Gegen Diktatur half keine Kunst – Durs Grünbeins Kriegsbuch „Der Komet“

Mit 16 hat Dora bäuerliche Armut und dumpfe Enge ihrer schlesischen Heimat verlassen und ist mit ihrem Freund, dem Metzger Oskar, nach Dresden gezogen. Sie leben bescheiden und erschaffen ihren beiden Töchtern ein kleinbürgerliches Paradies.

Das Geld reicht aus, um in den Tierpark zu gehen und die Kunstschätze der Kulturmetropole zu bewundern. Von Politik halten sie sich fern. Das Gebrüll Hitlers ist ihnen suspekt. Vor dem Schicksal der mitleidlos vertriebenen Juden schließen sie aber die Augen. Und die mit dem Krieg am Horizont aufziehende Katastrophe wollen sie nicht wahrhaben. Obwohl die Front näher rückt und viele deutsche Städte bereits in Schutt und Asche liegen, glauben sie an die Unantastbarkeit und Unverletzlichkeit ihrer glorreichen Stadt.

Dann, in der Nacht auf den 13. Februar 1945, geschieht das Unfassbare: „Mit einem tiefen, gleichmäßigen Brummen kündigte sich das Unheil an, ein gigantischer Schatten senkte sich über die Stadt, der Flügel einer großen Umnachtung.“ Während die Sirenen Alarm schlagen, schweben Fliegende Festungen der Alliierten Richtung Elbtal, öffnen Klappen und Schächte und klinken aus, was sie mitgeführt haben und abliefern sollen: „das ganze perfekt aufeinander abgestimmte Arsenal für ein konzertierten Flächenbombardement, darauf berechnet, den finalen Feuersturm zu entfachen.“

Durch die Ruinen der Stadt irren

Die mit Scharlach auf der Quarantänestation des Dresdner Krankenhauses untergebrachte Dora wird diesen „Weltuntergang“ überleben. Während die Erde bebt, die Häuser zu Staub zerfallen und zehntausende Tote am Wegesrand liegen, wird Dora durch die Ruinen der Stadt irren und sich zu ihren von einer Freundin ins nahe gelegene Pirna gebrachten Kinder durchschlagen. Auch Oskar, der als Koch seinen Dienst an der Ostfront leistet und Zeuge vielfacher Morde ist, entkommt der Apokalypse.

Von seinem Großvater und von seiner Mutter, die als kleines Mädchen beinahe von Sowjet-Soldaten nach Russland verschleppt wurde, hat der in Dresden geborene und sein langem in Berlin und Rom lebende Durs Grünbein in seinem Erinnerungsbuch „Die Jahre im Zoo“ berichtet. Jetzt, in seinem Roman „Der Komet“, steht die Überlebens-Geschichte der Großmutter im Mittelpunkt seines Interesses.

Geblendet vom früheren Ruhm

Der Büchner-Preisträger webt einen literarischen Teppich aus den Erinnerungen und Erlebnissen der Großmutter und seinen eigenen politischen und historischen Recherchen. Grünbein entwirft das Bild einer ebenso starken wie naiven Frau, das Porträt einer Stadt, die sich vom Ruhm der Vergangenheit blenden ließ, und das Sittenbild eines Volkes, das durch Willkür und Gewalt gleichgeschaltet wurde und den nationalsozialistischen Terror geduldet und mitgetragen hat.

Weder märchenhafte Mythen, noch die Schönheit der Kunst oder die „formvollendeten, endgültig ausgereiften Verse“ haben geholfen, das Unfassbare zu verhindern. Gegen Diktatur und Barbarei helfen weder die Kunstschätze im Grünen Gewölbe noch die im Villenviertel „Weißer Hirsch“ geschmiedete Poesie. Seit 1910 am Himmel der Komet Halley erschien und nur knapp an der Erde vorbei schrammte, hat sich die Angst vorm Weltuntergang tief ins Gedächtnis gegraben. „Jetzt kommt er, der Komet, das alles verheeren wird“, denkt Dora, als der Feuersturm losbricht. Und Grünbein ergänzt trocken: Nun ist „der Spaß zu Ende“, erfährt man, was das heißt: „der totale Krieg.“

Durs Grünbein: „Der Komet“. Suhrkamp-Verlag, 286 S., 25 Euro.




„Nun zähl auf, was es gibt“: Durs Grünbeins Gedichtband „Äquidistanz“

Speziell durch Berlin lässt es sich nicht einfach so arglos gehen oder gar unbeschwert flanieren. Viel zu groß ist die Geschichtslast, die hier eigentlich alle Wege beschwerlich macht. Mit diesem (hernach vielfach variierten und verdichteten) Befund beginnt Durs Grünbeins neuer Gedichtband „Äquidistanz“.

