Vor 70 Jahren: Als das Ruhrgebiet im Frühjahr 1945 befreit wurde

In den vergangenen Wochen wurden wir zwei Mal deutlich darauf hingewiesen, was vor sieben Jahrzehnten in Deutschland geschah: Die Bombardierung Dresdens, ein Symbol für den Untergang des „Dritten Reiches“, jährte sich am 13. Februar, und nach dem Tod des früheren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker kamen alle Würdigungen auf seine berühmte Rede vor dem Bundestag zu sprechen, in der er den Tag der Kapitulation des Deutschen Reiches am 8. Mai 1945 einen „Tag der Befreiung“ nannte. Was zum Kriegsende in der Rhein-Ruhr-Region geschah, soll hier kurz skizziert werden.

Mit der Landung alliierter Truppen in der Normandie ab dem 6. Juni 1944 begann das Ende des NS-Regimes im Westen. Am 21. Oktober 1944 wurde Aachen als erste deutsche Stadt befreit – während in anderen Reichsteilen weiter gekämpft und gestorben wurde. Erst Ende Februar kamen die Truppen der Alliierten an den Rhein – ein schwieriges Hindernis für den Vormarsch, denn die Deutsche Wehrmacht sprengte vor ihrem Rückzug sämtliche Brücken, zuletzt am 3. März 1945 im Bereich der Stadt Düsseldorf.

Die erste Überquerung des Rheins gelang dann den Amerikanern über eine Pontonbrücke am 7. März bei Remagen, und die aus Holland vorstoßende britische Armee überwand den Fluss erstmals am 24. März bei Wesel.

Weil gleichzeitig alliierte Trupen von Süden und Osten auf das Industriegebiet vorrückten, entstand nach und nach ein Kessel, der bekannte Ruhrkessel, in dem fast 300.000 Wehrmachtssoldaten eingeschlossen waren. Die Stadt Hamm wurde am 1. April befreit, und einen Tag später war der Ruhrkessel geschlossen.

Von Süden stießen die Alliierten über Siegen, Olpe und Schmallenberg vor, wo es noch heftige Kämpfe gab, und zu Ostern erreichten die Befreier die Ruhr. Am 18. April 1945 kapitulierten die eingeschlossenen Wehrmachtsteile im Ruhrkessel, die bedingungslose Kapitulation auf Reichsebene folgte erst an besagtem 8. Mai 1945. Hitler hatte sich schon am 30. April umgebracht.

Leider wurde im Osten Asiens weiter gekämpft. Am 6. und 9. August zündeten die Amerikaner über Hiroshima und Nagasaki ihre Atombomben, und darauf folgte mit der Kapitulation Japans am 2. September endlich das Ende dieses schrecklichen, von Deutschland begonnenen Weltenbrandes.




Nägel gegen die Gewalt: Günther Uecker in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW

Foto: Andreas Endermann, 2015/Kunstsammlung NRW

Foto: Andreas Endermann, 2015/Kunstsammlung NRW

Ein Menschenauflauf für ein paar alte Nägel? Die Schlange vor der Kunstsammlung NRW (K 20) in Düsseldorf mäandert bis zur Heinrich-Heine-Allee, ein Durchkommen ist nicht möglich. Auch der Presseausweis hilft da nicht weiter: „Der Pressetermin war gestern“, bescheidet der Zerberus am Eingang barsch.

Aber ich möchte doch über die Eröffnung berichten: Denn heute Abend beginnt die erste Museumsausstellung von Günther Uecker in Düsseldorf, wo der inzwischen 84jährige Künstler seit 1953 lebt und wo er Anfang der 60er Jahre gemeinsam mit Heinz Mack und Otto Piene die ZERO-Bewegung begründete. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft soll sprechen, Uecker selbst ist anwesend. „Auch für Journalisten kein Zutritt“ weist der Zerberus einen weiteren Kollegen ab. „Sie schreiben doch heute sowieso nichts mehr….!“ Ach ja? Schon mal was von Online-Journalismus gehört?

Wie ich dann doch noch reingekommen bin, bleibt mein Berufsgeheimnis. Nur so viel: Ein Zerberus kann eben auch nicht alle Pforten gleichzeitig bewachen…

Innen halten sich die Gäste auf Einladung des Sponsors schon am Sektglas fest, während Hannelore Kraft im Saal und über drei Monitore das Kunstland NRW lobt und eine „gute Lösung“ ankündigt, die für die Portigon Sammlung der West LB gefunden werden soll. Im Moment plant die Landesregierung eine Stiftung, um den Verkauf der Werke in alle Welt zu verhindern.

Ich halte mich lieber an das, was schon hier hängt – und bin begeistert: Im großen Raum zur Rechten empfangen einen Ueckers unverwechselbare Nagelbilder. Jedes hat seinen eigenen Rhythmus, seine eigene Plastizität, seine eigene Dynamik. Der eiserne Werkstoff wirkt mitunter fast weich, wie die Wirbel im Fell von Tieren; ich möchte gerne mit der Hand darüber streichen, aber lasse das natürlich, um nicht unangenehm aufzufallen.

Stundenlang könnte ich an den zahlreichen unterschiedlichen Nagel-Exponaten entlangwandern, jedes ist anders, jedes verändert sich mit der Blickrichtung des Betrachters. Für Uecker ist der Nagel aber nicht nur Gebrauchsgegenstand, sondern Symbol mit biblischem Bezug. Mit Nägeln wurde Jesus ans Kreuz geschlagen; so steht der Nagel bei Uecker auch dafür, wie Menschen Menschen Gewalt antun – nicht zuletzt in einem von zwei Weltkriegen geprägten Jahrhundert.

Foto: Nic Tenwiggenhorn/Kunstsammlung NRW

Foto: Nic Tenwiggenhorn/Kunstsammlung NRW

Diese Lesart setzt sich im zweiten Ausstellungsraum fort, obwohl das Material ein anderes ist: Große Stoffbahnen hängen hier von der Decke, mal zerlöchert, mal bemalt und bedruckt. Der „Brief an Peking“ entstand für eine Ausstellung in China 1994. Zentrales Element ist die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948, die Uecker in dichter Schrift auf den Stoff geschrieben und dann mit schwarzer Farbe überarbeitet hat: Die Ausstellung wurde kurz vor der Eröffnung abgesagt und konnte erst 13 Jahre später gezeigt werden.

Nageln, geißeln, aufklatschen, vergasen: Die Stirnwand des Raumes wird ganz von schwarzen Worten in verschiedensten Sprachen eingenommen, die die „Verletzung des Menschen durch den Menschen“ ausdrücken. In der Mitte des Raumes schließlich stehen die zum „Terrororchester“ versammelten Klangobjekte, die von den Museumsbesuchern per Knopfdruck betätigt werden können und einen ohrenbetäubenden, kreischenden Lärm verursachen. Die Gewalt wirkt über das Ohr, den Verstand, das Auge und den Tastsinn auf uns ein: Das ist ebenso plakativ wie wahr, denn kein Opfer kann sich dieser Wucht entziehen. Wir können nur aufhören, uns immer weiter etwas anzutun.

Weitere Infos:
www.kunstsammlung.de




Heldenleben und Geigenlyrik – Start der Konzertsaison in Düsseldorf und Duisburg

Spielzeitauftakt in Düsseldorf und Duisburg. Zwei Mal „Heldenleben“, zwei Violinkonzerte: Der Vergleich zwischen den Düsseldorfer Symphonikern und den Duisburger Philharmonikern liegt nahe.

Die Düsseldorfer feiern nach dem Abschied von Andrey Boreyko den zweiten Teil ihres 150-Jahre-Jubiläums ohne Generalmusikdirektor; bei den Duisburger Philharmonikern wirkt GMD Giordano Bellincampi, der 2012 den Posten von Jonathan Darlington übernommen hatte, inzwischen prima etabliert. Sorgen hat das Orchester aber wegen seiner Spielstätte: Die Mercatorhalle wird erst Ende 2015 wieder zu bespielen sein. Bis dahin hat der Klangkörper seine Heimstatt im Theater am Marientor gefunden.

Duisburg: das Theater am Marientor, bis Ende 2015 Spielstätte der Duisburger Philharmoniker. Foto: Werner Häußner

Duisburg: das Theater am Marientor, bis Ende 2015 Spielstätte der Duisburger Philharmoniker. Foto: Werner Häußner

Dieses ist als Musicaltheater nicht optimal, aber „wir haben mit unseren Technikern eine tragbare Lösung gefunden“, berichtet Intendant Alfred Wendel. Bei Strauss‘ „Heldenleben“ konnte man sich davon überzeugen: Die komplexe Struktur der Tondichtung war einwandfrei durchhörbar, der Klang des Orchesters kam rund und detailreich auch bei den hinteren Plätzen an. Zudem sind die Sessel sehr bequem: Kein Grund also, die Duisburger wegen ihrer Spielstätte zu meiden.

Auch künstlerisch animierte das Eröffnungskonzert der Abo-Reihe zum Wiederkommen: Bellincampi lässt einen Strauss mit deutlich mehr Konturen, mehr Trennschärfe in den Registern, delikateren dynamischen Abstufungen spielen als zwei Tage zuvor Gastdirigent Alexandre Bloch bei den Düsseldorfer Symphonikern in der traditionsreichen Tonhalle.

Bellincampi staffelt Streicher und Bläser klanglich, ohne den Reiz der Mischung durch zu harte Reibungen zu beeinträchtigen, sorgt für treffsicher gesetzte Akzente, für herrlich weit ausgezogene Linien, für ätherische Pianissimo-Stimmungen und filigrane Geflechte etwa zwischen Bläsern, Streichern und Harfen in „des Helden Weltflucht“.

In Düsseldorf stand das „Heldenleben“ auf den Tag genau 66 Jahre nach dem Tod Richard Strauss‘ auf dem Programm des ersten Sinfoniekonzerts „Sternzeichen 01“. Alexandre Bloch geht mit etwas mehr auffahrender Energie als sein Duisburger Kollege an die Herkules-Aufgabe heran, lässt das Pathos kalkuliert und damit noch frappanter wirken. Die skurrilen Einwürfe der Holzbläser im zweiten Satz – wenn „des Helden Widersacher“ zu Wort kommen – lässt er nicht so vornehm gerundet gellen, krächzen und furzen wie Bellincampi in Duisburg.

Bloch schärft das Zärtliche und das Burleske. Aber vor allem im vierten Satz erschlägt er die Konturen und die dynamischen Zwischenstufen in dröhnendem Klang. Findet er im dritten Satz den typisch leuchtenden Strauss-Ton („Rosenkavalier“!), hat er im vierten keinen Sensus für das Wechselspiel von Steigern und Entspannen. Ungeniertes Pathos auch am Ende: Das „Heldenleben“ endet in brachialen Choralmassen – vielleicht angemessen für Strauss, der sich selbst ja stets als den „Helden“ seines Daseins empfunden hat und von Selbstzweifeln, so weit wir das wissen können, nicht angekränkelt war.

Strauss schrieb in seine Tondichtung dankbare Aufgaben für den Konzertmeister des Orchesters ein: Dragos Manza erfüllte die Soli in Düsseldorf mit leuchtendem, substanzvollem Ton, feierlich und flink, zärtlich und zurückgenommen, im letzten Satz mit einer bezaubernd beruhigten Kantilene, die wiederum an den „Rosenkavalier“ erinnert.

In Duisburg wählte Siegfried Rivinius einen leichten, filigranen, locker geführten Klang, der sich im dritten Satz gefühlvoll, aber bestimmt gegen die dunkel grundierten Piano-Akkorde des Blechs und der tiefen Streicher durchsetzt. Diese Strauss-Gattin – man sieht in der Solovioline ein Porträt von Pauline de Ahna – bezirzt ihren Richard schmeichelnder und lyrischer als die saftig-erotischere Version in Düsseldorf.

Der Eingangsbereich der 1925/26 erbauten Düsseldorfer Tonhalle mit der Büste Clara Schumanns im Vordergrund. Foto: Werner Häußner

Der Eingangsbereich der 1925/26 erbauten Düsseldorfer Tonhalle mit der Büste Clara Schumanns im Vordergrund. Foto: Werner Häußner

Doch nicht genug des Geigen-Genusses: In beiden Konzerten spielten Solistinnen Höhepunkte des Violinrepertoires: Midori brillierte in Düsseldorf mit Alban Bergs Konzert; Chloë Hanslip empfahl sich in Duisburg mit Brahms. Midori – im Gegensatz zu den glatten Mädchenfotos der Werbung eine zierliche, elegante Dame – nimmt den Untertitel „Dem Andenken eines Engels“ zur Richtschnur ihrer Interpretation: Vom sanften, aus kaum hörbarem Pianissimo ansteigenden Beginn bis zum verklärt ätherischen Verklingen bleibt sie in der Sphäre einer lyrischen Innerlichkeit; auch der intensivierte, mit schönem Vibrato geadelte Ton führt selbst am Rand des Todesabgrunds nicht über die gefassten Grenzen hinaus: Hier kämpft kein Mensch mit dem Tod – Berg hat sein Werk im Andenken an die erst 18jährige Manon Gropius geschrieben, die an Kinderlähmung starb –, hier geht eine schöne Seele von einer Existenzebene in die andere. Das Aufbegehren, die fahle Resignation, der Schrecken und das Ergeben sind stets gekleidet in einen entschärften, unendlich delikat geformten Ton.

Chloe Hanslip und GMD Giordano Bellincampi beim Sinfoniekonzert der Philharmoniker. Foto: Sabine Smolnik

Chloe Hanslip und GMD Giordano Bellincampi beim Sinfoniekonzert der Philharmoniker. Foto: Sabine Smolnik

Auch Chloë Hanslip hütet sich in Duisburg davor, das Brahms’sche Violinkonzert dramatisch aufzuladen. Den „pastoralen Charakter“ führt die 1987 geborene englische Geigerin konsequent durch, trotz – oder sogar gegen – die markanten Rhythmisierungen des Seitenthemas. Hanslips Ton ist so gekonnt kontrolliert, dass er stets locker und frei bleibt: Es gibt keine forcierten Figurationen, keinen angestrengt aufgeladenen Klang. Hier nimmt sich jemand bewusst zurück, um der Musik Johannes Brahms‘ zu dienen: Bedacht eher auf die Integration in die formvollendeten Verläufe des Dialogs von Solist und Orchester als bestrebt, sich mit Expression in der Vordergrund zu spielen.

Doch diese Art, die etwa in Hanslips Aufnahme zweier Violinkonzerte von Max Bruch jedem fetten Sentiment entgegenwirkt, führt bei Brahms auf Dauer zu reizlosem Ablauf. Technisch makellos, strukturell durchdacht, aber entvitalisiert und langatmig. Etwas mehr Temperament statt englischer Contenance, und Hanslip könnte mit Brahms voll überzeugen.

Ausblicke auf die Konzertsaison 2014/15

Duisburgs GMD Giordano Bellincampi. Foto: Duisburger Philharmoniker

Duisburgs GMD Giordano Bellincampi. Foto: Duisburger Philharmoniker

Mit der Violine geht es bei den Duisburger Philharmonikern im Januar 2015 weiter, wenn Frank Peter Zimmermann – berühmter „Sohn der Stadt“ – das Sibelius-Konzert spielt. Und mit Kolja Blacher hat das Orchester auch einen geigenden „Artist in Residence“ für diese Spielzeit: Blacher spielt Robert Schumanns und Carl Nielsens Violinkonzerte, einen Solo- und einen Kammermusik-Abend, unter anderem mit Dimitri Schostakowitschs Sinfonie Nr. 15 in einer Bearbeitung für Kammerensemble. Im nächsten Sinfoniekonzert am 1. und 2. Oktober dirigiert Bellincampi, dessen Vertrag bis 2017 verlängert wurde, unter anderem Mahlers Vierte.

