busfahrenden und alle Passantinnen, die seit 2010 in der Dortmunder Innenstadt aufgekreuzt sind, kennen diese Schöpfung aus Licht.

(Nicht nur) das Revier im Visier: Adolf Winkelmanns neues Buch im Verlag Henselowsky Boschmann.

Soeben neu erschienen ist Adolf Winkelmanns Buch „Die Bilder, der Boschmann und ich“ im Bottroper Verlag Henselowsky Boschmann (176 Seiten, 14,90 Euro): Im Gespräch mit dem Verleger Werner Boschmann erzählt Adolf Winkelmann über sein Leben und seine Kunst; eine ausführliche Retrospektive und eine längst nicht nur anekdotische Einführung ins Werk, an der man künftig schwerlich vorbeikommen wird.

Wer darauf wetten sollte, dass Winkelmann gebürtiger Dortmunder sein muss, hätte verloren. Der Filmemacher ist zwar durch und durch von dieser Stadt geprägt, er wurde aber am 10. April 1946 im sauerländischen Hallenberg am Rand des Rothaargebirges geboren. Als er etwa drei Jahre alt war, zogen seine Eltern in die größte Stadt Westfalens: Adolf Winkelmann wuchs in unmittelbarer Nähe zur Dortmunder Union-Brauerei (Jahrzehnte später just das „Dortmunder U“) auf, machte sein Abitur am hiesigen Helmholtz-Gymnasium und studierte von 1965 bis 1968 an der damaligen Werkkunstschule Kassel. Dort muss ihn das Heimweh ergriffen haben, denn danach zog er wieder nach Dortmund und blieb der Stadt treu. Hier hat er rund 40 Jahre lang als Professor für Film-Design an der Fachhochschule gelehrt und dabei Generationen von Filmschaffenden in Feinheiten des Metiers eingeweiht.

Die Stadt Dortmund erinnert in einer Geburtstags-Würdigung an Winkelmanns ersten Experimentalfilm, der vor fast 54 Jahren in Kassel entstanden ist und der da lakonisch heißt: „Adolf Winkelmann, 9.12.1967  11 h 54″. Der Filmemacher, damals 21 Jahre jung, habe größere Irritationen ausgelöst, als er sich beim Spaziergang selbst filmte. Sollte er damit gar das Selfie miterfunden haben?




Martin Kippenberger und die Arena des Lebens-Wettkampfs – zwei Ausstellungen in Essen

Sportfeld mit „Wimmelbild“: Essener Ausstellungsansicht von Martin Kippenbergers Installation „The Happy End of Franz Kafka’s ,Amerika'“ (Museum Folkwang, Essen, 2021 – © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne – Foto: Simon Vogel)

Um einen flapsigen Spruch war Martin Kippenberger (1953-1997) nie verlegen. Von ihm stammt z. B. der Nonsens-Reim „Jetzt geh ich in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald.“ Vor allem aber sprudelten seine künstlerischen Ideen wie aus einem Füllhorn hervor.

Manchmal hat sich Kippenberger auch Zeit genommen und über Jahre hinweg am selben Projekt gearbeitet. Was daraus werden konnte, ist nun im Essener Museum Folkwang zu besichtigen: „The Happy End of Franz Kafka’s ‚Amerika‘“ heißt dieses Opus magnum, das sich auf einem 20 mal 23 Meter großen Fußballfeld erstreckt. Man kann entweder außen herum gehen oder seitwärts auf zwei Tribünen Platz nehmen.

Zu sehen sind 50 Tisch-Stuhl-Kombinationen, 32 Einzelstühle, Skulptur-Elemente, verschiedene Wachtürme und Hochsitze, dazu Videos, u. a. mit Cheerleader-Anfeuerungen. Folkwang-Chef Peter Gorschlüter findet, dass man das Ganze zuerst als „Wimmelbild“ wahrnimmt, bevor man sich auf die vielen Einzelheiten konzentrieren kann. Im Katalog wird jedes der vielen Ensembles näher erläutert. Jegliches Detail (einige Elemente stammen von befreundeten Künstler*innen) hat seine Geschichte, seinen Deutungs-Spielraum.

Auf Schienen rund ums Spiegelei: weitere Kippenberger-Installationsansicht aus Essen. (Museum Folkwang, Essen, 2021 – © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne – Foto: Simon Vogel)

Wenige Stichworte: Ein von Kippenberger verwendeter Aldo-Rossi-Stuhl, Ikone modernen Designs, wurde gezielt durchlöchert – eine Reminiszenz an schusswütige Western-Filme. Auf einer Art Kinder-Karussell fahren Schleudersitze im Kreis, rund um ein riesiges Spiegelei. Ein Tisch ist jenem nachempfunden, an dem Robert Musil seinen Jahrhundertroman „Der Mann ohne Eigenschaften“ verfasst hat. Ein weiteres Gebilde greift einen Sketch von Karl Valentin auf, der Schreibtischbeine so lange passend zurechtsägen wollte, bis praktisch nichts mehr übrig war. Und so weiter…

Der „Happy End“-Titel spielt auf Franz Kafkas Romanfragment „Der Verschollene / Amerika“ an. Dessen Hauptfigur Karl Roßmann muss sich in rätselvoller Fremde zurechtfinden. All die Tische und Stühle simulieren denn auch gleichzeitige, massenhafte Einstellungsgespräche mit höchst ungewissem Ausgang. Das stellenweise gespenstische, jedoch mit luzidem Witz funkelnde Großwerk erweist sich als Sinnbild des Lebens als Wettkampf, des unsicheren Ankommens in der Fremde, der permanenten Überwachung.

In der altehrwürdigen Villa Hügel begibt sich das zweite, deutlich stillere Kippenberger-Ereignis. Hier werden zwei Werkgruppen gewürdigt: Plakate und Künstlerbücher.

Die 100 Plakate aus dem Kippenberger-Kosmos nehmen sich im überaus gediegenen Ambiente der einstigen Krupp-Villa wie kleine Nadelstiche aus. Früher hätte das Ganze für einen Skandal getaugt. Inzwischen weiß man längst, dass Kippenberger seinerzeit der Richtige war, um den Kunstbetrieb provozierend auf Trab zu bringen. Auf gar spezielle Weise ist er, dem erst posthum große Ausstellungen gewidmet wurden, heute nobilitiert.

Kippenberger-Plakat in der Villa Hügel: „Gib mir das Sommerloch“ (Galerie Klein, Deutschland, Bonn, 1986 – Siebdruck, 83,8 x 59,5 cm) (© Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne – Foto: Jens Nober, Museum Folkwang)

Selbst seine beißend spöttischen Plakate sind heute fast schon nostalgische Anlässe zum Lächeln: Nein, wie rotzfrech er doch gewesen ist! Ganz gleich, ob er sich dem Publikum nackt, besoffen oder ernstlich verletzt gezeigt hat. Es war ihm völlig egal, wie unvorteilhaft er auf seinen Selbstdarsteller-Plakaten aussah. Es war just das Gegenteil heutiger „Selfie“-Optimierung.

In einer anderen Zimmerflucht, der Bibliothek des Hauses, werden die historischen Bestände nun dicht an dicht konterkariert von rund 120 Künstlerbüchern. Typisches Beispiel für den ironischen Zugriff: Als Künstlerkollege A. R. Penck sein majestätisches Buch „Die Welt des Adlers“ publiziert hatte, konterte Kippenberger mit niedlichen kleinen Bändchen. Titel: „Die Welt des Kanarienvogels“.

„The Happy End of Franz Kafka’s ,Amerika‘”. Museum Folkwang, Essen, Museumsplatz 1. – Bis 16. Mai 2021. Geöffnet Di bis So 10-18 Uhr, Do und Fr 10-20 Uhr. Eintritt 5 Euro. Katalog (ab April) 48 Euro. www.museum-folkwang.de – Zeitfenster-Tickets (erforderlich): https://museum-folkwang.ticketfritz.de

„Vergessene Einrichtungsprobleme in der Villa Hügel“. Plakate und Künstlerbücher von Martin Kippenberger. Essen, Villa Hügel, Hügel 1. – Bis 16. Mai 2021. Geöffnet Di bis So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro, Kurzführer gratis. www.villahuegel.de

Ausstellung in der Villa Hügel verlängert

Update vom 20. Mai 2021: Die Ausstellung in der Villa Hügel (wieder geöffnet ab Dienstag, 25. Mai) wird bis zum 4. Juli verlängert!

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„Kind des Ruhrgebiets“

Martin Kippenberger war ein „Kind des Ruhrgebiets“. 1953 als Sohn einer Ärztin und eines Zechendirektors in Dortmund geboren, wuchs er in Essen auf – als „Hahn im Korb“, mit zwei älteren und zwei jüngeren Schwestern.

Martin Kippenberger 1994 mit einem Element seiner damals – in Rotterdam – erstmals gezeigten Kafka-Installation. (Foto: Wubbo de Jong / MAI – Maria Austria Institut)

1968 brach er die Schule ab und begann eine Dekorateurslehre, die er wegen Drogenkonsums nicht abschließen durfte. In den 70er Jahren warf er ein Kunststudium in Hamburg hin.

Bald aber lernte die jüngere Kunstwelt Kippenberger als begnadeten, gewiss nicht uneitlen Selbstdarsteller kennen, der jedoch auch diese Eigenschaft selbstironisch zu brechen wusste. Lebenshunger trieb ihn umher. In Florenz und Berlin hat er gelebt, auch in Paris (um dort Schriftsteller zu werden) und in Kalifornien. Und noch und noch.

Legendär seine Begabung zum Netzwerker, der überall Freunde um sich scharte. Der wohl wichtigste Zirkel war jener mit Werner Büttner, Albert und Markus Oehlen, nachmals den „Neuen Wilden“ zugerechnet, die die Rückkehr zur (heftigen) Malerei kraftvoll betrieben haben. Um 1977 war das, als auch die Punk-Bewegung aufkam, der Kippenberger manchen Impuls verdankte.

Und was geschah 2011 in seiner Geburtsstadt Dortmund? Eine Reinigungskraft schrubbte sein Werk „Wenn’s anfängt durch die Decke zu tropfen“ kurzerhand blank. Gut möglich, dass Kippenberger den Vorfall spaßig gefunden hätte. Aber da hat er nicht mehr gelebt. Am 7. März 1997, nur 44 Jahre alt, ist er in Wien an Krebs gestorben.

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P. S.: Demnächst erscheint eine längere Fassung des Ausstellungsberichts im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“.

 




Mit Zuversicht durch schwierige Zeiten: Neue Leitung fürs Dortmunder Szene-Theater „Fletch Bizzel“

Neues Leitungsduo des Theaters „Fletch Bizzel“ in Dortmund: Cindy Jänicke und Till Beckmann. (Foto: Marcel Richard)

Mutig, mutig! Wer in diesen Tagen und Wochen ein Theater übernimmt, muss schon einige Zuversicht aufbringen. Die blanke Nachricht: Die Geschicke der Dortmunder Szene-Bühne „Fletch Bizzel“, seit rund 40 Jahren von Horst Hanke-Lindemann betrieben, gehen in jüngere Hände über. Cindy Jänicke und Till Beckmann werden das Haus offiziell ab 1. Februar leiten, das angestammte Team bleibt zum Teil dabei. Und was soll sich inhaltlich ändern?

Nun, die beiden „Neuen“, die schon reichlich Bühnenerfahrungen mitbringen, können auf einem soliden Fundament aufbauen. Die Ära Hanke-Lindemann ist eine dauerhafte Erfolgsgeschichte, der scheidende Spiritus Rector hat u. a. auch populäre Formate wie den Alternativ-Karneval „Geierabend“ oder das Kabarett/Comedy-Festival „Ruhrhochdeutsch“ entwickelt. Das 1979 gegründete „Fletch“, wie es häufig abgekürzt wird, genießt weit über Dortmund hinaus einen guten Ruf.

Auf solchen Lorbeeren wollen sich Cindy Jänicke und Till Beckmann jedoch nicht ausruhen. Bei einer Online-Pressekonferenz sprühten sie heute geradezu vor Ideenfülle. Die Präsentation geriet vielfach zum Namedropping aus der freien Szene. Wer da alles nach Dortmund kommen soll! Aus vielen Ecken und Enden der Republik (und darüber hinaus) sollen offenbar immer wieder andere, meist junge Leute ans Haus geholt werden, um neue Impulse zu setzen. Durch wechselvolle Berufs-Biographien (siehe Stichworte im Anhang) ist das neue Leitungsduo bestens vernetzt. Das dürfte sich auszahlen.

Hochkarätige „Spielkinder“

Mit den bisherigen Stücken wird „Tabula rasa“ (Till Beckmann) gemacht, sie verschwinden aus den Programmen. Till Beckmann stammt aus einer ausgesprochenen Schauspiel-Familie, die daraus hervorgegangene Truppe „Die Spielkinder“ bringt er mit ans „Fletch Bizzel“. Das lässt einiges erwarten: Zu dieser familiär zentrierten Gruppe gehören nämlich u. a. die in der deutschsprachigen Theaterwelt hochrenommierten Schwestern Maja Beckmann und Lina Beckmann sowie die Brüder Nils und just Till – mitsamt weiteren „Spielkindern“.

Pläne und Projekte betreffen u. a. Texte des Schriftstellers Ralf Rothmann („Milch und Kohle“ etc.) oder eine Art Talk-Reihe unter dem Motto „Strictly local“, die aktuelle Dortmunder und Ruhrgebiets-Themen schnell aufgreifen soll. Gemeinsam mit der journalistischen Recherche-Instanz „Correctiv“ will man ein neuartiges Format entwickeln, bei dem möglichst investigativ aufgeschlüsselte Themen zur Bühnenreife gelangen – vielleicht ein Wegweiser für bislang ungeahnte journalistische Ansätze?

Vielversprechend klingt auch ein Projekt über den windigen Revier-Unternehmer und Benzin-Tycoon Erhard Goldbach (Marke „Goldin“), der vor allem in den 1950er und 60er Jahren Furore machte. Daraus könnte ein handfester Wirtschafts-Krimi mit viel Regionalkolorit werden.

Schnell auf Entwicklungen reagieren

Hinzu kommen beispielsweise digital eingeleitete „Video Walks“ durch die Gefilde der Stadt sowie zahlreiche Workshops und Produktionen in den Bereichen Tanz und Musik. Auch die bildende Kunst wird nicht ausgespart, schließlich gibt es ja eine eigene kleine Galerie. Kurzum: Eigentlich haben die Neuen dermaßen viel vor, dass man schon beinahe fragen müsste, was sie denn n i c h t machen wollen…

Till Beckmann freut sich, dass das „Fletch Bizzel“ gleichsam ein „kleines wendiges Boot“ im Kulturbetrieb sei und rasch auf Entwicklungen reagieren könne. In diesen Zeiten äußerst ratsam: Stets werde man zusätzlich „einen Plan B und einen Plan C haben“. Nur ein Beispiel: „Wenn das Wetter es zulässt, werden wir auch draußen spielen.“

Geradezu Ehrensache, dass auch neues Publikum ins Haus geholt werden soll, nämlich möglichst junge Leute und gerne Migrantinnen und Migranten. Überhaupt hat sich die neue Leitung zum Ziel gesetzt, personell und programmatisch „divers“ (also vielfältig) zu agieren – eine ähnliche Leitlinie übrigens, wie sie die junge Intendantin des städtischen Schauspiels, Julia Wissert, für ihren Wirkungsbereich vorgezeichnet hat. Till Beckmann spricht denn auch mit größtem Respekt von Frau Wissert. Sie sage so kluge Dinge, dass er am liebsten ständig mitschreiben wolle. Er mag’s halt enthusiastisch.

Horst Hanke-Lindemann ergänzt aus langjähriger Erfahrung: Früher habe es noch große Unterschiede zwischen Stadttheater und freier Szene gegeben, inzwischen wachse da manches zusammen und mische sich.

Gründlicher Umbau des Hauses

Hanke-Lindemann, der beim „Geierabend“ und bei „Ruhrhochdeutsch“ noch aktiv bleiben will, wird auch weiterhin dem Trägerverein des „Fletch Bizzel“ angehören, aber keinesfalls in künftige Programm-Planungen eingreifen. „Man muss loslassen können.“ Die neue Leitung solle in Ruhe arbeiten und Dinge entwickeln.

Auch baulich tut sich unterdessen beim „Fletch“ im Dortmunder Klinikviertel (Humboldtstraße 45) eine ganze Menge. Dank verschiedener Fördermittel und in enger Absprache mit dem Vermieter entstanden und enstehen beispielsweise neue Büros, eine neue Sound-Anlage und vor allem eine avancierte Luftfilterung, die zumal mit Aerosolen klarkommen soll. Die Theaterleute rechnen vorsichtshalber damit, dass Corona uns alle noch auf Jahre hinaus beschäftigen könnte – zumindest als Thema.  Für alle nötigen Umbauten, so Hanke-Lindemann, werde man indes auch Sponsoren brauchen. „Mit 100.000 Euro kommen wir da insgesamt nicht aus.“

Und wann geht’s wieder los mit dem Spielbetrieb? Am liebsten Mitte April mit der ersten Premiere. Doch das weiß noch niemand so genau. Sagen wir’s mal mit dem alten Spruch: „Demnächst in diesem Theater…“

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Stichworte zur beruflichen Vita des neuen Leitungsduos

Till Beckmann: Geboren 1985 in Recklinghausen, aufgewachsen in Wanne-Eickel (Herne) und Dortmund. Ab 2006 „theaterkohlenpott“ in Herne. Literaturstudium an der Ruhr-Uni Bochum. Gastspiele u. a. bei der Ruhrtriennale, den Ruhrfestspielen, den Duisburger Akzenten und am Schauspiel Essen. Drehbuchautor für Adolf Winkelmanns Kinofilm „Junges Licht“. Regisseur beim „Geierabend“. Außerdem „Pangalaktisches Theater“ (Figuren- und Maskenspiel).

Cindy Jänicke: Dramaturgin, Theaterpädagogin und Kulturmanagerin, u.a. mit Stationen an der Berliner Staatsoper Unter den Linden, Schauspielhaus Wuppertal, Zürich und Stuttgart. Unter Dieter Dorn Gründung und Leitung des Jungen Schauspiels in München. Produzentin internationaler Projekte im Tanztheater. Weitere Theater-Tätigkeiten in Harare (Simbabwe), Kampala (Uganda) und Tansania. Kommt jetzt mit ihrer Familie aus Flensburg nach Dortmund.




Kühne Visionen der Intendantin Julia Wissert: Dortmunds Theater soll Maßstäbe setzen

Selbstbewusst: Dortmunds Schauspielchefin Julia Wissert. (Foto: China Hopson)

Donnerwetter! Die (immer noch) neue Dortmunder Schauspielchefin Julia Wissert hat mit dem Theater jede Menge vor. Zum live gestreamten Gespräch eingeladen hatten die Theater- und Konzertfreunde Dortmund. Deren Vorsitzender Ulrich Wantia stellte die an sich schon kühne Frage, was Frau Wissert mit ihrem Team bis zum Jahr 2025 verwirklicht haben wolle.

Die Antwort fiel mindestens ebenso kühn aus: Nichts weniger als eine Komplett-Sanierung des Hauses schwebt Julia Wissert vor. Als erstes und bis dahin einziges Theater in Deutschland solle Dortmund den Standard für alle künftigen Bühnenbauten setzen. Es solle alle denkbaren Bühnenformen in sich vereinen und sich auch zur Straße hin öffnen können. Gewiss, für diese Vision müsse die Stadt dann auch schon etwas mehr Geld in die Hand nehmen. Und was soll auf den Bühnen zu sehen sein? Nun, eine Hybrid-Mischung aus Eigenproduktionen und hochkarätigen Gastspielen „aus aller Welt“.

Mehr noch: Bis (spätestens?) 2025 wolle man ein Netzwerk mit den Schulen gebildet haben, das sich längst nicht in bloßen Aufführungsbesuchen erschöpfe, sondern mit den Produktionen direkt in die Schulen gehen werde. Das Theater müsse in jeder Hinsicht (baulich, inhaltlich und überhaupt) komplett barrierefrei werden, bisher seien zumal die architektonischen Verhältnisse „katastrophal“. Die Spartengrenzen zwischen Oper, Schauspiel, Ballett sowie Kinder- und Jugendtheater sollen unterdessen vielfach überschritten werden. Überdies würden die Städtischen Bühnen auch als menschenfreundlicher Arbeitsplatz im Ranking ganz oben stehen. Noch etwas vergessen? Ach ja, ein klimafreundliches „Null-Emissions-Theater“ soll’s bitteschön auch werden.

