Der Mensch zwischen Tieren und Robotern: Windungsreiche Münsteraner Schau rund ums Gehirn

Geheimnisvoll und etwas gruselig: Blick in die „Galerie der Gehirne". (Foto: Bernd Berke)

Geheimnisvoll und etwas gruselig: Blick in die „Galerie der Gehirne“. (Foto: Bernd Berke)

Es gibt keinen Grund zur darwinistischen Überheblichkeit: Im Vergleich zu den Tieren hat der Mensch gar nicht so furchtbar viele exklusive Anlagen. Mit solchen Erkenntnissen lehrt die neue Münsteraner Ausstellung „Das Gehirn. Intelligenz, Bewusstsein, Gefühl“ auch etwas Bescheidenheit oder gar Demut.

Gleich am Beginn steht das größte Exponat, ein veritables Londoner Taxi aus den 1970er Jahren, in das man auch einsteigen soll. Nanu? Was hat das mit dem Gehirn zu tun? Nun, hier erfährt man, dass angehende Taxifahrer, die sich den komplizierten Londoner Stadtplan einpauken, nachhaltig von der Mühsal profitieren. Anschließend sind die Hirnbereiche, die mit Orientierung zu tun haben, deutlich ausgeprägter als vorher. Eine frohe Botschaft, übrigens auch und gerade für ältere Probanden.

Trio der Ausstellungsmacherinnen (von links): Dr. Julia Massier, Nicola Holm und LisaKlepfer) mit dem größten Exponat, inem original Londoner Taxi. (Foto: LWL/Steinweg)

Die drei Ausstellungsmacherinnen (von links): Julia Massier, Nicola Holm und Lisa Klepfer mit dem größten Exponat, einem original Londoner Taxi. (Foto: LWL/Steinweg)

Imposante Fülle der Exponate

Im LWL-Museum für Naturkunde werden 1200 Quadratmeter Ausstellungsfläche mit 770 Objekten rund ums Thema Gehirn „bespielt“. Damit ist es deutschlandweit die bei weitem größte Ausstellung zu dieser Materie. An über 60 Medienstationen können Besucher(innen) weiterführende Informationen sammeln oder ihre kognitiven Fähigkeiten erproben, sich jedenfalls zum Nachdenken und Nachfühlen anregen lassen. Zwei bis drei Stunden Zeit sollte man möglichst mitbringen, um die Fülle halbwegs auszuschöpfen. Aber gemach! Die Schau dauert beruhigende 16 Monate.

Ausgestopfte Tiere, die man gemeinhin in Naturkundemuseen erwartet, sind hier auch reichlich zu finden, doch sind sie nicht das Eigentliche, sondern dienen eher als sinnfällige Dekoration. Der themengerecht windungsreiche, ansprechend gestaltete Rundgang führt in etliche Bereiche, die man mit dem Gehirn assoziiert.

Da geht es zunächst um anatomische Voraussetzungen und Entwicklungen, sodann um natürliche und künstliche Intelligenz, Wahrnehmung, Gefühle, Ich-Bewusstsein, Schlaf und Traum, psychische Erkankungen, Drogen und schließlich um Verhaltenssteuerung (Stichwort „Gehirnwäsche“) des für allerlei Einflüsse empfänglichen, ja anfälligen Organs. Überhaupt erweist sich die Schau keineswegs als rein naturkundlicher Streifzug, sondern als Unterfangen, das weit in psychosoziale Sphären reicht.

MM7 Selector mit der groben Mechanik

Das eingangs erwähnte Taxi ist dabei nicht das einzige auffällige Exponat. Da wäre zum Beispiel KIM, ein Roboter mit 3D-Kamera und ausgeklügelter Sensorik (Kostenpunkt rund 40.000 Euro), der leise auf Rollen durch die Räume gleitet, zielsicher zu bestimmten Exponaten hinführen und sie einigermaßen eloquent erklären kann. Er wirkt in gewissen Momenten freilich noch etwas störrisch. Aber keine Angst: Er fährt einen nicht um, sondern bremst stets rechtzeitig! Das hat ein ähnliches Exemplar auch schon in der Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA bewiesen.