Da heißt es etwa im ersten Zyklus:

Schattiger Waldweg, sprich:
zu welchem KL,
Außenlager, Nebenlager,
Arbeitsdienstlager,
Waffendepot, Folterkastell führst du mich?

In der folgenden Strophe, ganz bündig:

und immer kreuzt
eine Vergangenheit den Weg.

Kriege, Diktatur und Teilung haben tiefe Spuren hinterlassen, die hier überall zu finden und kaum zu verwischen sind. Auch die heutige Stadtlandschaft erweist sich – im Gedicht „Der Ort“ – als unwirtliches Brachland:

Keine Heimat: Für die Ausgestoßenen
bloß eine Anhäufung von Steinen.

Das Vergangene ist eben nicht vergangen, es ist zuweilen schrecklich gegenwärtig. Beispielsweise am Landwehrkanal, wo Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ermordet wurden. Oder am Wannsee, wo der industrialisierte Massenmord beschlossen wurde und wo der Dichter Georg Heym im Eis einbrach und mit 24 Jahren jämmerlich starb. Ja, selbst Flohmärkte können bedrückend sein: Dort sind ja lauter Zeugnisse von Gestorbenen versammelt. Oder dies: Mitten in eine Berliner Party bricht die Nachricht vom Terror-Attentat auf dem Breitscheidplatz ein.

Das Kapitel II besteht aus Momentaufnahmen der 1930er Jahre, die wie Grußkarten hingeblättert werden: Berlin, Dresden, Norderney, Hamburg oder Weimar am „Vorabend“ des Zweiten Weltkrieges; letzte Alltagsfreuden, letzte Sommertage in Friedenszeiten, doch schon mit Unheil getränkt. Dann die Feldpost. Harmlos erscheinende, doch verräterische Sätze. Grotesk genug ein Gedicht mit dem Titel „Die Liebe im Dritten Reich“:

Die violette Briefmarke zeigt ihn
im Profil, den Führer der Deutschen.
Der Gedanke: Millionen Zungen
haben ihn damals abgeleckt,
natürlich von hinten nur, unbewußt.

Gewiss: Manche Zusammenhänge oder Details wollen erst einmal erschlossen werden, insofern sind es Gedichte für Wissende. Doch Grünbein gibt sich keineswegs gewollt kryptisch, sondern setzt durchaus oft bei nachvollziehbaren, ja alltäglichen Zuständen und Situationen an. Gelegentlich scheut er nicht einmal Wortspiel-Kalauer (so mit Eid und Eidechse, mit den magnetischen Polen der Erde und dem Land Polen).

Und doch dringt er immer wieder auf neues Gelände vor. Grünbein vermag es auf unnachahmliche Weise, die großen Linien der Historie und das ureigenste Empfinden zu verknüpfen – auch in einem Gedicht auf sein Geburtsjahr 1962, wo von Kubakrise über die Anfänge der Beatles bis hin zur Hamburger Sturmflut so manches eingesammelt wird. Dieses Gedicht endet mit der Aufrufung eines Kunstwerks, das als Nummer 1 am Anfang eines großen Werkverzeichnisses steht. Der Maler wird nicht genannt, es handelt sich aber zweifellos um Gerhard Richter und sein Bild „Tisch“ (just von 1962). Hat es etwas zu bedeuten, dass Richter (Jahrgang 1932) und Grünbein gebürtige Dresdner sind?

Neben Berlin ist Rom Grünbeins zweiter Lebensmittelpunkt. Ein Gedichtreigen speist sich denn auch aus italienischen Erfahrungen und hat ganz andere Valeurs als die Berliner Szenerien. Im Süden geht es beispielsweise um die geradezu malerisch aufgefassten Stillstände zur Mittagszeit (Siesta) oder in der Nachsaison, wenn die Touristen nicht mehr da sind. Zudem werden große Bögen in die Antike geschlagen. Auch hier: jede Menge Geschichte, seit Jahrtausenden. Die römische U-Bahn fährt gleichsam durch antike Schlafzimmer. Mit „Prähistorischer Sommer“ kommt Grünbein sogar aufs Unvordenkliche zurück.

Dieser höchst dekorierte Lyriker (u. a. Büchner-, Nietzsche-, Hölderlin-, Pasolini- und Tranströmer-Preis) entwirft hinreißende Reisebilder, er erweist sich abermals als zeitgemäßer Natur- und Landschaftsdichter von Rang, der auch die real existierende Tierwelt einbezieht – bis hin zum „Schriftbarsch“, dessen bloßer Name bereits die Phantasie anregt.