Nach mancherlei Videokonferenzen haben just in diesen Tagen die wirklichen Proben wieder begonnen – unter erschwerten Hygiene-Bedingungen. Nichts bleibt, wie es war: Die Sicherheits-Abstände werden sozusagen bei allen Projekten notgedrungen mitinszeniert. In Corona-Zeiten sind sie am abermals vom Lockdown gebeutelten Haus zwangsläufig dabei, neue digitale Formate zu entwickeln. Die Online-Übertragung von Aufführungen reiche bei weitem nicht aus, so Julia Wissert. Es müsse eine ganz neue „digitale Dramaturgie“ entstehen. Sollten die rigiden Corona-Beschränkungen sich hierbei gar als Chance für neue Formate erweisen? Wenn gleichzeitig im Dortmunder Hafenviertel die Digitale Theater-Akademie entsteht, könnten es in der Tat spannend und zukunftsweisend werden. Doch seien wir vorsichtig mit Vorschusslorbeeren. Um einen berühmten Dortmunder Fußballer-Spruch abzuwandeln: Entscheidend is‘ auf den Brettern.

Julia Wissert, die auch ansatzweise verriet, wie ihre Bewerbung um den Dortmunder Posten verlaufen sei (zum Vorstellungsgespräch „erstmals im Leben einen Anzug getragen“ – und dann stürzte vor der Konzept-Präsentation ihr Computer ab), war – sozusagen von Amts wegen – des Lobes voll für die Stadt ihres Wirkens. Extrem positiv überrascht habe Dortmund sie mit der unglaublichen Offenheit der Menschen. Vorher hat sie u. a. auch am Bochumer Schauspiel gearbeitet. Zwischen Bochum und Dortmund, so Wissert, lägen Welten, Dortmund sei ungleich größer, kosmopolitischer, weltläufiger – „ein wahnsinniger Unterschied“. Da hüstelt selbst der Lokalpatriot leicht verlegen.

Ihr Dortmunder Lieblingsort ist übrigens der Botanische Garten Rombergpark („sensationell“), der im nächsten Jahr 200 Jahre alt wird – ein Jubiläum, zu dem auch die Theater- und Konzertfreunde beitragen möchten.

Und die nähere Zukunft? Für „spätestens Anfang April“ erhofft sich die Intendantin wieder echte Premieren vor leibhaftig anwesenden Zuschauern. Etliche Produktionen sind in der Pipeline, die dann „in dichter Abfolge“ aufgeführt werden sollen – fast schon eine Art Festival, das die Vielseitigkeit des neuen Dortmunder Ensembles zeigen werde.




Wie Heimat zu erfahren und zu schildern sei: Judith Kuckarts Dortmunder Hörfilm „Hörde mon Amour“

Blick auf die Siedlung Am Sommerberg/Am Winterberg in Dortmund-Hörde. (Screenshot aus dem besprochenen Film / © Judith Kuckart)

Dortmund vergibt bekanntlich (und endlich) ein Literaturstipendium. Das temporäre Amt, das andernorts meist Stadtschreiber(in) heißt, nennt sich hier Stadtbeschreiber*in. Die literarisch etablierte Judith Kuckart hat den Anfang gemacht. Ihr Dortmunder Aufenthalt begann im August und dauert bis Ende Januar 2021. Leider wurde auch ihre Tätigkeit von Corona eingeschränkt. Anders als vorgesehen, hat sie keine theatrale Umsetzung ihrer Ortserkundungen verwirklichen können, sondern einen rund einstündigen „Hörfilm“ produziert. Es ist ein „Heimatfilm“ ganz eigener Art.

Die 1959 in Schwelm geborene Judith Kuckart hat als Kind – aus traurigen familiären Gründen – „vier oder fünf Sommer“ im Dortmunder Ortsteil Hörde verbracht und kennt also noch das Alltagsleben in der früheren Stahlwerksgegend. In jenen Jahren war sie etwa 9 bis 14 Jahre alt. „Hörde war eine Schule fürs Leben“, sagt sie. Und Hörde sei für immer Teil ihrer „inneren Landschaft“. Ein „Downtown“ Dortmund, also eine zentrale Innenstadt, habe es für sie damals nicht gegeben. Folglich trägt der Film den Vorort liebevoll im Titel: „Hörde mon Amour“.

Westfälische Witterung

2017, als der Kongress der Autorenvereinigung PEN in Dortmund stattfand, hatte die heute in Berlin lebende Judith Kuckart Gelegenheit, erneut westfälische Witterung aufzunehmen. Zwar hat sie für die Stipendienzeit in der Nordstadt am Dortmunder Borsigplatz gewohnt, sich aber auf den Spuren ihrer Kindheitserinnerungen weit überwiegend wieder „auf den Hügeln von Hörde“ umgetan. Das 1340 gegründete (und 1928 nach Dortmund eingemeindete) Hörde hat schon immer ein gewisses Eigenleben geführt und lange Zeit mit Dortmund auf Kriegsfuß gestanden. Auch daraus bezieht der ebenso eindringliche wie wohltuend ruhige Film untergründige Spannungsmomente.

Die Autorin und Dortmunder Stadtbeschreiberin Judith Kuckart – hier in Berlin, März 2019. (Foto: Burkhard Peter)

Äußerst langsam und behutsam tastet die Kamera (Martin Rottenkolber) Einzelheiten ab, die Erinnerung in sich bergen (könnten): die Siedlung „Am Sommerberg“/„Am Winterberg“ im vogelperspektivischen Überblick; sodann geht’s Fassade für Fassade an verwitterten Häusern entlang. Auch sieht man eine typische Wohnung daselbst mit allen Einzelheiten, die nicht gerade auf Wohlstand hindeuten und wirken, als seien sie rücklings aus der Zeit gerutscht. Hinzu kommt ein verfallenes, inzwischen auch verwunschenes früheres Schwimmbad („Schallacker“), dessen Areal zur Stätte des Urban Gardening mutiert ist. Lauter wehmütige Ansichten von zumeist menschenleeren Orten. Kein Wunder, wenn dabei Kopfkino entsteht, zumal als Bezugspunkt ein kartographierter, aber nicht existierender Phantom-Ort bei New York aufgerufen wird, der zur Kultstätte für Jugendliche von weither geraten ist. Auch Hörde ist nicht zuletzt ein imaginäres Gelände.

„Schäbiges Paradies“

Nicht in den Bildern, wohl aber in den Texten dieses „Hörfilms“ scheint auf, wie sehr hier einst das pralle, wenn auch oft etwas ärmliche Leben sich begeben hat. Im besagten Schwimmbad, so heißt es, sei gleichsam alles Lebendige geschehen, es seien auf den Liegedecken in diesem „schäbigen Paradies“ auch Kinder gezeugt worden. Mittlerweile gibt es einen machtvollen und scharfen Kontrast, ein ganz anderes Hörde, das gleichfalls, wenn auch eher schaudernd, ins Auge gefasst wird: die Gegend rings um den künstlich erstellten Phoenixsee mit ziemlich seelenlosen Neubauten zu exorbitanten Preisen. Dies sind keine Kindheitsräume mehr, aber vielleicht Orte für unstete „Wandermenschen“, die allüberall ihresgleichen finden.

Judith Kuckart erinnert sich hingegen lieber an die Jahre um 1968, als die Frauen in der Hörder Siedlung ganztags im Morgenmantel umher gingen, die bescheidenen Haushalte führten und Kinder versorgten, während die Männer bei Hoesch malochten oder in der Kneipe zechten. Eine 1979 aus Jamaika zugewanderte Frau bedauert den späteren Wandel gleich zu Beginn des Films: Früher sei ihr der Lichtschein des Hochofenabstichs stets wie eine wärmende, tröstende Sonne erschienen, später sei hier und in anderen Stadtteilen jedoch „alles den Bach runtergegangen“. Um in Hörde herzlich und herzhaft heimisch zu werden, muss man wahrlich nicht dort geboren sein.

Wo wir uns sicher bewegen können

Fixsterne in Kuckarts Hörder Kindheitssommern waren mehrere Tanten, die dort gelebt haben. Eine von ihnen ist mit 24 Jahren gestorben, ihr kurz vorher geborenes Baby hielt sie bis zuletzt fest umklammert. „Oma Schüren“ (in Dortmund heißen Großeltern familiär häufig nach dem Stadtteil) ist gegen Ende einer Kinovorführung in der – bis heute als letztes Vorort-Lichtspielhaus existierenden – „Postkutsche“ in Aplerbeck gestorben. Heute kann niemand mehr sagen, welchen Film die Großmutter zuletzt gesehen hat.

Man ahnt, dass der Ton zum Film sich keineswegs in „Dönekes“ erschöpft, sondern wesentlich tiefer lotet, manchmal ganz unversehens. Nach und nach stellt sich mit zunehmender, freilich allemal sanfter Dringlichkeit die Frage, was eigentlich „Heimat“ sei und wie von ihr zu erzählen wäre. „Heimat ist der Raum, in dem wir uns immer sicher bewegen können“, heißt es an einer Stelle. Ob es zugleich ein konkreter Ort ist, steht allerdings dahin. Überhaupt ergeben sich viele Fragen: Ist die Heimat ein Ort oder ein Gefühl? Kann man sesshaft werden in der Sehnsucht nach Heimat? Kann man eine Heimat gründen oder entwerfen? Kann Sexualität eine Heimat sein? Und so fort. Hier lagert Stoff fürs eine oder andere weitere Buch im Sinne des „autofiktionalen“ Erzählens, der Selberlebensbeschreibung, angereichert mit fiktionalen Elementen, wie sie seit einiger Zeit wieder vermehrt Teile der Literatur prägt (und nicht die schlechtesten).

Um das Erzählte noch genauer zu verankern, versichert sich Judith Kuckart der Kenntnisse einiger langjährig ortsansässiger „Heimatexpert(inn)en“. Jede(r) von ihnen trägt ureigene Bruchstücke zum Mosaik der Heimatlichkeit bei. Und nein: Das berühmte Diktum von Ernst Bloch („…so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“) kommt an keiner Stelle vor.

„Hörde Mon Amour“. – „Hörfilm“ von Judith Kuckart, 2020. Zu sehen auf dem YouTube-Kanal des Dortmunder Literaturhauses: 

https://www.youtube.com/watch?v=v9iAHql-NJI

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Im Mai 2021 soll Anna Herzig übernehmen

P.S.: Als nächste Dortmunder Stadtbeschreiberin wird – vermutlich ab Mai 2021 – Anna Herzig aus Salzburg in der Stadt sein. Sie hat keine Dortmunder Kindheitserfahrungen, will aber hier an ihrem Roman „Die Auktion“ weiterarbeiten, der in einem Intercity zwischen Wien und Dortmund spielt…




Digitalisierung, Anfangszeiten, Distanzunterricht – die Mühen der Ebenen in der lokalen Schulpolitik

Hier wissen Schüler und Eltern (hoffentlich) Bescheid: die schulspezifischen Apps Google Classrooom und Untis auf einem iPad-Bildschirm. (Screenshot: BB)

Wenn die Dortmunder Stadtelternschaft (d. h. vor allem: die Schulpflegschaftsvorsitzenden) mit der Schuldezernentin Daniela Schneckenburger (Grüne) eine Videokonferenz abhält, dann kann man schon mal interessiert kiebitzen. Und was soll ich euch sagen: Da lernt man ein wenig die oft zitierten Mühen der Ebenen kennen.

Beim Online-Treff mit rund 40 Leuten ging’s heute Abend wahrlich nicht um den „großen Wurf“, sondern um recht kleinteilige, teilweise ziemlich knifflige Fragen, etwa zur Bildungsgerechtigkeit und zur Digitalisierung der Schulen.

Auf den immer dringlicheren Ruf nach Klassenteilungen, Wechsel- und Distanz-Unterricht in Corona-Zeiten konnte die Schuldezernentin nur ansatzweise eingehen, denn diese Themenbereiche fallen hauptsächlich in die Verantwortung des Landes NRW. Die Gemengelage scheint sehr unübersichtlich zu sein. Da gab es zwar kürzlich einen Landeserlass, der es örtlichen Schulen bzw. Gesundheitsämtern bei entsprechender Infektionslage freistellte, für Distanzunterricht zu sorgen. Dieser Erlass aber wurde wieder zurückgerufen. Daniela Schneckenburger musste bekennen, sich mit der „Distanzlernverordnung“ (man lasse sich das Wort auf der Zunge zergehen) des Landes nicht sonderlich gut auszukennen. Sowohl politisch als auch juristisch ist die Angelegenheit offenbar kompliziert. Wer wollte sich anmaßen, hierin Expertise zu besitzen?

Man sollte doch, man müsste mal…

Anke Staar, Vorsitzende der Stadteltern Dortmund (und auch der Landeselternschaft), sagte, sie habe den Eindruck, auf diesem Felde gehe es oft nicht um die Sache, sondern vielfach um  „parteipolitisches Geplänkel“. NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) mache sich dabei schon mal „einen schlanken Fuß“.

Geradezu quälend war sodann das Gespräch über Fragen der Information und Transparenz in der Schulpolitik, sprich: Erreichen die Botschaften aus der Landes- und Kommunalpolitik die Schul- und Klassen-Pflegschaftsvorsitzenden überhaupt in ausreichendem Maße? Als säße man in dieser Frage erst jetzt endlich einmal beisammen, machte Daniela Schneckenburger schwierige Datenschutz-Regelungen geltend. Immerhin einigte man sich darauf, dass es möglich sein müsse, die Elternvertretungen nicht unter privaten Mailadressen, sondern unter neutralen Schuladressen anzuschreiben. Man sollte doch, man müsste mal…

Ein ganzer Schwall von Zahlen

Noch so ein leidiges Thema: die Digitalisierung der Schulen und die Ausstattung mit entsprechenden Geräten – sowohl für (bedürftige) Schüler(innen) als auch fürs Lehrpersonal. Hier zeigte sich Schuldezernentin Schneckenburger präpariert, um jeder etwaigen Kritik am angeblich langsamen Vorgehen der Stadt zu begegnen. Sie wartete mit einem wahren Schwall von Zahlen auf. Wie viele Millionen Euro für diese Zwecke bereitstünden, was davon bereits abgerufen sei, wie viele Tausend Geräte jetzt und demnächst ausgeliefert werden könnten. Und so weiter, und so fort. Wie schnell die Geräte jetzt zur Verfügung stünden, hänge allerdings nicht zuletzt davon ab, „wie schnell die Menschen in China arbeiten.“ Sprach’s – und musste dann flugs erst einmal ihr eigenes iPad ans Stromnetz anschließen, damit der Akku nicht leerlief.

Apropos iPad: Die Stadt Dortmund, finanziell bekanntlich nicht gerade auf Rosen gebettet, gönnt sich und ihren Schulen die vergleichsweise teuren Apple-Apparaturen, also vor allem iPads. Familien, die daheim mit Android-Geräten arbeiten, müssen diese folglich selbst einrichten und warten. Ob immer alles kompatibel ist, wird sich zeigen. Unklar zudem, ob in weniger begüterten Haushalten überall flächendeckendes WLAN bereitsteht.

Kostspielige iPads per Leihvertrag

Fragen über Fragen: Was geschieht im Falle von Diebstahl oder Beschädigung? Da die Geräte sonst nicht zu vernünftigen Preisen versicherbar sind, werden sie per Leihvertrag ausgegeben. Einrichtung und Wartung übernimmt – bei jedem einzelnen der vielen Tausend iPads – das „Dortmunder Systemhaus“. Ein gar mühseliges und langwieriges Unterfangen. Kein Wunder, dass die meisten Geräte nicht morgen oder übermorgen nutzbar sein werden. Aber die Digitalisierung ist eben nicht erst mit Corona, sondern schon lange vorher verschlafen worden; in ganz Deutschland, beileibe nicht nur in Dortmund.

Schließlich noch die Frage nach einer Entzerrung des Unterrichtsbeginns, um auch die Verkehrsströme zu entlasten. Derzeit wäre es möglich, die Schule zwischen 7.30 und 8.30 beginnen zu lassen. Die Stadt, so Daniela Schneckenburger, habe die Schulen gebeten, entsprechende Möglichkeiten zu sondieren. Eine Weisungsbefugnis habe man indes nicht. Ein neuer Erlass sieht vor, dass der Unterricht künftig sogar zwischen 7 und 9 Uhr anfangen kann. Das mag vernünftig und flexibel klingen, aber Daniela Schneckenburger ließ schon mal etwas Luft heraus: Es könne passieren, dass Familien mit mehreren Kindern und diversen elterlichen Arbeitszeiten sich plötzlich auf drei oder vier verschiedene Anfänge einrichten müssten. So hat eben alles seine Licht- und Schattenseiten.

Wir aber blicken gleichermaßen froh und bang den Weihnachtsferien entgegen – und dem, was danach kommen mag.




Krimi-Kult am Sonntag: Vor 50 Jahren wurde der erste „Tatort“ gesendet – Jubiläums-Doppelfolge aus Dortmund und München

Heute, 29. November, um 20.15 Uhr (und danach in der Mediathek) zu sehen: erster Teil der Jubiläums-Doppelfolge mit den „Tatort“-Teams aus Dortmund und München – hier eine Szene mit (v. li.) Peter Faber (Jörg Hartmann), Ivo Batic (Miroslav Nemec), Nora Dalay (Aylin Tezel) und Franz Leitmayr (Udo Wachveitl). (Bild: WDR / Frank Dicks)

Der 29. November 1970 sollte in die Fernsehgeschichte eingehen – aber das war damals noch alles andere als klar.

Die Idee des Fernsehredakteurs Gunther Witte, eine gemeinsame Krimi-Reihe der ARD-Fernsehanstalten unter dem Titel „Tatort“ zu produzieren, stieß zunächst auf wenig Interesse. Als das Projekt schließlich doch genehmigt wurde, war die Zeit zu knapp, um die ersten Folgen zu produzieren. Der Auftakt der Serie, „Taxi nach Leipzig“, war daher ein vom NDR bereits fertiggestellter Film.

Der frühere WDR-Fernsehspielchef und Tatort-Erfinder Gunther Witte beim Fototermin anlässlich des Jubiläums „40 Jahre Tatort“ 2010 in Hamburg vor dem Logo der meistgesehenen Krimireihe im deutschen Fernsehen. (Bild: ARD/Thorsten Jander)

Darin ermittelt Hauptkommissar Paul Trimmel aus Hamburg in einem deutsch-deutschen Mordfall. Der Schauspieler Walter Richter verkörpert den cholerischen Einzelkämpfer, bei dem Zigaretten und Cognac stets in Reichweite waren, zwischen 1970 und 1982 in elf „Tatort“-Folgen.

Der erste eigens für die Serie produzierte Film war „Kressin und der tote Mann im Fleet“ mit Sieghardt Rupp als Zollfahnder Kressin, ausgestrahlt am 10. Januar 1971.

Ein Straßenfeger der Siebziger

Schon bald zeigten die Zuschauerquoten, dass Wittes Konzept aufgehen sollte: markante Typen als Ermittler im Mittelpunkt der jeweiligen Folgen, realitätsnahe Fälle, regionale Verankerung im Sendegebiet der beteiligten Anstalten und ausgeprägtes Lokalkolorit. In den siebziger Jahren war der „Tatort“ mit seinem bis heute kaum veränderten Vorspann und seiner Titelmelodie von Klaus Doldinger ein „Straßenfeger“. Bis zu 25 Millionen Zuschauer saßen am Sonntagabend vor der Mattscheibe. Der Stuttgart-Krimi „Rot – rot – tot“ mit Curd Jürgens in einer Hauptrolle belegt den bisher nicht mehr erreichten Spitzenplatz: Am 1. Januar 1978 fieberten 26,57 Millionen Zuschauern mit, ob Kommissar Lutz (Werner Schumacher) die vermeintliche Mordserie an rothaarigen Frauen aufklären könne.

Nach Einführung des Privatfernsehens Mitte der achtziger Jahre sanken die Einschaltquoten. Dennoch gehört der „Tatort“ nach wie vor zu den meistgesehenen Fernsehserien in Deutschland. Zwischen sieben und über dreizehn Millionen Zuschauer werden pro Folge erreicht. „Fangschuss“ mit dem Ermittlerteam aus Münster erzielte 2017 mit 14,56 Millionen das beste Ergebnis seit 1992, als die Hamburger Episode „Stoevers Fall“ 15,86 Millionen Menschen vor die Flimmerkiste lockte.

Dortmund, Duisburg, Essen

Derzeit sind für den „Tatort“ 21 Teams sowie die beiden Einzelgänger Felix Murot in Wiesbaden (Ulrich Tukur) und Ellen Berlinger in Mainz und Freiburg (Heike Makatsch) in den Abgründen der Kriminalität unterwegs: Falke (Wotan Wilke Möhring) und Grosz (Franziska Weisz) haben seit 2016 das norddeutsche Revier rund um Hamburg übernommen; in München traten Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) das Erbe des Ur-Kommisars Melchior Veigl (Gustl Bayrhammer) an, der 1972 seinen Einstand mit „Münchner Kindl“ gegeben hatte.