KIM steht übrigens für „Künstliche Intelligenz im Museum“. Einer seiner frühen Vorläufer, der Maschinenmensch MM7 Selector, ist gleichfalls zu bestaunen. Das ziemlich ungeschlacht aussehende Monstrum wurde bereits 1961 vom Visionär Claus Christian Scholz-Nauendorff entwickelt, ist aber kein echter Roboter im heutigen Sinn. Es wollte sozusagen erst einer werden und musste sich noch mit grober Mechanik begnügen.

Früher Vorläufer heutiger Roboter: der „MM7 Selector", eine kybernetische Maschine von 1961/62. (Foto: © Technisches Museum Wien)

Früher Vorläufer heutiger Roboter: der „MM7 Selector“, eine kybernetische Maschine von 1961. (Foto: © Technisches Museum Wien)

Daran knüpfen sich Fragen nach dem heutigen Stand der Robotertechnik. Man ist drauf und dran, ihnen beizubringen, angemessen auf menschliche Mimik und somit auf Emotionen einzugehen – vielleicht zeichnet sich da eine (Neben)-Lösung im Pflegebereich ab? Gleichzeitig weckt derlei Fortschritt natürlich auch Ängste: Werden wir Menschen eines (nicht so fernen?) Tages in die hinteren Reihen rücken und von Robotern nicht nur entlastet, sondern regiert werden?

Zwei Schnittproben von Einsteins Hirn

Zurück zur Natur: Gibt es äußere Merkmale für besonders kluge Gehirne? Schon vorab wurden zwei Exponate besonders beworben, nämlich in einer Art Schrein präsentierte, haudünne Schnitte durchs Gehirn des Genies Albert Einstein, die aus einem Museum in Philadelphia (USA) eingeflogen wurden. Freilich hat keiner der vielen, vielen Hirnforscher, die solche Schnitte untersuchen durften, bisher spezielle physische Merkmale der überragenden Intelligenz Einsteins nachweisen können – wie denn überhaupt dieses Fachgebiet immer noch und immer wieder Rätsel bereithält. Auch das kann man eher beruhigend finden.

Nebenbei bemerkt: Zur Pressekonferenz lag auf jedem Stuhl u. a. ein Stück Seife in Form eines Gehirns. Die morbide kleine Morgengabe war mit einem Zettel versehen, auf dem „Gehirnwäsche“ stand. Beim Museumsträger, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), hat man offenbar schwarzen Humor.

Etwas gruselig kann einem auch in der geheimnisvoll abgedunkelten „Galerie der Gehirne“ zumute werden. Hier sind gleich 71 echte, in Gläsern konservierte Hirne verschiedener Lebewesen zu sehen, die frappierende anatomische Vielfalt reicht von Frosch und Fledermaus bis zum Elefanten. Die allermeisten Beispiele stammen aus der umfangreichen „Edinger-Tiergehirnsammlung“. Sie werden ergänzt durchs Gehirn und das filigran verzweigte Nervensystem eines Berberaffen, präpariert vom nicht ganz unumstrittenen Plastinator Gunther von Hagens.

Die Wahrnehmung eines Elefanten

An einer anderen Station kann man sich – ein wenig – hineinversetzen in die Wahrnehmung diverser Tiere, die ja ganz andere Farbspektren und Tonfrequenzen aufnehmen können. Auf einer Vibrationsplatte stehend, kann man etwa das Sensorium eines Elefanten nachempfinden, der höchst sensibel auf geringste Erderschütterungen reagiert. Grotesk wirken jene Menschen- und Tiermodelle, deren tastempfindlichste Körperstellen entsprechend optisch vergrößert wurden. Deshalb hat die scherzhaft so genannte „Homunculine“ riesige Finger. Und das Kaninchen… Aber sehen Sie selbst!

Visualisierte Tastempfindlichkeit: „Homunculine", Kaninchen und Maulwurf. (Foto: Bernd Berke)

Visualisierte Tastempfindlichkeit: „Homunculine“, Kaninchen und Maulwurf. (Foto: Bernd Berke)

Sogar ein kleines, unscheinbares Bild von Pablo Picasso ist zu sehen, daneben vom Computer programmierte „Kunst“ – und die Hervorbringung eines Schimpansen, der angeblich nach und nach sogar einen „Stil“ entwickelt haben soll. Das bodenlose Fass, was nun Kunst und wer ein Künstler sei, will das Museum mit diesem Arrangement eigentlich nicht aufmachen. Zu erwarten steht jedoch, dass die einen oder anderen Betrachter dies trotzdem tun.