Als typische Zeile in dem ganzen Kraftfeld könnte wohl die folgende gelten (aus dem Gedicht „Matisse“), gleichermaßen unscheinbar und weit ausgreifend:

Nun zähl auf, was es gibt.

Ja, diese Gedichte sind allemal „welthaltig“, sie lassen sozusagen nichts Wesentliches aus. Sie zu lesen gleicht mitunter einer Entdeckungsfahrt, die jedoch nicht ins Ungefähre führt.

Was aber hat es mit dem Titel „Äquidistanz“ auf sich? Nun, das allerletzte Gedicht des Bandes heißt gleichfalls so und bezieht sich offenbar auf eine autobiographische Konstante. Immer wieder ward dem Autor gesagt, er sei „so weit weg“, stets in Gedanken. Dabei sieht er sich in Äquidistanz, also im gleichen Abstand zu den Dingen und den Worten, „Innen wie außen, gleich nah und fern“. In diesem Niemandsland, im Dazwischensein, buchstäblich „nicht ganz bei der Sache“, sind wahrscheinlich die wertvollsten Einsichten zu gewinnen.

Durs Grünbein: „Äquidistanz“. Gedichte. Suhrkamp. 188 Seiten, 24 Euro.




Deutsche Depressionen – Durs Grünbeins geschichtliche Sondierungen „Jenseits der Literatur“

Durs Grünbein, 1962 in Dresden geboren, ist einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter der Gegenwart. Für sein vielfältiges Werk aus Lyrik und Essays, Tagebüchern, Übersetzungen und autobiographischer Prosa hat er den Büchner-, den Hölderlin-, den Nietzsche-Preis bekommen. Sein neues Buch heißt „Jenseits der Literatur. Oxford Lectures“. Genau genommen sind es die „Lord Weidenfeld Lectures“, ins Leben gerufen vom Journalisten, Verleger und Diplomaten George Weidenfeld, dem großen Briten mit österreichisch-jüdischen Wurzeln, einem Brückenbauer über nationale, politische und religiöse Grenzen hinweg.

Eingeladen wurden und werden Geisteswissenschaftler und Schriftsteller: Umberto Eco, Amos Oz, Mario Vargas Llosa, und jetzt Durs Grünbein. Eine passende Wahl: Denn auch Grünbein ist ein notorischer Brückenbauer, er kennt keine künstlerischen Grenzen, seine Dichtung kreist immer um Poesie und Politik, Literatur und Philosophie. In den Vorlesungen versucht er allem, was sein Denken und sein Leben ausmacht, was sein Schreiben bestimmt und ihn mit den politischen Verwerfungen und historischen Bewusstseinsströmen verbindet, auf den Grund zu kommen.

Vom Verstummen, Vergessen und Verdrängen

„Jenseits der Literatur“ ist etwas, was alles Schreiben infrage stellen und unmöglich machen kann, was uns verstummen und verzweifeln lässt, uns belastet und bedrängt, was wir aber erinnern und bearbeiten müssen, um frei atmen, denken und schreiben zu können: Es ist die Erfahrung, Teil eines Geschichtsprozesses zu sein, einer Nation, einer Sprache, einer Familie, die das Denken beeinflusst und die Sicht auf die Welt bestimmt.

„Jenseits der Literatur“ liegen Verstummen, Vergessen, Verdrängen der jüngeren deutschen Geschichte: die Verbrechen des Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust, das Stalin-Trauma der DDR, der Opportunismus der Mitläufer, die Unfähigkeit zu trauern, die Nachwirkung von Propaganda, Manipulation und Gehirnwäsche, die sich wie eine Grabplatte über die deutsche Geschichte gelegt hat und bis heute die deutsche Gegenwart verdunkelt. „Jenseits der Literatur“ sind die „Abgründe der Geschichte“, vor denen es einen graust. Aber es gilt, das Vergessene auszugraben und sich von den Schwindelgefühlen der Geschichte zu befreien. Denn, da ist sich Grünbein sicher, „es gibt die Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt“, es ist die Literatur „als Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem“.

„Eine violette Briefmarke“ als Ausgangspunkt

Grünbein taucht hinab in seine Kindheitserinnerungen, macht eine „violette Briefmarke“ zum Ausgangspunkt der Überlegungen. Er findet sie beim Stöbern in einem alten Album, die „violette Briefmarke“ zeigt den Kopf von Adolf Hitler, und Grünbein verfällt sofort in eine von Scham und Schuld belastete „Erinnerungs-Depression“. Schon als Kind in der DDR ahnte er, dass Briefmarken von diesem Dämon, der mit einem Bilder-Verbot und einem Tabu belegt war, etwas Verbotenes und Ungeheuerliches waren. In einem Akt der Teufelsaustreibung hatte er sie deshalb verkehrt herum, kopfüber ins Album sortiert.