In Dortmund bewegen sich Jörg Hartmann als psychisch belasteter Hauptkommissar Peter Faber, Anna Schudt als seine Kollegin Martina Böhnisch, die junge, ehrgeizige Nora Dalay (Aylin Tezel) und der Neuling Jan Pawlak (Rick Okon) in den Spuren der legendären Ruhrgebiets-Kommissare Horst Schimanski (Götz George) in Duisburg und Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) in Essen – beide gehören zu den beliebtesten Kommissaren der „Tatort“-Serie.

Der WDR lädt anlässlich des 50. „Tatort“-Geburtstags zum Wiedersehen mit Kult-Kommissar Horst Schimanski. Links Thanner und Schimanski (Eberhard Feik und Götz George) im unbearbeiteten Original der Folge „Duisburg-Ruhrort“, rechts die restaurierte und colorierte Nachbearbeitung in HD. (Bild: WDR/Bavaria/ D-Facto Motion)

Felmy wies in einem Interview darauf hin, dass bereits in der Figurenentwicklung versucht worden sei, Haferkamp ein bisschen persönlichen Background zu geben, damit der Kommissar für die Zuschauer nicht allein als Ermittler, sondern als Mensch interessant würde. Seine Vorliebe für Frikadellen habe er sich selbst ausgedacht. Sie mache die Figur „einfach liebenswerter, lebenswerter, menschlicher“. In 20 Fällen führte Haferkamp zwischen 1974 und 1980 ins damals noch typische Ruhrgebiets-Essen.

Die Schimanski-Folgen sind schon zur Zeit ihrer Erstausstrahlung Kult gewesen: Götz Georges unvorschriftsmäßige Eskapaden, seine rüde Sprache und seine Wutausbrüche, seine sensibel-nachdenklichen Momente und sein unwiderstehliches Lächeln, wenn er es mit einer schönen Frau zu tun bekommt, sind genauso legendär geworden wie die Schwerindustrie-Kulisse des Duisburg der frühen achtziger Jahre. Nicht zu vergessen Eberhard Feik als Christian Thanner, der so einige der chaotischen Aktionen von „Schimi“ wieder zurechtrückt.

Frauen als Ermittlerinnen gibt es übrigens erst seit 1978, als Nicole Heesters als Kommissarin Buchmüller in Mainz – für nur drei Fälle – ihre Arbeit aufnahm. Bis heute mit von der Partie ist Ulrike Folkerts als Lena Odenthal, die für ihr Debüt als „Die Neue“ am 29. Oktober 1989 in Ludwigshafen ihren Dienst angetreten hat. Heute gibt es nur noch fünf männliche Teams und – in Wiesbaden – Ulrich Tukur als Einzelkämpfer Felix Murot.

Kommissare als Persönlichkeiten

Das bisher jüngste Team hat im April 2020 einen der Ur-Schauplätze des „Tatort“ übernommen: Adam Schürk (Daniel Sträßer) und Leo Hölzer (Vladimir Burlakov) haben in Saarbrücken in „Das fleißige Lieschen“ lange zurückreichende Verstrickungen entwirrt. Auch sie lassen die Zuschauer an ihrer persönlichen Geschichte und ihren individuellen Prägungen teilhaben – ein Konzept, das wohl für den anhaltenden Erfolg der Serie mitentscheidend ist: Das Interesse reicht über die Psychologie von Täterfiguren und ihre Beziehungsgeflechte hinaus. Die Kommissare rücken als Persönlichkeiten in den Mittelpunkt. Die Zuschauer kommen ihnen nahe, können ihre innere Entwicklung, ihre Probleme und Macken, ihre Stärken und Schwächen miterleben.

Aus der Schimanski-Folge „Schicht im Schacht“ von 2008: Noch am Tatort befragen Hunger (Julian Weigend, l.) und Hänschen (Chiem van Houweninge, m.) Heinz Budarek (Walter Gontermann, r.), ob er etwas gesehen hat. (Bild: WDR/Uwe Stratmann)

Die heftigen Diskussionen über die einzelnen „Tatort“-Folgen auf social-media-Kanälen wie Facebook und Twitter oder Internetseiten wie www.tatort-fans.de oder www.tatort-fundus.de zeugen davon, wie die wöchentlichen Krimis auch nach 1146 Folgen die Gemüter ihrer Fans bewegen. Die ARD hat zu „50 Jahre Tatort“ eigene Internet-Seiten erstellt und im Sommer ein Voting in elf Runden veranstaltet. 1.168.000 Stimmen wurden abgegeben, um den Lieblings-„Tatort“ zu wählen. 50 Fälle standen zur Wahl; unter den Gewinnern waren die Dortmund-Folgen „Tollwut“ (2018) und „Kollaps“ (2015).

Das Dortmunder Team hat auch die Ehre, die Jubiläums-Produktion gemeinsam mit den Münchner Ermittlern zu bestreiten: In dem zweiteiligen „Tatort“ geht es um eine italienische Familien-Pizzeria in Dortmund, einen Mörder aus München, Kokain-Geschäfte und die mafiöse „‘Ndrangheta“. Die erste Folge wird am heutigen Sonntag, 29. November um 20.15 Uhr in der ARD ausgestrahlt, die zweite am 6. Dezember. In der ARD-Mediathek sind die Filme dann noch sechs Monate lang abrufbar.

Der WDR bringt übrigens die 29 „Schimanski“-Folgen 2020 und 2021 zurück ins Fernsehen. Schon jetzt sind in der Mediathek elf Folgen verfügbar, der Klassiker „Duisburg Ruhrort“ allerdings nur noch für fünf Tage.




Nietzsche und sein „Gast“, Thomas Bernhard und die finale Richtigstellung – Nachtrag zur Dortmunder „Korrektur“-Tagung

Hier noch ein Nachtrag zur Dortmunder Fachtagung übers Korrigieren und seine diversen Weiterungen. Am zweiten Konferenztag ging es u. a. um zwei besonders markante Gestalten der Philosophie- bzw. Literatur-Geschichte: Friedrich Nietzsche und Thomas Bernhard.

Screenshot-Auszug aus der Präsentation von Prof. Justus Fetscher: links ein heftig korrigiertes Typoskript von Thomas Bernhard („Tamsweg“, 1960), das nie in Buchform erschienen ist. (© Suhrkamp / Justus Fetscher)

Haben Sie schon mal den Namen Heinrich Köselitz gehört? Wahrscheinlich eher nicht. In der Fachwelt galt und gilt er vielfach als mediokrer Geist, doch Friedrich Nietzsche setzte einiges Vertrauen in den Mann, dem er diktierte oder Seiten zur Abschrift überließ. Zwar korrigierte Nietzsche dann seinerseits in Köselitz‘ Niederschriften, doch ließ er ihm auch zunehmend recht freie Hand. So veränderte Köselitz hie und da Ausdrücke des Philosophen, dachte sich eigenständig Kapitelüberschriften aus und begriff sich schließlich selbst als eine Art „Editor“ oder Ko-Autor mit der Lizenz zum Mitschreiben.

Stavros Patoussis (Saarbrücken) und Mike Rottmann (Freiburg / Halle-Wittenberg) legten anschaulich dar, welchen Einfluss Köselitz auf die Textgestalt mancher Nietzsche-Werke hatte bzw. gehabt haben könnte. Die Forschung dazu ist noch lückenhaft, es sind noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft.

Der Unterschied zwischen Autor und Schriftsteller

Nietzsche selbst schrieb im Zusammenhang mit dem Buch „Menschliches, Allzumenschliches“, er sei zwar der Autor (also Urheber), Köselitz aber sei gleichsam der Schriftsteller, zuständig für manche stilistische Feinheit. Fraglich allerdings, inwieweit man alles für bare Münze nehmen muss, was Nietzsche so von sich gegeben hat – nicht nur in Sachen Korrekturen. Dass ihm die Form ungemein wichtig war, ist indes ausgemacht. Der Stil war nach seiner Auffassung keineswegs sekundär, sondern essenziell fürs gesamte Gedankengebäude. Demnach hätte Köselitz (von Nietzsche übrigens „Peter Gast“ genannt) also auch inhaltliche Prägekraft entfaltet. Ein durchaus spannender Diskussionsansatz.

Bemerkenswert, wie auf solche Weise Nietzsches Bild als Originalgenie auf einsamer Geisteshöhe denn doch etwas zurechtgerückt wird. Er bediente sich eines ganzen Netzwerks von Zu- und Mitarbeitern. Vielleicht bringen uns solche Erkenntnisse den Philosophen sogar wieder etwas näher. Es könnte nicht schaden.

„Herumfuhrwerken“ in den eigenen Texten

Zeitsprung zu Thomas Bernhard, dessen korrigierendes „Herumfuhrwerken“ in eigenen Hervorbringungen geradezu manisch gewesen sein muss. Justus Fetscher (Germanist an der Mannheimer Uni) zeigte dazu einige Bernhardsche Korrekturfahnen im Faksimile. Da offenbart sich ein gehöriges Schriftchaos. Zuweilen strich Bernhard ganze Passagen, bis nur noch ein Halbsatz übrig blieb, der dadurch aber insgeheim mit viel mehr Bedeutung aufgeladen wurde. Es sind Lehrbeispiele zur möglichen Wirkung radikaler Kürzungen, die ja auch einen (häufigen) Sonderfall des Korrigierens darstellen.

Es bedurfte schon eines legendär duldsamen und auch den schwierigsten Autoren in besonderer Weise zugeneigten Verlegers wie Siegfried Unseld (Suhrkamp), um Bernhards Marotten zu ertragen oder sie gar ins Ertragreiche zu wenden.

In letzter Minute fertige Bücher zurückgezogen

Zuweilen konnte Bernhard das Erscheinen seiner Bücher nicht schnell genug gehen, sie sollten dann nur noch flüchtig lektoriert werden, da gab sich der Autor ungeahnt nonchalant. Justus Fetscher sagte, er selbst habe als junger Suhrkamp-Hospitant einen solchen Fall erlebt. Berüchtigt war Bernhard freilich für das umgekehrte Vorgehen: Immer mal wieder zog er Bücher, die schon fertig gesetzt waren, in den Vorschaukatalogen standen und vom ambitionierten Buchhandel sehnlichst erwartet wurden, quasi in letzter Minute zurück. Das kostete im Verlag nicht nur Nerven, sondern auch bares Geld.

Zu solchen Rückziehern dürfte Bernhard auch ein Gefühl des Ungenügens bewogen haben. Seine Korrekturseiten legen ja beredtes Zeugnis ab vom prinzipiell unendlichen Änderungs-Bedarf. Die drangvoll eng beschriebenen Blätter wirken zuweilen wie eine Prüfung auf maximal mögliche Seitenkapazität, die über und über gehämmerten Buchstaben-Anschläge durchlöchern oder zerfetzen an so manchen Stellen das Papier. Fast möchte man von „Anschlägen“ im doppelten Sinne sprechen. Das Schriftbild anderer Seiten ergibt, mitsamt den überschriebenen, gestrichenen und verworfenen Stellen, ein ruhigeres, nahezu graphisch wirkendes Bild, Justus Fetscher fühlte sich an „Frottagen“ erinnert, wie sie etwa Max Ernst geschaffen hat.

Fortwährende Korrektur als Stundung des Todes

Es konnte sich nicht besser zum Tagungsthema fügen: Thomas Bernhard hat einen Roman mit dem Titel „Korrektur“ verfasst. Auch darin geht es um unaufhörliches Korrigieren des Korrigierten – prinzipiell ad infinitum. Fortwährend erstellte, immer neue Versionen erweisen sich dabei als Aufschub und Stundung des Todes. Solange man korrigiert, lebt man. Letztlich aber reicht diese wahnwitzige Praxis – im Leben wie im Roman – eben nicht bis in die Unendlichkeit. Und so besteht die finale „Korrektur“, so eine Bernhardsche Denkfigur, im Selbstmord des Protagonisten Roithamer, der in einigen Wesenszügen dem Philosophen Ludwig Wittgenstein nachempfunden ist.

Die Schlussdiskussion der Tagung habe ich mir nicht mehr ansehen können. Auf jeden Fall hat diese Konferenz ein bislang unterschätztes, im Grunde aber höchst bedeutsames Themenfeld aufgetan. Korrekturen, ob von eigener oder fremder Hand, stehen geradezu im Mittelpunkt nicht nur des kulturelles Tuns und Trachtens.




Als Robert Walser von Christian Morgenstern gerügt wurde – eine digitale Dortmunder Fachtagung zum Thema „Korrigieren“

Dortmund. Das haben wir nicht alle Tage: dass von Dortmund aus eine literatur- und medienwissenschaftliche Diskussion angeregt wird und es dazu eine hochkarätige Tagung gibt – in diesen Zeiten freilich digital und virtuell. Wir reden von einer zweitägigen Fachdebatte zum bisher weithin unterschätzten Thema des Korrigierens in vielen Schattierungen. Das Spektrum reicht von der Lektorierung literarischer Texte bis hin zur oft so vermaledeiten Autokorrektur-Software – und ragt in einige andere Bereiche hinein.

Etwas unscharfer Screenshot von der Videokonferenz-Tagung: Prof. Thomas Ernst beim einleitenden Kurzvortrag, in der Bildleiste darüber weitere Tagungs-Teilnehmer(innen).

Wie noch nahezu jedes Thema, so lässt sich auch dieses im Prinzip unendlich auffächern und in allerlei Feinheiten zergliedern. Was abermals zu beweisen war und sich heute schon zu Beginn der Tagung angedeutet hat. Im Folgenden „schenken“ wir uns sämtliche Professoren- und Doktortitel, praktisch alle Beteiligten tragen den einen oder anderen. Und übrigens: Fast alle zeigten sich den Webcams vor üppig gefüllten Bücherregalen.

Eingeladen hatte das von Iuditha Balint geleitete Fritz-Hüser-Institut (FHI) für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, das in der Nachbarschaft des Dortmunder LWL-Industriemuseums Zeche Zollern residiert. Mitorganisator ist Thomas Ernst (Amsterdam/Antwerpen), weitere Wissenschaftler*innen werden aus Bern, Hamburg, Berlin, Saarbrücken, Mannheim, Leipzig, Essen und Bochum zugeschaltet, die Kommunikation erfolgt via Zoom-Konferenz.

Machtverhältnisse und aufklärerisches Potenzial

Iuditha Balint legte in ihrer kurzen Einleitung dar, dass Korrekturen u. a. auch Ausdruck von Machtverhältnissen sein können (wer darf wen wie weitgehend „verbessern“?) und sozusagen ein Gegenstück zum Konzept von genialer oder auktorialer Autorschaft darstellen. Thomas Ernst führte aus, dass das Korrigieren zudem – schon in der Schule, wenn etwa Klassenarbeiten durchgesehen und bewertet werden – normative Funktionen erfülle. Auch Zensoren übten quasi eine Art „Korrektur“ aus. Am anderen Ende der Skala befördere das Korrigieren allerdings auch Formen kollektiver Zusammenarbeit und könne als Instrument der Aufklärung gelten. Wie wissenschaftliche Erkenntnisse sich überhaupt im Dialog und durch ständige Revisionen (also: Korrekturen) konstituieren, habe sich jüngst auch bei der Diskussion virologischer Themen vielfach erwiesen. Da war er, der aktuelle und buchstäblich virulente Bezug. Hier aber gilt’s den Geisteswissenschaften.

Die „Affenliebe“ zum eigenen Schreiben

Den ebenso anspruchsvollen wie interessanten Eröffnungsvortrag hielt sodann Ines Barner aus Essen. Sie skizzierte eine übergreifende Systematik zum Thema der Tagung und verwies dabei auf zwei konkrete Beispiele aus den Gefilden der literarischen Hochprominenz. So hat kein Geringerer als der Lyriker Christian Morgenstern – einer der frühen Lektoren im deutschsprachigen Literaturbetrieb – zeitweise die Betreuung des Romanautors Robert Walser („Geschwister Tanner“) übernommen. Anfangs höchst angetan vom kurz zuvor neu entdeckten Walser, schrieb Morgenstern ihm vor der Drucklegung einen ziemlich harschen Brief. Walsers „Affenliebe“ zum eigenen Text müsse nun endlich aufhören, er schreibe viel zu „weitschweifig“ und „selbstgefällig“, ja nahezu trivial. Sprach’s und strich kurzerhand ganze oder halbe Seiten aus dem ursprünglichen Text… Just solche „Störstellen“ (Ines Barner) hat Robert Walser hernach aufgegriffen, um sie eigenständig umzuarbeiten.

Peter Handke zwischen den Extremen

Anders gelagert war der Fall bei Peter Handke, dem Elisabeth Borchers als Lektorin des Buchs „Langsame Heimkehr“ zur Seite gestanden hat. Handke wusste nicht recht, wie er das Buch enden lassen sollte und steigerte sich in eine regelrechte Schreibkrise hinein, in deren Verlauf er Elisabeth Borchers freie Hand gab, den Text nach Belieben zu ergänzen, was einer Mitautorschaft gleichkam. Ein durchaus ungewöhnliches Verfahren. Handke hat seine Großzügigkeit denn auch später bereut, sich von Borchers als Lektorin getrennt und fortan umso entschiedener auf Unantastbarkeit seines Schreibens bestanden. Von einem Extrem ins andere…

Schon diese beiden Beispiele des Umgangs mit Korrekturen auf dem Felde der Hochliteratur lassen ahnen, wie spannend und vielfältig die Stoffe der Dortmunder Tagung sind. Es werden noch etliche weitere Aspekte in Betracht kommen, beispielsweise: Korrekturen und Lehrerurteile anhand deutscher Abituraufsätze in den 1950er Jahren (Sabine Reh), Korrekturprozesse bei der Verfertigung von Friedrich Nietzsches „Die fröhliche Wissenschaft“ (Stavros Patoussis / Mike Rottmann), „Zur Figur des Korrigierens bei Thomas Bernhard“ (Justus Fetscher), „Korrigieren mit der Schere“ (Marie Millutat) oder auch „Sprachliche Normen und Korrekturimpulse in automatisierten Korrekturprozessen“ (Ilka Lemke / Katrin Ortmann).

Schade nur, dass die Teilnehmerzahl auf rund 100 Leute begrenzt ist. So bleibt die Wissenschaft erst einmal unter sich. Doch Verlauf und Resultate der Tagung sollen später noch publiziert werden; zunächst in einigen Wochen als Zusammenschnitt (auf der Instituts-Seite fhi.dortmund.de), im nächsten Jahr dann als Tagungsband.

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P. S.: Auch dieser Beitrag wurde noch einer Korrektur unterzogen. Nur gut, dass er nicht gedruckt vorlag.

 

 




Nobelpreisträger und St.-Pauli-Fan: Im Leben des Schriftstellers Günter Grass spielte der Fußball eine nicht eben geringe Rolle

Günter Grass im historischen Zeitungsartikel, Fußballmuseumsdirektor Manuel Neukirchner (rechts), Jörg-Philipp Thomsa vom Lübecker Grass-Haus (links). (Foto: Deutsches Fußballmuseum)

Von Günter Grass weiß Jörg-Philipp Thomsa zu berichten, dass er leidenschaftlich gerne Sportschau guckte. „Da durfte man ihn nicht stören.“ 2006 lernte der Leiter des Lübecker Günter-Grass-Hauses den Nobelpreisträger persönlich kennen und erinnert sich, dass dieser ihn damals zügig in ein Gespräch über Fußball verwickelte.

Bestimmt, glaubt Thomsa, hätte Grass sich sehr über das Gemeinschaftsprojekt von Grass-Haus und Dortmunder Fußballmuseum gefreut, das nun unter dem Titel „Günter Grass: Mein Fußball-Jahrhundert“ Gestalt angenommen hat. Grass, der Fußball-Fan: nicht eben das erste, was einem zum Schöpfer der „Blechtrommel“ einfällt.

„Mein Jahrhundert“

Nun – auch wenn der Titel anderes suggeriert: Ein Buch mit dem Titel „Mein Fußball-Jahrhundert“ hat Grass (1927-2015) nie geschrieben. Doch in dem mächtigen Bild-Text-Band „Mein Jahrhundert“, der 1999 bei Steidl herauskam und jedem Jahr des 20. Jahrhunderts mit einem Text und einer Illustration eine subjektiv-persönliche Würdigung zukommen lässt, finden sich auch etliche Fußballgeschichten, auf die die Dortmunder Ausstellung ausführlich hinweist. 1903 zum Beispiel fand die erste deutsche Meisterschaft in Altona statt, bei der die Leipziger gegen Prag (!) obsiegten. Grass erzählt das recht realistisch aus der Perspektive eines Mitspielers, lässt damals schon ausgesprochen schicke Anglizismen wie „Goal“, „Halftime“ „Score“ einfließen und wagt einen rückblickenden Ausblick auf die starken polnischen Einflüsse im deutschen Fußball, auf die Szepans und Kuzorras der Folgejahre.