Die Düsseldorfer Symphoniker feiern ihr 150jähriges Bestehen im Oktober mit einem Festkonzert am 29. Oktober, bei dem drei ehemalige Generalmusikdirektoren am Pult stehen. Das nächste Sinfoniekonzert unter dem Titel „Sternzeichen 02“ bringt am 26., 28. und 29. September Sir Neville Marriner zurück nach Düsseldorf. Auf dem Programm; Richard Strauss‘ „Metamorphosen“ und Joseph Haydns „Paukenmesse“, unter anderem mit einem der besten jungen deutschen Tenöre, Uwe Stickert.

Im Oktober spielt Herbert Schuch eine Rarität des Repertoires: Viktor Ullmanns Konzert für Klavier und Orchester, 1939/40 vor der Deportation des Komponisten nach Theresienstadt geschrieben. Im November präsentieren die Symphoniker eine weitere Seltenheit im Konzertsaal: Hans Pfitzners C-Dur-Sinfonie op. 46, kombiniert mit der unverwüstlichen Neunten Ludwig van Beethovens. Einmal nicht den Wiener Titanen, sondern Georges Gershwin spielt Rudolf Buchbinder dann im Dezember. Programme also, die Neugierige in die Tonhalle locken werden.




Wenn Junggesellen die Sau raus lassen

Ein fast normaler Samstag in der Düsseldorfer Altstadt. Viele Menschen sind unterwegs oder sitzen an den Kneipentischen in der Abendsonne, und fast ebenso viele laufen gruppenweise in seltsamen Uniformen herum – bedruckte T-Shirts mit mehr oder weniger peinlichen Sprüchen. Abschied vom Junggesellen-Leben wird da gefeiert – oder auch vom Junggesellinnen-Leben.

Vor dem "Uerige" geht es nicht immer si gesittet zu. (Foto: Pöpsel)

Vor dem „Uerige“ geht es nicht immer so gesittet zu.          (Foto:Hans H.  Pöpsel)

Schon im Hauptbahnhof beginnt dieses Treiben. Gefühlt jede zweite Menschentraube im Tunnel unter den Gleisen ist in die Landeshauptstadt gedüst, um mit ihrem besten Kumpel oder der treuesten Freundin vor deren Gang zum Traualtar noch einmal die Sau rauszulassen.

Die Braut kennzeichnet meist ein angedeuteter Schleier, am liebsten in Rosa, und mancher Bräutigam wandert in Frauenkleidern durch die Altstadt. Dort müssen dämliche Aufgaben erfüllt werden, zum Beispiel einer fremden Frau den BH abzuschwatzen. Oder ähnlich geistreiche Spiele warten auf Erledigung, und das wird im Laufe des Abends immer schwieriger, weil das Alt in den Adern das Blut ersetzt. Der eine oder andere bricht daraufhin alles wieder aus, und am Morgen danach fragt er sich noch einmal nach dem Sinn der Ehe.

Diese schnell zunehmenden Feierabende sind meines Erachtens ein weiteres Zeichen für einen Wandel im Geschlechterverhalten: Heiraten wird nicht mehr so sehr als lebenslanges Treueversprechen empfunden, sondern als ein weiteres Event im ansonsten trostlosen Büroalltag. Manche Bald-Eheleute beschäftigen sich ein ganzes Jahr mit dem kleinsten Detail ihrer Hochzeitsfeier, damit sie ganz gewiss ein vorzeigbares Erinnerungsstück erhalten. Das „Ja“ im Standesamt scheint da zu einem Nebenanspekt zu werden.

Nun ja, es wird immer noch etwa jede dritte Ehe nach einigen Jahren geschieden, und eine solche Scheidung wird inzwischen gelegentlich auch schon zu einem Event, denn die ersten Scheidungsfeier-Grüppchen wurden in der Altstadt bereits gesichtet.




„Ein Deutsches Requiem“: Abschied von einem bewegenden Ballett in Duisburg

Die Spielzeit 2013/2014 der Theater und Opern im Ruhrgebiet ist größtenteils vorbei und wird mancherorts mit einem Wiederholungs-Höhepunkt verabschiedet. So auch in der Duisbuger Dependance der Deutschen Oper am Rhein, die zum (leider) vorerst letzten Mal das großartige Ballett „Ein Deutsches Requiem (b.09)“ zeigte.

Unter jubelndem Applaus und Bravo-Rufen wurde die Choreographie vom Publikum entlassen. Nicht wenige sahen diese einzigartige, bewegende Inszenierung zum wiederholten Male. Das Requiem war nicht nur in Duisburg/ Düsseldorf, sondern auch bei vielen Gastspielen und als ZDF-Fernsehproduktion ein großer Erfolg.

Mit der Choreographie zu Brahms Totenmesse „Ein Deutsches Requiem“ Opus. 45 nach Worten der heiligen Schrift schuf Ballettdirektor Martin Schläpfer ein überraschendes und überzeugendes aufwändiges Werk, dass alle Ensembles der Deutschen Oper am Rhein (Ballett, Solisten, Chor und die Duisbuger Philharmoniker) auf der Bühne vereinte.

Schläpfer wagt eine tänzerische Annäherung an das letzte Mysterium unserer abgeklärten Welt, an den Tod. Getanzte Ängste und mensch-bewegende Fragen zeigen nicht nur das Ringen um einen würdigen Abschied, sondern auch das Ringen um ein würdiges Dasein im Jetzt. Meisterhaft dargeboten, technisch ausgefeilt bis ins kleinste Detail, nimmt das Ensemble das Publikum mit auf eine Reise, getragen von stärksten Emotionen. Sie zeigen Zweifel, Trotz und Widerstand und lassen daraus eine ganz besondere melancholische Schönheit erwachsen.

Brahms Opus 45 wurde schon immer für seine Vollkommenheit gerühmt, Martin Schläpfers Choreographie hingegen zeigt ganz bewusst einen Gegenentwurf. Die Kostüme sehen aus wie zerfetzt, eine Solistin muss einen sehr schwierigen Part mit nur einem Spitzenschuh meistern. Abgesehen von diesem einen Spitzenschuh sind die Tänzer barfuß und beziehen ihre Kraft auch aus der schieren Masse der auftretenden Tänzer, die das Erhöhende ihrer oft akrobatisch anmutenden Sprünge genauso schnell wieder in den Boden stampfen. Selten agieren die Tänzer unisono, fast immer sind die Linien asymmetrisch. Meistens treten sie wellenartig auf. Wellen, die sich ganz langsam aufbauen und vorne am Rand der Bühne mit einer manchmal erschreckenden Kraft brechen.

Was es bei soviel kraftvoll getanztem Ausdruck nicht gebraucht hätte: die offensichtliche Symbolik des Schlussbildes, in dem sich die Tänzer in Ketten gelegt, jeder auf andere Art in eben diesen winden. Dass jeder Mensch in anderen Ketten liegt und anders mit diesen umgeht, das war auch vorher schon zu verstehen. Schade, dass Schläpfer da der Kraft seiner Choreographie nicht traut, es relativierte die fein austarierte Interpretation des Requiems ein wenig ins Banale.

Dennoch: es bleibt die erfreuliche Feststellung, dass das Ballett der Deutschen Oper am Rhein sich seit der Übernahme von Martin Schläpfer 2009 deutlich verbessert hat und mittlerweile auch weit über die Grenzen von NRW hinaus als bedeutendes Ensemble gilt, das Maßstäbe setzt.

Auch wenn diese Produktion in näherer Zukunft wohl nicht mehr gezeigt werden wird – in der Geschichte des Balletts der Deutschen Oper am Rhein wird sie sicher immer einen ganz besonderen Stellenwert besitzen. Auf ihre Art war sie richtungsweisend und zeigte, dass sich Mut zum Risiko durchaus lohnt. Auf die angekündigten Premieren der Spielzeit 2014/2015, unter anderem die Serenade von Balanchine – darf man schon jetzt gespannt sein.




Massenet im Focus (I): „Werther“ nach Frankfurt und Essen nun in Düsseldorf

Seltsames Phänomen: Da gibt es Komponisten oder Werke, die jahrelang kaum auf den Spielplänen auftauchen. Und auf einmal bricht eine Welle los und schwappt reihum über die Bühnen weg. So geht es derzeit mit Jules Massenet.

„Werther“ in Essen, Gera, Frankfurt, Saarbrücken, Weimar; „Manon“ in Krefeld, das sonst kaum gespielte Spätwerk „Don Quichotte“ in Wuppertal, Gelsenkirchen und jetzt Hagen, „Esclarmonde“ als gefeierte Ausgrabung in Dessau, am 18. Mai das noch seltenere exotische Kurtisanendrama „Thaїs“ in Bonn. Und als jüngste Premiere an der Düsseldorfer Rheinoper wieder der Goethe’sche Held, gebettet in den exquisiten französischen Klang zwischen Wagner und Verismo.

Warum das so ist? Wahrscheinlich unerklärbar. Mag sein, dass in den Repertoire-Strichlisten in den Dramaturgiebüros unter „französisch“ eine Lücke war; mag sein, dass sich zufällig gerade jetzt Regisseure, Intendanten oder Kapellmeister – unter die GMD-Stücke zählen Massenets Opern ja nicht – für das Genre interessierten. Zeitgeistig ist jedenfalls nichts identifizierbar, was etwa „Werther“, das parabelhafte Endspiel einer entgrenzten, aber unmöglichen Liebe, ausgerechnet für das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts qualifizieren würde. Selten war eine Jugend so weit entfernt vom verzweifelten Enthusiasmus eines Werthers wie heute.

Erinnerungen im Angesicht des Todes: Für "Werther" in Düsseldorf schuf Alfons Flores die Bühne, das Licht in satten Farben richtete Volker Weinhart ein. Foto: Hans Jörg Michel

Erinnerungen im Angesicht des Todes: Für „Werther“ in Düsseldorf schuf Alfons Flores die Bühne, das Licht in satten Farben richtete Volker Weinhart ein. Foto: Hans Jörg Michel

Der andorranische Regisseur Joan Anton Rechi ist dank seiner „Csardasfürstin“ an der Rheinoper kein Unbekannter; unter anderem hat er 2011 in Mainz mit einem grandios durchleuchteten „König Roger“ von Karol Szymanowski auf sich aufmerksam gemacht. Mit „Werther“ stellt er auf die sattfarbenen Bühne von Alfons Flores in das scharf geschnittene Licht von Volker Weinhart ein verhangenes Drama, das am Rand der Irrealität taumelt: Erinnerungen, Halluzinationen und bedrückende Bilder, materialisierte Seelenzustände, die trotz ihrer klaren Durchzeichnung nicht an Naturalismus rühren. Den Beginn markiert keine gemütliche Genreszene, sondern ein Schuss: Werther, in blutrotem Anzug – eines der ausdrucksvoll-beziehungsreichen Kostüme von Sebastian Ellrich –, schießt sich eine Kugel durch den Bauch. Was folgt, ist der „Film“ vor dem Tode, in dem Sterbende ihr Leben vor dem inneren Auge vorbeiziehen sehen.

Quälende Familien-Idylle: Laimonas Pautienius (Albert) und Kataszyna Kuncio (Charlotte). Foto: Hans Jörg Michel

Quälende Familien-Idylle: Laimonas Pautienius (Albert) und Kataszyna Kuncio (Charlotte). Foto: Hans Jörg Michel

Auch in Frankfurt und Essen gab es Bilder, die das Drama des bürgerlichen Sturm und Drang in einen Raum eines Nach-Tristan-Gleichnisses rücken: Wolfgang Gussmann schuf für Willy Deckers sensible Personen-Balance kosmisch erweiterte Räume; Frank Philipp Schlößmann baute in Essen für Carlos Wagners manchmal ziemlich verquere Figuren-Zurichtung ein Puppenhaus, das zertrümmert und aufgebrochen wird.

Einsamkeit am Telefon. Massenets "Werther" in Düsseldorf: Katarzyna Kuncio (Charlotte), Sergej Khomov (Werther). Foto: Hans Jörg Michel

Einsamkeit am Telefon. Massenets „Werther“ in Düsseldorf: Katarzyna Kuncio (Charlotte), Sergej Khomov (Werther). Foto: Hans Jörg Michel

In Düsseldorf erschafft Flores dumpfe Räume in formlos fließenden Linien, in denen sich Zustände materialisieren: Die kahlen Bäume in schrillem Licht lassen schon zu Beginn keinen Zweifel, dass der schüchterne Traum vom Glück unter Alpdruck steht; das großbürgerliche Souper des zweiten Aktes macht mit seiner gewalttätigen Zuspitzung nicht nur die brutale Seite von Alberts Charakter offenbar, sondern denunziert nachhaltig die familiäre Idylle als zwanghaft. Im letzten Akt lässt Rechi Werther und Charlotte nur mehr miteinander telefonieren: ein surreal angehauchtes Bild eines finalen Versuchs der Kommunikation, den Albert mit dem Druck auf die Fernsprechergabel endgültig unterbricht. Damit rückt Rechi Werther in die Richtung eines Depressiven: Neunzig Prozent der Menschen, die sich umzubringen gedenken, tätigen kurz zuvor einen Anruf, erklärt er seinen Einfall im Programmheft.

In Rechis Todesfilm quälen sich auch die Szenen unter depressiver Last, über denen noch ein Schimmer nie erreichten Glücks leuchten könnte. Doch Sergej Khomov ist als Werther nur ein Erinnerungsschatten seiner selbst, mit düster fixiertem Blick und dramatischer Schwere statt flexibler Leichtigkeit in der Stimme. Katarzyna Kuncio als Charlotte ist gefangen zwischen ihrem brutal seine Besitzrechte durchsetzenden Ehemann Albert und den kompromisslos vereinnahmenden Gefühlsstürmen Werthers: Kuncio agiert mit ihrem vollen, slawisch timbrierten Mezzosopran weniger mit finessenreichen Zwischentönen, eher mit dem lodernden Verismo der seelischen Qual. Der einzige Mensch, dem es gelingt, sich in diesem Drama „außen vor“ zu halten, ist Sophie, mit viel Licht in der Stimme gesungen von Alma Sadé.

Laimonas Pautienius reagiert als Albert auf den Schmerz, vernünftig geliebt, aber nicht leidenschaftlich begehrt zu werden, mit offener Aggression – und stimmlich mit einem festen, einfarbigen, für Massenets Musik zu groben Bariton. Auch die Düsseldorfer Symphoniker unter Christoph Altstaedt entscheiden sich im Zweifel für einen handfesten Klang und gegen dynamisch-koloristisches Sfumato. Für den fiebrigen Ton der seelischen Raserei, für den offen brennenden Schmerz bleiben die Farben zu geradlinig kühl.

In der neuen Spielzeit 2014/15 lassen sich die Aalto- und die Rheinopern-Versionen des „Werther“ vergleichen: Die Wiederaufnahme am Theater Duisburg ist am 6. Dezember vorgesehen; ab 29. März 2015 läuft Massenets Oper dann wieder in Düsseldorf. In Essen steht die Wiederaufnahme ab 11. Dezember auf dem Spielplan – gefolgt von nur zwei weiteren Vorstellungen am 27. Dezember und am 7. Februar 2015.