Auch Tiere berauschen sich

Man kann längst nicht alles erwähnen, so vielfältig und reichhaltig ist diese Ausstellung. Schon beim zügigen Rundgang lassen sich einige erstaunliche Einsichten gewinnen. So etwa die, dass nicht nur Menschen (allerdings erst mit etwa 18 Monaten), sondern auch manche Tierarten ein rudimentäres Ich-Bewusstsein entwickeln und sich selbst von anderen Exemplaren ihrer Spezies zu unterscheiden wissen. Ihnen ist offenbar auch vor dem Spiegel klar, dass sie sich selbst sehen. Und dabei reden wir nicht nur z. B. über Affen, Delfine und Hunde, denen man das wohl zugetraut hat, sondern beispielsweise auch über Schweine.

Dass Tiere ängstlich oder aggressiv sein können, weiß man. Die Ausstellung begibt sich darüber hinaus auf die aussichtsreiche Spur der Vermutung, dass sie auch ein (etwas anders gelagertes) Gefühlsleben haben. Noch in einer weiteren Hinsicht verhalten sich Tiere wie Menschen, sie berauschen sich nämlich ganz gezielt mit allerlei „Drogen“. So bevorzugen manche Arten Rauschpilze oder Mohn, andere wiederum pfeifen sich das Sekret von Tausenfüßlern ‚rein, um es mal salopp zu sagen. Da gerät ihr Gehirn gleichsam ins Schwirren, Schwanken und Tanzen.

„Das Gehirn. Intelligenz, Bewusstsein, Gefühl.“ LWL-Museum für Naturkunde, Münster, Sentruper Straße 285 (neben dem Allwetterzoo). Vom 29. Juni 2018 bis zum 27. Oktober 2019. Geöffnet Di bis So 9-18 Uhr. Eintritt 6,50 Euro (Erwachsene), 4 Euro (Kinder), 14 Euro (Familien).

Weitere Infos: www.das-gehirn.lwl.org




„Der totale Rausch“: Erhellendes Buch über Drogenkonsum in der NS-Zeit

Es ist ganz offensichtlich ein blinder Flecken in der wissenschaftlichen Forschung über das NS-Regime, dem sich der Schriftsteller Norman Ohler in seinem Buch „Der totale Rausch“ zuwendet. Der Absolvent der Hamburger Journalistenschule ist bei Recherchen in diversen Archiven (u.a. Militärarchiv Freiburg, Bundesarchiv in Koblenz) auf bislang unbeachtete oder unbekannte Dokumente aus der Nazi-Zeit gestoßen, die Rückschlüsse auf enormen Drogenkonsum zulassen.

Rauschgifte waren nicht nur unter NS-Größen verbreitet, sondern auch beim Volk und den Soldaten. Sie alle kamen ganz legal an Mittel, die heute unter Bezeichnungen wie Crystal Meth existieren. Damals hieß der Stoff Pervitin. Die methamphetaminhaltigen Substanzen wirkten leistungssteigernd, hellten die Stimmung auf, verringerten das Schlafbedürfnis drastisch und förderten schließlich auch die Libido.

ohlerJanusköpfige Haltung

Wer nicht so sehr auf Pillen stand, der konnte auch Pralinen kaufen, in denen Süßes mit sinnestäuschenden Mitteln vermengt war. Die damaligen Temmler-Werke in Berlin brachten das Mittel auf den Markt und das neue Produkt fand reißenden Absatz.

Dass das Regime den Konsum nicht nur duldete, sondern sogar noch forcierte, steht jedoch, wie der Autor hervorhebt, im vollkommenen Gegensatz zum NS-System. Drogen waren (eigentlich) verboten, 1936 führten die Nazis eine reichsweite Drogenpolizei ein und Süchtige selbst wurden inhaftiert, viele von ihnen ermordet.

Zu den Erklärungsversuchen des Verfassers für diese janusköpfigen Umgang mit Rauschmitteln gehört der Hinweis auf die Olympischen Spiele 1936 in Berlin, bei denen zahlreiche Sportler durch die Einnahme von Amphetamin Erfolge feierten. Bewusstseinserweiternde Medikamente passen ferner zu einer Zeit und einer Ideologie, die Aufbruchstimmung erzeugen will und sowohl Leistung als auch Stärke propagiert.