Sonderschau, achteckig (Foto: Deutsches Fußballmuseum)

Fritz Walter blieb bescheiden

Ein Fußballjahr ist für Günter Grass natürlich 1954. Mit einem gewissen Augenzwinkern, wie wir vermuten wollen, lässt er es vom „Chef einer Consulting-Firma, die in Luxemburg ihren Sitz hat“, nacherzählen. Neben dem getreulich widergegebenen Geschehen auf dem Rasen widmet sich der (erfundene) Autor der schmerzvollen Erinnerung an seine fruchtlosen Versuche, den Erfolg in klingende Münze zu verwandeln. Ungarns Spielführer Ferenc Puskás setzte sich zwar in den Westen ab und wurde mit der Produktion ungarischer Salamis reich, Fritz Walter aber verschmähte – behauptet jedenfalls die Geschichte – den Halbkoffer mit der Viertelmillion, die ihm Atlético Madrid damals schon, in den Fünfzigern, bot – und eröffnete lieber ein Kino mit Lotto-Toto-Annahmestelle. Schade, schade – aber die Kommerzialisierung des Fußballs hat er nicht verhindern können.

Günter Guillaume jubelt in der Zelle

Noch ’ne Fußballgeschichte? Die spielt 1974 und ist relativ kompliziert. Ihr ungenannt bleibender Held ist der Ostagent Günter Guillaume, der zu dieser Zeit schon einsitzt, dem die Gedanken über seine bizarre Ost-West-Existenz nicht aus dem Kopf gehen und der nun zu allem Überfluss auch noch ein WM-Endspiel zu sehen bekommt, bei dem Deutschland gegen Deutschland spielt. Das ist ein echtes Orientierungsproblem, weil er immer wieder mit Deutschland jubelt, das zu dieser Zeit aber noch aus zweien besteht.

Frauenfußball fand Grass gut

Wandbeschriftungen, Tagebuchauszüge, Bücher, Vitrinenmaterial – Zitate und Literaturhinweise unterschiedlicher Art machen einen nicht geringen Teil der Ausstellung aus, was bei einem Schriftsteller naheliegt. An Videostationen erinnern sich Fußballgrößen an ihre Begegnungen mit Günter Grass. Die relativ wenigen Originalexponate – eine Originaleintrittskarte der ersten Deutschen Meisterschaft, ein Trikot, die Nobelpreisurkunde und so fort – mögen beeindrucken, begeistern aber nicht zwingend. Doch die Gliederung ist gelungen, ermöglicht eine sinnvolle Annäherung an den Künstler und Fußballfreund.

Vier Bereiche befassen sich schwerpunktmäßig mit Frauenfußball, mit Grass als aktivem Spieler, mit der Wiedervereinigung sowie mit der literarischen Produktion. Kopfschüttelnd erfährt man etwa, dass Frauenfußball, den Grass sehr befürwortete, bis 1970 beim DFB rundweg verboten war; die Episode von Wewelsfleths linkem (Gast-) Stürmer Grass, die der stark vergrößerte Artikel einer Lokalzeitung samt Mannschaftsfoto stimmungsvoll aufleben lässt, erzählt auch von jenem eher unsportlichen jungen Mann, der als Kind nicht Fahrrad fahren konnte und der das Fußballspielen als körperliche Befreiung erlebte. Die Wiedervereinigung, gegen die Grass sich 1989/1990 stemmte, bedeutete auch das vorläufige Ende des Spitzenfußballs im Osten, weil die guten Leute vom Westen weggekauft wurden. Man kann darin durchaus jene Kolonialisierung des Ostens erkennen, vor der Grass früh gewarnt hatte.

Das Fußballmuseum in Dortmund (Foto: Deutsches Fußballmuseum, Hannappel)

„Sommermärchen“

Doch über das „Sommermärchen“ 2006 hat er sich gefreut, über einen neuen, anscheinend unbelastet daherkommenden Nationalstolz. Ganz besonders gut übrigens, weiß Thomsa zu berichten, habe ihm ein türkischer Jubelautokonvoi zum Sieg gefallen. Das mag auch daran gelegen haben, dass Grass (auch) kaschubische Vorfahren hatte und deshalb einen Sensus für die Mühen der Integration. Die identitätsstiftende Kraft des Fußballs hebt Dortmunds Fußballmuseumsdirektor Manuel Neukirchner noch einmal ausdrücklich hervor. Mit der fußballerischen Deutschlandbegeisterung habe man den Rechten das (nationalistische) Wasser abgegraben, 2006 und später. Es scheint, dass Grass es ähnlich sah.

Ein Herz für die Kleinen

Die literarische Ecke schließlich versammelt kurze und lange Zitate, Tagebuchauszüge, Pointiertes: „Ungehemmt, als stünde ich in der Nord- oder Südkurve und säße nicht daheim vor der Glotze, ergießt sich nur Hohn, wenn selbst den Bayern ihr Geld nicht hilft und zwar nach Flanke von links, die mit Glück jenen Habenichtsen gelingt, denen schon wieder der Abstieg droht“, hat er notiert. Ja, das Herz des Dichters schlug für die Kleinen, Benachteiligten, wie St. Pauli Hamburg zum Beispiel, für die Grass sich auch in einer Rede einsetzte.

Die Ausstellung – in den Worten von Museumschef Neukirchner ein „gelungener Doppelpass“ der beiden beteiligten Häuser – passt fraglos gut in ein Fußballmuseum. Daneben ist sie auch ein willkommener Anlass, über den Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger zu reden, um den es in letzter Zeit bedauerlich still geworden ist.

  • Bis 19. Januar 2021
  • Deutsches Fußballmuseum, Dortmund, Platz der deutschen Einheit 1 (dem Hauptbahnhof gegenüber)
  • Di-Fr 11-17 Uhr, Sa u. So 10-17 Uhr
  • Eintritt für das ganze Haus 15 EUR
  • www.fussballmuseum.de



Im Zeichen des Mammuts – Dortmunds Naturmuseum nach sechs Jahren endlich wieder geöffnet

Museumsdirektorin Dr. Dr. Elke Möllmann und Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau halten dem Wahrzeichen des Naturmuseums (aus vielen Originalteilchen zusammengesetztes Skelett einer Mammut-Kuh) ihre Schutzmasken vor. Sierau ließ es sich nicht nehmen, den hindernisreichen Umbau des Hauses als „Mammut-Aufgabe“ zu bezeichnen. (Foto: Bernd Berke)

Eine Stadt, die etwas auf sich hält, sollte beispielsweise mehrere Kunstmuseen haben, außerdem diverse Häuser zur (Kultur)-Geschichte – und möglichst ein naturkundliches Ausstellungs-Institut. In diesem Sinne rückt Dortmund jetzt beim Image-Wettbewerb der Kommunen endlich wieder in eine der vorderen Reihen auf: Nach schier unglaublichen sechs Jahren Umbauzeit (nur zwei hätten es sein sollen) eröffnet das Naturmuseum wieder, in gründlich veränderter Gestalt und deutlich attraktiver als ehedem.

Eigentlich ist – neben dem althergebrachten Stadtwappen-Adler – das Nashorn (Maskottchen des Konzerthauses) zum Dortmunder Werbetier avanciert, doch nun bekommt der Dickhäuter ebenso schwergewichtige Konkurrenz von einer Mammut-Dame. In mühseliger Kleinstarbeit hat man ihr Skelett fürs Museum zusammengesetzt, aus zahllosen originalen Einzelteilen, die (gleichsam als „Beifang“) auf dem Gebiet der heutigen Nordsee gefunden wurden. Vor rund 30.000 Jahren war dort noch trockenes Land. Schon angesichts eines solchen Zeitmaßes erscheint die sechsjährige Umbauzeit seit 2014 denn doch als (allerdings kostspielige) Petitesse. Und es geht ja museal noch viel weiter zurück: von den Eiszeiten (Quartär – hierhin gehört das Mammut) über das Zeitalter der Saurier (Kreidezeit) bis in die Frühzeit der Kohle-Entstehung (Karbon).

Kindgerechtes Marketing: Das Mammut gibt’s auch schon als Stofftier. (Foto: Bernd Berke)

Ach ja, übrigens: Nähere Einzelheiten zur Genese des bundesweit beispiellosen Dortmunder Mammuts finden sich hier. Und noch viel, viel mehr steht im „Mammutbuch“, das von den Freunden und Förderern des Naturmuseums neu herausgebracht wurde.

„(Bitte nicht) am Dino packen!“

Das zweite spektakuläre Hauptstück des Hauses ist nicht original, sondern ein nachempfundenes Dinosaurier-Modell. Die Dortmunder kennen das mächtige Wesen noch aus dem alten Naturkundemuseum, wie es vormals geheißen hat. Dortmund Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) sagte heute zur Eröffnung, er sei in den letzten Jahren vielfach darauf angesprochen worden, wann denn der Dino (und all die anderen Exponate) wieder zu sehen sein würden. Er musste die Menschen wieder und wieder vertrösten. Heute aber rief er launig und spontan in Ruhri-Diktion aus: „Jetzt kann man wieder am Dino packen!“ Da freilich musste er sich von den Museumsleuten höflich korrigieren lassen. Nicht nur, aber derzeit vor allem „wegen Corona“ dürfen etliche Objekte und Mitmach-Stationen noch nicht so berührt werden, wie man es sich gewünscht hätte.

Viele Kalamitäten beim Umbau – nur kein Vulkanausbruch

Museumsdirektorin Dr. Dr. Elke Möllmann skizzierte kurz die schier endlose Abfolge von Pech und Pannen in der Umbauzeit. Mal ging eine Baufirma pleite, mal gab’s keinen Strom, kein Internet, keine Heizung oder kein Wasser, dann wieder hatte man eine Überschwemmung. „Nur einen Vulkanausbruch – den hatten wir nicht…“

So präsentiert sich jetzt der Eingangsbereich des Naturmuseums. (Foto: Bernd Berke)

Die Museumschefin erläuterte das veränderte Konzept: Während das Museum früher die wissenschaftliche Systematik in Biologie und Geologie nüchtern abgearbeitet habe, sei der Rundgang heute im Wesentlichen regionalspezifisch und möglichst sinnlich arrangiert. Man setzt also konsequent in der Lebenswelt Dortmunds und des Umlandes an, ganz konkret zum Beispiel bei den Dortmunder Großgrünflächen Westfalenpark, Rombergpark, Hauptfriedhof und Fredenbaum. Diese Parklandschaften und andere Lebensräume sind (unter dem Obertitel „Stadt – Land – Fluss“) Ausgangspunkte naturgeschichtlicher Erkundungen und Erzählungen, die sich immer mehr verzweigen.

Die Vielfalt reicht bis in Alltagsfragen hinein, beispielsweise: Was muss ich bei der Haltung eines Meerschweinchens beachten? Andererseits rührt man natürlich auch an die großen Fragen der Entstehung des Lebens und der Ökologie. Wollte man hier all die vielen Schubladen mit pointiertem Zusatzwissen aufziehen und die Tafeln lesen, so hätte man sehr reichlich zu tun. Besser wär’s, man käme mehrmals wieder.

Vermittlung durch Vitrinen bleibt eher die Ausnahme

Ja, es gibt auch einige Vitrinen (etwa mit präparierten Vögeln oder Eichhörnchen und dergleichen Getier), doch derlei traditionelle Vermittlung ist eher die Ausnahme, auch wirkt das Inventar „lebendiger“, denn alles ist ungleich besser ausgeleuchtet als früher in den notorisch schummrigen Museen. Wo immer es ging, hat man versucht, Informationen zeitgemäß mit anschaulichen Dioramen, Touchscreens, Videos oder Hörstationen aufzubereiten. In der Pflanzenabteilung darf man ausgewählte Düfte riechen, in einem großen Aquarium schwimmen heimische Fische. Auf der geologischen Etage, die einem vielleicht nicht gar so nah liegt wie die Tierwelt, werden Fossilien durch farbliche Gestaltungen und überraschende Zusammenhänge „zum Sprechen gebracht“. So liegen etwa die uralten Ammoniten nicht einfach nichtssagend herum, sondern sie werden buchstäblich ansprechend präsentiert. Zudem ergeben sich auf den verschiedenen Stockwerken immer wieder reizvolle Perspektiven, die auch dem ästhetischen Empfinden Genüge tun.

Auch eine Katze leistete ihren naturgemäßen Beitrag

Nicht nur die Museumsdirektorin und ihr Team haben seit 2014 einiges geleistet, selbst die Katze von Frau Dr. Dr. Möllmann war indirekt beteiligt. Sie hat Mäuse gefangen, deren filigrane Skelette sodann präpariert wurden und nun in einem speziellen Schaukasten zu sehen sind; selbstverständlich im wissenschaftlichen Kontext.

Gut denkbar, dass das Naturmuseum, wie zuvor das Naturkundemuseum, wieder zum besucherstärksten Haus in Dortmund wird (wenn man vom Deutschen Fußballmuseum einmal absieht). Nicht nur nebenher bedeutet es auch eine kulturelle Aufwertung der gelegentlich als problematisch verschrienen Dortmunder Nordstadt.

Naturmuseum Dortmund. Münsterstraße 271. Ab Dienstag, 8. September 2020, jeweils dienstags bis sonntags 10-17 Uhr (zu diesen Zeiten ist auch das neue Museumscafé „Ammonit“ geöffnet). Eintritt in die Dauerausstellung frei. Neu seit 22. September: tägliche Öffnungszeit um eine Stunde erweitert, also Di bis So 10-18 Uhr

Reservierung erforderlich: Tickets über www.naturmuseum-dortmund.de

Tel.: 0231 / 50-24 856. Mail: naturmuseum@stadtdo.de

Internet: www.naturmuseum.dortmund.de

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Einlass-Regelung/Reservierung

Es muss vorab online für jede Person (unabhängig vom Alter) eine Reservierung vorgenommen werden, und zwar auf dieser Seite:

www.naturmuseum-dortmund.de

Die Reservierungen sind jeweils auf ein bestimmtes Einlass-Zeitfenster begrenzt. Dies bedeutet, dass der Zugang zum Museum nur zu dieser Zeit gestattet wird. Durch die Limitierung der Reservierungen soll gewährleistet werden, dass die aktuell maximal zulässige Personenanzahl im Naturmuseum zu keinem Zeitpunkt überschritten wird.

Vorerst werden nur Reservierungs-Möglichkeiten für jeweils zwei Wochen online gestellt.

 

 




Immerhin: Dortmunder Karstadt-Haus bleibt wohl doch geöffnet

Historische Fassade des Dortmunder Karstadt-Hauses (Aufnahme vom Oktober 2012: Bernd Berke)

Ein Hauch von Hoffnung – was das Revier anbelangt, zumindest für die Dortmunder Innenstadt und natürlich für die hiesigen Beschäftigten: Das Karstadt-Haus (Karree am Hansaplatz/Westenhellweg) soll nun offenbar doch nicht schließen. Damit wäre eine arge Schwächung der City vorerst abgewendet; jedenfalls zum Teil. Denn der Dortmund Kaufhof ist wohl nicht mehr zu retten.

Die geänderte Lage hat allenfalls emotional mit der lokalen Kaufhaus-Nostalgie zu tun, derzufolge Karstadt (ehedem: Althoff) einfach zu Dortmund gehört. Es dürfte hingegen an Nachverhandlungen mit den Vermietern liegen, aus denen sich offenbar Zugeständnisse ergeben haben. Vielleicht hat auch der vehemente Einsatz der Stadt seinen Teil beigetragen. Die Stadtspitze musste jedenfalls ein vitales Interesse am Erhalt einer möglichst attraktiven Mitte haben und hat dies auch unmissverständlich kundgetan.

Eigentlich ein starker Standort

Manche Beobachter hatten von Anfang an diese Möglichkeit gesehen und vermutet, dass die Schließungs-Ankündigung in diesem Sinne als (un)sanfte Drohung und Mahnung zu verstehen gewesen sei. Überdies haben ortskundige Fachleute darauf hingewiesen, dass die Karstadt-Ertragslage am Westenhellweg (eine der umsatzstärksten Einkaufsmeilen der gesamten Republik) deutlich über dem Durchschnitt liege. Auch war das Haus jüngst noch millionenschwer renoviert worden. Vor diesem Hintergrund klangen die Schließungspläne schon einigermaßen rätselhaft.

Ähnliche Hoffnungsschimmer gibt es jetzt für weitere fünf Karstadt/Kaufhof-Niederlassungen in Leverkusen, Chemnitz, Goslar, Potsdam und Nürnberg (Lorenzkirche). Hingegen bleibt es im Ruhrgebiet bei den Schließungsplänen für zwei Filialen am Konzern-Standort Essen sowie für Hamm und Witten. Bundesweit sind jetzt höchstwahrscheinlich 56 (statt bislang 62) Standorte betroffen.

Verdi weiß, was Modekäufer wünschen

Für neue, nicht ganz so große Unruhe hat unterdessen die Ankündigung der Modekette Esprit gesorgt, deutschlandweit 44 ihrer 94 Filialen aufzugeben. In Dortmund, wo man bereits vorher ein großes Modekaufhaus geschlossen hatte, soll die verbliebene Filiale in der Thier-Galerie offenbar weitermachen. Die weltbekannten Fashion-Experten der Gewerkschaft Verdi haben dem Esprit-Management vorgeworfen, alle modischen und sonstigen Trends verschlafen zu haben. Tatsächlich hat Esprit nicht bereitwillig jede Torheit der Saison mitgemacht, sondern eine Linie durchgehalten. Gegen Widersacher wie Corona und Zalando (beispielsweise) muss man aber erst einmal ankommen.

Übrigens: Als die aus fünf Gewerkschaften gebildete Vereinigung Verdi 2001 loslegte, hatte sie 2,8 Millionen Mitglieder, heute sind es rund 1,9 Millionen. Sollte man da etwa „Trends“ verpennt haben?

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(mit Infos aus Spiegel online, WAZ und Ruhrnachrichten)

 




Karstadt und Kaufhof: Schließungen würden Dortmund und Essen besonders hart treffen

Ernsthaft von Schließung bedroht: Teilansicht des Dortmunder Karstadt-Hauses. (Foto aus dem Jahre 2016: Bernd Berke)

Es wäre eine wirtschaftliche Katastrophe – nicht nur, aber mal wieder besonders fürs Ruhrgebiet. Wie heute zu hören ist, schließt Karstadt/Kaufhof („Galeria“) offenbar jeweils beide Häuser in Dortmund und Essen. Außerdem werden im Revier vermutlich die Warenhäuser in Hamm und Witten aufgegeben. Insgesamt sind demnach bundesweit 62 von 172 Filialen betroffen, darunter allein sechs in Berlin und vier in Hamburg.

Auch Städte wie Düsseldorf, Köln, Bremen, Frankfurt, Hannover, München und Nürnberg verlieren nach dieser Lesart einzelne Kaufhäuser. Sofern das alles zutrifft, kann man mit Fug und Recht sagen, dass sich damit das Gepräge zahlreicher Großstädte in dieser Republik verändern würde. Ganz zu schweigen von den vielen, vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die damit wohl arbeitslos werden. Laut Gewerkschaft Verdi sind es wahrscheinlich rund 6000.

Zentrale Anlaufstellen in der Innenstadt

Was das alles – beispielsweise – für die Dortmunder Innenstadt bedeuten könnte, lässt sich noch gar nicht ermessen. Es käme einem Kahlschlag gleich, der zahlreiche andere Händler mit in den Abgrund ziehen dürfte. Denn Karstadt und Kaufhof waren über viele Jahrzehnte hinweg d i e zentralen Anlaufadressen in der City. Ältere Dortmunder kennen Karstadt noch als Traditions-Kaufhaus „Althoff“. Lang ist’s her. Es ist kaum vorstellbar, dass das historische, sehr raumgreifende und voluminöse Karstadt-Haus am Hansaplatz anschließend wieder mit Leben erfüllt werden kann.

Im schlechtesten Falle erübrigen sich damit auch andere Bemühungen, die Innenstadt aufzuwerten. Denn mit den Kaufhäusern würden zwei Anziehungspunkte entfallen, die immerhin noch etliche Menschen etwa aus dem Sauerland in die Stadt gezogen haben; wenn auch bei weitem nicht mehr so viele wie früher einmal. Übrigens: Auch die erst wenige Jahre alte Shopping Mall „Thier Galerie“ mit rund 160 Geschäften dürfte die Folgen zu spüren bekommen. Es war frühzeitig abzusehen: Dieser Konsumtempel hat etliche Kunden von Karstadt und Kaufhof weggelockt. Aber das ist halt Wettbewerb.