Als er zufällig im Haus seiner Großeltern auf ein vergilbtes Exemplar von „Mein Kampf“ stößt, ahnt er, etwas Obszönes und Verbotenes in den Händen zu halten, etwas, worüber er auf keinen Fall reden darf. Dieses Verstecken, Verdrängen, Vergessen, von seinen Eltern und Großeltern auf ihn, den Jungen aus Dresden, übertragen, dient ihm heute dazu, über die gesellschaftliche Amnesie nachzudenken, über die Mechanismen der Inszenierung von Macht und die Manipulation der Massen, über die Rumpelkammer der deutschen Geschichte, in die er gefallen ist wie einst Alice in den Kaninchenbau des Wunderlandes.

Von der „violetten Briefmarke“, die früher von allen Deutschen – in einem Akt erotischer Symbiose mit dem politischen System – angeleckt, auf Postkarten geklebt, an die Front und in die Vernichtungslager geschickt wurde, ist die Unruhe ausgegangen, die Grünbein bis heute verfolgt: „Ich werde das dumpfe Gefühl nicht los“, schreibt er, „daß sie auch in Zukunft hier und da noch meinen Weg kreuzen wird.“

„Keiner springt aus der historischen Zeit…“

Grünbein bohrt historisch tiefer und holt empor, was bis heute als Gespenst durch die Geschichte geistert und den Traum von Rechtspopulisten beherrscht, was rückwärts gewandte Visionen ausmacht, regressive Fantasien, aggressive Massenbewegungen, die von einem Unbehagen an der Kultur und einer Verklärung der Vergangenheit gespeist werden. Um die Anhänger von „Retropia“ zu verstehen, reist Grünbein in die faschistische Vergangenheit, fährt über Hitlers Autobahnen, deren Bau als „heroische Arbeitsschlacht“ inszeniert wurde und zur Militarisierung der Gesellschaft diente. Er steigt in den Himmel, um den „Luftkrieg der Bilder“ zu beschreiben, den von Deutschland angezettelten Bombenkrieg, die totale Zerstörung.

Schließlich landet Grünbein bei seiner Kindheit in Dresden, als auf dem Weg zur Schule ein russischer Militär-Konvoi an ihm vorbei donnert und ihm das erste Mal dämmert, in was er da hineingeboren wurde. „Keiner springt aus der historischen Zeit, niemand entzieht sich der Formung durch Geschichte“, schreibt Durs Grünbein und beendet seinen Versuch, die Welt mit eigenen, poetischen Augen zu sehen, mit Worten von Ingeborg Bachmann: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“

Durs Grünbein: „Jenseits der Literatur. Oxford Lectures“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 168 Seiten, 24 Euro.




„Wir leben in geheimnislosen Städten“ – Durs Grünbeins neuer Gedichtband „Zündkerzen“

Wollen wir einem Dichter das Sprachvertrauen schenken, der solche Reime verfertigt: „…in ihren Booten / Vor den Lofoten.“ Einem, der zudem wohnen auf Ikonen reimt, Basar auf Gefahr, Verkehr auf Maschinengewehr?

Nein, wir befinden uns dabei nicht in der satirischen Überlieferung oder in der Nonsens-Tradition. Besagte Reimpaare irritieren auf den ersten Blick umso mehr, als sie von einem der höchstdekorierten Lyriker deutscher Sprache stammen: von Durs Grünbein, dem Träger des Nietzsche-, des Hölderlin- und des Büchner-Preises sowie etlicher anderer Auszeichnungen. Von ihm erwartet man folglich nichts Geringeres als das Außerordentliche.

Besonderes Formbewusstsein

Und tatsächlich finden sich hier viele, viele Texte, die gerade von besonderem Formbewusstsein, metrischer Meisterschaft und Rhythmusgefühl zeugen, wie sie heute längst nicht mehr selbstverständlich sind. Hierzu nur ein einziges, ganz kurzes Beispiel, dem man schon etwas ablauschen kann:

Wir leben in geheimnislosen Städten,
In Straßen ohne Gnade und Grandezza…

Jemandem, der so schreibt, „unterlaufen“ vermeintlich schwächere Reime nicht einfach, er setzt sie vielmehr willentlich ein; beispielsweise just, um (im Gedicht „Die Reise nach Jerusalem“) die touristische Banalisierung der heiligen Stätten schmerzlich fühlbar werden zu lassen.