Pervitin für Volk und Soldaten

Doch nicht nur das Volk sollte sich mit Pervitin betäuben können, noch wichtiger war den Nazis offenbar, dass schon gleich zu Beginn des Krieges für die Soldaten die Pillen in ausreichenden Mengen vorhanden waren. Das lässt sich aus zahlreichen Belegen und Quellen erschließen. Millionen von Packungen wurden für die Truppen bestellt, wobei das Regime wenige Wochen vor dem Überfall auf die Sowjetunion den Hersteller in die Pflicht nahm. In einem Dokument der Reichsstelle Chemie heißt es, dass die Temmler-Werke für die Sicherung der Fertigung verantwortlich sind – verbunden mit der Notiz, dass das Mittel Pervitin „kriegsentscheidend“ ist.

Norman Ohler führt zahlreiche Situationen an, in denen die Soldaten durch die Einnahme des Mittels ihre Müdigkeit überwanden, auf Schlaf verzichten konnten oder ihre Niedergeschlagenheit überwanden. Es gab beim Heer sogar Erhebungen über die Wirkung des „Schlafbeseitigungsmittels Pervitin“. Dass sich die einfachen Soldaten, aber auch die Führungseliten auf diese Weise aufputschen konnten, stellt Norman Ohler in Beziehung zu den militärischen Erfolgen des Blitzkriegs im Westen. Dass der Feldzug gegen die Sowjetunion zur Niederlage von Stalingrad führen sollte, ließ sich allerdings auch durch noch so sehr gedopte Soldaten nicht verhindern. Vielmehr führten die Allmachtsvorstellungen Hitlers und die daraus resultierenden falschen strategischen Entscheidungen zum Untergang, stellt Ohler heraus.

Auch Hitler war nicht abstinent

Hitler selbst war keineswegs „abstinent“, sein Leibarzt Theodor Morell hatte schon Ende der 30er Jahre damit begonnen, den Patienten A, wie er den Diktator in seinen Aufzeichnungen nennt, mit Pervitin zu versorgen. Doch es blieb nicht nur bei diesem einen Mittel. Vitaminschocker waren da noch eher harmlosere Varianten, denn je länger der Krieg dauerte und je deutlicher klar wurde, dass Deutschland den Krieg verlieren wird, um so stärker wurden auch die Dosierungen weiterer Substanzen wie Kokain oder das Schmerzmittel Eukodal.

Sehr anschaulich beschreibt der Autor, wie sich Hitler immer mehr abkapselt und entsprechend mehr Stimmungsaufheller benötigt. Hitlers Leibarzt charakterisiert der Autor als einen nach Ansehen lechzenden Menschen, dem es gelungen ist, Hitlers Vertrauen zu gewinnen. So stolz er auch darauf ist, so tief erschüttert ist Morell, als ihn der „Führer“ (wenige Tage vor seinem Selbstmord) entlässt. Morell geriet übrigens nach dem Krieg in amerikanische Gefangenschaft und starb 1948.

Neben Hitler kommt auch Reichsfeldmarschall Göring nicht ohne Drogen aus. Als die Alliierten ihn festnehmen, hat er 24000 Tabletten bei sich.

Dass alle diese Substanzen Körper und Geist der Konsumenten schädigen war den Nazis sehr wohl bekannt und es gab in den Reihen von damaligen Wissenschaftlern durchaus kritische Stimmen, die vor ständigem Gebrauch warnten. Norman Ohler ist auf einen Anweisungszettel für die Soldaten gestoßen, wie sie umsichtig mit Pervitin umgehen sollen. Der Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll dürfte von solchen Ratschlägen kaum etwas gewusst haben, denn er ist, wie Ohler schreibt, als Soldat abhängig geworden.

Um herauszubekommen, welche Wirkung Drogen bei mehrmaliger Einnahme direkt nacheinander haben, gab es in mehreren KZs Menschenversuche. Zum Teil haben die Gefangenen vier Tage lang kein Auge zugetan, sie wurden künstlich wach gehalten.

Norman Ohler stellt klar, dass die gewonnen Erkenntnisse über den Drogenkonsum in der NS-Zeit keineswegs Sensationszwecken dienen, noch die Verbrechen erklären oder gar entschuldigen sollen. Der Autor sieht in den Rauschgiften ein „künstliches Mobilisierungspotenzial“, um das Volk und seine Soldaten bei Laune zu halten. Für den (im November 2015 verstorbenen) Historiker Hans Mommsen, der als Professor vor allem in Bochum lehrte und fürs vorliegende Buch ein Nachwort schrieb, besteht der Erkenntnisgewinn Ohlers unter anderem darin, dass die von den Nazis propagierte idealistische Motivation stark relativiert werde.