Im Revier ist offenbar nicht genügend Geld vorhanden

Offenbar ist man in der Essener Zentrale von Karstadt/Kaufhof zu dem Schluss gelangt, dass großstädtische Revierbürger (mitsamt dem jeweiligen Umland) nicht genug konsumieren – jedenfalls nicht in den Kaufhäusern. Nun ja, die hiesige Kaufkraft ist auch nicht so hoch wie beispielsweise in Köln, Stuttgart oder München. Den Letzten („Ärmsten“) beißen mal wieder die Hunde oder dramatischer und wohl auch wahrhaftiger gesagt: die Höllenhunde des Kapitalismus.

Aber hätte es denn nicht eine Verkleinerung der Häuser getan – oder die Schließung einer Verkaufsstätte statt beider? Oder stimmt es gar, was auch gemunkelt wird: dass das Kaufhaus-Management die vermeintlich rigorosen Schließungspläne unwidersprochen durchsickern lässt, damit die Vermieter der Häuser nervös werden, um ihre gewohnten Einnahmen bangen und den Mietzins senken? Sie sollten die Sache wirklich noch einmal gründlich bereden. Mit einem kompletten Mietausfall wäre auch den Immobilienbesitzern nicht gedient. Und welche „Goldesel“ wollen sie dort denn anschließend ansiedeln? Nicht nur nebenbei: Über die Karstadt-Sporthäuser (auch in Dortmund ansässig) ist derweil das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Arge Probleme schon lange vor Corona

Dass der Kaufhaus-Konzern in Schieflage geraten ist, hat gewiss nicht nur mit den Folgen des Corona-Shutdowns zu tun. Schon in vielen Jahren zuvor gab es immer wieder arge Probleme, die dann auch zum Zusammenschluss von Karstadt und Kaufhof geführt haben. Dass schließlich auch noch die Pandemie sich ausbreitete, hat die Lage sicherlich noch deutlich verschlimmert. Da helfen weder Kurzarbeitergeld noch Mehrwertsteuersenkung. Wer die Digitalisierung und den Internet-Versandhandel dermaßen verpennt, der hat eben kaum etwas entgegenzusetzen, wenn Amazon sich überall breitmacht.




Vor jeder Haustür ein Paket mit Erinnerungen – auf Kurzbesuch in der alten Heimat Dortmund

Auch mit Erinnerungen verbunden: Impression der von Hilde Hoffmann-Schulte gestalteten Glasfenster einer Dortmunder Kirche. (Foto: © Marlies Blauth)

Unsere Gastautorin, die Künstlerin und Lyrikerin Marlies Blauth, die seit vielen Jahren bei Düsseldorf lebt, über einen Besuch in ihrer Heimatstadt Dortmund:

Mein Steuerberater wundert sich, lächelt, weil ich immer – also einmal im Jahr – mit dem Bus komme. Er hat nämlich sein Büro ganz in der Nähe meines Elternhauses (in dem längst jemand Anderes wohnt), also knapp 100 Kilometer von meinem aktuellen Wohnort entfernt. Ziemlich aufwändig, das alles.

Diese Fahrt „nach Hause“ genieße ich aber jedesmal, zelebriere sie fast.

Die Sonne scheint auf das Dach des Hauses, in dem meine erste riesengroße Liebe wohnte. Ich winke, in Gedanken oder vielleicht auch ein kleines bisschen wirklich. Dann, an der nächsten Haltestelle: Aussteigen.

Ein knapper Kilometer Fußweg, ich nehme meine Kamera aus dem Rucksack und entdecke immer wieder neue Perspektiven, die meine Erinnerungen nochmal extra aufwecken: Mir wird wieder gegenwärtig, wie wir als Kinder auf Bäume kletterten, Verstecken spielten, ich zum Muttertag mal einen peinlichen krautigen Strauß pflückte (der auch nicht liebevoll gemeint war …); wie ich später dann mit einer Schulfreundin hier spazieren ging und wir uns den ganzen Nachmittag auf Latein unterhalten haben. Oder zu den Partyzeiten: Hier kamen wir morgens um fünf Uhr an, nach einem Fußmarsch von über drei Stunden. Nachts sind alle Katzen grau, aber die Stimmung ist eine besondere. Damals habe ich die erste und einzige Fledermaus in freier Wildbahn gesehen.

Und wir haben diskutiert: für oder gegen die Atomkraft, was ist mit der DDR, muss unser Staat sozial(istisch)er werden, geht es nicht überhaupt viel zu ungerecht zu. Ich komme an meiner Konfirmationskirche vorbei, in der ich fürchterlich öde Stunden verbracht habe, die mir wenig später aber eine der schönsten Zeiten meines Lebens ermöglicht hat – durch eine wunderbare, neu gegründete Jugendgruppe. Ganz in der Nähe rauchte ich meine erste (und einzige, halbe) Zigarette: Ich fand sie sehr lecker, sie ist mir sogar gut bekommen. Noch heute bin ich meiner 14-jährigen Altklugheit sehr dankbar: Warum Geld ausgeben, wenn die Eltern doch alles andere Schmackhafte zahlen? Und so blieb ich zeitlebens Nichtraucherin.

Hier wohnte der Klassenkamerad, der bestimmt ADHS hatte; damals noch ganz selten, niemand wusste darüber Bescheid. Dort war ein Mädchen zu Hause, mit dem ich gern befreundet gewesen wäre, das mich aber jahrelang gemobbt hat. Ich glaube, das wurde kräftig unterstützt durch die Eltern – deren Wunschfreunde für ihr Kind was hermachen sollten. Für mich waren es schwere Jahre, aber auch lehrreiche.

Überall in der alten Heimat, vor jeder Haustür, an jedem Weg, Baum und Strauch, sehe ich Pakete mit Geschichten liegen, die man nur öffnen muss. Und das mache ich, wie gesagt, einmal im Jahr – und so gern! Von manchem bin ich immer wieder überwältigt, bei anderem konstatiere ich froh, es ein für allemal abgehakt zu haben. So, wie es wohl allen Menschen geht.

Diesmal beherrscht und verändert Corona sogar meinen alljährlichen Ausflug. Nicht nur, dass er deutlich später stattfinden musste als gewohnt; mein Steuerberater arbeitet nun im Homeoffice, ganz woanders also, so dass mein Wandeln durchs Revier meiner Kinder- und Jugendzeit diesmal flachfällt. Die andere Adresse – wieder mit dem Bus, wieder Lächeln – liegt an einer Straße, wo ich vielleicht zweimal im Leben war.

Aber auch hier liegen Erinnerungsgeschichten.
Ganz in der Nähe wohnte eine meiner Nachhilfeschülerinnen (ich hatte nur einen männlichen Schüler, der war erwachsen und lernte Deutsch als Fremdsprache): Sowohl die wunderbare Zusammenarbeit als auch der sich einstellende Erfolg (Note 2) mag meine Entscheidung angeschubst haben, Lehrerin werden zu wollen: Es machte mir Spaß, Lernstoff so aufzubereiten, dass „man“ ihn kapiert. Und wenn das dann der Fall war, freute ich mich wie eine Schneekönigin. Zwar habe ich letztlich doch nie an einer Schule gearbeitet (sieht man von ein paar kleineren temporären Projekten ab), immerhin aber war ich 21 Jahre lang Lehrbeauftragte an einer Hochschule.

Und dann sehe ich plötzlich die Kirche an meinem Weg! Deren Glasfenster sind von Hilde Hoffmann-Schulte (1937 – 2014) gestaltet, einer Dortmunder Künstlerin. Ich war noch ganz jung, und sie kaufte damals ein Bild von mir. Soooo stolz war ich … und überredete meine Mutter, mit mir jene Kirche anzusehen, weil ich wissen wollte, wie meine Bilderkäuferin arbeitete. Meine Mutter mochte eigentlich keine Kirchenbesichtigungen, aber der längere Spaziergang mit mir reizte sie wohl doch. Und ich fand es klasse, eine Künstlerin zu kennen, deren Entwürfe so einige Kirchen und andere Gebäude mitprägten.

Natürlich komme ich diesmal nicht hinein in den Kirchenraum. Auch wenn sich manche Öffnungszeiten gebessert haben, so macht spätestens Corona wieder einen Strich durch diese Rechnung. Ich kann nur – mit und ohne Kamera – ein bisschen durch die Buntglasstücke „spieksen“, wobei meine Fotos der Künstlerin natürlich nicht gerecht werden (können). Oder vielleicht doch, ein bisschen jedenfalls – indem wir uns künstlerisch für einen Moment verbinden?

Damals war noch nicht abzusehen, dass auch ich Kirchenräume mitgestalten würde, mit meiner Kunst und von mir kuratierten Wechselausstellungen. So schließen sich Kreise.

Und ich danke jedem, der meiner Biografie ein Mosaiksteinchen zugefügt hat. Viele davon durfte ich in „meiner“ Stadt Dortmund aufsammeln. Meine Kurzbesuche frischen das auf, und ich bin glücklich, alles für einen Moment aufleben zu lassen.

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Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin. Der Text ist zuerst im eigenen Blog von Marlies Blauth erschienen, in dem auch einige Beispiele ihrer künstlerischen Arbeit zu sehen sind:

kunst-marlies-blauth.blogspot.com
© Marlies Blauth, 2020




War das etwa ein Revierderby? Nein, nein und nochmals nein!

Ja, es war gespenstisch: das „Revierderby“ vor leeren Zuschauerrängen, hier als Screenshot der Sky-Übertragung – just im geisterhaften Moment einer Bildüberblendung.

Normalerweise ist das Dortmunder Stadion das größte in Deutschland. Selbst bei weniger prickelnden Spielen ist es stets bis auf den letzten Platz gefüllt, erst recht bei einem Revierderby gegen Schalke. Heute war das piepegal. Wie so vieles andere.

Nicht über 81.000 Zuschauer kamen heute zum Pseudo-Revierderby gegen Schalke, sondern nur die Spieler, jeweils ein verkleinerter Betreuerstab, das Schiri-Team und ein paar handverlesene Medienvertreter. Ich habe lange überlegt, ob ich mir diese durchaus riskante, eventuell auch skandalöse Unwichtigkeit im TV antun soll. Nun denn, auf abstruse Weise war es ja doch etwas „Besonderes“. Da fühlt man sich als Journalist eben angesprochen. Hier also ein kurzer Bericht vom faden Selbstversuch.

Was bei Geisterspielen alles schmerzlich fehlt, trat bei der sonst so verbissen ausgefochtenen Begegnung BVB – Schalke diesmal besonders krass zutage. Es mangelt an jeglicher Leidenschaft, an gesteigerter „Emotion“, an Atmosphäre, erst recht an jeder Form von Fußballfieber. Wie sonst nie, wird jetzt klar, wie überaus wichtig die Rolle der Fans ist. Sie erst machen das Spiel zum Erlebnis. Das haben wir zwar schon vorher gewusst, doch nun gibt es daran noch weniger Zweifel. Auch als Fernsehzuschauer fehlt einem die „Rückkoppelung“ durch das Publikum im Stadion, dessen Geräuschkulisse wiederum oft gnädig das Geschwätz mancher Kommentatoren übertönt.

Der Fernsehton klang geradezu gespenstisch, wie aus einer Hall- und Echokammer. Es waren die seltsam verstärkten Zurufe von Spielern und Trainern. Man hatte bei Sky auch die absurde Wahl, einen Tonkanal mit situationsgerecht (?) eingespielten Fanrufen und Gesängen aus der „Konserve“ zu wählen; womit wir nicht nur auf einem Gipfel der Peinlichkeit, sondern geradewegs in den Gefilden der Idiotie angelangt wären.

Es war einiges anders, als man es bisher kannte. Desinfizierter Ball, Gesichtsmasken auf der Auswechselbank, die Spieler (und nicht Balljungen) holen sich die Kugel selbst. Die teilweise stark abgewandelten Corona-Spielregeln waren auch dem TV-Sprecher noch nicht klar. Zum Beispiel: Darf man insgesamt fünf Spieler zu drei Zeitpunkten auswechseln? Zählt dabei ein Wechsel in der Halbzeit mit? Ach, wie müßig! Aber es muss ja alles in geordneten Bahnen verlaufen. Apropos: Wahrscheinlich haben sie in allen möglichen Ländern ein Auge auf diesen Spieltag. Gut möglich, dass demnächst halb Europa mit Spielzeit-Resets nachzieht. Beim Gedanken kann einem bange werden.

Nach den vier Dortmunder Toren gab es nicht den üblichen Jubel in der Spielertraube, sondern jeweils verhaltene Freude auf Distanz. Es wirkte fast schon ein wenig nobel. Denn damit unterblieben auch die sonst mitunter üblichen, lächerlichen Macho-Gesten. Auch gab’s kein fortwährendes Gespucke auf den Rasen. Wenn sich die hochbezahlten Herrschaften das auf Dauer abgewöhnen könnten, wär‘s eh gut. Überhaupt darf man vielleicht von künftigen Zeiten träumen, wo weniger Getue um die Kickerei veranstaltet wird, und zwar verbal wie finanziell.

Sagen wir nur die blanke Wahrheit: Es war nicht nur ein leeres Stadion, es war insgesamt eine sinnentleerte Veranstaltung. Das 180. Revierderby war gar keins. Es war in jeder Hinsicht unecht. Und ja: Ich habe das Ende herbeigesehnt.

Unter anderen Umständen hätte man sich als Anhänger der Dortmunder über den 4:0-Erfolg königlich gefreut, doch so nimmt man es beinahe ungerührt zur Kenntnis. Ich weiß nicht einmal, ob ich mir in dieser verrückten Saison den BVB als Meister wünschen soll. Auf ewig würde es heißen, das sei ja die „Corona-Meisterschaft“ gewesen. Außerdem ist es nicht vorstellbar, dass ein etwaiger Titel in der Stadt massenhaft gefeiert werden könnte. Aber auch das ist irgendwie schnurz.




Verheißungsvolle Lesung: Dortmunds „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart stellte sich online nochmals vor

Auf dem iPad-Bildschirm: Dortmunds „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart (links) und Moderatorin Frederike Juliane Jacobs. (Screenshot der via YouTube gezeigten Lesung)

Eigentlich ist – unter allen Künsten – die Literatur noch am wenigsten von der gegenwärtigen Krise betroffen. Zwar hat natürlich auch der Buchhandel gelitten, doch lassen sich nach wie vor alle Bücher bestellen und im stillen Kämmerlein lesen. Und doch fehlt etwas. Das wurde auch heute Abend deutlich, als Dortmunds erste „Stadtbeschreiberin“ Judith Kuckart im Dortmunder Literaturhaus gezwungenermaßen eine Online-Lesung via YouTube absolvierte.

Frau Kuckart kann ihren Dortmunder Stipendiats-Aufenthalt bekanntlich nicht im Mai antreten, sondern erst im August. Insofern war es jetzt ein vager Vorgeschmack, als sie kurze Passagen aus ihrem Roman „Kein Sturm, nur Wetter“ las und knappe Auskünfte zum Schreibprozess gab. Vielen Sätzen suchte sie durch dezente und doch dringliche Gestik Nachdruck zu verleihen, doch es fehlten spürbar die Adressaten, es fehlte ein unmittelbar reagierendes Live-Publikum.

Und so blieb die moderierende Literaturwissenschaftlerin Frederike Juliane Jacob, die das Buch höchlich pries, der einzige Widerpart des gar kurzen Abends. Angekündigt für die Zeit von 19.30 bis 21 Uhr, endeten Lesung und Gespräch bereits vor 20.15 Uhr. Dabei befand die Moderatorin in ihrem Fazit, sie hätte „noch 25 oder mehr Fragen“ und man könne im Grunde endlos weiter reden. Hätte sie sich und uns doch wenigstens noch etwas Zeit und Muße gegönnt…

Ich gebe freimütig zu, den in Rede stehenden Roman noch nicht gelesen zu haben. Allerdings haben mich die wenigen Auszüge tatsächlich neugierig gemacht. Der ausgesprochen unprätentiöse und präzise Erzählstil, der gleichwohl nirgendwo in bloße Lakonie abgleitet und auch Durchblicke ins Metaphysische gestattet, übt wirklich einen sanften Sog aus.

Man möchte mehr und mehr über die Protagonistin wissen, jene namenlose Neurobiologin, die es im Alter von 18, 36 und 54 Jahren jeweils mit 36-jährigen Männern zu tun bekommt. Nicht nur geht es um die sehr verschiedenen Lebensalter der Liebe, sondern auch ums das Gewebe aus Erinnerung und Vergessen, aus dem noch jede Identität entsteht.

Die Autorin legt übrigens Wert darauf, dass ihre Hauptperson vom Rande des Ruhrgebiets stammt und somit eine regionalspezifische Variante von Humor mitbringt, der sie auch in misslichen Situationen vor dem Untergang bewahrt. Es ist denn auch ermutigend zu sehen, wie durchaus ambitionierte und ernsthafte Literatur zwar auch Abgründiges ins Auge fasst, jedoch nicht alles Schwarz in Schwarz zeichnet.

Judith Kuckart hat sich vor der Niederschrift gleichsam selbst nicht über den Weg getraut. Als Schriftstellerin neige sie nun mal zum „Erinnerungs-Fetischismus“. Dabei könne man den Phänomenen doch auch wissenschaftlich auf die Spur kommen. So war es gerade recht, dass die Uni Heidelberg einige Schriftsteller einlud, sich auf solche Pfade zu begeben. Neben anderen folgten auch Daniel Kehlmann, Tim Parks und Wiktor Jerofejew dem Angebot. Judith Kuckart entschied sich vor zwei Jahren just für ein neurobiologisches Praktikum und war auch bei gehirnchirurgischen Operationen anwesend, bei denen bösartiges Gewebe höchst behutsam und millimetergenau „ausgelöffelt“ werden musste.

Es war also eine sehr bewusste Entscheidung, aus der Perspektive einer Neurobiologin zu erzählen. Derlei Erfahrungen geben zudem einen ganz anderen Blick aufs Sein und Schwinden von Identität frei. Doch die Wissenschaftler, so Kuckart, stellten ihrerseits sogar in Kantinengesprächen Fragen, die weit über ihr Metier hinausreichen und grundsätzlich ans Existenzielle rühren. Mithin ist auch der Roman längst nicht nur ein Präsisions-Werk, sondern eines, das stellenweise ins Unerklärliche und womöglich Geisterhafte ausgreift. Wunderbar rätselvoll etwa die Schilderung einer Bahnfahrt, in deren Verlauf aus einer Tasche, einem Rucksack und einem Jutelbeutel – Milch rinnt. Welch ein Bild, das einen subkutan weiter beschäftigt.

Nach diesem Eindruck jedenfalls kann man die Entscheidung der Jury, die Wahl-Berlinerin Judith Kuckart auf Zeit nach Dortmund zu holen (wo sie teilweise aufgewachsen ist), nur nochmals gutheißen. Und man ist umso gespannter, was ihre Beobachtungen und Recherchen in der Stadt wohl ergeben werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Corona-Krise das mögliche Themenspektrum nicht allzu sehr überlagert. Obwohl: Auch aus einer solchen Konstellation würde Judith Kuckart gewiss ihre ersprießlichen Lehren ziehen.




Erster Spielplan-Ausblick der neuen Dortmunder Schauspielchefin

Die designierte Schauspielchefin Julia Wissert. (Foto: Ingo Höhn)

Dortmunds künftige Schauspielchefin Julia Wissert. (Foto: Ingo Höhn)

Julia Wissert übernimmt ab der kommenden Spielzeit 2020/21 die Intendanz des Schauspiels Dortmund. Heute wurde ihr erster Spielplan auf der Webseite des Theaters veröffentlicht (siehe Adresse am Schluss des Beitrags), alle Planungen stehen jedoch unter Corona-Vorbehalt. Unkommentierte Auszüge aus der Pressemitteilung (inklusive Gendersternchen):

Die Neugestaltung des Foyers unter der künstlerischen Leitung von Cordula Körber und die Gründung einer „Stadt-Intendanz“, in der Bürger*innen den Spielplan Mitgestalten sollen, gehören zu den übergreifenden Projekten.

Erzählungen über die Stadt

Die Eröffnungspremiere am 3. Oktober 2020 (Regie: Julia Wissert) trägt den Titel „2170 – Was wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben werden?“ Es geht um Dortmund. Luna Ali, Sivan Ben Yishai, Ivana Sajko, Akin Şipal und Karosh Taha haben in der Stadt recherchiert und eine jeweils ganz eigene Erzählung von Dortmund geschrieben.

In ihrer zweiten Inszenierung zeigt Julia Wissert eine Uraufführung nach dem Roman „Der Platz“ von Annie Ernaux (Premiere am 20. März 2021).