Neue Familienopern statt „Hänsel und Gretel“ – Intendanten kooperieren für junges Publikum

Szene aus der neuen Familienoper "Vom Mädchen, das nicht schlafen wollte". Foto: Hans-Jörg Michel

Szene aus der neuen Familienoper „Vom Mädchen, das nicht schlafen wollte“, mit Alma Sadé und Florian Simson. Foto: Hans Jörg Michel

Nun soll „Hänsel und Gretel“ endlich in die Asservatenkammer verbannt werden. Jahrzehntelang hat Engelbert Humperdincks musikdramatisches Stück als Märchen- und damit Kinderoper auf großen Bühnen herhalten müssen. Das hat jetzt ein Ende – zumindest wenn es nach dem Willen von Christoph Meyer, Bernhard Helmich und Jens-Daniel Herzog geht. Denn die drei Intendanten haben für ihre Häuser (die Rheinoper Düsseldorf/Duisburg, die Oper Bonn und die Oper Dortmund) eine intensive, auf mehrere Spielzeiten angelegte Kooperation mit dem Ziel beschlossen, neue Produktionen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zu fördern.

Der erste Schritt in Richtung „Familienoper“ ist bereits getan. Mit der Uraufführung von Marius Felix Langes „Vom Mädchen, das nicht schlafen wollte“ am 14. Februar 2014 im Theater Duisburg. Düsseldorf übernimmt die Produktion am 25. Juni. Die Häuser in Bonn und Dortmund ziehen in den kommenden beiden Spielzeiten nach. Die Kosten für das Projekt werden gedrittelt. Eine Bühne allein könnte es kaum schultern, erklärten die Intendanten einmütig, die ihr Vorhaben jetzt erläuterten.

Wiederum ist es die Rheinoper, die für Februar 2015 die zweite Produktion erarbeitet (Uraufführung in Duisburg). Jörn Arnecke wird die Musik zu „Ronja Räubertochter“ schreiben, nach der Erzählung von Astrid Lindgren. Intendant Christoph Meyer: „Nur unserer Kooperation ist es zu danken, dass wir die Rechte an diesem Stück erwerben konnten“. Einen Monat später wird diese Familienoper in Düsseldorf zu sehen sein, später dann in Bonn und Dortmund.

„Den Zauber der (großen) Oper entfalten“, das ist für den Bonner Intendanten Bernhard Helmich Sinn und Zweck des gemeinsamen Vorgehens. Doch auf keinen Fall sollen diesen hoch aufwändigen, neuen Werken kleinere Produktionen (in Zusammenarbeit mit Schulen) zum Opfer fallen. „Wir wollen etwas zusätzliches schaffen“, betonte Helmich. Und Christoph Meyer sagte: „Es geht nicht ums Sparen“.

Alma Sadé und Dmitri Vargin in Marius Felix Langes neuer Oper. Foto: Hans Jörg Michel

Alma Sadé und Dmitri Vargin in Marius Felix Langes neuer Oper. Foto: Hans Jörg Michel

Das sieht auch der Dortmunder Opernchef Jens-Daniel Herzog so, der für ein breites Repertoire für alle Altersstufen plädierte. Aus seinem Haus (und das gilt auch für Bonn) wird indes eine neue, große Familienopernproduktion wohl erst zur Saison 2016/17 kommen. Das Bild ist auch noch diffus, fällt der Blick in Dortmund aufs klassische Kinderoperngeschehen in der nächsten Spielzeit. Sicher ist bisher nur, dass „Der kleine Barbier“ wieder aufgenommen wird. Das eine oder andere soll noch hinzukommen, heißt es. Darauf sind wir gespannt.

Bei der Vorstellung des Drei-Städte-Projektes kam der interessanteste Satz im übrigen vom Komponisten Marius Felix Lange: „Wir wollen die Kinder nicht irgendwo abholen, sondern sie für etwas begeistern, was uns selbst begeistert“. Lange weiß eben, dass die Nachwuchshörer Voreingenommenheit gegenüber dem Neuen nicht kennen. Und so wünschte sich Christoph Meyer, dass mit den Kindern auch die Eltern erreicht werden. Auf dass sich die Familie eben nicht nur auf das ewige „Hänsel und Gretel“ zurückziehe.

 




Herr Niemand bittet zum Tanzkampf

Geschichten erzählen mit Mitteln des Tanzes ist ein beschwerliches Unterfangen, vor allem, wenn es sich um ein Problem wie Obdachlosigkeit handelt. Da droht der Sozialkitsch.

Es lauert die Gefahr der Verharmlosung und der Überemotionalität, will man daraus ein Kunststück machen. Nun hat der Körper wahrlich zahlreiche Ausdruckmöglichkeiten. Diese für die Thematik zu nutzen, war die Aufgabe der Tänzerin und Choreografin Maura Morales, Kubanerin mit Wohnsitz Düsseldorf. Und ebendort fand die Premiere ihres neuen Stückes „Don Nadie“ im Kulturzentrum „Zakk“ statt.

Nachdem die international erfolgreiche Tänzerin, Preisträgerin bei vielen Festivals, in ihrer Heimatstadt Düsseldorf auf Obdachlosigkeit gestoßen ist, hat sie das Thema nicht mehr losgelassen. Sie musste einen künstlerischen Ausdruck dafür finden. Das braucht Zeit. Sie recherchierte, hat unter den Obdachlosen „Mitstreiter“ gefunden und don_nadie_plakat_zakk_theaterimballsaal2-731x1024bekam Unterstützung durch das Straßenmagazin „Fifty-Fifty“.

„Personen ohne Publikum“ nennt sie die Wohnungslosen, von denen wir vielleicht den Rhythmus kennen, aber nicht ihre Geschichten. Nach der Premiere hörte ich eine der Betroffenen sagen: „Meine Geschichte habe ich gar nicht erkannt, aber es war trotzdem sehr gut.“ Man kann behaupten: Hätte man ihre Geschichte erkannt, wäre nicht dieses Kunstwerk dabei herausgekommen. So war das Tanzstück, um das das Publikum im Kreis saß, mit dem nötigen Abstand und dem Sinn für das Künstlerische choreografiert.

Maura Morales selbst, sowie ihre Tänzer Matthias Kass, Matthew Branham und Anthony Kirk verstanden es in ihrer Unterschiedlichkeit, durch Soli, Duette und Gruppensequenzen  gebrochene Lebensläufe aufzureißen und assoziative Bilder zu schaffen, so dass die Thematik nicht in die Mitleidsecke drückte. Löcher in den Beinkleidern waren dagegen überflüssig und manche wenigen Gesten eher doch  zu realitätsbemüht.

Die Live-Musik des Komponisten Michio war ein integraler Bestandteil der Inszenierung. Elektronisch verfremdete Gitarrenlaute verbinden sich mit atmosphärisch tragenden Sounds. Das Ambiente des Zakk-Raumes war etwas problematisch. Man kann sich das Stück auch gut „irgendwo“ vorstellen, auf der Straße oder einem Platz. Maura Morales, Trägerin des renommierten Kurt Jooss-Preises 2013, lässt weitere Vorstellungen in Bonn und Düsseldorf folgen: http://mauramorales.de/




Stimmungsmache, Skandalgerede, Voraburteile: Dortmund und die „Tannhäuser“-Premiere

Kay Voges inszeniert in Dortmund den "Tannhäuser". Foto: TheaterDortmund/Birgit Hupfeld

Kay Voges inszeniert in Dortmund den „Tannhäuser“. Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld

Skandal! Das Wort ist ausgesprochen, ist nachzulesen schwarz auf weiß. Der Vorgang, den es bezeichnet, wird herbeigeredet, -geschrieben, von manchem vielleicht auch ersehnt. Stimmungsmache, Beschwichtigungen, Erklärungen und Voraburteile schwirren durch den Raum. Eine Debatte ist zu verfolgen, deren Gegenstand bisher nur fragmentarisch sich darstellt. Es ist so, als würde ein Schmetterlingsbein sich aus der Raupe herausschälen, und einer ruft: „Ist das Tier aber hässlich“.

Worum geht es? In nüchternen Worten formuliert, um die bevorstehende Premiere von Richard Wagners großer romantischer Oper in drei Akten „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ am Theater Dortmund. Regie führt Kay Voges, der erfolgreiche, längst über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Chef des Schauspielhauses. Es ist seine erste Arbeit im musikdramatischen Fach. Voges wird, über das Bühnengeschehen hinaus, multimediale Effekte einsetzen. Eigentlich ist solcherart Inszenierungsbeigabe ein nicht mehr ganz neuer Hut. Doch mancher Bedenkenträger fragt schon jetzt beklommen, ob das nicht zu viel des Illustrierens sei.

Wagners „Tannhäuser“ – da war doch was. Genau: etwa die tumultuöse Aufführung 1861 in Paris, als organisierte Gruppen mit aller Macht (und Trillerpfeifen) das Werk des Deutschen akustisch zerstören wollten. Ein Vorgang, der bis heute zu den größten Eklats der Musikgeschichte zählt. Und jüngst, im Mai, der Skandal um die Inszenierung von Burkhard C. Kosminski an der Rheinoper in Düsseldorf. Die Premiere war die erste und letzte szenische Vorstellung, hernach blieb der Vorhang zu, der „Tannhäuser“ mutierte zu einem rein konzertanten Erlebnis. Freilich, der Regisseur hatte das Werk teils in der Nazi-Zeit verortet und pantomimisch gezeigt, wie eine ganze Familie exekutiert wird. Einige aus dem Publikum gaben an, sie hätten ob der Zumutung einen Arzt aufsuchen müssen.

Wenige Tage später stellte Dortmunds Opernchef Jens-Daniel Herzog den neuen Spielplan vor, mit eben jener Nachricht, dass Kay Voges den „Tannhäuser“ inszenieren werde. Um eiligst hinzuzufügen, Nebenwirkungen seien nicht zu erwarten. Dann ging die Zeit ins Land und die Welt war in Ordnung. Nun aber, nach einigen Überlegungen des Regisseurs, abgedruckt in der Theaterzeitung, nach Einführungsmatinee und öffentlicher Probe, herrscht plötzlich jede Menge Aufgeregtheit. Der Knackpunkt vor allem: die Videoprojektionen.

Tischbein_-_Tannhäuser_1845

Joseph Tichatschek als Tannhäuser und Wilhelmine Schröder-Devrient als Venus in der Dresdner Uraufführung 1845. Zeichnung: F. Tischbein

Voges setzt sie im Schauspiel regelmäßig ein, etwa in seiner Inszenierung nach Thomas Vinterbergs „Das Fest“. Die Gesichter der Figuren werden groß auf eine Leinwand projiziert, auf dass das Publikum jede emotionale Regung und deren mimische Entsprechung mitbekomme. Das war immerhin eine Nominierung für den Theaterpreis „Faust“ wert. Ähnliches hat Voges im „Tannhäuser“ vor. Hinzu kommt der Versuch, in dieser Figur, taumelnd zwischen Venusberglust und hehrer Minne, Christus zu sehen; in Anlehnung an Martin Scorseses so umstrittenen wie glänzenden Film „Die letzte Versuchung Christi“.

Ob das gelingt, werden wir sehen. Voges sagt, Wagner, der Verfechter des Gesamtkunstwerks, hätte den Film als Gestaltungsmittel eingesetzt. Jens-Daniel Herzog hat das in einem Interview ähnlich formuliert. Ein Teil der veröffentlichten Meinung hingegen zerrt den wohlbekannten Satz mancher Wagnerianer hervor, der Komponist habe das so sicher nicht gewollt. Nun gut, Spekulationen sind das eine, teils polemische Urteile über einen Probenausschnitt aber sind von anderem Gewicht. Vom Skandal ist vorsorglich auch schon Mal die Rede.

„Kinder, schafft Neues!“ ist ein vielzitiertes Wagner-Wort. Ist der Einsatz der Video-Technik zu neu? Das Dortmunder Publikum werde durch die Bilder zu sehr von der Musik und den Figuren abgelenkt, unkt es im Blätterwald, das Seelenheil der Zuschauer könnte leiden. Solcherart Fürsorge ex cathedra wirkt geradezu putzig. Doch Filmsequenzen zur Oper sind den Musikfreunden der Stadt durchaus bekannt, zuletzt gesehen in hochgelobten Konzerthaus-Aufführungen von Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ und, man staune, in Richard Wagners „Tristan und Isolde“.

Voges hat unterdessen auf die Vorab-Urteile höchst originell reagiert. Bei aller Verärgerung stichelte er in einer Mischung aus Ernst und Ironie zurück. Inmitten seiner tiefsinnigen, urkomischen, so erfrischend albernen wie entlarvend verstörenden Revue „Das goldene Zeitalter“, in der uns das Leben als Endlosschleife offenbart wird, mit mehr oder weniger gelungenen Versuchen, daraus auszubrechen. Da dröhnt die „Tannhäuser“-Ouvertüre aus den Lautsprechern, und ein blondes Barbiepuppenwesen hämmert manisch in die Schreibmaschine „Volle Konzentration auf die Musik“.  Konsequent fällt der Vorhang, das Theater wird zum kollektiven Wohnzimmer mit Stereoanlage, Rezeption zur behaglichen Routine, wie der alltägliche Konsum der Tagesschau. Touché!

Gut nur, dass nun, kommenden Sonntag (1. Dezember), endlich Premiere ist, in annähernd ausverkauftem Haus. Erst dann ist die Stunde ernsthafter, kundiger Analyse und ästhetischer Beurteilung gekommen. Stimmungsmache aber vernebelt die Gedanken.

Informationen zur Inszenierung: http://www.theaterdo.de/detail/event/513/?not=1




Richard Wagners Steinway-Flügel „gastiert“ in Düsseldorf

Richard Wagners Steinway-Flügel kommt nach Düsseldorf. Aus Anlass des 200. Geburtstags Wagners, und weil die Villa Wahnfried in Bayreuth derzeit grundsaniert wird, „tourt“ der Steinway von 1876 durch die fünf Häuser des weltbekannten Klavierbauers in Deutschland. Vom 4. bis 9. November steht das reich verzierte Instrument aus braunem Holz im Steinway-Haus in der Immermannstr. 14-16. Wer einen Termin vereinbart (E-Mail: wagner@steinway.de), darf ihn auch spielen: „Interessierte können den Flügel im Dreißig-Minuten-Takt ausprobieren“, kündigt Verkaufsleiter Wolfgang Kaczmarek an.

Der Flügel mit der Opus-Nummer 34304 war ein Geschenk der Firma Steinway & Sons New York zur Eröffnung der Bayreuther Festspiele 1876. Über dem Manual trägt er die Inschrift „Festgruß aus Steinway Hall“. Damals repräsentierte der Flügel technisch den neuesten Stand; er war das erste Modell mit einem aus Metall gegossenem Rahmen. So konnten die Saiten stärker gespannt und ein kraftvolleres Klangvolumen erreicht werden.

Richard Wagner, aber auch Franz Liszt und vielleicht noch mancher Wahnfried-Gast haben den Flügel gespielt, der in der Rotunde des Saals der Villa stand. Nach Wagners Tod wurde er wie eine Devotionalie behandelt. Durch den Bombentreffer 1945 kaum beschädigt, kam er erst in den neunziger Jahren zu einer behutsamen Restaurierung in die Steinway-Fabrik nach Hamburg. Seither wurde er regelmäßig für Solo- und Kammerkonzerte im Saal von Wahnfried benutzt.