Norman Ohler: „Der totale Rausch. Drogen im Dritten Reich“. Mit einem Nachwort von Hans Mommsen. Kiepenheuer & Witsch. 364 Seiten, 19,99 Euro.




Wenn uns die Gier beim Kragen packt – über ein menschliches Grundgefühl

Von Bernd Berke

Ja, darüber kann man sich von Herzen moralisch empören: Wie schrecklich gierig sind doch jene Menschen, die viele Millionen auf dem Konto haben und dann auch noch Steuern hinterziehen! Oder Leute, die an der Börse zocken, bis nichts mehr geht. Anlässe zur Entrüstung gab’s jüngst genug. Aber ist man selbst frei von solchen Regungen?

Wohl kaum. Die Gier ist zwar mit einiger Mühe halbwegs beherrschbar, doch gehört sie zur menschlichen Grundausstattung. Erst wenn wir Lust- und Glückshormone wie das Dopamin abgeschafft hätten, wäre vielleicht auch die Gier verschwunden. Bei allem furchtsamen Respekt vor der Gentechnik: Damit ist auf mittlere Sicht denn doch nicht zu rechnen.

Geiz und Neid sind nur die Spiegelbilder

Unsere Wirtschaft und das Profitstreben, auf dem sie basiert. sind nicht allein rational zu erklären. In Banken- und Börsenkrisen ahnen wir, wie sehr das ganze Metier von Stimmungen, Mutmaßungen (eben: Spekulationen) und schwankenden Gefühlen abhängt. Wahrlich keine, verlässliche, logische Mechanik.

Wenn uns die Gier beim Kragen packt, so tritt noch ein Effekt ein, der an die sprichwörtlichen Lemminge erinnert. Viele tun irgendwann mit, wenn eine anschwellende Masse etwas vormacht; schon aus Angst, eine Gewinnchance zu verpassen. Auch da ist’s wie im Sprichwort: Den Letzten beißen die Hunde. Doch der hat dann hoffentlich wenigstens etwas fürs weitere Leben gelernt.

Ohne Habgier würde ja der ganze Kapitalismus nicht funktionieren. Wenn keiner mehr (und immer noch mehr) haben wollte als die anderen, so würde der Antrieb zu Geschäften aller Art fehlen. Die Gier besiegt auch die Angst vor etwaigen Risiken.

Maßlosigkeit gehört wesentlich dazu. Man kriegt den Hals nicht voll. Es ist wie beim steinreichen Enterich Dagobert Duck, der bekanntlich in Geld und Gold badet. Die Schatzkammern können nie groß genug sein. Und wehe, es fehlt ein einziger Taler.

Wer ängstlich seinen Besitz hortet, verhält sich nur spiegelbildlich. Beim Geiz ist gleichfalls Habgier der Antrieb – wenn auch in defensiver Spielart. Doch die „Geiz-ist-geil“-Phase, so hämmert man uns weiblich ein, sei sowieso vorüber. Im Zeichen des (schon brüchigen?) Aufschwungs darf und soll wieder gescheffelt und geprasst werden. Keine Zeit für Askese oder fürs „Maßhalten“, wie es einst der Altkanzler Ludwig Erhard empfahl. Statt dessen heißt es wieder: „Ich will alles – und zwar jetzt.“

Die katholische Kirch rechnet die Habgier (Lateinisch: avaritia) zu den berühmten „Sieben Todsünden“ – ebenso wie den Neid. Ein beliebtes, weil schauriges Thema in der Kunst. Nicht nur Hieronymus Bosch und Otto Dix haben sich drastisch und orgiastisch ausgemalt, wie der teuflische Sündenpfuhl wohl ausschauen mag.

Die Gier kann sich, weil sie zu Sucht und Exzess tendiert, wahl- und zügellos auf schier alles richten. Gier nach Geld ist beileibe nicht die einzige Form. Man denke nur an die rauschhafte Gier nach Sex oder Drogen. Eine solche Aufzählung könnte schier endlos geraten. Auch hier ist wohl die Biochemie der Hormone am Werk. Sie gibt keine Ruhe. Gier ist ein großes Lebensthema, das alle betrifft. Und Natürlich hat sie auch zutiefst mit unserer Sterblichkeit zu tun. Lebten wir ewig, müssten uns nicht ständig einbilden, etwas Unwiederholbares zu yersäumen und ein für allemal „zu kurz“ zu kommen.