„Faust 1“ – nach Goethe

Mizgin Bilmen inszeniert im Schauspielhaus am 31. Oktober „Faust 1“ nach Goethe sowie im Studio das Show-Experiment „Heidi – Auf der Suche nach der verlorenen Schönheit“ (Premiere am 28. Januar 2021).

Selen Kara hat mit „Das Mrs. Dalloway Prinzip/4.48 Psychose“ am 14. November 2020 Premiere und zeigt eine neue Verbindung des Romans von Virgina Woolf und dem Stück von Sarah Kane.

„Früchte des Zorns“ nach dem Roman von John Steinbeck inszeniert Milan Peschel in einer Premiere am 30. Januar 2021.

Neue Arbeit und Autos

„Land ohne Land“ ist ein Projekt von Sandra und Simonida Selimovic, das mit Rom*nja-Spieler*innen aus Dortmund entwickelt wird und am 10. April 2021 Premiere hat.

Im Studio inszenieren Dennis Duszczak („La Chemise Lacoste“ von Anne Lepper), France-Elena Damian („Neue Arbeit – ein Gesellschaftsspiel“) und Florian Hein („Autos“ von Enis Macis).

Das Eröffnungswochenende startet am 2. Oktober 2020 mit dem Abend „17 x 1“: 16 Schauspieler*innen und 1 Sprechchor stellen sich vor: was sie wollen, was sie mögen und was sie zu sagen haben.

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Da die weitere Entwicklung der Corona-Krise noch nicht prognostizierbar ist, kann es zu „Anpassungen“ kommen.

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Die digitale Version des neuen Spielzeitheftes mit dem Spielplan 2020/21 gibt es unter www.tdo.li/tdo2021
Video mit dem neuen Ensemble unter www.theaterdo.de/publikationen/videos




Im Bergbau war von Arbeitsschutz lange nicht die Rede

Teilansicht vom weitläufigen Gelände des LWL-Industriemuseums in Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

Nicht nur zum Tag der Arbeit am 1. Mai sollte man sich daran erinnern, wie wesentliche Teile der Arbeitswelt im Revier ehedem ausgesehen haben.

Ein kurzer Film des LWL gibt dazu einen Anstoß. Der ehemalige Bergmann Hans Georg Zimoch (heute 83), der über 40 Jahre als Kumpel unter Tage malocht hat (anders kann man es kaum ausdrücken), erzählt darin vom knochenharten und gefährlichen Leben der Bergleute. Zimoch selbst hat neun Kollegen durch Bergunglücke verloren. Allein auf der 1955 geschlossenen Dortmunder Zeche Zollern sind im Laufe der Jahrzehnte 161 Bergleute ums Leben gekommen.

Insgesamt haben zigtausend Menschen im Steinkohlebergbau ihr Leben verloren. Und dabei hat man noch gar nicht die Langzeitfolgen bei jenen mitbedacht, die zwar mit dem Leben davongekommen sind, aber unter Silikose litten und leiden. Staublunge, so sagt auch Hans Georg Zimoch, wird man nie wieder los, diese Krankheit ist unheilbar.

Erzählt im LWL-Video vom schweren Arbeitsleben der Bergbau-Kumpel: Hans Georg Zimoch (83). (Foto: LWL)

Noch bis in die 1920er Jahre hinein wurde in den Bergwerken vollkommen ungeschützt gearbeitet. Auch gab es bis dahin weder Kranken- noch Unfallversicherung für die Bergleute.

Von Arbeitsschutz, der den Namen verdiente, konnte bis in die 1950er Jahre hinein so gut wie gar nicht die Rede sein. Die ersten Ansätze waren dann immerhin konkrete Warnhinweise und Plakate, alsbald kamen Sicherheitskleidung (Gummistiefel mit Stahlkappen, feste Handschuhe, Kunststoffhelme) und ortsfeste Beleuchtung unter Tage hinzu. Erst seit Anfang der 1960er Jahre trugen die Bergleute Stirnlampen. Nicht von ungefähr hieß es „Vor der Hacke is‘ duster.“ Manchmal zappenduster.

Und der Maifeiertag? Vor rund 130 Jahren legten rund 100.000 Männer und Frauen in Deutschland am 1. Mai die Arbeit nieder. Von Anfang an waren solche Streiks nicht nur mit Forderungen zur Verkürzung der Arbeitszeit und nach besserer Entlohnung verknüpft, sondern galten eben auch auch den desolaten Arbeitsbedingungen, zu denen der fehlende Arbeitsschutz zählte. 1919 wurde der 1. Mai ein einziges Mal als proletarischer Tag der Arbeit begangen, ehe ihn später das Nazi-Regime für seine Zwecke missbrauchte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg lebte die freiheitliche Tradition des Maifeiertages wieder auf.

Für Nicht-Revierkundige sei’s angefügt: Mit der Zeche Zollern hat es eine besondere Bewandtnis. Dem 1955 geschlossenen Bergwerk mit seinen imposanten Jugendstilbauten drohte der Abriss, der Ende 1969 – nach Protesten aus Bevölkerung und Fachwelt – verhindert wurde. Es war sozusagen der bundesweite Beginn des Denkmalschutzes auch für Industriebauten und zeugte von den Anfängen eines grundlegenden Bewusstseinswandels – nicht nur, aber speziell im Ruhrgebiet. 1979 wurde das Industriemuseum in der Zeche Zollern II/IV gegründet, seit 1999 fungiert es offiziell als Zentrale des LWL-Industriemuseums mit seinen acht Standorten. In der hoffentlich bald wieder besuchbaren Dauerausstellung des (derzeit noch wg. Corona geschlossenen) Museums erfährt man viel über die Sozial- und Kulturgeschichte des Bergbaus im Ruhrgebiet.




In diesen Zeiten muss man sich Gehör verschaffen: Gesammelte Aussagen zu „Corona und Kultur in Dortmund“

Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann bei der heutigen Pressekonferenz. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Auch wenn die Aussagen noch nicht allzu konkret sein konnten: Es war schon einmal gut, dass diese Pressekonferenz überhaupt stattgefunden hat. Denn „die Kultur“ muss sich gerade in diesen Zeiten Gehör verschaffen. Unter dem Titel „Corona und die Kultur in Dortmund“ gab es heute im Rathaus der Stadt vor allem Statements auf der Chefebene der großen Kultureinrichtungen, aber auch aus der freien Szene. Ich habe den Termin via Live-Stream verfolgt.

Stadtdirektor und Kulturdezernent Jörg Stüdemann skizzierte eingangs die Lage und erkannte – bei allen Problemen – auch eine „positive Novität“: Im Gegensatz zu mancher früheren Debatte, in der Kultur als „erste Spardose“ gegolten habe, seien die kulturellen Einrichtungen diesmal von Anfang an in Überlegungen und Beratungen mit einbezogen worden.

Insgesamt aber müsse man von „gravierenden Erschütterungen“ sprechen, „wie wir sie bisher nicht kannten“. Das Thema habe etliche Perspektiven und Aspekte. Es gehe um die Situation der Institute, um die der ausübenden Künstlerinnen und Künstler und nicht zuletzt um das Publikum. Bleibe es durch die Krise hindurch loyal und stehe es treu zum Theater, zum Konzerthaus, zu den Museen und anderen Kulturstätten? Bislang, so Stüdemann, habe das Publikum eine erstaunliche Solidarität bewiesen, für die er herzlich danken wolle. Beispiel: Viele vorab bezahlte Tickets für abgesagte Vorstellungen würden nicht zurückgegeben.

Stüdemann mahnte dreierlei dringenden Bedarf an:

1.) Die inzwischen ausgelaufenen, weil hoch „überzeichneten“ Soforthilfe-Programme für Kulturschaffende müssten sehr bald verlängert werden. Als Beispiel nannte er Baden-Württemberg, wo es neuerdings eine Grundsicherung für Künstler(innen) von rund 1100 Euro im Monat gebe, die von anderen Bundesländern gut kopiert werden könne. Ein Appell ans Land NRW also.

2.) Die Einrichtungen der freien Szene bräuchten Infrastruktur-Programme, damit sie auch nach der Krise noch existieren könnten.

3.) Man müsse sehr zeitig „Exit-Strategien“ vorbereiten und einleiten, denn Betriebe wie Theater oder Konzerthaus könnten nicht einfach von heute auf morgen wieder die Bühnen bespielen, sondern bestenfalls nach einem Vorlauf von 6 bis 10 Wochen. In die entsprechenden Planungen sollten unbedingt die Fachleute aus den Kulturhäusern eingebunden werden.

Stefan Mühlhofer, Leiter der Kulturbetriebe Dortmund. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Stefan Mühlhofer, Direktor der Dortmunder Kulturbetriebe, sieht es als sicher an, dass man bei Wiederaufnahme des Spielbetriebs und anderer kultureller Angebote nicht einfach „den Schalter umlegen kann“. Es werde zunächst vieles anders sein als vor Corona. Man habe inzwischen einige Aktivitäten (Volkshochschule, Musikschule) auf digitale Verbreitung umgestellt, was auch recht gut funktioniere. Dennoch könne dies auf Dauer kein Ersatz für Präsenz-Veranstaltungen sein. Ein Originalbild im Museum sei eben etwas ganz anderes als eine Abbildung im Buch oder ein Video. Apropos: Wahrscheinlich bis Mitte dieser Woche solle ein Papier zur möglichen Öffnung der städtischen Museen vorliegen – mit einer Perspektive für Anfang oder Mitte Mai. Auch hier gilt freilich: Die Stadt allein kann nichts bewirken. Das Land NRW muss es zulassen. Übrigens: In Berlin dürfen die Museen schon wieder öffnen.

Hendrikje Spengler, Leiterin des Kulturbüros Dortmund. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Hendrikje Spengler, Leiterin des Kulturbüros Dortmund, berichtete, man habe sich in den letzten Wochen durch einen wahren Wust an Informationen, Erlässen und Verordnungen kämpfen müssen. Es sei aber gelungen, das alles zu strukturieren – vor allem im Sinne der Kulturschaffenden, denen häufig alle Verdienstmöglichkeiten weggebrochen seien. In der Kulturszene herrsche derweil keine Larmoyanz, im Gegenteil: Geradezu kraftvoll seien ständig neue Ideen entwickelt worden, um trotz Corona (digital) wahrgenommen zu werden.

Claudia Schenk, Sprecherin der freien Szene. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Claudia Schenk aus dem Leitungsgremium des „Depots“ trat als Sprecherin der freien Kulturszene an. Diverse Zentren der freien Szene wären ohne die bislang geleistete Landeshilfe vielleicht schon für immer geschlossen worden, befand sie. Streaming sei zwar gut, um im Gespräch zu bleiben, es generiere aber keine Einnahmen. Sie verwies auch auf Fälle wie etwa jene freiberuflichen Bühnentechniker, die auf einmal vor dem Nichts stünden. Man warte auf konkrete Handlungsanweisungen für einen Exit, also für die Wiederaufnahme des Betriebs unter veränderten Bedingungen. Frau Schenk stellte zudem mit Blick auf die nächsten Jahre die bange Frage, ob es im Kulturbereich wohl Streichungen und Kürzungen geben werde. Schließlich zähle Kultur leider immer noch zu den freiwilligen Leistungen der Kommunen und nicht zu den Pflichtaufgaben.

Sprach fürs Theater: Tobias Ehinger. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Tobias Ehinger, geschäftsführender Direktor des Theaters, erinnerte sich an die letzten Monate vor der Krise, als das Dortmunder Theater ein Hoch erlebt und neue Besucherrekorde angepeilt habe. Dann wurde man jäh ausgebremst. Sehr schnell habe man dann umgedacht, beispielweise habe die Theaterwerkstatt Mundschutzmasken hergestellt. In der Krise habe sich überhaupt gezeigt, wie wichtig der soziale Aspekt und die Verankerung in der Gesellschaft fürs Theater seien. Streaming könne kein wirkliches Bühnenerlebnis ersetzen, auch seien die digitalen Möglichkeiten schnell ausgereizt. Als eine beispielhafte Aktion nannte Ehinger den Musik-Truck, der vor Altenheimen vorfahre und – draußen vor den Türen – z. B. mit Gesangs-Darbietungen den Senioren ein wenig zwischenmenschliche Wärme vermittle. Ehinger ist überzeugt, dass man ab Anfang September wieder spielen werde – allerdings völlig anders, mit eigens zugeschnittenen Inszenierungen und vor deutlich weniger Zuschauern. Im Hinblick auf den 1. September sei ein Planungsvorlauf von etwa 10 Wochen nötig. Das würde bedeuten: Bereits Mitte Juni müsste man in die Vorbereitungen einsteigen. Insgesamt gelte es, die gesellschaftlichen Errungenschaften durch die Krise zu erhalten. Dabei sei Kultur unbedingt „systemrelevant“.

Konzerthaus-Chef Raphael von Hoensbroech. (Screenshot der Streaming-Übertragung)

Raphael von Hoensbroech, Intendant des Konzerthauses Dortmund, betonte den Gedanken der Systemrelevanz noch stärker. Kultur solle nicht nur am Tisch Platz nehmen, an dem die Relevanz verhandelt werde. Vielmehr sei sie – einem Ausspruch des Cellisten Yo-Yo Ma zufolge – sozusagen selbst dieser Tisch, also die Grundlage der Gesellschaft. Das Konzerthaus mit seinem sehr großen Saal sowie ausgeklügelter Be- und Entlüftung sei bei reduziertem Publikum kein riskanter Ort. Er halte ansonsten nicht viel von pauschalen Obergrenzen, es komme stets aufs Einzelereignis an. Voluminöse Auftritte mit großen Chören und Orchestern seien jedoch vorerst auszuschließen. Die Stadt Dortmund habe sich zu den Perspektiven des Konzerthauses beherzt und klar positioniert. Was jedoch aus Regierungskreisen in Berlin und vom Städtetag komme, sei wenig hilfreich.

Jörg Stüdemann blieb das vorläufige Fazit vorbehalten. Als studierter Germanist quasi von Haus aus kulturaffin und biographisch auch als Mitarbeiter eines Kulturzentrums (schon länger ist’s her: Zeche Carl in Essen) mit der Szene vertraut, kann die Interessenlage von Kulturschaffenden wohl recht gut nachempfinden und in vernünftige politische Bahnen lenken. Allerdings vermag er – obwohl zugleich Stadtkämmerer – natürlich nicht beliebig viele Kulturmittel aus dem städtischen Etat zur Verfügung zu stellen. Für die nächste Zeit mahnte Stüdemann ethische und „wertsetzende Handlungsweisen“ in der Kulturpolitik an, die sich einer bloßen Einspar-Mentalität widersetzen und keinesfalls „autoritativ oder autoritär“ vorgehen solle. Wie sich gezeigt habe, müssten nun vor allem zwei Anforderungen vorrangig erfüllt werden: „Wir müssen mehr in die Digitalisierung investieren, auch in Qualifizierung und technische Ausrüstung.“ Und: In jeder Hinsicht müsse jetzt über „Gestaltungs-Alternativen“ nachgedacht werden. Wohlan denn!

Viel guter Wille also, aber noch unklare Perspektiven. Die Kultur, so ahnt man, wird (ebenso wie andere Bereiche) „nach Corona“ nicht mehr dieselbe sein können wie zuvor.




Kultur geht notgedrungen weiter ins Netz: Viele Programme online / Ständige Updates: Weitere Projekte (und Absagen)

Das waren noch andere Zeiten: Blick in den Zuschauerraum des Dortmunder Opernhauses – vor Beginn einer Vorstellung. (Foto: Bernd Berke)

Hier mal wieder ein paar Nachrichten aus dem derzeit stark eingeschränkten (Dortmunder) Kulturleben, kompakt zusammengestellt auf Basis von Pressemitteilungen der jeweiligen Einrichtungen.

Die Mitteilungen werden – im unteren Teil dieses Beitrags – von Tag zu Tag gelegentlich ergänzt und/oder aktualisiert, auch gibt es dort Neuigkeiten aus anderen Revierstädten, vor allem über weitere Absagen, aber auch zu Online-Aktivitäten.

Theater Dortmund: Keine Vorstellungen bis 28. Juni

Das Theater Dortmund bietet auf seinen sämtliche Bühnen (Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater) bis einschließlich 28. Juni 2020 keine Vorstellungen an. Wie es danach weitergehen wird, weiß noch niemand.

Die Regelung schließt die Konzerte der Dortmunder Philharmoniker im Konzerthaus Dortmund ein. Der Betrieb im Theater läuft jedoch bis zur Sommerpause weiter. Neue mobile Vorstellungsformate sollen ab Mai 2020 bis zum Ende der Spielzeit 2019/20 aufgenommen werden.

Dazu Tobias Ehinger, der Geschäftsführende Direktor des Theater Dortmund: „So sehr wir diesen Schritt bedauern, steht die Gesundheit unseres Publikums sowie unserer Kolleginnen und Kollegen im Mittelpunkt. Jedoch dürfen wir auch in der jetzigen Zeit, unser Leben nicht nur auf Funktionalität begrenzen. Gerade in Krisenzeiten zeigt sich die hohe Bedeutung von Kultur. Kultur ist nicht hübsches Beiwerk oder Luxus, sondern elementar für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Wir fordern die Entscheidungsträger in Bund und Land auf, Maßnahmen und Konzepte zur schrittweisen Öffnung unserer Theater und Konzertsäle zu beschließen und die Gesellschaft nicht durch ein zu kurz gegriffenes Verständnis der Systemrelevanz zu trennen.“

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Unterdessen werden Spielpläne für die nächste Saison online per Video-Präsentation angekündigt:

Philharmoniker, Oper und Ballet

So wird sich – wie die Theater-Pressestelle mitteilt – in der Spielzeit 2020/21 bei den Konzerten der Dortmunder Philharmoniker alles um das Verhältnis zwischen Mann und Frau drehen.

Das Motto der Spielzeit lautet „Im Rausch der Gefühle“. Ergänzend heißt es, die berühmtesten Paare der Weltliteratur, wie Romeo und Julia, Othello und Desdemona, Orpheus und Eurydike sowie Tristan und Isolde, hätten die Komponisten zu großartigen Orchesterwerken inspiriert.

Da die weitere Entwicklung der Corona-Krise noch nicht prognostizierbar sei, könne es ggf. noch zu „Anpassungen“ kommen.

Textversion des Spielplans unter: www.tdo.li/tdo2021

Generalmusikdirektor Gabriel Feltz erläutert den Spielplan 2020/21, hier ist der Link, der auch zur Präsentation des Opern-Spielplans (durch Opernchef Heribert Germeshausen) und des Balletts (durch Ballettchef Xin Peng Wang) führt: https://www.theaterdo.de/medien/videos/spielzeit-2021/

Kinder- und Jugendtheater

Das Kinder- und Jugendtheater (KJT) Dortmund startet mit neun Neuproduktionen und neun Wiederaufnahmen in die neue Spielzeit 2020/21. Als Motto hat sich KJT-Direktor Andreas Gruhn mit seinem Team den „Freien Fall“ gesetzt. In einer Welt, in der politische Systeme ins Wanken geraten und die Natur zunehmend aus dem Gleichgewicht gerät, scheint sich die Abwärtsspirale immer schneller zu drehen. Aus dem Unglück des Fallens können aber auch ungeahnte Möglichkeiten wachsen.

Auch beim KJT heißt es: „Da die weitere Entwicklung der Corona-Krise noch nicht prognostizierbar ist, kann es ggf. zu Anpassungen kommen.“

Printversion des Spielplans unter www.tdo.li/tdo2021
Video mit Andreas Gruhn unter www.theaterdo.de/publikationen/videos

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Auch das Konzerthaus Dortmund präsentiert das Programm der nächsten Saison auf digitalem Weg:

In einem Video erläutert Intendant Raphael von Hoensbroech, welche hörenswerten Künstler und Konzerte ab September in der Spielzeit 2020/21 zu erwarten sind. Hoensbroech lädt daher zu einem virtuellen kleinen Ausflug ins Konzerthaus.

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Dortmunds neues Literaturstipendium um drei Monate verschoben:

Dortmunds erste „Stadtbeschreiberin“, Judith Kuckart, wird aufgrund der Corona-Krise erst ab August 2020 für sechs Monate nach Dortmund kommen. Ursprünglich hatte sie ihr Stipendium im Mai antreten wollen. Ihre für den 15. Mai geplante Auftaktlesung im Literaturhaus soll trotzdem stattfinden – allerdings ohne Live-Publikum: Das Literaturhaus am Neuen Graben zeigt die Lesung aus dem aktuellen Roman „Kein Sturm, nur Wetter“ online am 15. Mai 2020 ab 19.30 Uhr (weitere Infos unter www.literaturhaus-dortmund.de).