Durs Grünbeins neuer Gedichtband heißt schlichtweg „Zündkerzen“. Wie alle anspruchsvolle Poesie, so muss man auch diese mehrfach lesen – um sich anfangs womöglich übersehene Feinheiten zu erschließen, um zu erkunden, welche thematischen oder sonstigen „Fäden“ durchs Ganze gewoben sind. Und überhaupt, um alle Fügungen genauer nachzuempfinden.

Flüchtigkeit der Existenz

Was also zeigt sich da? Welche Gefühlsvaleurs und Gedankenfiguren kehren wieder? Nun, den gesamten Band durchzieht Wehmut übers Vergehen, die Flüchtigkeit der Existenz, die menschliche Einsamkeit im unendlichen All und im Alltag, die ungestillte Sehnsucht (nicht nur im „Sumpf der Paarungen“), das grundsätzliche Ungenügen der Worte. Zitat:

Nicht viel wird gehoben mit Worten, nicht viel.
Der größere Teil eines Menschenlebens bleibt schattenhaft
Unterm Wasserspiegel, undeutbar für immer.

Aus dem Gedicht „Decolleté“, angesichts eines offenbar zauberhaften, die Sinne verwirrenden Schlüsselbeins:

Und Schmerz flammt auf
Über allen Verzicht und Verlust
In einem Menschenleben.
Nun zeigt sich: Es ist sehr kurz,
Gleich vorüber die Hauptsaison.
Vergeben die Chancen, Avancen.
„Letzte Runde“, ruft der Kellner…

Wenn Worte schon wenig ausrichten, versagen auch die Gerätschaften, auf die der Mensch so unsinnig viel hält:

Technik, der kleine titanische Irrtum, ist
Nichts, was den Menschen vor sich bewahrt.

Der Alltag und die Katastrophen

Hin und wieder klingt das tiefe Erschrecken vor dem unentwegten weltweiten Tauschhandel an, der sich alles gespenstisch einverleibt und es entleert. Und so manche(r) langjährige Angestellte kann sicherlich diesen Seufzer nachvollziehen:

Wer ersetzt mir die lichtarmen Jahre,
In den Büroetagen vergeudet? Der Tag
Begann dann immer, wie er geendet hatte,
Mit grauen Bilanzen, aussichtslosen Vakanzen.

Grünbein lässt sich jedoch „inhaltlich“ nicht so leicht festlegen, dazu sind seine Gedichte selbst aus zu flüchtigem und filigranem Stoff. Freilich ist hier auch der gewöhnliche Alltag gegenwärtig, in den häufig – schleichend oder rasend – kleine und große Katastrophen eindringen. Ein Gedicht handelt von einem Autounfall und trägt den schon fast unverschämt knappen Titel „Peng!

Vielfach setzen die Texte bei ganz einfachen Dingen an, der Buchtitel „Zündkerzen“ lässt es schon ahnen. Allerdings sind derlei Objekte Anstoß für ungeahnte Weiterungen, das Vorhandene wird entschieden überschritten oder gar transzendiert. Doch wird eben auch die soziale Wirklichkeit aufgerufen, etwa das Dasein entwurzelter Migranten und Bettler in den Städten. Grünbein hat keineswegs die Bodenhaftung verloren. Ein Gedicht heißt ja auch ganz explizit „Der Sturz aus dem Elfenbeinturm“. Übrigens: Bildungspartikel werden gelegentlich in die Zeilen gestreut, aber sorgsam und sinnvoll; niemals so, dass es penetrant wäre.

Ein Lyriker durch und durch

Um auf die „geheimnislosen Städte“ zurückzukommen: Grünbein lebt überwiegend in Rom und Berlin, Metropolen also, die denn doch die eine oder andere Anregung bereithalten dürften. So finden sich vor allem auch einige römische Impressionen in diesem Gedichtband. Es lastet dort aber dermaßen viel Vergangenheit auf den gar nicht so Gegenwärtigen („Vielleicht gibt es uns nicht“), dass schier alles vorbei und vorüber zu sein scheint. Mit den Worten des Dichters: „In einer Stadt, verwüstet von Wiederkehr“. Noch dazu wird dieses Rom – wie so viele Flugziele – überflutet von chinesischer Billigware.

Überhaupt machen Orts- und Reisebilder einen nicht unwesentlichen Teil der Sammlung aus. So gibt es auch Exkurse nach Locarno, Ljubljana, Piräus und Israel. Die staunenswerte formale Vielfalt reicht sodann bis hin zur Gedichtsequenz „Sieben Pinien“, in der sich der Autor vergnüglich in spielerischen, geradezu parodistisch anmutenden Alliterationen ergeht.