Die Villa Wahnfried, aufgenommen im Juli 2009. Foto: Werner Häußner

Die Villa Wahnfried, aufgenommen im Juli 2009. Foto: Werner Häußner

Der Flügel war bisher in München, Hamburg und Berlin zu sehen und geht nach seiner Station in Düsseldorf noch nach Frankfurt (11. bis 17. November), bevor er bis zum Abschluss der Sanierung der Villa Wahnfried, der Neugestaltung des 1976 eröffneten Richard-Wagner-Museums und des Erweiterungsbaus – voraussichtlich 2014 – in Hamburg verbleiben wird.

Der Steinway war Richard Wagners modernster Flügel. In Wahnfried steht noch ein Instrument von Breitkopf & Härtel, das Wagner 1843 zum ersten Mal erwähnt. Außerdem besaß Wagner u. a. einen Érard-Flügel, zwei Flügel und ein Komponierklavier aus dem Haus Bechstein sowie zwei Ibach-Instrumente, die er in Italien spielte.

Am Donnerstag, 7. November, 20 Uhr, spricht Sven Friedrich, Direktor des Richard-Wagner-Museums mit Nationalarchiv und Forschungsstätte der Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth, über den Wagner-Flügel und die umfassende Sanierung von Haus Wahnfried. Dabei wird das Instrument auch gespielt.

 




Kunstszene am Rhein präsentiert sich: 50 Galerien beim „DC Open“ ab 6. September

Ein feines Kunst-Event, vor allem für Freunde zeitgenössischer Kunst, findet in diesem Jahr zum fünften Mal statt: Zum „DC Open“ schließen sich 50 Galerien aus Düsseldorf und Köln zusammen, um die Saison mit einem Wochenende zu eröffnen. Der Ausstellungs-Parcours soll die künstlerisch spannende Region vorstellen und knüpft an die Sammler- und Sammlungstradition im Rheinland an. Die Galerierundgänge, erleichtert durch einen Shuttle-Service zwischen den beiden Städten, beginnen am Freitag, 6. September, 18 Uhr.

Nach einem erfolgreichen Start im letzten Jahr bietet DC Open auch in diesem Jahr wieder ein breit angelegtes Programm an Kuratoren- und Sammlerführungen. Eingeladen sind 2013 die Museumsvereine der Umgebung, dazu Ausstellungsmacher, Kunsthistoriker und Sammler schwerpunktmäßig aus Warschau und Istanbul. Geplant ist der Besuch von Galerien, Künstler-Präsentationen und Privatsammlungen. Somit ist DC Open nicht nur ein Wochenende für Kunstinteressierte, sondern auch ein internationaler Treffpunkt für Profis aus der Kunstszene.

Einige Beispiele: Die Galerie Kaune, Posnik, Spohr in der Albertusstraße in Köln zeigt unter dem Titel „Excerpts from Silver Meadows“ Fotos des Amerikaners Todd Hido. Die Bilder, die bis 29. November zu sehen sind, beziehen sich auf eine reale Straße in Kent in Ohio, wo der Künstler seine Kindheit verbrachte.

Benedikt Hipp: "In der folgenden Betrachtung wird vorausgesetzt der Körper sei eindimensional". Bild: Courtesy Galerie Kadel Willborn

Benedikt Hipp: „In der folgenden Betrachtung wird vorausgesetzt der Körper sei eindimensional“. Bild: Courtesy Galerie Kadel Willborn

Hido hält jedoch nicht die – nicht mehr existierende – Vorstadtwelt der siebziger und achtziger Jahre fest, sondern fotografiert Orte, die ihn an diese nicht mehr betretbare Kindheitswelt erinnern. Entstanden sind sinnlich-expressive Bilder, geheimnisvolle Landschaften, ambivalente Porträts junger Frauen. Hido ist 1968 geboren, studierte an der „Boston School of the Museum of Fine Arts“ und der Tufts University. Seine Arbeiten werden weltweit gezeigt; der Künstler lebt in der San Francisco Bay Area.

In Düsseldorf zeigt Kadel Willborn an seinem Sitz in der Birkenstraße bis 12. Oktober Arbeiten von Benedikt Hipp: neue kleinformatige Gemälde in hellen Farbtönen und Zeichnungen mit Collagen-Einsprengseln sowie installative Arrangements aus Elementen wie Plastiken, Readymades und objets trouvés. Der 1977 in München geborene Künstler konnte sich seit 2004 in mehreren Einzelausstellungen vorstellen, ist aber für die Rhein-Ruhr-Region ein „Newcomer“.

Bei conrads in der Düsseldorfer Lindenstraße ist Kunst mit differenzierten Bezügen zu Politik, Kunst-, Architektur- und Mentalitätsgeschichte zu erleben: „Great Nature®“ zeigt Arbeiten von Blaise Drummond – etwa das Bild „When the Cathedrals were White“. Im Titel greift er eine Schrift des Architekten Le Corbusier auf, im Bild interpretiert er Camille Corots Gemälde „Chartres Cathedral“. Drummonds Bilder oszillieren – so die Galerie in ihrer Mitteilung – zwischen dem Scheitern der Ideale und dem Wunsch nach einem Neubeginn. Der Architektur stehe in den Bildern die Natur gegenüber – in einer fragmentarischen Repräsentation und auch als Element des Konflikts und des Widerspruchs. Die Ausstellung ist bis 19. Oktober zu sehen.

Matthias Danberg, Zahnrad, C-Print, 2013, courtesy Galerie Voss, Düsseldorf

Matthias Danberg, Zahnrad, C-Print, 2013, courtesy Galerie Voss, Düsseldorf

Die Galerie Voss, Mühlengasse, Düsseldorf, lässt sich mit Arbeiten von Matthias Danberg auf einen Künstler ein, der vor allem am Computer arbeitet. Danberg zielt auf Schichten historisch-kultureller Entwicklung, verarbeitet sie in einer narrativen, metaphorischen Bildsprache. „Seine künstlerische Strategie changiert dabei zwischen der kalten Simulationsästhetik des Virtuellen auf der einen Seite und der subjektivindividuellen Gestaltungskraft eines tendenziell anachronistischen und damit widerständigen Künstlerverständnisses auf der anderen“, heißt es in der Pressemitteilung der Galerie. Danberg hat in Dortmund und Münster Philosophie und Kunst studiert. Er lebt in Düsseldorf.

Fünf neue abstrakte Skulpturen des Mexikaners José Dávila zeigt die Galerie Figge von Rosen in der Aachener Straße in Köln unter dem Titel „Das muss der Ort sein“. Gezeigt werden auch einige seiner „cut-outs“, Fotodrucke, in die weiße Leerstellen geschnitten sind. Dávila, 1974 in Guadalajara geboren, hatte zahlreiche Einzelausstellungen weltweit. Schon 2011 zeigte die Galerie Figge von Rosen Arbeiten von ihm unter dem Titel „Nowhere Can Be Now Here”.

Jeff Cowens fotografisches Werk bewegt sich zwischen abstrakten, malerischen Kompositionen, Motivcollagen und subtil verfremdeter Porträtfotografie. Der 1966 in New York geborene Künstler wurde bereits 2012 vom Kunsthandel Michael Werner präsentiert. Zum DC Open sind nun neueste Arbeiten Cowens in der Kölner Gertrudenstraße ausgestellt. Zu der Schau erscheint ein Katalog. Bis 26. Oktober sind die Werke zu sehen, die das weite Feld bildnerischen Arbeitens in der Fotografie ausmessen.

Ganz „klassisch“ dagegen präsentiert sich die Galerie Boisserée in der Kölner Drususgasse: Sie zeigt bis 2. November Skulpturen, Radierungen, Lithografien und Arbeiten auf Papier des in Brühl geborenen Max Ernst (1891 bis 1976). Zu dieser Ausstellung erscheint ein 160seitiger Katalog mit einem Text von Jürgen Pech, wissenschaftlicher Leiter des Max Ernst Museums Brühl. Er ist zum Preis von 20 Euro auch per Postversand von der Galerie erhältlich.

Die DC Open 2013 findet vom 6. bis 8. September statt. Die beteiligten Galerien sind am Freitag, 6. September, ab 18 bis 22 Uhr geöffnet, am Samstag von 12 bis 20 Uhr, am Sonntag von 12 bis 18 Uhr. Am Samstag, 7. September verkehrt ein Shuttle-Bus zwischen Köln (Rudolfplatz/Barcelò Hotel) und Düsseldorf (Grabbeplatz/Hermannplatz). Er verlässt Köln um 13, 16, 19 Uhr und Düsseldorf um 12, 15, 18 Uhr. Information: www.dc-open.de




Hier rätselhaft, dort Leidenschaft: Die Rheinoper würdigt Alexander Zemlinsky

Schwertkampf von hohem Abstraktionsgrad: "Eine florentinische Tragödie" mit Corby Welch, Jana Vuletic, Anoosha Golesorkhi. Foto: Hans-Jörg Michel

Schwertkampf von hohem Abstraktionsgrad: „Eine florentinische Tragödie“ mit Corby Welch, Jana Vuletic, Anoosha Golesorkhi. Foto: Hans Jörg Michel

Wir wissen nicht viel über das Ehepaar B. und S., sehen immerhin, dass sie schon mal ins Kino gehen. Da sitzen die beiden dann, im roten Sessel, erste Reihe. Sie wie in sich selbst gefangen, vom Gatten ein wenig abgerückt, der sich großspurig mit Popkorneimer in den Sessel gedrückt hat. Ein grober Klotz, ein verängstigtes Weibchen? Nun ja.

Es ist auch nicht ohne weiteres ersichtlich, dass die holde Gattin sanft entschlummert und sich dabei träumend in ihre Innenwelt verkriecht, um eine Geschichte zu imaginieren, die da heißt „Eine florentinische Tragödie“. Nur wer lesen kann im Rheinopern-Programm, ist klar im Vorteil.  Der unbedarfte Zuschauer aber blickt in Düsseldorf auf eine surrealistische, bunte, sonderbare Bebilderung eines Stückes, das doch eigentlich einen Psychothriller darstellt. Erdichtet von Oscar Wilde, in exaltierte, rauschhafte Musik gegossen von Alexander Zemlinsky.

Sich dieses Komponisten anzunehmen, ist grundsätzlich ein Verdienst. Seine Opern hatten ihre Zeit, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Gefolge des Verismo. Zemlinsky war ein exzellenter Klangfarbenzauberkünstler, liebte das Ornament, bisweilen die expressive Schärfe, nicht zuletzt eine offene Harmonik auf dem Weg zur Abschaffung der Tonalität. Von den Nazis ins New Yorker Exil getrieben, glänzte sein Stern nur kurz. Erst Ende der 70er Jahre begann eine zögerliche Zemlinsky-Renaissance.

Wenn also die Deutsche Oper am Rhein eben jene „Florentinische Tragödie“ auf die Bühne bringt, in Koppelung mit „Der Zwerg“, ist das alle Aufmerksamkeit wert.  Wenn aber die Regisseurin Barbara Klimo die Dreiecksgeschichte zwischen den Eheleuten Bianca (B.) und Simone (S.) sowie dem Liebhaber Guido Bardi kaum als Kammerspiel, vielmehr als belangloses Nebeneinander inszeniert, wächst die Enttäuschung mit jedem Takt. Die Traumsequenzen, das durch einen Harlekin geleitete Spiel im Spiel, wirken so beliebig wie grotesk. Nun, wir kennen zwar skurrile, irreale Träume. Dass wir indes irgendwie verändert, gar geläutert aus solcherart Schlaf erwachen, scheint allzu unsinnig.

„Die Florentinische Tragödie“ mag kein Schocker sein wie Richard Strauss’ Einakter „Salome“, verträgt deshalb gewiss Distanz vom Opulenten. Doch die aufgeladene psychologische Situation – der Gatte kommt nach Haus und findet einen Fremden bei seiner Frau – verdient eben mehr als die zwanghafte Bebilderung fast jedes Wortes, jeder Geste. Selbst die Zweckentfremdung Magrittescher Motive, die sich Ausstatterin Veronika Stemberger leistet, wirkt da nur befremdend. Dass Kaufmann Simone den Unbekannten, der sich als Fürstensohn entpuppt, einlullt, ihn durch allerlei Gerede perfide in den Bann zieht und zu einem scherzhaften Duell treibt, das für den Liebhaber tödlich endet, entbehrt in Düsseldorf jeder Spannung.

Und dies, obwohl doch die Symphoniker unter Jonathan Darlington die Musik überaus exzessiv aufleuchten lassen, ja sie klanglich und dynamisch bisweilen ins Extrem treiben. Die Sänger indes befinden sich in einer Zwickmühle. Sie müssen spielen ohne Entäußerung, aber zumeist forciert singen, um gegen die orchestrale Macht anzukommen. Kein Leichtes für Corby Welch (Guido Bardi), Anooshah Golesorkhi (Simone) und Janja Vuletic (Bianca).

Neugier und Furcht: Der Zwerg (Raymond Very) wird ausgepackt. Foto: Hans-Joerg Michel

Neugier und Furcht: Der Zwerg (Raymond Very) wird ausgepackt. Foto: Hans Jörg Michel

Wie anders hingegen „Der Zwerg“. Wo eben noch Ratlosigkeit herrschte, ist nun Staunen angesagt. Wir rücken an die Stuhlkante, lauschen der in ihrer Textur leichteren, gleichwohl süffigen, schillernden Musik. Wir ergötzen uns an schönen, charakterstarken, wendigen, farbenreichen Stimmen. Und wir werden hineingezogen in Immo Karamans spannende, sinnfällige, psychologisierende Inszenierung. Wenn auch der Schluss ein wenig verwirrt.

Zemlinskys Oper, ebenfalls nach Oscar Wilde („Der Geburtstag der Infantin“) spielt am spanischen Hofe. Wo die Prinzessin Donna Clara ihren 18. Geburtstag feiert. Ihr als Geschenk ein Zwerg zugesandt wird. Der fein singen kann, aber hässlich ist, von seiner Fratzenhaftigkeit allerdings nichts weiß. Weil er keinen Spiegel kennt. Der sich in die Infantin verliebt, ihrer Zuneigung gewiss ist, schließlich aber die Bedeutung eines Spiegels begreift und vor Erschrecken über sich selbst stirbt.

Die Geschichte ist so angelegt, dass die Infantin mit ihrem Geschenk nur spielt. Und am Ende die Schultern zuckt, dass das Spielzeug so schnell kaputt geht. Nicht so bei Karaman. Er verhandelt die Anziehungskraft des Hässlichen. Stellt Donna Clara eine Schar von Freundinnen und Zofen an die Seite, die mit pubertärem Gekicher, frühsexuellem Begehren, mit Neugier und Angst einem seltsamen Wesen, dem Zwerg begegnen. Und schafft mit Claras Vertrauter Ghita eine Figur, die in ihren Sehnsüchten und Träumereien nichts anderes als das alter Ego der Infantin ist.

Des Zwergen Pein und der Infantin Leid: Szene mit Raymond Very und Sylvia Hamvasi. Foto: Hans Jörg Michel

Des Zwergen Pein und der Infantin Leid: Szene mit Raymond Very und Sylvia Hamvasi. Foto: Hans Jörg Michel

Der Zwerg wiederum ist Opfer. Nicht das eines Spiels, sondern das der eigenen Unzulänglichkeit. Er ist verwirrt, verliebt, verzweifelt. Und wenn die vermeintliche Spielerei fast ihr tragisches Ende findet, sitzt Donna Clara ebenso verwirrt, vielleicht ein wenig verliebt, eher ziemlich verstört in einer Ecke. Hat sich gekauert neben einen, mit einem imaginierten, üppigen Spiegel verzierten, schicken Sekretär. Verortet in einem weiten Gewölberaum, den Nicola Reichert erdacht hat.