 

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HINTERGRUND

Auch für Künstler ein Thema

  • Die sieben Todsünden nach dem Verständnis der katholischen Kirche:
  • Stolz, Neid, Zorn, Faulheit, Geiz, Gier und Wollust.
  • Das Thema hat immer wieder Künstler inspiriert. Das Spektrum reicht von Bert Brechts „Die sieben Todsünden der Kleinbürger“ bis zum Song der Simple Minds:„Seven Deadly Sins“.
  • „Gier“ ist ein häufiger Titel von Kunstwerken. Zu nennen sind etwa Erich von Stroheims monumentaler Film „Gier“ (Greed) von 1924, Gabriele Wohmanns Erzählsammlung „Habgier“ oder der Roman „Gier“ von Elfriede Jelinek.
  • Neueres Sachbuch: Hans Leyendecker „Die große Gier“ (Rowohlt, 299 S., 19,90 €).



Ahnungen vom Wesen und Wirken der Pflanzen – Herman de Vries will unser Natur-Bewußtsein erweitern

Von Bernd Berke

Hagen. Museen zeigen oft das, was es s o nicht mehr gibt, aber vielleicht (wieder) geben sollte. Das Hagener Osthaus-Museum zeigt Pflanzen. Vorbotschaft drohender Zeiten, in denen wir die Natur nur noch in sorgsam behüteten Relikten, mithin nur als Vergangenes besichtigen können?

Nicht ganz. Der holländische Künstler Herman de Vries (58) sammelt seit Jahren Pflanzen auf Reisen und an seinem Wohnort im fränkischen Steigerwald, wo er noch eine erstaunliche Vielfalt vorfindet. Aus Marokko, dem Senegal und Indien hat er rund 2000 Beispiele (vornehmlich mit heilenden Wirkstoffen) mitgebracht und jetzt erstmals in solcher Fülle arrangiert: Die Ausstellung „Natural relations“ (Natürliche Beziehungen) hat in Hagen Premiere, geht dann weiter nach Holland und Dänemark.

De Vries erhebt keine Anklagen in Sachen Umwelt, er will uns ein sinnliches Naturerlebnis vermitteln, das man auch mit der Nase nachvollziehen soll. Im Museum verströmen nun botanische Boten fremder Länder betörend-exotische Würzdüfte, während das Steigerwald-Grün schon geruchsweise „deutsche“ Herbheit ahnen läßt.

Rauschmittel im „verschlossenen Paradies“

De Vries will keineswegs die wissenschaftliche Botanik außer Kraft setzen, wohl aber sie versöhnen mit verschüttetem, nicht-rationalem Wissen von Wesen und Wirkung der Pflanzen. Dies bedeutet zugleich den Versuch, die Grenzen zwisehen Wissenschaft, Kunst und Leben zu sprengen und schließt auch „geistbewegende“ (de Vries) Effekte ein, deren pflanzliche Urheber in einem ständig bewachten Gewächshaus gezeigt werden. „Das verschlossene Paradies“ (Werktitel) enthält – vom Tabak über Mohn, Stechapfel und „Traumwurzel“ bis zum Mescalin-Kaktus – Gewächse, die zur Erzeugung von Genuß- und Rauschmitteln taugen. Selbst eine vermeintlich harmlose Zierde wie die Buntnessel zählt übrigens dazu. Aufzucht in Hagens Stadtgärtnerei und Aufstellung im Museum mußten eigens vom Bundesgesundheitsamt genehmigt werden.

Der Künstler proklamiert nicht etwa den Gebrauch solcher Mittel. Im Gegenteil: Er glaubt, daß wir uns so weit von den „Ursprüngen“ entfernt haben, daß wir mit solchen Substanzen gar nicht mehr umgehen können. Gleichwohl hat de Vries einiges am eigenen Leibe erprobt und darüber Buch geführt: Es nennt alle Pflanzen(produkte), die er zu sich genommen hat – von Senf und Blumenkohl bis hin zu Drogen. Der Mensch – letztlich ein Produkt und Abkömmling der Pflanzenwelt?