Neues Konzertformat „Musik auf Rädern“

Am Dienstag, 5. Mai 2020, startet das Theater Dortmund das der Corona-Pandemie angepasste Konzertformat „Musik auf Rädern“. An verschiedenen Standorten in Dortmund werden die Oper Dortmund und die Dortmunder Philharmoniker jeweils um 16 Uhr kleine Live-Konzerte von ca. 20 Minuten Dauer geben. Die Abstandsregelungen werden dabei eingehalten. Mit dem Programm kommt das Theater Dortmund vor allem zu den Menschen, die aufgrund ihrer Identifizierung als „Risikogruppe“ besonders in ihrem Bewegungsfreiraum eingeschränkt sind. Der erste Auftritt findet mit der Sopranistin Irina Simmes vor dem Seniorenwohnsitz „Kreuzviertel“ 44139 Dortmund-Kreuzviertel, Kreuzstraße 68 / Ecke Lindemannstraße statt.

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Eröffnungsfest im Naturmuseum fällt aus

Die für den 7. Juni geplante große Wiedereröffnung des Naturmuseums nach Jahren des Umbaus fällt aus. Die neue Dauerausstellung soll voraussichtlich im September eröffnen.

„Robin Hood“-Schau bis 20. September

Das derzeit noch geschlossene Museum für Kunst und Kulturgeschichte an der Hansastraße verlängert seine ursprünglich bis Mitte April geplante Familienausstellung „Robin Hood“ bis zum 20. September.

„Studio 54″ vorerst nicht in Dortmund

Das „Dortmunder U“ kann die ab 14. August geplante Ausstellung „Studio 54″ (Übernahme aus dem Brooklyn Museum) über den legendären New Yorker Nachtclub in diesem Jahr nicht mehr zeigen.

Diesmal kein Micro!Festival

Das Micro!Festival, das sonst immer am letzten Wochenende der Sommerferien stattfand, fällt in diesem Jahr komplett aus.

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Blicke in die anderen Städte des Ruhrgebiets:

2020 keine Ruhrtriennale

Die Ruhrtriennale wird 2020 nicht stattfinden. Der Aufsichtsrat der Kultur Ruhr GmbH hat diesen Beschluss einstimmig gefasst. Das Festival hätte vom 14. August bis zum 20. September stattfinden sollen. Rund 700 Künstlerinnen und Künstler aus 40 Ländern wären an den 33 Produktionen und Projekten beteiligt gewesen. Sowohl die Intendantin Stefanie Carp als auch Ko-Intendant Christoph Marthaler haben Unverständnis über diese Entscheidung geäußert.

ExtraSchicht fällt ebenfalls aus

Auch die ExtraSchicht muss wegen Corona ausfallen. Die Nacht der Industriekultur hätte am 27. Juni zum 20. Mal die Metropole Ruhr bespielen sollen.
Die Ruhr Tourismus GmbH (RTG) hatte bis zum letzten Moment an Alternativkonzepten gearbeitet. Die Durchführung einer Veranstaltung Ende Juni mit über 250.000 Besuchern sei aber derzeit nicht verantwortbar, so die RTG. Eine Verschiebung auf einen späteren Zeitpunkt in diesem Jahr sei wegen des großen organisatorischen Aufwandes nicht möglich. Das Geld für bereits erworbene Tickets wird zurückerstattet. Mehr Infos unter www.extraschicht.de.

„Mord am Hellweg“ auf Herbst 2021 verschoben

Die zehnte Ausgabe des Krimi-Festivals „Mord am Hellweg“ (Zentrale in Unna) wird um ein Jahr verschoben. Die für diesen Herbst geplante Jubiläumsausgabe wird auf die Zeit vom 18. September bis 13. November 2021 verlegt. Weitere Infos unter www.mordamhellweg.de

Moers Festival diesmal rein digital

Auch das renommierte Moers Festival (29. Mai bis 1. Juni) geht diesmal als digitales Festival über die Bühne. Die Konzerte werden als Livestream auf der Website, bei Facebook und bei Arte concert gezeigt. WDR 3 wird wie gewohnt übertragen.
Infos: www.moers-festival.de

Wittener Tage für Neue Kammermusik nur im Radio

Die Wittener Tage für Neue Kammermusik (24. bis 26. April 2020) haben sich ebenfalls umgestellt: In diesem Jahr kamen die Konzerte ausschließlich übers Radio. WDR 3 richtete das Festival als exklusives Hörfunk-Ereignis aus.
Infos unter www.wdr3.de und www.kulturforum-witten.de

Klangkunst in Marl als virtuelle Führung

Das Skulpturenmuseum Glaskasten Marl zeigt seine Klangkunst-Ausstellung diesmal per Video: „sound + space“ von Johannes S. Sistermanns und Pierre-Laurent Cassère ist online zu sehen. Im Mittelpunkt der virtuellen Führung steht ein Gespräch des Museumsdirektors Georg Elben mit dem Klangkünstler Sistermanns. Das Video ist auf der städtischen Internetseite unter www.marl.de und demnächst mit weiteren Informationen auch unter www.skulpturenmuseum-glaskasten-marl.de zu sehen.

Impulse Theater-Festival fällt aus

Das Theater-Festival „Impulse“, das vom 4. bis 14. Juni hätte stattfinden sollen, ist abgesagt worden – besonders schmerzlich, weil zum 30-jährigen Bestehen des Festivals einige besondere Programme geplant waren. Bestimmte Teile sollen als digitale Formate im ursprünglich geplanten Festival-Zeitraum online gezeigt werden. Details dazu demnächst unter: www.impulsefestival.de

Theater Oberhausen: „Die Pest“ als Miniserie im Netz

Das Oberhausener Theater zeigt eine Bühnenbearbeitung nach Albert Camus‘ Roman „Die Pest“ als Miniserie in fünf Episoden. Gezeigt wird die Serie im Internet ab Samstag, 2. Mai, dann weiter wöchentlich, jeweils ab 19.30 Uhr. Weitere Infos: www.die-pest.de

3Sat zeigt Bochumer „Hamlet“ – jetzt via Mediathek

Im Rahmen seiner Reihe „Starke Stücke“ zeigt der TV-Sender 3Sat am Samstag, 2. Mai., um 20.15 Uhr eine Aufzeichnung von Johan Simons‘ Bochumer „Hamlet“-Inszenierung. Bis zum 30. Juli 2020 bleibt die Inszenierung in der Mediathek von 3Sat greifbar.

Auch hierhin würden Theaterfans im Revier gern wieder pilgern: Schauspielhaus Bochum. (Foto: Bernd Berke)




Von Unna aus ein wenig die Welt verändern – Nachruf auf den vielseitigen Theatermann Peter Möbius

Peter Möbius (1941-2020). (Foto: Thomas Kersten)

Gastautor Horst Delkus mit einem Nachruf auf den Theatermann, Autor und Grafiker Peter Möbius, den älteren Bruder des legendären Rocksängers Rio Reiser („Ton Steine Scherben“). Peter Möbius hat vor allem in Unna und Dortmund gewirkt.

Ist das nicht der Bruder vom Rio? Ja, er war es. Rios großer Bruder, der mich da vor rund neun Jahren in meinem Büro bei der Wirtschaftsförderung des Kreises Unna aufsuchte. Die Kollegin outete sich als große Verehrerin von Rio Reiser: Das ist mein Lieblingsmusiker. Peter hat es gefreut.  War doch eine solche klammheimliche Liebe von notwendigerweise kapitalfreundlicher Wirtschaftsförderung zu dem exorbitant kapitalkritischen Möbius-Bruder eine ausgesprochen ungewöhnliche.

Was es mit „Hermann von Unna“ auf sich hat

Peter holte damals irgendwelche Unterlagen ab. Es ging um „Hermann von Unna, eine Geschichte aus der Zeit der Vehmgerichte“. Erzählt von Benedicte Naubert, die diesen Roman 1788 (!) veröffentlichte. Die Handlung ist simpel, aber der Roman förderte Unnas guten Ruf Anfang des 19. Jahrhundert in ganz Deutschland: Das Städtchen Unna hat ein wichtiges Salzwerk Königsborn; berühmter  aber ist es durch den viel gelesenen Vehmgerichts-Roman: Hermann von Unna!, schrieb 1834 ein gewisser Carl Julius Weber in seinen „Brief(n) eines in Deutschland reisenden Deutschen“.

Der Roman ist von nicht allzu großer literarischer Qualität. Aber sein Stoff wurde selbst in Schweden und Dänemark aufgegriffen und zu einem Theaterstück umgewandelt. Zu einem Schauspiel in fünf Akten. Mit Chören und Tänzen.

Feuer und Flamme für ein spezielles Vorhaben

Mehr als 200 Jahre später war dieser Stoff für den leidenschaftlichen Theatermann Peter Möbius eine Steilvorlage. Er schrieb mir: „Die Texte der Arien und Chöre sind grauenvoll: „Reim Dich , oder ich fress Dich“. Interessant dagegen sind die musikalischen Regieanweisungen, die Bemerkungen, wo und wie Tanzeinlagen und musikalische Überbrückungen in diesem Schauspiel vorgesehen waren. Du fragst Dich, wie es an der Zeitenwende vom Achtzehnten zum Neunzehnten Jahrhundert zu dieser Modewelle kommen konnte, die sich schwärmerisch dem Mittelalter hingab? Heute, bei uns, nennt man das Ostalgie, wenn die Ossis von vergangenen Zeiten schwärmen (…). Wenn die vertraute Wirklichkeit im Umbruch ist, verklärt sich die Vergangenheit. Das war auch in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert so (…) Das Buch ist ein herrliches und kluges Plädoyer für die Flucht in eine fassbare Fantasiewelt, wenn die Wirklichkeit unfassbar geworden ist. Mehr dazu und was das mit dem Schauspiel „Hermann von Unna“ zu tun haben könnte, ein andermal.“

Peter hatte Feuer gefangen für dieses Projekt. Als ich ihm nachts schrieb, ich hätte endlich die Partitur gefunden für diese Oper, kam seine Antwort prompt. Am nächsten Morgen, kurz nach fünf Uhr: Deine Nachricht beflügelt mich, das Stück abzuschreiben und mit Reinhard Fehling über das Projekt zu reden. Ich kenne sonst niemanden, der so ein musikalisch-theatralisches Vorhaben fachkundig betreuen könnte. Doch das Projekt „Hermann von Unna“ wurde nach diesem kurzen Strohfeuer von uns beiden auf Eis gelegt, nicht weiter verfolgt. Ich bedaure es noch heute.

Argwöhnisch beobachteter Nachlassverwalter

Kennengelernt haben Peter und ich uns Mitte der neunziger Jahre, als ich wirtschaftsförderlich bei der Kreisstadt Unna anheuerte. Peter war für mich von Anfang an mehr als „der große Bruder von Rio“, dem Sängerpoeten, mit bürgerlichem Namen Ralph, dem jüngsten der drei Möbius-Brothers. Und der bekannteste. Als Rio am 20. August 1996 starb, gab es Berlin wenige Tage später zu seinem Abschied ein „Konzert der Freunde“. Ich wäre gerne hingefahren, konnte aber nicht. Aus beruflichen Gründen. Peter schenkte mir den Konzertmitschnitt. Zwei CDs mit Rios Liedern, gesungen von den Rest-„Scherben“, Ulla Meinecke, Marianne Rosenberg, Herbert Grönemeyer und anderen.

Peter wurde mit seinem Bruder Gert Rios Nachlassverwalter. Kein leichter Job, argwöhnisch beobachtet und verbunden mit viel Kritik von Rios ehemaligen Weggefährten und Fans aus der Ton-Steine-Scherben-Zeit. Zum Beispiel dafür, dass sie ein Zeile aus dem Kassenschlager „König von Deutschland“ an einen Elektronikkonzern verkauften, um damit das Rio Reiser-Haus in Nordfriesland als Begegnungsstätte für zwei weitere Jahre finanzieren zu können. Nachlassverwalter war nun weiß Gott nicht der Traumjob dieses Multitalentes, dem es –  das Schicksal vieler Allrounder – leider nicht vergönnt war, mit nur einem Werk oder nur einer Begabung, den ganz großen Durchbruch und die damit verbundene Anerkennung  als Künstler zu erreichen.

Schon mit 16 Jahren Bühnenbild-Assistenz bei Heinz Hilpert

Geboren wurde Peter 1941 in Berlin. Sein Vater war Ingenieur für Kartonverpackungen bei der Siemens AG; da er immer wieder mal versetzt wurde, musste die  Familie mehrmals umziehen. Peters Bruder Gert erinnert sich in seinem Buch „Halt dich an deiner Liebe fest. Rio Reiser“: „Während ich Lehrling bei der Versicherung war, hatte Peter, nachdem er bei der privaten Kunstakademie März in Stuttgart eingeschrieben gewesen war, mit sechzehn Jahren schon einen Job als Bühnenbild-Assistent am Göttinger Stadttheater, damals noch unter der Intendanz von Heinz Hilpert. Nach seiner Rückkehr nach Schmiden [bei Stuttgart; HD] bewarb er sich bei der Stuttgarter Kunstakademie die Professor Gerhard Gollwitzer, dem Bruder des progressiven Theologen Helmut Gollwitzer und wurde sofort ohne Prüfung aufgenommen.

…und auch noch ein hochbegabter Schauspieler

Die Folge war, dass Rio und mir dieser Bruder immer unheimlicher wurde. Dann bekam er auch noch eine kleine Rolle in dem Film von Frank Wisbar „Hunde, wollt ihr ewig leben“, einem kritischen Stalingradfilm. Mehr ging damals in unserer Familie nicht. Wir alle stürmten das Dorfkino in Schmiden, um zu prüfen, wie künstlerisch nachhaltig unser Familienmitglied den von Kugeln durchsiebten Reichswehrsoldaten darzustellen in der Lage war. Natürlich waren wir einhellig der Meinung, dass Peter das großartig gemachte hatte, und natürlich waren wir felsenfest davon überzeugt, dass er auch in Zukunft andere Rollen glaubwürdig darstellen würde. Eine Schauspielausbildung, diesen teuren Quatsch, so unser Vater, hätte Peter nicht nötig. Von Null auf hundert war er nun nicht nur ein begnadeter Maler, sondern auch ein hochbegabter Schauspieler – am besten Filmschauspieler.“

Später studierte Peter an der Akademie für Bildende Künste in Stuttgart, wo er mit Andreas Weißert Theater spielte. Wohl prägend waren für Peter die jungen Jahre in Nürnberg. Hier gründete er das Comic Teater, auch damals schon ohne „h“ geschrieben. Mit sechs anderen jungen Leute, die sich von der Nürnberger Kunstakademie kannten, zog er im Mai 1965 mit Traktor, einem umgebauten Bauwagen und 30 selbst angefertigten Masken und Kostümen einen ganzen Sommer durch Franken und Oberbayern.

Ohne erfolgreiches Theaterspiel kein Abendbrot

„Doktor, Tod und Teufel“ hieß das Stück, das sie auf Dorfplätzen und Märkten spielten. Eine harte Schule für das Comic Teater: „Wir mussten so spielen, dass das Publikum blieb. Sonst hätten wir kein Abendbrot gehabt. Denn gesammelt wurde erst zum Schluss“, erinnert er sich später in einem Interview.

Politisch prägend für Peter war – wie für viele seiner Generation – der  2. Juni 1967: Die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg bei einer Demonstration am Ku’damm gegen den Schah von Persien. Peter war bei dieser Demonstration dabei. So wurde aus ihm ein Achtundsechziger. Als Andreas Weißert 1975 in Dortmund Oberspielleiter wurde, holte er Peter Möbius vom Theater am Turm, wo er bei Rainer Werner Fassbinder spielte, nach Dortmund.

Bundesweit beispielloses Engagement in Unna

In Dortmund wurde Peter Möbius Leiter des Kinder- und Jugendtheaters. Mit seiner Comic-Truppe inszenierte er 1975 „FeuerZirkus“  und „Die Struwwelpeter Revue“, Stücke die er selbst geschrieben hatte und zu denen Rio Reiser mit den Scherben die Musik machte. Die agile Truppe wurde in Dortmund gekündigt – man unterstellte ihnen Kontakte zu den Möchtegern-Stadtguerilleros vom „2.Juni“, einer RAF-ähnlichen Gruppierung.

Die Stadt Unna hatte damals den Mut, sie über eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme einzustellen, der ersten für eine Schauspielertruppe bundesweit. Mit dem Hoffmans Comic Teater (HCT) bekam Unna die kritische Masse an Akteuren, die Unna als Kulturstadt geprägt haben. Peter war der Motor und Spiritus Rector. Dabei waren unter anderem Hartmut Hoffmeister, Ingeborg Wunderlich, Andy Koch, Rio Reiser, Martin Paul, Uta Rotermund, Claudia Roth und etliche andere. Daraus entstanden sind zahlreiche kulturelle Einrichtungen, die bis heute das kulturelle Leben von Unna prägen: der Kinderzirkus Travados, das Werkstatt Theater Unna (seit 1999 das „Narrenschiff“), das soziokulturelle Zentrum Lindenbrauerei, das Stadtspielwerk und die Jugendkunstschule, zu deren 40jährigem Jubiläum Peter noch eine viel beachtete Laudatio hielt.

Rio Reiser lieferte oft die Songs zu Peters Projekten

Peters Stärke lag vor allem darin, künstlerische Projekte mit Breitenwirkung zu entwickeln. Immer wieder dabei: sein Bruder Rio Reiser, der zu vielen Projekten die Songs lieferte. Zu diesen Projekten gehörte das „Ruhrschrei-Festival“ unter der Liedbachbrücke in der Massener Heide, die „Märzstürme“ (1981), eine „große Freiheitsrevue“ zur Erinnerung and die Märzrevolution 1920 im Ruhrgebiet, die Unnaer Stadtoper „Wasser des Lebens“ (1989), das Musical „Die Braut der Brüder“, aufgeführt bei den Ruhrfestspielen 1995 sowie seine letzte große Inszenierung „Das Tor zum Paradies , „ein musikalisches Portrait in sieben Bildern“ über den streitbaren Prediger und Komponisten heute noch bekannter Choräle, Philipp Nicolai (1997).

Mit den „Märzstürmen“ zog das Hoffmanns Comic Teater durchs Ruhrgebiet. Zur Vorbereitung interviewte man noch Zeitzeugen, die von den Greueltaten der präfaschistischen Freikorps-Truppen im Ruhrgebiet berichteten. Rio Reiser schrieb dazu wunderbare Lieder. Ton Steine Scherben machte die Musik. Der Schreiber dieser Zeilen kann sich noch heute gut an die Aufführung in einem Zirkuszelt vor dem Dortmunder Stadthaus am heutigen Friedensplatz erinnern. Damals dabei unter anderem, als rotbackige Krankenschwester, die heutige Grünen-Politikerin Claudia Roth und die Dortmunder Kabarettistin Uta Rotermund.

Die Geschichte des inzwischen legendären Hoffmans Comic Teater wollte Peter immer aufschreiben. Ob er es noch geschafft hat, weiß ich nicht. Immerhin gab es 2018 in Unna noch eine Ausstellung: „51 Jahre Hoffmanns Comic Teater 1965 – 1981. Spuren und Impulse einer aufsässigen Künstlerbande“. „Dario Fo“, sagte er einmal, „das war unser Vorbild.“

Grafik und frühe Computer-Experimente

Peter Möbius war nicht nur Theatermann mit Leib und Seele, sondern auch ein hervorragender Grafiker. Er gestaltete etliche Programmhefte für das Summertime-Kulturprogramm in Unna, das er ebenfalls inspiriert und künstlerisch betreut hatte. Ein anderes Projekt von Peter, Jahre später, konnte leider nicht realisiert werden: Ein Computerspiel, das er in unzähligen Stunden in den neunziger Jahren am Computer entwickelte. Mit magischen Bildern und einer phantastischen Geschichte, alles am Computer mühevoll „gezeichnet“. Grafikprogramme gab es damals noch nicht. Daraus sollte eine CD entstehen. Diese Silberlinge kamen damals gerade auf  und waren so „in“ wie heute das Streamen. Ich konnte im den Kontakt zu einem Produzenten von CDs vermitteln. Der spezialisierte sich allerdings, wie sich dann herausstellte, mehr auf Pornos. Die waren marktgängiger. Das Projekt verschwand im digitalen Nirwana.

Einer, der sich ins politische Geschehen einmischte

Peter betätigte sich auch als Filmregisseur. 1990 war er als Autor und Koregisseur (mit Uwe Penner) von „Türmers Traum“. Der Film war ein Beitrag zur 700jährigen Geschichte der Stadt Unna. Mit rund 300 Mitwirkenden, darunter viel Volk, einigen Kommunalpolitikern, sowie Roman Marczewski, dem  heutigen Präsidenten des Ruhrgebiets-Karnevals Geierabend, und Cäcilie Möbius, Peters Tochter, heute Schauspielerin beim Theater Narrenschiff und anderswo. 1997 drehte Peter ein TV-Porträt seines Bruders Rio Reiser: „Ich bieg’ dir den Regenbogen – ein biografischer Dokumentarfilm“.