Dass jedoch aus dem Zwergen ein Priester wird, Regisseur Karamann so offenbar das streng katholische Spanien ins Spiel bringen will, in dem die jungen Damen in Einheitskleidchen von uniformierten Gouvernanten getriezt werden, wirkt ein wenig konstruiert. Gleichwohl allenthalben Faszination. Zumal hier die Düsseldorfer Symphoniker so differenziert wie leidenschaftlich zu Werke gehen. Und mit Sylvia Hamvasi (Infantin), Anke Krabbe (Ghita) sowie Raymond Very (Der Zwerg) ausgefeilte Charaktere auf der Bühne stehen, berührender Gesang inklusive.

Die Rheinoper präsentiert also einen Zemlinsky-Doppelabend, der zwischen Rätselhaftigkeit und Leidenschaft pendelt. Gleichwohl muss er als wichtiges Plädoyer für einen zu Unrecht vernachlässigten Komponisten gelten.




Pierre-Laurent Aimard versöhnt beim Klavier-Festival die Romantik mit der Moderne

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard. Foto: KFR/Frank Mohn

Der Pianist Pierre-Laurent Aimard. Foto: KFR/Frank Mohn

Pierre-Laurent Aimard schnauft, scheint zu atmen im Puls vertrackter Rhythmen. Und wenn der französische Pianist aus klavieristischem Gewusel und virtuoser Höchstleistung heraus einen Ruhepunkt findet, scheut er vor einem kleinen Seufzer nicht zurück. Am Ende, wenn er die Symphonischen Etüden Robert Schumanns rauschhaft zelebriert, zugleich strukturell seziert hat, müssen wir erst einmal durchpusten. Auf dass sich die Spannung löse, die Aimard in 45 Minuten aufgebaut, immer wieder angeheizt und gehalten hat.

Schumann ist so sehr Komponist des dunkel Melancholischen, des kindlich-naiv Lyrischen wie des Erhabenen, Stolzen, dass seine Interpreten aufpassen müssen, nicht in eine Kitschfalle zu tappen. Doch Aimard ist davor gefeit. Sein Ringen mit der Materie, um der unmittelbaren Ausdruckskraft willen, sowie  sein analytischer Zugriff vermeiden jede romantische Tümelei. Hier kommt vor allem das Symphonische zu Geltung, oftmals in harscher Klangsprache. Wer will, mag von einer Revolution sprechen, entwickelt aus dem Geist der Moderne.

Der Befund gewinnt an Bedeutung, ist doch von einem Konzert im Düsseldorfer Robert-Schumann-Saal zu berichten. Einst gelangte der Komponist in dieser Stadt zu großem Ruhm, bald aber zeigte man dem zunehmend abwesend wirkenden Künstler die verständnislose, kalte Schulter. Heute weiß Düsseldorf umso mehr, was sie an dem komponierenden und dirigierenden Sonderling hatte. Der Ehrungen waren und sind viele. Aimards Interpretation ist insofern bezwingend, als sie das Denkmal namens Schumann gewissermaßen entstaubt.

Für diese Herangehensweise ist der Franzose seit jeher bekannt. Nicht zuletzt beim Klavier-Festival Ruhr hat er stets seine avantgardistischen Wurzeln offengelegt, sich als maßgeblicher Interpret der Werke Olivier Messiaens, György Ligetis oder Pierre Boulez’ einen Namen gemacht. Dieses Düsseldorfer Konzert ist Aimards nunmehr 18. Auftritt beim Festival. Und natürlich hat er die Moderne im Gepäck. Mit Klavierstücken des amerikanischen Komponisten Elliott Carter, der im letzten Jahr starb. Als Hommage an einen Freund.

Aimard bedient sich dabei eines scheinbar gewagten, bei näherem Hinhören aber höchst sinnträchtigen Kunstgriffs. Nach der symphonischen Opulenz Schumanns streut er einige „Bunte Blätter“ des Komponisten zwischen Carters Klaviermusik. Das mag zunächst disparat klingen, gewinnt aber an Statur durch des Pianisten Kunst, mit Übergängen Entsprechungen zu evozieren – eine Art Versöhnung, zu unserer großen Verblüffung.

Schumanns kleine Formen und Carters Strukturelemente – in Stücken wie „90+“ oder „Tri-Tribute“ – zeigen sich in Aimards Deutung wie verwandt. Wenn auch um die Ecke gedacht, den Blick fest auf den Meister des komprimierten Ausdrucks gerichtet, Anton Webern. Carter arbeitete dabei mit Klangschichtungen, oft permanenten Tempoverschiebungen oder kleinteiligen Figurationen. Diese brechen sich im Werk „Caténaires“ in rasender Geschwindigkeit Bahn. Fulminantes Finale eines Konzertes, das unter Aimards Händen so schön wie aufregend Konstruktion und Expressivität verbindet.




Stadt, Land, Fluss: Andreas Gursky in Düsseldorf

Im schwarzen Wasser schwimmt vereinzelt bunter Müll, ein wenig unter der Oberfläche, es könnten auch fernöstliche Blumen sein. Das Innere des Flüssiggas-Tanks in Katar ist gleißend golden, der Teppich der Düsseldorfer Kunsthalle dagegen einfach nur grau.

Doch möchte man gerne mit der Hand darüber streichen, um zu testen, ob er sich vielleicht rau anfühlt, aber das geht nicht: Denn der Teppich ist bloß fotografiert, der Fluss in Bangkok und der Gas-Tank sind auf großformatigen Fotos zu sehen. Sie zeigen die Dinge, wie sie sind, aber nicht, wie wir gewohnt sind, sie zu sehen. Das macht sie magisch: Höchste Realität schlägt in größtmögliche Poesie um. Der Magier heißt Andreas Gursky; ebenso wie die neueste Ausstellung im Museum Kunstpalast in Düsseldorf.

Man müsste nun referieren über die Becher-Schule, Gurskys Zeit an der Folkwang-Universität und der Düsseldorfer Kunstakademie, deren Professor er heute ist. Man müsste sprechen über „Struffsky“, unser Synonym für Thomas Struth, Thomas Ruff und Andreas Gursky, das wir spaßeshalber verwendeten, wenn wir eine der Ausstellungen der „Düsseldorfer Photoschule“ besuchten. Doch im Grunde kann man all dies ohnehin im Katalog nachlesen. Sinnvoller ist es, einfach in die Ausstellung zu gehen. Denn hier mischen sich neue Werke wie die „Bangkok-Serie“ oder „Katar“ mit früheren Arbeiten wie „99 Cent“ von 1999, das die erschlagende Billigwarenfülle in einem amerikanischen Supermarkt zeigt oder Angler am grünen Ufer der Ruhr in Mülheim 1989. Mein Lieblingsbild in diesem Zusammenhang ist der dreiflämmige Gasherd von 1980, wie er so unscheinbar in seiner Ecke steht – ein Küchenmöbel, sonst nix.

Bangkok IX, 2011, Copyright: Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Bangkok IX, 2011, Copyright: Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Bewusst herrscht bei der Hängung weder Chronologie noch Themenzwang, das macht die Ausstellung zu einer Entdeckungsreise, einer Art Memory-Spiel, welches Foto wohl zu welchem gehören möge. Schnell ausgemacht sind die C-Prints der Ocean-Serie von 2010 in ihrem unendlichen Blau und der Aufforderung zum Inselraten – ich habe Lanzarote gefunden. Außerdem das Publikum eines Madonna-Konzerts und ein Prada-Schuhregal. Nebst Börsen-, Flughafen- und Rennstrecken-Bildern, die auf den ersten Blick realistischer scheinen als sie sind. Doch ihre digitale Bearbeitung bzw. Komposition gilt nicht umsonst als das Stilmittel Gurskys, das ihn in die Nähe der Malerei rückt. Mit der beschäftigt er sich in der „Ohne Titel“-Serie, zu der nicht nur das Foto des Teppichs der Kunsthalle gehört, sondern auch extreme Nahansichten von Gemälden von Vincent van Gogh oder John Constable oder das bekannte Foto von einem Gemälde Jackson Pollocks im Museum of Modern Art in New York.

Nun also Bangkok: Schwarzes Wasser, das ein Geheimnis birgt. Schwarzes Wasser, das aussieht wie gemalt, das grün wird, die Lichtreflexe nahezu weiß. Nach dem tiefen Blau des Ozeans, auf dessen Inseln wir in Vogelperspektive schauen, folgt jetzt die Umkehrung in die extreme Nahansicht, doch ohne die Oberfläche zu durchdringen. Nur in Schemen sehen wir Fetzen des Wohlstandsmülls vorbeigurgeln. Vielleicht hat jemand im Supermarkt eine Kekspackung aufgerissen. Sie hat 99 Cent gekostet…

Bis 13. Januar 2013 im Museum Kunstpalast, Düsseldorf
Internet: www.smkp.de

Katar, 2012, Copyright: Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2012

Katar, 2012, Copyright: Andreas Gursky / VG Bild-Kunst, Bonn 2012




Klangwuchtiger Wahn – Die Rheinoper zeigt „Elektra“ als stetes seelisches Dahinwelken

Elektra, das Racheweib (Linda Watson), die Axt umschlingend. Foto: Matthias Jung

Plötzlich geht ein Ruck durch die Reihen. Ein paar Herrschaften schicken sich an, das Theater zu verlassen. Mitten im Stück. Ohne offensichtlichen Grund. Denn auf der Bühne wird weder bildmächtig gefoltert, noch blutig gemordet. Keine Orgien im Müll, keine Schändungen, nichts. Was also geschieht hier?

Positiv betrachtet, aus der Sicht der Kunst, in diesem Falle der Musik, spült die fantastische Kraft und Wucht der Klänge, die Wahn, Obsession und Deformation artikulieren, diese Menschen aus dem Düsseldorfer Opernhaus. Kein Wunder, wenn „Elektra“ gegeben wird, Richard Strauss’ revolutionär exzessiver Einakter mit all seinen dynamischen Extremen – hier sensibel, aber schon bedrohlich, dort immer noch lauter, brachialer, schockierender. Ins Negative gewendet aber heißt dies: Wer’s nicht aushält, der muss fliehen. Daraus einen Vorwurf zu stricken, ist indes Unsinn. Strauss hat sich in „Elektra“ einem dionysisch-pathologischen Rausch (auch der Orchesterfarben, bis hin zum Geräusch) ergeben, der im Grunde die Neurose auf die Bühne bringt. Kranke zu betrachten, wie sie seelisch dahinwelken, ist nicht jedermanns Sache.

Andere mögen diesen Abend im Düsseldorfer Opernhaus als Katharsis erkennen. Wer dieses tönende Stahlbad der Ekstasen durchschritten hat, sieht manch Nervositäten des Alltags mit einem milden Lächeln. Dass dies ein Werk leisten kann, das vor immerhin mehr als 100 Jahren uraufgeführt wurde, ist beachtlich. Dass Richard Strauss es mit „Salome“ und „Elektra“ bei seinem Ausflug in den wild-wuchernden Jugendstil und den harschen Expressionismus bewenden ließ, darf umso bedauerlicher registriert werden.

Es ist hier nicht zuletzt deshalb soviel von der Musik die Rede, weil die Düsseldorfer Neuproduktion der „Elektra“ ihre nervöse Spannung zuallererst aus der brodelnden Energie gewinnt, die aus dem Orchestergraben steigt. Dann muss von einer starken bis phänomenalen Sängerleistung die Rede sein. Zum Schluss von einer Regie, die, wie angedeutet, keinen Grund für reflexhafte Flucht liefert. Die sich mitunter gar der exaltierten Interaktion verweigert. Die andererseits ein wuchtiges Bühnenkonstrukt gewissermaßen mitsprechen lässt.

Grau, verwinkelt, unheimlich: Das Haus der Elektra. Foto: Matthias Jung

Roland Aeschlimann hat dies in Form eines gewaltigen Hauses erbaut und auf die Spielfläche gewuchtet. Flackernde Lichter. Fensterlose Löcher, aus denen bisweilen Tote herausbaumeln, graue Mauern, die das Innere weitgehend verbergen. Erst am Ende, wenn Elektras Bruder Orest aus Rache die Mutter und deren Liebhaber gemeuchelt hat, bekommen wir Einblick. In ein Eingeweide, das so deformiert ist wie die Seelen der Menschen.

Elektra also, gefangen in der Beschwörung ihres erschlagenen Vaters Agamemnon und ihrer Gier nach Vergeltung. Gefesselt vom eigenen Wahn und daraus resultierender Einsamkeit. Doch ach: So sehr Linda Watson die Partie betörend, verstörend, aufbegehrend singt, in leuchtenden Farben und in größter Kraft, so wenig körperliche Exaltation lässt Regisseur Christof Nel zu. Das Racheweib wirkt kalt, mitunter wie unbeteiligt. Selbst die große Mutter-Tochter-Szene, mit Renée Morloc als Klytämnestra, die ihre Stimme bis in die Überzeichnung treibt, bleibt ein eher zahmes Duell.

Immerhin darf sich Morloc wie eine Besessene, von Träumen Geplagte austoben, so wie Elektras Schwester Chrysothemis (Morenike Fadayomi, mit einigen Problemen bei der Stimmfokussierung), dauererregt an einem Brautkleid herumnestelt. Pure Statik hingegen umgibt den totgeglaubten Bruder Orest. Doch in seiner steifen Würde wirkt der Mann eminent bedrohlich, weil Hans-Peter Königs Bass noch das größte, stärkste orchestrale Wirbeln trefflich übertönt.

So soll erneut von den Düsseldorfer Symphonikern die Rede sein. Die Dirigent Axel Kober anfangs zügelt, um ihnen alsbald freien Lauf zu lassen. Und die doch, trotz aller Klangwucht, stets die Balance halten zu den Solisten, die ungemein textverständlich singen. Damit wird diese Rheinopernproduktion zu einem singulären Ereignis.

Wohl dem, der bis zu den letzten brutalen Schlägen des Orchesters ausgehalten hat. Sehr sehr schade allerdings, dass es nur noch eine Vorstellung gibt, am 7. Oktober.

Karten unter Tel.: 0211/8925-211

www.operamrhein.de

 




Wir sind alle Kafka: Saisonauftakt im Düsseldorfer Schauspielhaus

70 „Kafka“-Figuren im charakteristischen schwarzen Anzug, Hut und Mantel strömen aus den ersten Sitzreihen des Zuschauerraums auf die Bühne und nehmen an der Rampe Aufstellung. Unter ihnen Josef K. „Ich bin Josef K., Prokurist“, sagt er – diesen Satz wird man in den nächsten drei Stunden noch öfter von ihm hören. Denn viel mehr weiß er nicht über sein Leben…

Zum Auftakt der Saison zeigt das Düsseldorfer Schauspielhaus eine Adaption von Kafkas Romanfragment „Der Prozess“ in der Inszenierung des russischen Regisseurs Andrej Mogutschi, der sich offenbar in Dreh- und Hebebühne verliebt hat. In einem wilden Reigen wirbeln die Kafka-Statisten (im Programmheft ausgewiesen als Chor) herum, fahren hinauf und hinab, wobei Josef K. (weltentrückt gespielt von Carl Alm) gleichzeitig noch das Kunststück zu bewältigen hat, sich mehrmals umzukleiden. Das erzeugt Stress, das erzeugt Zeitdruck. „Zu spät“, ruft Josef K., „ich komme zu spät.“ Das stimmt: Denn seine Verhaftung ist schon erfolgt, die Gerichtsbarkeit hat ihn in den Klauen. Doch was ihm vorgeworfen wird, weiß er nicht.