Blüten, Blätter, Stauden, Samenkörner usw. hat de Vries auf langen Tuch-Bahnen ausgelegt, und zwar auf dem Fußboden, denn: Wachstum habe eben mit Boden zu tun; zudem hätten jene Pflanzen, die er auf Märkten erwarb, zu ebener Erde im Angebot gelegen.

Es gibt keine sprachlichen Hilfen, keine Bezeichnungen – und somit auch keine hinderlichen Wort-Barrieren. Die Funde sind lediglich numeriert. Informationen können später im Katalog (800 Seiten!) nachgeschlagen werden. In der Ausstellung selbst muß man die Sinne bemühen, schauen und schnuppern.

Die Pflanzenreihen sind nicht nach künstlich-ästhetischen Mustern sortiert. Mögliche „Aussage“: Natur, allein und für sich betrachtet, ist schön genug, ihr Formen- und Farben-Reichtum ist immens. Auch rückt die bloße Präsentation in einem Museum diese Exponate bereits in einen ästhetischen Zusammenhang. Doch nicht immer verzichtet de Vries auf nach- und ausdrückliche Kunst-Anstrengung: 108 Pfund Rosenblüten wandelten sich unter seiner Hand zum magischen Kreis namens „rosa damascena“.

Osthaus-Museum. Hagen, Hochstraße 73. Bis 24.9., di-sa 11-18 Uhr, do 11-22 Ubr, so 11- 16 Uhr, montags geschlossen. Eintritt 4 DM, Katalog 50 DM.




Suchtverhalten aller Art: „Mensch ich lieb dich doch“ eröffnet NRW-Kinder- und Jugendtheatertreffen

Von Bernd Berke

Dortmund. Dortmunds Kindertheater hat’s mit der „Roten Grütze“.

Nachdem bereits das Aufklärungsstück „Darüber spricht man nicht“ aus dem Repertoire der Berliner übernommen worden war, folgte nun die Premiere von „Mensch ich lieb dich doch“, ebenfalls aus der „Grütze“-Werkstatt und schon (mittlerweile hinlänglich bekannter) „Klassiker“ des Jugendtheaters. Die Aufführung im nicht ausverkauften Theater am Ostwall eröffnete zugleich das NRW-Kinder- und Jugendtheatertreffen.

Es geht um Sucht und Drogen: Wer ist wann, wo und warum high, „bedröhnt“, „knülle“ oder „schicker“? Die Dortmunder haben das ursprünglich vier Stunden lange Stück gekürzt und zu einer Schlag-auf-Schlag-Revue mit vielen, zuweilen kabarettistischen „Nummern“, typisierten Figuren und jeder Menge Rockmusik (auch so eine Droge!) umgebaut. Das garantiert Kurzweil, birgt aber auch die Gefahr, das Publikum mit bloßen Oberflächenreizen bei der Stange zu halten.

Bestens eingespieltes Ensemble

Dem Thema versucht man auf breitester Front beizukommen: Arbeits- und Liebesrausch sowie Vaters Fernsehsucht, die er sich mit Schnaps und Kettenrauchen verschönt, kommen ebenso vor wie Mutters „kleine Helfer“ (Tabletten), Alkohol auf der Baustelle oder Haschisch in Schule und Jugendheim. Effekt: Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht. Beabsichtigtes Fazit: Alles kann süchtig machen, wenn’s im Leben nicht stimmt. Etwas zu kurz kommen die „Mechanismen“, die zur Sucht führen; in diesem Punkt wirkt die Aufführung etwas hilflos, weil sie im Großen und Ganzen darauf hinausläuft, simplen „Frust“ oder Gleichgültigkeit als Auslöser zu unterstellen.

Dennoch ist es ein Vergnügen, dem gut eingespielten Ensemble zuzusehen. Den Schauspielern (besonders Ulrike Heucke und Ludwig Paffrath) merkt man an, daß sie nicht irgendeinen beliebigen Stoff herunterspielen, sondern an der Thematik selbst interessiert sind. Auch die Musik, die sie abliefern, ist nicht übel, besonders die Parodien auf die „Neue Deutsche Welle“.

Kleine Anmerkung: Ist der gedankenlose Zuruf Gabriele Hintermaiers („Hallo, Spasti!“) unbedingt vonnöten, wenn Ludwig Paffrath in einer Szene wild herumhampelt?