Als politischer Mensch mischte sich Peter Möbius immer wieder ein in das politische Geschehen seiner Wahlheimat Unna. Das brachte ihm nicht nur Freunde. Er war Mitgründer der Alternativen Liste in Unna, der GAL. Schrieb ein lesenswertes Memorandum zur Weiterentwicklung der Kulturpolitik in Unna, das leider viel zu wenig Beachtung fand. 2008 war er Mitinitiator eines Bürgerbegehrens. Verkleidet als Kommerzienrat, schlug er mit einer Glocke Alarm gegen den Abriss historischer Bausubstanz in Unnas historischer Innenstadt und ihren vermeintlichen Ausverkauf an Investoren. Der Mann mit Hut und Weste wusste, wie man Theater für`s Volk macht.

Peter Möbius starb in der Nacht von Ostersonntag auf Ostermontag, am 13. April, im Alter von 78 Jahren an einer Krebserkrankung.




Jetzt aber: Mit Frühlingsbildern der Krise trotzen!

Impression aus der Dortmunder Stadtkrone Ost (da, wo die ganzen IT-Firmen sitzen). (Foto: Bernd Berke)

Machen andere Medien ja auch mit wachsender Begeisterung: frühlingshaft- hoffnungsvolle Natur-Aufnahmen gegen die Corona-Krise stellen. Warum auch nicht? Und bitte verzeiht die Bindestrich-Inflation…

Blüte in der nördlichen Gartenstadt. (Foto: Bernd Berke)

Abendlicher Blick nach Westen. (Foto: Bernd Berke)




Zum Beispiel Dortmund und Bochum: Nach Bühnenschließungen jetzt Theater-Angebote im Netz

Auch „Green Frankenstein“ kommt als Film ins Internet: Szenenbild aus der Dortmunder Inszenierung von Jörg Buttgereit. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Die Bühnen lassen sich in der Corona-Krise notgedrungen einiges einfallen, um trotz der Theaterschließungen noch präsent zu sein, und zwar im Internet. Hier nur zwei Beispiele aus der Region, ansonsten am besten mal das oder die Lieblingstheater (bzw. Opern, Konzertstätten, Museen etc.) im Netz aufrufen und schauen, was sich dort so tut…

Das Schauspiel Dortmund hat seinen Spielplan sozusagen ins Netz verlagert und zeigt – als vielfaches Déjà-vu – eine kleine Retrospektive von Produktionen aus den letzten zehn Jahren. Täglich ab 18 Uhr geht eine weitere Inszenierung für mindestens 24 Stunden online. Gestartet wurde das Projekt gestern (23. März) mit Jörg Buttgereits Inszenierung „Green Frankenstein“ aus dem Jahr 2011. In dem Live-Hörspiel geht es um ein riesiges Monster, das Fischerboote angreift, um radioaktiv mutierte Wesen und allerlei bizarre Vorkommnisse. Der zweite Teil der Inszenierung (Titel: „Sexmonster“) soll in einer Woche folgen. All das ist zu finden unter www.tdo.li/dejavu oder via Theater-Homepage: www.theaterdo.de

Das Schauspielhaus Bochum startet unterdessen heute (24. März) ein neues Videoblog. Unter dem Titel „Schauspielhaus #HOMESTORIES“ produzieren Ensemblemitglieder täglich ein neues Video mit literarischen Texten, Monologen, Gedichten und Geschichten.

Video-Still: Bochumer Ensemblemitglied Dominik Dos-Reis beim Dreh seiner Homestory in den eigenen vier Wänden. (© Schauspielhaus Bochum / Dominik Dos-Reis)

Die Aufnahmen entstehen jeweils in der eigenen Wohnung der Darsteller(innen) mit der Handy-Kamera. Man darf also wohl – rein technisch besehen – keine Kino-Qualität erwarten. Inspirationsquellen der Videos sind der Bochumer Spielplan, aber auch diverse Ereignisse in der Welt. U. a. werden angekündigt: Kurzgeschichten von Tschechow, Auszüge aus Shakespeares „Hamlet“ (als Lesung) sowie Texte von Horváth, Kleist, Thomas Bernhard, Jandl, Jelinek, Susan Sontag usw. Für Kinder soll es in den nächsten Tagen ein Extra-Angebot geben. Das Videoblog wird täglich gegen 13 Uhr (Kinder-Reihe) und 18 Uhr aktualisiert, es ist auf der Theater-Homepage und über die Bochumer Schauspielhaus-Kanäle der wichtigsten sozialen Netzwerke zu sehen: www.schauspielhausbochum.de

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Weitere Online-Angebote u. a. bei:

„Theater total“, Bochum (www.theatertotal.de)

Theater Hagen (www.theaterhagen.de)

Acht freie Theater in Essen (Facebook- und Instagra-Profile der jeweiligen Bühnen): Das Kleine Theater Essen, only connect., Rü-Bühne, Studio-Bühne Essen, Theater Courage, Theater Essen-Süd, Theater Freudenhaus, Theater THESTH.

LWL-Archäologiemuseum Herne und LWL-Römermuseum Haltern (virtuelle Rundgänge)




Corona-Update: Alles dicht! – Dortmunder Kultur-Absagen und tägliche Ergänzungen aus dem Revier

Ein Blick in den Zuschauerraum des Dortmunder Konzerthauses, das 1500 Plätze hat und  selbstverständlich auch von Absagen betroffen ist. (Foto: Bernd Berke)

Hier am Anfang zunächst der Stand vom 11. März, ständige Aktualisierungen weiter hinten:

Ausnahmsweise werden hier zwei ausführliche Pressemitteilungen aus den Dortmunder Kulturbetrieben wörtlich und unkommentiert wiedergegeben – weil es hier vor allem auf die sachlichen Details ankommt und nicht auf diese oder jene Meinungen.

Im Anhang folgen weitere Informationen, auch aus anderen Revier-Städten. 

Zuerst eine ausführliche Übersicht zu städtischen Kulturveranstaltungen, die in den nächsten Wochen ausfallen werden, übermittelt von Stadt-Pressesprecherin Katrin Pinetzki.

Danach eine gleichfalls längere Aufstellung aus dem Dortmunder Mehrsparten-Theater, auch das Konzerthaus betreffend, übermittelt von Theater-Pressesprecher Alexander Kalouti.

Wir zitieren:

„Öffentliche Kulturveranstaltungen fallen bis Mitte April aus – Museen, Bibliotheken und U bleiben geöffnet – Unterrichtsbetrieb in VHS- und Musikschule läuft weiter

Die Kulturbetriebe der Stadt Dortmund, das Theater Dortmund und das Konzerthaus Dortmund sagen alle ihre öffentlichen Veranstaltungen bis Mitte April ab. Die Regelung gilt ab morgen (12. März) und ist unabhängig von der Zahl der erwarteten Besucherinnen und Besucher. Damit hofft die Stadt, Infektionsketten zu unterbrechen und die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.

Es fallen aus:

  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund,
  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Theater Dortmund: Oper, Ballett, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater, Konzerte, Akademie für Theater und Digitalität,
  • Veranstaltungen, Ausstellungseröffnungen und Führungen in den Städtischen Museen: Museum Ostwall im Dortmunder U, Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Westfälisches Schulmuseum, Kindermuseum Adlerturm, Hoesch-Museum, Brauerei-Museum, schauraum: comic + cartoon,
  • städtische Veranstaltungen im Dortmunder U (z.B. auf der UZWEI, in der Bibliothek „Weitwinkel“, Veranstaltungen in der Reihe „Kleiner Freitag“),
  • Veranstaltungen und Festivals im Dietrich-Keuning-Haus (der Kinder- und Jugendbereich hat geöffnet!),
  • Lesungen und andere Veranstaltungen in den Bibliotheken und im Studio B,
  • Konzerte und Veranstaltungen der Musikschule (der Unterricht findet statt!),
  • Vorträge und andere Veranstaltungen der VHS (die Kurse und Workshops finden statt!),
  • Vorträge, Lesungen und andere Veranstaltungen in Stadtarchiv und in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache,
  • Konzerte und andere Veranstaltungen im Institut für Vokalmusik,
  • Spaziergänge und Fahrradtouren zur Kunst im öffentlichen Raum,
  • Veranstaltungen des Kulturbüros (Ausstellungseröffnungen im Torhaus Rombergpark, Gitarrenkonzerte in der Rotunde).

(…)

Der Kartenverkauf für Konzerte und Aufführungen in Theater und Konzerthaus für Vorstellungen nach Ostern läuft weiter.

Alle Theater- und Konzerthauskunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden kontaktiert. Wenn möglich, werden ausfallende Vorstellungen nachgeholt. Die Kunden werden über mögliche neue Termine sowie die Rückgabe von Tickets benachrichtigt.“

Weitere Informationen gibt es auf den Webseiten von Konzerthaus und Theater und auf www.dortmund.de

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Blick aufs Dortmunder Schauspielhaus. (Foto: Bernd Berke)

Wichtige Informationen zu den Vorstellungen des Theaters Dortmund und des Konzerthauses Dortmund:

„Alle Vorstellungen bis einschließlich 15. April 2020 finden nicht statt.

Aufgrund des Erlasses der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen finden im Konzerthaus Dortmund und im Theater Dortmund bis einschließlich 15. April 2020 keine öffentlichen Veranstaltungen statt. Konzerthaus-Intendant Dr. Raphael von Hoensbroech und der Geschäftsführende Direktor des Theater Dortmund Tobias Ehinger unterstützen diese Vorgabe und bedauern zugleich, dass so viele erstklassige Konzerte und Vorstellungen abgesagt werden müssen.

Alle Kunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden informiert. In den kommenden 14 Tagen arbeiten wir intensiv daran, für die ausgefallenen Vorstellungen Ersatztermine zu finden. Die Ticketingstellen beider Häuser haben weiterhin geöffnet und der Kartenverkauf für Veranstaltungen nach Ostern läuft weiter. Das Restaurant Stravinski und die Klavier & Flügel Galerie Maiwald am Konzerthaus Dortmund bleiben ebenfalls bis auf weiteres geöffnet.

Das Konzerthaus Dortmund bietet für seine Eigenveranstaltungen folgende Regelungen: Für Ersatztermine behalten Tickets ihre Gültigkeit. Sollten Kunden an dem neuen Termin verhindert sein, wenden sie sich bitte telefonisch an das Konzerthaus-Ticketing unter T 0231 – 22 696 200. Sollte kein Ersatztermin gefunden werden, sendet das Konzerthaus an die Kunden einen Gutschein über die Höhe des gezahlten Kartenpreises, der für alle kommenden Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund einlösbar ist. Bei weiteren Fragen zur Rückerstattung steht das Ticketing ebenfalls gerne zur Verfügung. Für Partnerveranstaltungen können abweichende Regelungen gelten.

Das Theater Dortmund bietet folgende Regelungen: Bei Nichtwahrnehmung des Ersatztermins können die Karten vor dem jeweiligen Ersatztermin umgetauscht werden. Darüber hinaus bietet das Theater Dortmund folgende Kulanzregelungen für die Kartenrücknahme an: Kunden können die für diesen Zeitraum im Vorverkauf bereits erworbenen Karten bis Ende der Spielzeit 2019/20 im Kundencenter unter Vorlage der Originalkarten in spätere Alternativvorstellungen eintauschen oder in Wertgutscheine umwandeln. Bei Abonnentinnen und Abonnenten können die Karten in Abo-Gutscheine innerhalb der jeweiligen Sparte umgewandelt werden, die aus Kulanz auch für die nächste Spielzeit einlösbar sind. Karten, die bei externen Vorverkaufsstellen erworben wurden, können nur an diesen zurückgegeben werden. Für Rückfragen steht das Ticketing des Theater Dortmund unter der Telefonnummer 0231 – 50 27 222 gerne zur Verfügung.

Wir stehen weiterhin in engem Kontakt mit den zuständigen Behörden und informieren auf unseren Websites über alle weiteren aktuellen Entwicklungen, die den Spielbetrieb unserer Häuser betreffen.“

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Ausgewählte Ergänzungen (ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit)

12. März:

Die Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA hat die für 28./29. März geplante „Maker Faire Ruhr“ abgesagt, ein Erfinder- und Mitmach-Festival, das im Vorjahr einige Tausend Besucher(innen) mobilisiert hat. Nachtrag am 16. März: Die DASA schließt jetzt bis auf Weiteres ganz.

Die in Dortmund ansässige Auslandsgesellschaft streicht bis zum 15. April alle öffentlichen Veranstaltungen.

Das Szenetheater „Fletch Bizzel“ folgt dem Beispiel der städtischen Kultureinrichtungen und sagt alle Veranstaltungen bis Mitte April ab.

Auch im Fritz-Henßler-Haus gibt es bis Mitte April keine öffentlichen Auftritte.

Im Dortmunder Literaturhaus ist ebenfalls bis 15. April Veranstaltungs-Pause.

Die Messe „Creativa“ in den Dortmunder Westfalenhallen ist gleichfalls abgesagt und auf Ende August verschoben worden.

13. März:

Theater Dortmund: Alle Sparten haben ihre Spielpläne für diese und die kommende Saison gründlich umgeschichtet.

Schauspielhaus Bochum: Keine Veranstaltungen mehr (auch nicht mit weniger als 100 Personen). Sämtliche Aufführungen fallen aus – vorerst bis 19. April. Ähnliches gilt fürs Theater an der Ruhr in Mülheim, fürs Theater Oberhausen und das Westfälische Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel.

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) streicht alle öffentlichen Veranstaltungen in seinen Einrichtungen und schließt ab morgen (14. März) seine insgesamt 18 Museen, darunter das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster, das Westfälische Industriemuseum mit seiner Zentrale in Dortmund (Zeche Zollern) und das LWL-Museum für Archäologie in Herne.

Das Duisburger Lehmbruck-Museum bleibt ab Samstag (14. März) zunächst bis zum 19. April geschlossen.

Das Museum Folkwang in Essen und das Emil Schumacher Museum in Hagen setzen alle Veranstaltungen bis auf Weiteres aus.

Die Kunstmesse Art Cologne (geplant für April) ist abgesagt worden.

14. März:

Das „Dortmunder U“ und das Museum Ostwall (im „U“) haben alle Veranstaltungen gestrichen. (Inzwischen ist das Haus geschlossen).

Dortmund: Keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr

15. März:

In einer Sondersitzung hat der Verwaltungsvorstand der Stadt Dortmund gestern beschlossen, dass ab heute (Sonntag, 15. März) bis auf Weiteres keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr stattfinden dürfen. Gaststätten und Restaurants dürfen vorerst geöffnet bleiben.

Museen, Bibliotheken und Sportstätten geschlossen

Der Krisenstab der Stadt Dortmund hat heute (Sonntag, 15. März) getagt und angeordnet, Kultur- und Freizeiteinrichtungen zu schließen. In diesem Sinne werden bis auf Weiteres die städtischen Museen, die VHS, die Bibliotheken und die Musikschule sowie die städtischen Hallenbäder, Sporthallen und Sportplätze geschlossen.

Siehe dazu auch: www.dortmund.de

16. März

Auch anderorts bleiben ab sofort die Museen geschlossen, so z. B. in Essen (Folkwang), Bochum (Kunstmuseum) und Wuppertal (Von der Heydt).

Das Frauenfilmfestival Dortmund/Köln fällt aus.

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Aber machen wir’s kurz:

Jetzt sind alle Museen geschlossen. Und alle Kinos auch. Und alle Bühnen.

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Weitere Nachträge/Aktualisierungen

24. März

Das Dortmunder Festival Klangvokal (geplant ab 17. Mai) musste ebenfalls abgesagt werden. Möglichkeiten für Nachholtermine (September 2020 bis Juni 2021) werden derzeit geprüft. Das zugehörige Fest der Chöre soll vom 13. Juni auf den 12. September verschoben werden. Einzelheiten: www.klangvokal-dortmund.de

25. März

Die Ruhrfestspiele, die vom 1. Mai bis zum 13. Juni in Recklinghausen hätten stattfinden sollen, sind gleichfalls abgesagt. Teile des geplanten Programms sollen nach Möglichkeit im Herbst nachgeholt werden.

Das Klavierfestival Ruhr, ursprünglich ab 21. April geplant, soll nun erst am 18. Mai starten. Die vom 21. April bis 17. Mai geplanten 23 Konzerte sollen nach den Sommerferien und im Herbst nachgeholt werden.

Die Mülheimer Stücketage (geplant 16. Mai bis 6. Juni) sind abgesagt worden.

27. März

Neuester Stand beim Klavierfestival Ruhr: Sämtliche bis Ende Mai geplanten Konzerte werden auf die Zeit nach den Sommerferien bzw. in den Herbst 2020 verlegt. Der Spielbetriebwird voraussichtlich erst Anfang Juni (Woche nach Pfingsten) beginnen. Näheres unter www.klavierfestival.de/nachholtermine

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Nähere Infos auf den jeweiligen Homepages

 




Corona: Viele Absagen für Theater, Oper und Konzert in NRW – und auch jenseits der Landesgrenzen

Sagt bis 19. April alle Vorstellungen ab: das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. (Foto: Werner Häußner)

Für die Kulturszene in NRW hat das Corona-Virus bereits Auswirkungen. Hier ein erster Rundblick:

Die Maßnahmen, die eine weitere Verbreitung von Sars-CoV-2 – so heißt das tückische Kleinteilchen – hemmen sollen, führten bereits gestern, 10. März, zur Einstellung des Spielbetriebs des Musiktheaters im Revier in Gelsenkirchen bis voraussichtlich 19. April.

Soeben hat auch das Theater Hagen alle Vorstellungen im Großen Haus – nicht aber in den kleineren Spielstätten – abgesagt. In Dortmunder Konzerthaus sind der Auftritt von Bodo Wartke am heutigen 11. März auf den 23. Juni verschoben und alle öffentlichen Veranstaltungen bis 15. April abgesagt. Und nun hat auch das Beethovenfest Bonn alle Konzerte zwischen 13. und 22. März abgesagt,

Seit dem Erlass des Gesundheitsministeriums vom 10. März sollen die örtlichen Behörden Veranstaltungen mit mehr als 1.000 zu erwartenden Besucherinnen und Besuchern grundsätzlich absagen. Liegt die Zahl darunter, sei – wie bisher – eine individuelle Einschätzung der örtlichen Behörden erforderlich, ob und welche infektionshygienischen Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, heißt es auf der Homepage der Landesregierung.

Düsseldorf deckelt die Zahl der Besucher

Während bei der Theater und Philharmonie (TuP) Essen die Entscheidungsfindung noch im Gang ist, hat sich die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf entschieden, vorerst weiterzuspielen, den Verkauf von Karten aber so zu deckeln, dass die Zahl von 1.000 Menschen im Raum (Besucher und Mitwirkende) nicht überschritten wird. Auch die Wuppertaler Bühnen führen momentan den Spielbetrieb weiter. Die Historische Stadthalle begrenzt ihren Kartenverkauf ebenfalls, damit die 1000er-Marke nicht überschritten wird.

Nicht – oder noch nicht – betroffen scheinen die Museen: Das Essener Folkwang Museum sagt zwar seine Ausstellungseröffnung zu Mario Pfeifer, Black/White/Grey (am 12. März, 19 Uhr) ab, hat aber ansonsten wie üblich geöffnet. Auch die Beethoven-Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn bleibt unberührt.

In Sachsen spielt man vorerst weiter

Ein Blick über die Grenzen: In Bayern sind alle Staatstheater geschlossen, die Theater in Bamberg, Würzburg und Regensburg haben bereits nachgezogen und ihre Vorstellungen bis Mitte April abgesagt. In Wien schließen Burgtheater, Staats- und Volksoper. Auch in den drei Berliner Opernhäuser gibt es bis 19. April keine Vorstellungen. Sachsen dagegen meldet derzeit keine Absagen: Semperoper, Staatsoperette Dresden, Theater Chemnitz spielen, und auch die Landesbühnen Sachsen kündigen die Premiere von Heinrich Marschners „Der Vampyr“ in der Regie von Manuel Schmitt – erfolgreicher Regisseur von Bizets „Perlenfischern“ in Gelsenkirchen – weiterhin für den 14. März an.

Fatale Folgen haben die Schließungen und Absagen für freie Künstler, vor allem, wenn Verträge keine Ausfallhaftung vorsehen. Sechs Wochen ohne oder mit deutlich vermindertem Einkommen führen in solchen Fällen schnell in eine prekäre Lage. Es wird sich zeigen, ob die Institutionen bzw. die Geldgeber zu unbürokratischen und großzügigen Lösungen bereit sind. Der Präsident des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, hat bereits einen Notfonds gefordert – „sehr schnell und mit wenig Bürokratie“.