Durs Grünbein ist Lyriker durch und durch. Das wird umso deutlicher, wenn er einmal nicht in gebundener Sprache spricht. In wenigen Passagen des Bandes verfällt er in Prosa und sinniert etwa über unsere Vorfahren, die Menschenaffen. Doch ohne die spezifischen Mittel des Gedichts scheint er nicht so weit zu gelangen. Da klingt seine Stimme gelegentlich gar tonlos, ein wenig nach bravem Aufsatz.

Kulturpessimistische Ängste

In einem Langgedicht („Das Photopoem“) ist die Rede von Lyrik als bedrohter, wenn nicht bereits verschwundener Gattung:

Am Ende des letzten Jahrhunderts
War Lyrik ein Unwort geworden, Bezeichnung
Für eine Nichtigkeit, ein Nebenprodukt,
Schlimmstenfalls ein soziales Minus.

Nicht nur dieser Lyrikband wendet und stemmt sich – schon durch seine bloße Existenz – naturgemäß gegen solche kulturpessimistischen Befürchtungen.

Merkmale eines guten, gediegenen oder auch großartigen Gedichtbandes sind, dass man gern sehr viel zitieren möchte (was nicht nur seine urheberrechtlichen Grenzen hat) und: dass man nach und nach Passagen findet, die einen in Sonderheit ansprechen. Einstweilen sind dies bei mir „Monatsblut“ über das schier geisterhaft spurlose menschliche Leben und „Sperlingssommer“, ein einfacher, schmuckloser Gesang auf wilde Tage einer längst verwehten Pubertät. Bei fortgesetzter Dritt- und Viertlektüre werden sicherlich noch einige kostbare Texte hinzukommen.

Durs Grünbein: „Zündkerzen“. Gedichte. Suhrkamp Verlag. 144 Seiten. 24 Euro.




Eingezäunte Kindheit und Jugend: Durs Grünbeins Erinnerungen „Die Jahre im Zoo“

Der Fischladen. Die immergleichen Spaziergänge mit dem schweigsamen Großvater. Der Bahnhof als Trutzburg und Durchgangsstation in wechselnden Zeiten. Die Elbe. Der Schlachthof. Die Straßenbahn. Der Zoo.

Wenn einer wie der Lyriker Durs Grünbein seine Kindheit und Jugend in Dresden beschreibt, geht es nicht um die üblichen Sehenswürdigkeiten wie Frauenkirche, Zwinger oder Semperoper, sondern um lang nachwirkende Sinn-Bilder, Sehnsüchte und Träume. Im allgegenwärtigen Gefühl der Beengung und des Umzäunt-Seins schwillt die Elbe dann auch schon mal zum Möchtegern-Mississippi an, denn Grünbein schildert in „Die Jahre im Zoo“ Dresden als entlegene und gründlich geschundene Provinzstadt der DDR.

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Der im Titel erwähnte Zoo kommt – eher unauffällig – gelegentlich zwischendurch und wirklich explizit erst gegen Schluss vor, und zwar als Ort der Ambivalenz: Auch die dort lebenden exotischen Tiere wecken, ebenso wie die nordwärts fahrenden Schiffe auf der Elbe, die Sehnsucht nach anderen Gegenden. Die Tiere sind jedoch eingesperrt und verkörpern somit just ebenso die Unfreiheit im damaligen realen Sozialismus.

Germanisten werden künftig manche Vergleiche anstellen: Während der viel beachtete Roman „Der Turm“ von Uwe Tellkamp (Jahrgang 1968) aus dem Geist des Dresdner Ortsteils „Weißer Hirsch“ hervorgegangen ist, bewegte sich Durs Grünbein (Jahrgang 1962) in seinen jungen Jahren durch die Dresdner Gartenstadt Hellerau, die im beginnenden 20. Jahrhundert für hoffnungsvolle Lebensreform-Bewegungen gestanden hatte, welche sich auch baulich fortschrittlichen Ausdruck verschafften.

Welch eine zukunftsgerichtete Zeit, die zahlreiche Künstler und Schriftsteller in die Stadt zog, allen voran Rilke, Gottfried Benn und Franz Kafka, der freilich auch schon die Ängste und Traumata der kommenden Epoche vorausahnte. Zu DDR-Zeiten war Kafka gleichsam nur noch ein Phantom, dessen Schriften äußerst schwer zu bekommen waren, wie denn überhaupt die große kulturelle Vergangenheit längst erstickt war – im Kern bekanntlich schon vor Entstehung der DDR. Grünbein blickt mit Schrecken zurück auf die Zeit, als die NS-Ideologie so lange einsickerte, bis es zu spät war.