Dafür finden Mogutschi und seine Bühnenbildnerin Maria Tregubova seltsame, beinahe surrealistische Bilder: Auf schiefer Ebene ist Josef K.s Kammer mit in den Proportionen verzerrtem Mobiliar aufgebaut, es könnte auch das Zimmer von Gregor Samsa sein. Verzweifelt klammern sich die Schauspieler an die spärlichen Möbel, doch es hilft nichts: Sie stürzen buchstäblich in den Abgrund. In einer anderen Szene sitzt Josef K. leblos, gestützt von seinen Wächtern (Moritz Löwe und Jonas Anders), in einem schwarzen Oldtimer, die Statisten streuen rote Rosen und unversehens wird die Szenerie zum Leichenzug. Am Bühnenhimmel hängen Wattewölkchen und zum Advokaten (Sven Walser) rudert man im weißen Bötchen durch im Raum schwebende Türen. Die Musik (Alexander Monotskov) verstärkt die varietéhafte Anmutung des Ganzen. So bebildert die Inszenierung zwar ausführlich, manchmal witzig und leider auch etwas langatmig den Alptraum, in dem sich Josef K. befindet. Doch ihr Zentrum findet sie nicht. Sie kreiert eher ein Kafka-Abziehbild.

„Zum letztenmal Psychologie“ skandiert der Chor, obwohl am ehesten noch eine psychologische Deutung angeboten wird: Besteht Josef Ks. Schuld etwa in uneingestandener sexueller Begierde? Der nackte Advokat und seine Gespielin Leni (Betty Freudenberg) im monströsen Ganzkörpernacktanzug sowie die hohen Herren der Gerichtsbarkeit allesamt unten ohne sprächen dafür. Ebenso Fräulein Bürstners (Patrizia Wapinska) durcheinandergewirbelte Blusen. Doch nimmt man dem somnabulen Josef K. den Tausendsassa gar nicht ab. Soll er etwa das Riesenbaby gezeugt haben, das plötzlich über die Bühne geistert? Am Ende gar mit seiner Mutter?

Antworten gibt es naturgemäß nicht. Im Grunde ist Josef K. gesamtes Leben ein Prozess, den er nicht gewinnen kann, denn der unglückliche Ausgang ist vorprogrammiert. Da kann er sich noch so viele Advokaten auf dieser Lebensreise nehmen, irgendwann endet sie. In diesem Sinne sind wir wohl alle ein bisschen Kafka.

„Der Prozess“ nach Franz Kafka
Karten und Termine: www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




Grandiose Deutung: „Don Giovanni“ an der Rheinoper

Wer – oder was – ist Don Juan? Die Frage hat die geistige Welt schon umgetrieben, als Tirso de Molina sein barockes Spiel vom bestraften Wüstling verfasst und auf die Bühne gestellt hat. Seither hat Don Juan eine Weltkarriere gemacht: Es gibt tausende von literarischen Werken, Dutzende von Opern und hunderte von Büchern über die Gestalt, deren historisches Werden ebenso im Dunkel liegt wie die inneren Schichten seiner Seele.

Spätestens seit Wolfgang Amadé Mozart, seit E.T.A. Hoffmann und Søren Kierkegaard ist der Don-Juan-Stoff mit Musik verbunden. Don Giovanni ist ein idealer Opernheld, denn seine Uneindeutigkeit und sein wesenloses Sein, seine symbolische Kraft und seine sinnliche Existenz lassen sich in und mit Musik – zumal, wenn ein Mozart am Werke ist – am sinnenfälligsten einkreisen. Kein Wunder also, dass sich die geistige Auseinandersetzung mit dem unsterblichen Mythos Don Juan immer wieder an Mozarts und da Pontes Oper entzündet und zu ihr zurückführt.

Kein Wunder auch, dass die Welt der Oper nicht müde wird, die Geschichte von dem Mann mit den tausendunddrei spanischen Geliebten in immer neuen Inszenierungen auf seine Relevanz für das Heute zu befragen. Das geschieht nicht selten in ratlos erzählender Kapitulation vor dem gewaltigen Stoff, nicht selten auch in hysterischer, fundamentloser Zuspitzung, hin und wieder – wie jetzt in Duisburg – aber auch in einer grandios gekonnten, auf der Grenze zum Abgründigen balancierenden Deutung.

Dabei muss man Karoline Grubers gedanklichen Ansätzen nicht in allem folgen: Don Giovanni ist nämlich keineswegs, wie die Regisseurin im Interview des Programmhefts meint, ein Prinzip der Freiheit, sondern eher das Gegenteil. Er ist – zumindest bei Mozart – kein Träger einer lustvoll-erotischen Anarchie, die den moralischen oder kirchlichen Autoritäten so lange amüsante Schnippchen schlägt, bis ihn endlich der Teufel (oder bloß die Theater-Hölle) holt. Dazu finden wir in der Oper zu viele Personen, die an Don Giovanni einfach nur leiden. Aber die Regisseurin, die der Deutschen Oper am Rhein endlich einmal einen klugen und eminent theatralischen Don Giovanni geschenkt hat, weist in ihrer Durchdringung des Mythos auf eines der entscheidenden Elemente hin: Don Giovanni ist Träger einer unbedingten erotischen Energie. Sie setzt in allen Menschen, die mit ihr in Kontakt kommen, unwiderstehliche, anarchische Kräfte frei.

Ihr bisheriges Dasein zwischen den Polen einer beherrschten, gesellschaftlich eingebundenen Sexualität und den von sozialer Zuordnung und moralischen Prinzipien geregelten Lebensformen wird gesprengt. Die Wucht ist ungeheuer und entwurzelt die Menschen: Donna Anna wird von der dunklen erotischen Kraft Giovannis auf ewig verwundet und zu einer „geregelten“ Liebesbeziehung nicht mehr fähig sein; Donna Elvira wird ihren heroischen Kampf, der Existenz Don Giovannis humane Züge zu geben, im Kloster beenden, sich also von der Welt ab und Gott zuwenden. Zerlina und Masetto werden vielleicht äußerlich unversehrt, aber innerlich gebrochen in ihr Bauern-Dasein zurückkehren. Und für Don Ottavio gilt: Wie er war zu aller Zeit, so bleibt er in Ewigkeit; eine Figur, die sich jedem Wandel in unerschütterlicher Resistenz entzieht. Ein starres Gegenbild zu Don Giovannis ewig geschmeidiger Wendigkeit, das ebenso erschreckende Züge trägt.

Gruber realisiert das magnetische Prinzip von Anziehung und Abstoßung in einem Bühnenbild von Roy Spahn, das sich konsequent durchgeformt jedem opulenten Dekorationswillen entzieht. Arnold Böcklins Bild „Odysseus und Kalypso“ als – immer wiederkehrendes – Element signalisiert, dass mythische Bezüge und seelische Abgründe in dieser Inszenierung ihren Platz finden. Hinter Türen, die an Blaubarts Kammern erinnern, hausen Gespenster: weiße Frauen, bleiche Bräute, von Don Giovanni ihres Lebens beraubt – ein kluger Hinweis auf die Verschränkung von Sex, Tod und Teufel, wie wir sie etwa in Heinrich Marschners „Der Vampyr“, einer Schlüsseloper der Romantik, wiederfinden.

Unverzichtbar für Grubers tiefgründige Arbeit am „Don Giovanni“ erweisen sich die bedeutungsvollen Kostüme Mechthild Seipels. Endlich einmal keine Kostümbildnerin, die sich in Designer-Klamotten oder Disco-Fetzchen flüchtet, sondern Epochen und Stile in den Dienst einer Deutung stellt. Donna Annas Robe erinnert an Madame Bovary oder Anna Karenina; Donna Elvira trägt den – stellenweise anzüglich geschürzten – barocken Aufwand einer Heroine zur Schau; Don Ottavio tritt in blauem Morgenmantel als getreue Kopie des ermordeten Komturs, später mit dem unauffälligen Anzug der Arrivierten und der Mütze einer Burschenschaft auf. Leporello verweist mit zerbrochenen Handschellen auf eine spezielle Beziehung zu seinem Herrn; Masetto und Zerlina sind in der Gegenwart verortet: Sommerkleidchen und Handtasche, Hornbrille und Karo-Pullover. Vielsagende Kostüme also, die mit der Dynamik oder Statik der Figuren im Verlauf des Stücks korrespondieren.

Dass der Komtur am Ende mit einer angedeuteten Mitra und einer monströs verunstalteten Gesichtshälfte wiederkehrt, wird der Figur gerecht: Er ist Vertreter der Hölle ebenso wie Symbolfigur für die göttliche Ordnung der Welt. Dass der finale Übergriff Don Giovannis – die Herausforderung des Göttlichen – seinen Untergang auslöst, spielt in Grubers Lesart freilich kaum eine Rolle; der blasphemische Zug der Figur Don Giovannis wird nur einmal in einer Parodie des geneigten Hauptes Jesu am Kreuz angedeutet.

Gruber zeigt die Personen des Stücks im Bannkreis eines Don Giovanni, der seinerseits seltsam ungreifbar bleibt – und damit bildet die Regisseurin den Charakter des Bühnenhelden präzis ab. Mozart hat ihm keine selbstreflektierende Musik gegeben, nur einen musikalischen Rausch, ein „perpetuum mobile“, und ein verlogenes Ständchen. Zutreffend beschreibt Dramaturg Alexander Meier-Dörzenbach im lesenswerten Programmheft Don Giovanni als „seelisches Sinnbild“, das vor allem ex negativo in den anderen Figuren zu finden ist. Don Giovanni als Nicht-Existenz, als Kraftfeld, als Chimäre – die perfekte Chiffre des Bösen.

Auf diesen „Don Giovanni“ sich einzulassen, lohnt sich; er ist auch der verästelten Inszenierung Stefan Herheims in Essen überlegen, weil Karoline Gruber die Bild- und Bewegungswelt bündelt statt sie assoziativ schweifen zu lassen. Auch musikalisch beschert diese – für die Nikikai Opera Foundation in Tokio entstandene und an die Deutsche Oper übernommene – Produktion viel Mozart-Glück. Friedemann Layer, ans Pult der Duisburger Philharmoniker zurückgekehrt, durchschwimmt zwar das Adagio der Ouvertüre eher, bekommt aber schnell Boden unter die Füße und entfaltet einen kernigen, nervigen, klarsichtigen Mozart-Sound. Die Tempi sind nicht übertrieben; das Cello lässt in der Begleitung der Rezitative aparte Farben zu.

In der Sängerliste überwiegen Namen aus dem Osten; entsprechend hört man eine gesangliche Stilistik, die mit Mozarts Eleganz wenig anzufangen weiß. Roman Polisadov orgelt sich durch die paar Sätze des Komturs; Olesya Golovneva bringt zwar die dramatische Substanz für die Donna Anna mit, findet aber erst in der – dann aber meisterlich gestalteten – Arie „Non mi dir, bell‘ idol mio“ zu ausgeglichenem Singen und einer flüssigen Tonproduktion. Nataliya Kovalova müht sich mit flach hupenden Tönen um die Donna Elvira, ohne für eine ihrer Arien die technische Façon zu gewinnen. Alma Sadé treibt zwar den einen oder anderen Ton ohne Leichtigkeit in die Höhe, versteht sich aber auf gut phrasiertes Singen mit unverkrampften Linien. Darin tut es ihr Torben Jürgens als Masetto gleich: ein musikalisch erfreuliches Paar. Corby Welch scheint nicht seinen besten Abend gehabt zu haben; sein Tenor ist zwar präsent und treffend timbriert, bleibt aber seltsam schwammig in der Tonemission, als fehle ihm die rechte Fokussierung.

Laimonas Pautienius verfügt über einen flexiblen Bariton, fast immer leicht ansprechend und schlank geführt, beweglich im Rezitativ: ein überzeugender Don Giovanni, der die Farben der Ironie und der Willensstärke ebenso hat wie einen träumerischen voix mixte – Klang für das Ständchen („Deh, vieni alla finestra“). Nur in seiner Arie kommt er an die Grenze seines Atems. Den vokalen Glanzpunkt des Abends setzt Adam Palka als Leporello mit einer sicher positionierten, im Klang fülligen, konturscharfen Stimme, die nicht nur sauber artikulierend, sondern auch rhetorisch brillant und charakterisierend eingesetzt wird.

Der „Don Giovanni“ ist wieder ab 7. Dezember in Düsseldorf zu erleben. Hingehen!




Daniil Trifonov: Grandioses Debut beim Klavier-Festival Ruhr

Daniil Trifonov bei seinem Debüt beim Klavier-Festival Ruhr in Düsseldorf, Foto: KFR/Frank Mohn

Daniil Trifonov bei seinem Debüt beim Klavier-Festival Ruhr in Düsseldorf, Foto: KFR/Frank Mohn

Hymnische Kritiken zu bekommen, ist heutzutage nicht schwer. Die Frage ist immer, von wem. Der 21-jährige Russe Daniil Trifonov hat sie nicht aus einer gut geschmierten PR-Maschinerie, sondern von Kritikern, deren Kompetenz und Unabhängigkeit erprobt sind.

Der junge Mann scheint sich zum Glück auch nicht als kompatibel für Kampagnen zu geben: Seine noch nicht inflationär verbreiteten Äußerungen in Interviews deuten auf ein maßvolles gezügeltes Selbstbewusstsein hin, das sich vor allem musikalisch verwurzelt: Auf der einen Seite zitiert ihn das Programmheft zu seinem Einstand beim Klavier-Festival Ruhr mit dem Satz, er verstehe das Wort Karriere im musikalischen Sinne; auf der anderen hatte er sein im letzten Jahr schon geplantes Debüt bei dem renommierten Ruhrgebiets-Tastenmarathon abgesagt, um nach dem Rubinstein-Wettbewerb in Tel Aviv noch schnell auch den Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau zu gewinnen. Dem 16. Chopin-Wettbewerb war er einen dritten Preis wert. Aber Martha Argerich und Krystian Zimmerman wurden in Warschau auf den Newcomer aus Nischnij-Nowgorod aufmerksam. Und wenn Argerich einmal sagt, so etwas habe sie noch nie gehört, hat das Gewicht.

So haben sich die Portale der Klavierwelt für Trifonov weit geöffnet. Er hat schon in Sälen gespielt, die für Andere Gipfelpunkt einer langen Karriere sind: Carnegie Hall New York, Wigmore Hall London, Musikverein Wien, Suntory Hall Tokyo, Salle Pleyel Paris, Amsterdamer Concertgebouw und Berliner Philharmonie; dazu kommen jetzt im Sommer Festivals wie Verbier, Lockenhaus oder das – neben dem Ruhr-Festival – zweite wichtige europäische Pianistentreffen im südfranzösischen La Roque d’Anthéron. Und wer mit den Berliner und den New Yorker Philharmonikern spielt, mit dem Cleveland Orchestra und den Wiener Philharmonikern, von dem lässt sich getrost behaupten, er habe den Durchbruch nicht nur geschafft, sondern längst hinter sich.