Und noch weiter zurück: Schon mit dem Zerfall Europas im Ersten Weltkrieg „waren auch für Hellerau, das kleine Hellas am Hellerand, die leuchtenden Tage gezählt“. Die Stimmung des schmerzlichen Verlustes kulminiert bei Durs Grünbein in der Wiederentdeckung eines offenbar höchst lesenswerten Autors, der zwischen Italien und Hellerau gelebt hat: Paul Adler habe die Reform-Jahre wie kein anderer auf den Begriff gebracht. Besonders seinen 1915 im Hellerauer Verlag Roman mit dem lakonischen Titel „Nämlich“ muss man sich wohl unbedingt vormerken. So zeugt eine Lektüre die nächste. Und so soll es ja auch sein.

Vom heutigen Dresdner Pegida-Unwesen ist in diesem Buch übrigens mit keiner Silbe die Rede, es reicht ja auch nicht bis heute, sondern im Wesentlichen „nur“ bis zum NVA-Militärdienst des Erzählers; eine Zeit, die mit seiner Bewusstwerdung und erwachendem Oppositionsgeist einherging.

Doch auch ohne Pegida-Schelte (die dem erinnernden Duktus des Buches geschadet hätte) fragt man sich bei der Lektüre unwillkürlich, ob sich die Aussichten Dresdens durch fortwährende Unfreiheit nicht für sehr lange Zeit verdustert und vergiftet haben – letztlich auch weit über die „Wende“ von 1989/90 hinaus. Wie überaus betrüblich ist das, gerade angesichts der kosmopolitischen und avantgardistischen Vergangenheit Helleraus.

Von all dem wussten Grünbein und seine Schulfreunde seinerzeit nichts, auch hatten sie als Kinder keinen Blick für ihre geschichtsträchtige architektonische Umgebung, sondern suchten jeden Nachmittag ihre kleinen, altersgemäß anarchistischen Abenteuer.

Sehr fein destilliert Grünbein das Aroma dieser Kindheit, die spürbar auch ein Gutteil jeglicher Lebens-Frühzeit enthalten hat. Wer könnte beispielsweise derlei Sätze, unabhängig vom jeweils herrschenden Politbetrieb, nicht unterschreiben: „Dieses Schulgebäude werde ich nie vergessen. Ich trage es mit mir herum wie den Grundriß zum Eingang in mein persönliches Labyrinth. Wir begruben unsere Vormittage dort und auch manche der Nachmittage in jener kostbaren Zeit, da man sechs Jahre alt war, dann sieben, dann acht und so weiter.“

Und doch konnte es genau diese Kindheit nur in der DDR und im Dresden der 1960er Jahre geben. Auch diese besondere Beimischung wird im Buch deutlich. Ein Exkurs gilt der Sachsen-spezifischen Neigung zu Wildwest- und Indianer-Romantik im Gefolge des berühmten Landsmannes Karl May. Und selbstverständlich findet, wo es doch um (vielfach verschüttetes) kulturelles Erbe der Region geht, auch der Dresdner Erich Kästner gebührend Erwähnung.

Auf den alles überragenden Kafka kommt Grünbein verschiedentlich zurück, die vielleicht spannendste Episode verknüpft Kafkas Dresden-Aufenthalte mit dem „denkenden Pferd von Elberfeld“, der generellen Dezimierung europäischer Pferdebestände und Nietzsches legendärer Pferde-Umarmung in Turin. Solch aus- und abschweifende Passagen gehören zum Allerbesten dieses durchweg lesenswerten Buches.

Durs Grünbein nennt seine Erinnerungen denn auch im Untertitel „Ein Kaleidoskop“. Tatsächlich wechseln nicht nur Phänomene und Betrachtungsweisen – mal nüchtern, mal wehmutsvoll -, sondern auch die Stilformen. Mitunter klingt es nahezu anekdotisch, dann wieder finden sich historisch reflektierende Betrachtungen oder auch lyrische Einschübe, in denen Befunde über die Stadt Dresden nochmals verdichtet und kunstvoll rhythmisiert werden.

Nur hätte man sich die Wiedergabe der Fotografien aus der Sammlung des Autors ein wenig großzügiger gewünscht. Wären es nicht solche „Briefmarken“, hätten sie eigene Wirkung entfalten können.

Durs Grünbein: „Die Jahre im Zoo. Ein Kaleidoskop“. Suhrkamp Verlag, 400 Seiten. 24,95 Euro.




Ist Sprache nur mit Schuld beladen? – Kontroverse Debatte über Schreiben in gewaltsamer Zeit

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Kann man der rechten Gewalt mit Worten Einhalt gebieten? Darf man dabei hoffnungsvolle Gegen-Begriffe wie „Solidarität“ und „Utopie“ noch ganz unschuldig verwenden, als seien sie nicht vom zerfallenen Kommunismus in Mißkredit gebracht worden? Um solche gewichtigen Fragen drehte sich jetzt eine prominent besetzte Autorendiskussion beim Jahrestreffen des bundesdeutschen P.E.N.-Zentrums in Düsseldorf.