Solche Leute holt das Klavier-Festival an Rhein und Ruhr! Ruhris und Rheinis sollten, so sie es denn wahrnehmen, stolz sein auf ihr noch existierendes Kulturleben. Zumindest die lesende Öffentlichkeit hatte für diese Wahrnehmung wenig Chancen: Das Trifonov-Debüt wurde publizistisch weitgehend ignoriert. Zu wenig lokale Relevanz für „Europas neue Metropole“? Das stimmt sogar: Trifonov bewegt sich auf internationalen Parketts. Der einzige Unterschied zu arrivierten Künstlern seines Kalibers ist das Fehlen von Hochglanz-Breitseiten, die ihm mit ihrem Dauer-Salut den Weg auch in „lokale“ Feuilletons freischießen.

Das Publikum in Düsseldorf jubelte. Trifonov erwies sich als „formidabler Virtuoso“, wie ihn die „New York Times“ bei seinem Debüt im August 2011 beschrieben hat. Das betrifft nicht nur Wucht und Kraft des Zugriffs, etwa in den bösen Glockenschlägen und dem ungezähmten Furor von Skrjabins fis-Moll-Sonate Nr. 3, einem Paradestück Trifonovs. Sondern auch den Bruitismus und die ungeschönte Raserei in den pianistisch unglaublich anspruchsvollen Transkriptionen Guido Agustis von Strawinskys „Feuervogel“-Sätzen. Und die technischen Raffinessen von Chopins Etuden op. 25, die Trifonov so spielend bewältigt, als habe er ein paar Übungsstückchen von Karl Czerny vor sich.

Daniil Trifonov bei seinem Debüt beim Klavier-Festival Ruhr in Düsseldorf, Foto: KFR/Frank Mohn

Daniil Trifonov bei seinem Debüt beim Klavier-Festival Ruhr in Düsseldorf, Foto: KFR/Frank Mohn

Aber all die grandiosen Kaskaden, die Pranke im Bass und die gleißende Kraft des Diskants, die durchgerauschten Passagen und Arpeggien, die Raserei der Hände und der Triumph ihrer Spannweite über die Grenzen der Physis – alles das macht den jungen Virtuosen noch nicht zu einem Dramatiker, einem Poeten oder einem Lyriker am Klavier, sondern erst einmal zu einem Techniker. Wenn da nicht noch etwas ganz Anderes wäre: Im Allegretto der Skrjabin-Sonate zum Beispiel ist es die Farbe der Bässe, ein trocken-drohendes Staccato, das die Leichtigkeit als trügerisch entlarvt. Es ist die Abtönung der Phrasenenden, die zeigt, mit wie viel Delikatesse Trifonov zu modellieren versteht. Es ist die souveräne Geschmeidigkeit, mit der er sich an das Maestoso im letzten Satz anschleicht: Wie ein Tiger spannt er die Sehnen an, um dann mit voller Kraft abzuspringen.

Mehr noch: In Tschaikowskys „Echo rustique“ aus den 18 Morceaux op.72 bricht sich eine fröhlich zupackende Lust am Spielen ihre Bahn, ein gewitzter Blick auf den „Effekt“. Und in der cis-Moll-Hommage an Chopin aus dem gleichen Zyklus überzeugt der klare Aufbau des Stücks, die klug gesetzten dynamischen Forte-Piano-Kontraste, und wieder die federnden, gestaltreich durchformten Bässe. Bei Strawinsky transzendiert Trifonov die knallig-wilde Energie der „Danse infernale“ in der „Berceuse“ in kühler Poesie, in zerbrechlich-gläsernen Klangflächen. Das ungerührte, kalte Feuer dieser Tanz-Explosionen erfasst Trifonov ebenso wie die orchestrale Fülle des Finales.

Bedürfte es nach so viel musikalischer Überzeugungskraft noch eines letzten Impulses, um Trifonovs überragende Begabung zu bestätigen: mit Claude Debussys „Images“ hätte er ihn gegeben. Die „reflets dans l’eau“ habe ich – weder auf Tonträger noch live – schon lange nicht mehr so kontrolliert, so klar und dennoch mit solch poetischer Durchdringung erlebt wie an diesem Abend im Düsseldorfer Robert-Schumann-Saal. Die große Kunst der Balance – hier der innere Drang des Stücks, mit lyrischen Farben aquarelliert zu werden, dort der Wille Debussys zu Klarheit und seine Distanz zu schweifend-glühender Innerlichkeit – beherrscht Trifonov schlicht überwältigend. Und die Versenkung am Schluss hat in ihrer zärtlichen Freude am lichten Ton nichts vom Hang zum romantischen Kolorit, das Debussy gerne in die Nähe unscharfer Farbenmalerei des Impressionismus rückt.

Dass ein 21jähriger noch nicht „fertig“ ist mit dem Erschließen musikalischer Weltenräume, ist eine Binsenweisheit, die eigentlich keiner Erwähnung bedürfte. Aber bevor Trifonov zum jungen Abgott aus einer neuen Pianistengeneration stilisiert wird, sei auch auf Momente hingewiesen, die sein Potenzial auf künftige Erfüllung hin offen halten: Es ist, pikanterweise, das Einfache, das ihm noch nicht so souverän von der Hand geht. Tschaikowskys Morceaux, „Salonstücke“ im besten Sinne, wünschen sich im Falle der Valse aus op.51 das „Sentimentale“, also die Verschattung des Tons, den Trifonov zu klar und zu diesseitig nimmt. Die Bässe sind in diesem Fall zu bestimmt gesetzt, Arpeggien fehlt das biegsame Gleiten mit dem Hauch des Ungefähren. Das Sentiment will, überspitzt gesagt, ein kleines Spiel mit der Schlamperei – und das fordert das überlegen-augenzwinkerte Loslassen eines Virtuosen, der weiß, was er kann, und der sich dennoch ein wenig „gehen“ lässt.

Auch im Andante der Skrjabin-Sonate steht die jugendliche Ernsthaftigkeit der Suche nach dem Doppelgesicht der perfekten Töne noch im Wege. Bei Chopin schafft es Trifonov, poetisches Raffinement expressiv zu gestalten; da sind es nurmehr Details, die davon zeugen, wie jung dieser Ausnahme-Pianist ist: die Bässe der f-Moll-Etüde wirken ratlos unter der silbrigen Oberfläche; in der e-Moll-Etüde kommt er zu schnell zum Ziel des Crescendo und für die melancholische Lähmung des Stücks in cis-Moll fehlt ihm noch ein Quentchen Geduld. Doch das sind nicht mehr als winzige Flecken in einem überwältigend leuchtenden Bild, das, wäre es makellos, seine innere Tiefe verlöre.




Jesus reloaded – „El Greco und die Moderne“ in Düsseldorf

 

El Greco, Christus, der Erlöser, National Gallery of Scotland

El Greco, Christus, der Erlöser, National Gallery of Scotland

Unendlich traurig schaut der junge Mann dem Betrachter in die Augen: Sein langes Haar trägt er brav in der Mitte gescheitelt, es liegt eine stille Demut in seinem Blick. Und eine Ahnung davon, dass er leiden muss. Der Museumsbesucher wendet sich ab, doch er entkommt ihm nicht, noch lange spürt er diesen seltsamen, dunklen Blick in seinem Rücken.

Auf Augenhöhe und von Mensch zu Mensch mit „Christus als Erlöser“: So etwas traute sich El Greco im 16. Jahrhundert – im Gegensatz zu anderen Malern seiner Epoche, die nicht so einfach Macht und Kirche auf ihre Weise zu interpretieren wagten. Zwar war auch der eigenwillige Grieche mit dem Geburtsnamen Domenikos Theotokópoulos eine Zeit lang Hofmaler bei Philipp II. Doch sein Malstil gefiel auf Dauer nicht: Zu grell die Farben, zu eigentümlich verzerrt die Proportionen der Figuren, zu psychologisch die Deutung der Heiligen. Gerade das, so die These der Ausstellung „El Greco und die Moderne“ im Museum Kunstpalast in Düsseldorf, machte ihn für Maler wie Cézanne, van Gogh oder Picasso, für Expressionisten wie Max Beckmann, Oskar Kokoschka, August Macke oder Franz Marc so interessant.

Neben 40 bedeutenden Arbeiten von El Greco bekommt man hier die Rezeptionsgeschichte seines Werks in Form von rund 60 Bildern der Epigonen gleich mitgeliefert – und gewinnt überraschende Einblicke. Diese Figurengruppe im Hintergrund von El Grecos „Die Öffnung des fünften Siegels“, erinnert die nicht an weltbekannte kubistische Damen? Richtig: Picassos „Demoiselles d’Avignon“ stehen ganz ähnlich in der Gegend herum – nur ein wenig eckiger. Und die Kreuzabnahme von Max Beckmann scheint tatsächlich in ihrer drastischen Grausamkeit an El Grecos „El Espolio“ (Entkleidung Christi) zu erinnern: Wie sich die Meute über den Erlöser hermacht, jagt einem in beiden Fällen die Gänsehaut über den Rücken.

Genau vor 100 Jahren war eine Auswahl von 10 Gemälden El Grecos aus der Privatsammlung Marczell von Nemes schon einmal in der Kunsthalle Düsseldorf zu sehen – so entdeckten 1912 die rheinischen Künstler die Werke des großen Spaniers. Einige Ergebnisse dieser inspirierenden Begegnung sind in der aktuellen Schau ebenfalls zu bewundern.

Die „Kunstgeschichte live“ hat einen weiteren interessanten Nebeneffekt: Man spürt, wie sehr die Maler der frühen Moderne in einer künstlerischen Tradition standen – obwohl sie doch scheinbar alles „neu“ erfunden haben. Und wie modern El Greco war. Der sich im Übrigen auch nicht mit langen Studien aufgehalten hat, wie beispielsweise eine Hand naturgetreu zu malen sei. Manchmal hilft da die flüchtige Wischtechnik, auch im Spanien des 16. Jahrhunderts. Ein Perspektivenwechsel, der irgendwie belebend wirkt – so unter uns alten Europäern.

Bis zum 12. August zu sehen im Museum Kunstpalast in Düsseldorf, Kulturzentrum Ehrenhof, Ehrenhof 4-5. www.smkp.de




Der Traum des Architekten

Liebe Revierlinge, etwas Berichterstattung aus dem Zonenrandgebiet der wahren Kulturhochburg muss auch mal sein. Von daher bitte ich um Verzeihung für den folgenden Bericht über das Geschehen in der finsteren westlichen Peripherie der Zivilisation.

Frauke Dannert in der Galerie Rupert Pfab, Düsseldorf

Ausgelassen feiern Dannerts Collagen die Freiheit von all den Sachzwängen, die ArchitektInnen an der Umsetzung bahnbrechender Einfälle hindern: Ohne Rücksicht auf kleinliche Gesetze von Material und Statik, entwickeln sich ihre Gestalten unbekümmert um Schwerkraft und Funktion gemäß einer Ästhetik, die zwischen Organischem und Anorganischem oszilliert. Zerschnitten und neu zusammengesetzt, stehen diese Ergebnisse von Analyse und Synthese scharf konturiert vor einem Hintergrund, der nur im Fall reiner Papierarbeiten frei bleibt.

Dannert, Collage auf Messing, ohne weitere Angaben, Foto CL

Appliziert Dannert die Foto-Fragmente nämlich auf Messingplatten, wird die klare Aufgabenverteilung von Figur und Grund zum Kippbild, der Blick des Subjekts aufs Objekt zum Blick in den Spiegel, und die Rezeption somit zur Interaktion: Das Betrachtete erscheint integriert in den Raum des Betrachters.

Doch gerade das Nebeneinander von flacher Form und dreidimensionalen Umfeld verdeutlicht die Eigenartigkeit der unbunten Gebilde, die Anklänge an Mineralisches, Pflanzliches und Artifizielles erkennen lassen, dabei aber ein nicht-definierbares Eigenleben bewahren.

Dannert, Collage auf Papier, ohne weitere Angaben, Foto CL

Während frühere Arbeiten architektonische Elemente noch relativ eindeutig zu – an botanische Organismen erinnernden, und bisweilen kaleidoskopischen – Spiegelsymmetrien zusammensetzten, leben die Collagen seit 2010 von einer mitunter äußerst prekären Balance. Die klar erkennbare materielle Beschaffenheit von Bauten kurz vor Ausbruch der Postmoderne suggeriert architektonische Zusammenhänge, wohingegen jedoch die Vielzahl von Perspektiven eine räumliche Lesart verhindert.

Dannert, Collage auf Messing, ohne weitere Angaben, Foto CL

Die irritierende Wirkung, die zum wiederholten visuellen Abschreiten der Chimären zwischen noch visionären und schon utopischen Gebäude motiviert, besteht in der Unsicherheit, ob es sich um rein ästhetische Erfindungen oder eben doch um potentiell realisierbare Objekte handelt. Schließlich versorgen uns zeitgenössische Prestigeprojekte mit einem umfangreichen Vorrat an Bildern fantastischer, und dennoch realisierter Gebäude.

Dannert, Collage auf Papier, ohne weitere Angaben, Foto CL

Wie weit Dannert aber letztlich von jedem Modell- oder Entwurfscharakter entfernt ist, verdeutlicht ihr Desinteresse an jeglicher Anwendbarkeit, mit der sie aus dem als optische Zumutung in die Architektur des 20. Jh. eingegangen Sichtbeton mal dramatische, mal verspielte Kristalle des 21. züchtet.

http://www.galerie-pfab.com/de/home




Wahl-Düsseldorfer Bildhauer Imi Knoebel ausgezeichnet

Der deutsche Maler und Bildhauer Imi Knoebel wird mit dem Kythera-Preis der gleichnamigen Kulturstiftung unter dem Vorsitz ihrer Gründerin Gabriele Henkel ausgezeichnet. „Es käme Verkennung gleich, in den Arbeiten Knoebels das formal Unbeschwerte, ein reines Spiel der Flächen, Figuren und Formen oder gar das Dekorative und ästhetisch Unverbindliche absolut zu setzen“, so die Jury. Sie hebt insbesondere seine für die Kathedrale von Reims entworfenen sechs Fenster hervor, die 2011 fertig gestellt wurden und sich in der Nord- und Südkapelle seitlich des 1974 geschaffenen Chagall-Fensters befinden. Mit Knoebel wird erstmals ein bildender Künstler ausgezeichnet, der in direktem Bezug mit dem Stiftungsort Düsseldorf steht.

Die in Düsseldorf ansässige Kythera-Kulturstiftung wurde 2001 gegründet und würdigt mit ihrem Preis Künstler, die einen Beitrag zur Vermittlung der romanischen Kultur in Deutschland und umgekehrt geleistet haben. Die Auszeichnung ist mit 25.000 Euro dotiert. Geehrt wurden bisher unter anderem der Architekt Renzo Piano, die Kunsthistorikerin Sylvia Ferino und zuletzt der Grafikdesigner, Verleger und Kunstsammler Franco Maria Ricci.

Imi Knoebel, der eigentlich Klaus Wolf Knoebel heißt, stammt aus Dessau. 1964 kam er an die Düsseldorfer Kunstakademie. Zunächst in der Gebrauchsgrafik-Klasse von Walter Breker, wechselte er 1965 zu Joseph Beuys, wo er und sein Künstlerfreund Rainer Giese im legendären Raum 19 u.a. auf Jörg Immendorff und Blinky Palermo trafen. Knobel wurde seit 1972 mehrfach zur „documenta“ nach Kassel sowie zu Ausstellungen und Werkschauen u.a. nach Leipzig, Amsterdam, Rom und Valencia, nach Sao Paulo, San Francisco und New York geladen. Er wird den Preis am Mittwoch, 23. Mai, in K21 in seiner Wahlheimat Düsseldorf entgegennehmen.