Motto des Abends und der gesamten Tagung der Autorenvereinigung: ein vieldeutiger Satz von Roland Barthes, der da lautet „Sprache ist niemals unschuldig“. Moderator Klaus Bednarz (ARD-„Monitor“) wählte als Einstieg in die Debatte über „Schreiben in gewalttätiger Welt“ eine Brecht-Geschichte vom „Herrn Keuner“. Der begegnet der Gewalt, indem er sie zwar nicht bejaht, aber zuwartet, bis sie endlich entkräftet von selbst verschwindet – und erst dann aufatmend „Nein!“ zu ihr sagt.

Haben die Begriffe „rechts“ und „links“ noch Sinn?

Daran entzündete sich die Kontroverse. Günter Grass befand, so sei es in Deutschland ja stets. Nachher, wenn es vorüber sei, seien immer alle dagegen – gegen die NS-Diktatur, gegen das SED-Regime usw. Die duldsame Brecht’sche List im Umgang mit der Gewalt sei gefährlich. Man müsse hier und heute widersprechen. Er, Grass, lasse sich auch von niemandem Worte wie „Utopie“ ausreden. Er werde wütend, wenn man sich – wie es gegenwärtig Mode sei – über eine so wichtige Sache wie „Betroffenheit“ lustig mache oder wenn man schlankweg behaupte, die Begriffe „rechts“ und „links“ hätten gar keinen Sinn mehr.

Herta Müller („Niederungen“, „Der Fuchs war damals schon der Jäger“), die die Ceausescu-Diktatur in Rumänien durchlitt, bezog vehement die Gegenposition: „Das Wort ,Utopie` kann ich nicht mehr hören. Wenn jemand ,Solidarität‘ sagt, muß ich kotzen.“ Unter Ceausescu seien derlei Worte mörderisch mißbraucht worden. Also sei die Sprache mit Schuld beladen.

Und was bleibt? Herta Müller: Nur die Verantwortlichkeit in jeder einzelnen Situation. Die großen übergreifenden Gedankengebäude hätten keinen Wert mehr. Für solche Sätze gab’s Beifall vom zahlreich erschienenen Publikum in der Düsseldorfer Kunsthalle.

Die Demagogen auf der Straße zur Rede stellen

Der zuletzt über die Maßen gelobte junge Lyriker Durs Grünbein (ehemals DDR) meinte, nicht Literatur sei derzeit Schauplatz des Meinungskampfes, sondern die Straße. Vielleicht müßten Autoren sich auf die Straße begeben, um dort die Demagogen zu stellen. Ähnlich wie Herta Müller, die als Beispiel die furchtbare Bedeutung des Wortes „Abholen“ zur NS-Zeit nannte, sah auch Grünbein viele Ausdrücke ideologisch „kontaminiert“ und verseucht. Selbst ein so harmlos klingendes Wort wie „Treuhand“ sei auch Nazi-Deutsch gewesen. Den Schriftstellern selbst dürfe man nie trauen, man müsse ihnen vielmehr „alles zutrauen“. Schöngeister seien oft zu Tätern geworden. Der Diktator und Massenmörder Pol Pot habe Lyrik geliebt…

Autor Dieter Wellershoff wehrte sich gegen den geballten Sprachzweifel. Sprache könne immer noch „Ort der persönlichen Wahrheit“ sein, sie sei nicht von vornherein mit Schuld behaftet.

Doch wie begegnet man nun als Schreibender der akuten rechten Gewalt? Sind radikale Skinheads überhaupt mit (literarischer) Sprache erreichbar? Da blieb man recht ratlos, denn die Aufklärungs-Versuche all der zurückliegenden Jahre scheinen ja bei etlichen Leuten wirkungslos verpufft zu sein. Überdies speist sich Gewaltsamkeit längst nicht nur aus Sprache, sondern aus Bildern und Verhältnissen. Durs Grünbein: Schon das heftige Zuschlagen einer Autotür enthalte verkapselte Gewalt, unsere übertechnisierte Umwelt mache uns aggressiv…

Nach solchen Gedankenflügen vernahmen Podium und Publikum am Schluß ziemlich verblüfft die Wortmeldung eines Exil-Afghanen, der die Frage nach Worten wie „Solidarität“ ganz praktisch entschied: „Wir Ausländer in Deutschland brauchen Solidarität!“ So einfach ist das.