(Mit freundlicher Genehmigung von http://www.kunstmarkt.com)




Das Grauen lauert hinter den Tapeten: Brittens „The Turn of the Screw“ in Düsseldorf

Von Schatten gejagt: Die Gouvernante (Sylvia Hamvasi) im Bann der Gespenster in "The Turn of the Screw" von Benjamin Britten in Düsseldorf (Foto: Hans Jörg Michel)

Von Schatten gejagt: Die Gouvernante (Sylvia Hamvasi) im Bann der Gespenster in "The Turn of the Screw" von Benjamin Britten in Düsseldorf (Foto: Hans Jörg Michel)

Wir blicken hinter die Tapeten, die ältliche, großmustrige Wandverkleidung, die an die verstaubte Gediegenheit englischer Landhäuser erinnert. Hinter der Fassade geschehen sinistre, unheimliche Dinge, dämonisch, nicht benennbar. Dort geistern schattenhafte Gestalten, deren Namen, werden sie ausgesprochen, den Tod bringen. Benjamin Brittens Oper „The Turn of the Screw“ – ein unübersetzbarer, auch im Englischen rätselvoller Titel – ist ein perfektes Schauerstück. Nicht im Sinne trivialgrusliger Gespenstergeschichten, sondern als Thriller des Undeutbaren, der unter die Haut geht.

Wie die Novelle von Henry James (1898) schafft Brittens Oper (1954) eine Atmosphäre des Ahnungsvollen, Ungreifbaren. Nichts ist eindeutig, nirgends lässt sich ein klarer, nachvollziehbarer Zusammenhang von Ursache und Wirkung festmachen. Selbst scheinbar unbezweifelbare Fakten und Beobachtungen verlieren ihre Evidenz, werden zu Mosaiksteinen in einem Bild, das sich, wie auch immer man es betrachtet, jedes Mal anders zusammensetzt.

Die Tapeten sind ein wiederkehrendes Bild in Kaspar Zwimpfers Bühne für Immo Karamans Inszenierung von „The Turn of the Screw“ an der Deutschen Oper am Rhein. Eine Trias von Britten-Opern in Düsseldorf vollendet diese Premiere am 4. Mai, der Karaman bereits „Peter Grimes“ und „Billy Budd“ vorausgeschickt hatte. Ob im 100. Geburtsjahr des Komponisten 2013 eine weitere Inszenierung dazukommt, ist noch unklar. Sinnvoll wäre es – denn die Rheinoper will den für das 20. Jahrhundert epochemachenden Briten umfassend würdigen. Karaman hat am Münchner Gärtnerplatztheater eine ausgezeichnete Interpretation von „Death in Venice“ geschaffen; er wäre der richtige Mann etwa auch für „Gloriana“, „Albert Herring“ oder die schräge Operette „Paul Bunyan“.

Henry James, selbst ein vieldeutiger Charakter aus der viktorianischen Zeit, schreibt mit „The Turn oft he Screw“ eine Geschichte, die formal so penibel kalkuliert ist wie eine Mathematikaufgabe – aber eine, die unendlich viele Lösungsmöglichkeiten offen lässt. Britten folgt mit seiner Librettistin Myfanwy Piper dem Thema auf dem nebligen Pfad zwischen Gespensterstück und psychoanalytischer Erzählung. Innen und Außen, Wirklichkeit und Phantom, sichtbare und übersinnliche Welt verschränken sich unlösbar.

Die äußere Handlung ist schnell erzählt: Ein vielbeschäftigter Londoner Anwalt engagiert für zwei einsam auf einem abgelegenen Landsitz lebende Kinder eine Erzieherin. Anfangs scheint das harmonische Zusammenleben ungetrübt, aber dann schleichen sich seltsame Schatten in die Idylle. Die Haushälterin identifiziert sie als Peter Quint und Miss Jessel, Hausdiener und frühere Gouvernante, die beiden unter mysteriösen Umständen zu Tode gekommen sind. Auch die Kinder zeigen immer auffälligeres Verhalten. Entschlossen, den Geheimnissen auf die Spur zu kommen und überzeugt vom verderblichen Einfluss der Geister der Toten, will die junge Governess ihre Schützlinge retten – mit schlimmen Folgen…

Karaman greift für dieses Stück die Techniken einer ruhigen, am Geschehen orientierten Erzählweise auf, bricht die Szenen selten auf, öffnet aber durch herausgehobene Details den Blick für das Monströse hinter den Abläufen. Das Ambiente der Bühne Zwimpfers erinnert an das klassische englische „haunted house“; eine Treppe und ein hoher Durchgang bilden das zentrale Setting, das sich allmählich ins Surreale verdreht. Daneben gibt es nur wenige, bedeutungsvolle Accessoires: zwei Waschbecken, zwei Schulstühle, ein Bett.

Die Kinder sind abgerichtet: Knicks und Diener zur Begrüßung genau im Takt der Musik, mechanisch, dressiert. Erste Anzeichen von Gewalt: Miles, eine Maske vor die Stirn hochgezogen, tut seiner Schwester weh. Die beklemmende Atmosphäre verdichtet sich: Miles verliert sich abwesend in dem Lied mit den „Malo“-Rufen: „Malo, in der Not allein…“. Und Quints Schatten zeigt sich zum ersten Mal. Flora spielt gedankenverloren mit ihrer Puppe, zieht sie aus und ertränkt sie im „Toten Meer“ des Waschbeckens – und der Geist Miss Jessels erscheint als Spiegelbild der Gouvernante, dazu der spieluhrenhaft unwirkliche Klang der Celesta.

Über Henry James‘ Erzählung gibt es einen Berg von Literatur. Die Frage, ob die Gespenster-Erscheinungen echt oder bloße Phantasmagorie sind, äußere Manifestationen oder Gestalt gewordene psychische Bilder, wurde mit guten Argumenten für die eine und die andere Auffassung diskutiert. Freud, Jung und der Marxismus wurden ebenso bemüht wie Esoterik und christliche Theologie. Karaman versteht es souverän, seine Deutung in der Schwebe zu halten. Dass er die „Gespenster“ durch unsichtbare Stimmen, aber auch durch die unverstellte Leiblichkeit von Tänzern darstellen lässt, legt nahe, eine über eine bloße Psycho-Schau hinausgehende Deutung anzunehmen. Der düstere Jüngling mit der „gothic“ Frisur (Ulrich Kupas) erinnert an den verführerischen Verworfenen aus „Paradise Lost“, könnte auch eine erotische Fantasie der Gouvernante verkörpern. Die spinnwebverhüllte Gestalt der Miss Jessel (Anna Roura-Maldonado) könnte das abgestorbene Weibliche ebenso symbolisieren wie unterdrückte Sexualität.

Und was für Spiele treiben die Kinder? Warum bezeichnet sich Miles als „bad“? Ist er hilflos gegenüber seiner erwachenden Sexualität? Schwebt er zwischen einem ungerichteten Schuldgefühl und dem Bewusstsein seiner männlichen Begierde, mit der er die Gouvernante küsst? Spielen die Kinder einen Missbrauch nach? Oder probieren sie ihre erwachende Begehrlichkeit aus, gespalten zwischen Neugier, puritanischer Verleugnung der Sexualität und innerem Erschrecken? Oder manifestiert sich tatsächlich das Böse; sind sie von den Geistern besessen, die sich der Kinder bedienen, um ihre sexuelle Hörigkeit körperlich ausleben zu können?

Wie Henry James hält auch Immo Karaman die Antworten in der Schwebe. Alles ist möglich – auch in der Frage, die an den Schluss zu stellen ist: Stirbt Miles, als er den Namen des Dämons hinausschreit und sich so von seinem Bann befreit? Bleibt sein Herz im Schock stehen? Oder erstickt ihn die vereinnahmende Liebe der Gouvernante, wie es das Finalbild der Inszenierung nahe legt? „Nur keine Lösungen“, wehrte der aus Gelsenkirchen stammende Regisseur in einem Interview ab. Nun, dieses Ziel erreicht er; den Zuschauer lässt er mit dem beklemmenden Gefühl nach Hause gehen, dass alles offen bleibt. Der Wunsch nach Wissen wird nicht erfüllt.

Wissen finden wir bei Wen-Pin Chien: Der Taiwanese, auch Dirigent von Henzes „Phaedra“ an der Rheinoper, kann mit der kammermusikalischen Partitur glänzend umgehen: Er zeigt, wie Britten die Motive verarbeitet, wie sich dasjenige der „Drehung der Schraube“ durch die Musik windet, wie die „Malo“-Rufe, die gespenstischen Quinten, die Tritonus-Leere verarbeitet und transformiert werden. Und er lässt den Solisten Raum, vor allem den Leitinstrumenten des Gespenstischen, der Celesta (Ville Enckelmann) und der aus der Idylle ins Chaotische fallenden Harfe (Jie Zhou).

Die beiden Kinder Miles und Flora, sind dank einer englischen Spezialagentur vorzüglich besetzt: Der zwölfjährige Harry Oakes, Mitglied des Trinity Boys Choir, füllt die Rolle des Miles musikalisch und sprachlich optimal aus, hat aber vor allem auch eine faszinierende Bühnenpräsenz: Vom verspielten Kind über den niedergedrückten Jungen bis zum aufreizenden, sein Alter weit hinter sich lassenden, sexuell anzüglichen Knaben zeigt er alle Facetten dieses vielschichtigen und daher so schwer darstellbaren Charakters. Für Eleanor Burke, schon erfahren in der Partie der Flora, ist es etwas einfacher, weil in Brittens Oper die hysterisch-aggressiven Züge verhaltener sind als in der Novelle oder gar in dem kongenialen Schwarz-Weiß-Film „The Innocents“ von Jack Clayton. Burke realisiert die introvertierten Züge des Mädchens und ihre innere Qual vor allem in der Szene mit der Puppe im ersten Akt.

Corby Welsh singt die faulig-süßlichen Verführungsphrasen des Quint mit lockerem Tenor; Marta Márquez bleibt als Mrs. Grose eher blass und passiv. Anke Krabbe gibt der Erscheinung der Miss Jessel nicht nur tragische, sondern auch katzenhaft gefährliche Züge. Als Governess hat Sylvia Hamvasi die passenden stimmlichen Farben für die erleichterte Freude bei der Ankunft auf Schloss Bly ebenso zu finden wie für die Panikattacken und die angekränkelte Zuneigung zu Miles. Hamvasi lässt ihren Sopran blühen, kann ihn aber auch in fahle Tönungen zurücknehmen.

Düsseldorf hat mit dieser Produktion – die 2007 in Leipzig erstmals zu sehen war – der Liste eindrucksvoller Inszenierungen der Oper einen gewichtigen Beitrag hinzugefügt und braucht sich weder vor der gelobten Kölner Premiere von 2011 von Benjamin Schad (Regie) und Raimund Laufen (Musikalische Leitung) zu verstecken noch vor Cristian Pades Psychothriller in Frankfurt mit Yuval Zorn am Pult.

Vorstellungen in Düsseldorf: 13., 20., 22., 26. Mai; 10. Juni.
Vorstellungen in Duisburg: 1., 6., 8. Juni.
Geplante Wiederaufnahme in Köln: 17. März 2013




Kunstvoll Geld verdienen

In Zeiten wie diesen kommen viele Anleger auf die Idee, ihr Geld zu Kunst zu machen. Kurzfristige Gewinne erzielt damit jedoch vor allem eine Gruppe – die der Berater. Einer Szene auf der Spur.

Die "Lesende" von Gerhard Richter, dem teuersten deutschen Künstler.

Kann man sich leisten: Die "Lesende" von Gerhard Richter als Postkarte. Bringt aber kein Geld.

November 2011. Ein abstraktes Bild von Gerhard Richter erzielt bei einer Auktion von Sotheby’s in New York 15 Millionen Euro, fast doppelt so viel wie erwartet. Ein Monat zuvor kam bei Christie’s eines seiner Kerzen-Gemälde unter den Hammer – für 12 Millionen Euro. Gerhard Richter ist 79, und er malt noch immer. Fast jedes Bild, das sein Atelier verlässt, wird seinen Galeristen aus den Händen gerissen. Wohl dem, der einen Richter hat – doch jetzt Richter kaufen?

Wie anders erging es damals Pablo Picasso. Erst zwei Jahrzehnte nach seinem Tod konnte sich die Kunstwelt mit seinem Spätwerk anfreunden. Doch auf dem Kunstmarkt ist Picasso keine sichere Bank: Mal erreichen seine Werke Rekord-Ergebnisse wie im vergangenen Jahr, als ein Käufer für das Ölgemälde „Nackte, Grüne Blätter und Büste“ 106 Millionen Dollar ausgab. Mal zählt er zu den Ladenhütern, wie bei einer Auktion in diesem November.

„Viele glauben, wenn ich einen Picasso habe, habe ich immer ein gutes Bild. Das ist aber nicht so. Es gibt gute und schlechte Picassos, auch nicht so gut verkäufliche. Wir beraten unsere Kunden, dass sie das richtige Bild zu einem realistischen Preis kaufen“, sagt Dr. Stefan Horsthemke. Auch zum derzeit teuersten deutschen Maler hat er eine Meinung: „Die Preise für Richter sind auf einem sehr hohen Niveau. Als Invest würden wir das nur empfehlen, wenn es einem wirklich gut gefällt.“

Es ist offenbar leicht, Geld zu Kunst zu machen, aber eine Kunst für sich, sein Vermögen mit Kunst zu mehren. Dr. Stefan Horsthemke ist kein Künstler. Doch die Kunst, mit Kunst zu verdienen, beherrscht er gut. Kein Wunder nach einem passgenauen Studium der Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Kulturmanagement und der Kunstgeschichte, inklusive Dissertation („Das Bild im Bild in der italienischen Malerei“). Erfahrungen mit dem Kunstmarkt sammelte der Kunsthistoriker bei der AXA Art – er versicherte die Werke, bei deren Ver- und Ankauf er nun hilft, bewertete und beriet zahlreiche Privatsammlungen. Nebenbei baute er seine eigene Sammlung zeitgenössischer Kunst auf. Nun hat Horsthemke gemeinsam mit dem Düsseldorfer Kunst-Berater Helge Achenbach und der ältesten deutschen Privatbank, der Berenberg-Bank, die „Berenberg Art Advice“ gegründet. Ein eigenständiges Unternehmen, das sich nicht nur dem Aufbau und der Verwaltung von Sammlungen sowie der Kunstberatung verschrieben hat, sondern das Kunden auch dabei unterstützt, ihr Geld in Öl auf Leinwand zu investieren – und Kapital aus der Kunst zu schlagen. Ein genialer Schachzug für alle Beteiligten. Das prall gefüllte Adressbuchvon Kunstberater Achenbach, der, wie er in einem Interview verriet, seit 15 Jahren nicht mehr akquirieren muss, wurde noch angereichert durch die Sammler-Kontakte Horsthemkes und die Abwicklungsmöglichkeiten über eine Privatbank.

Immobilienblasen können platzen, Aktienbörsen zusammenbrechen, Währungen wertlos werden. Ein Bild bleibt dagegen ein Bild. Auch wenn die Finanzwelt verrückt spielt – mit einem Kunstwerk hat man nicht nur ästhetischen oder dekorativen Mehrwert, sondern besitzt ein Stückchen Kunstgeschichte. Man holt sich die Aura des Originals ins Haus. Und so beantworten Reiche und Superreiche die Frage „Wohin mit dem Geld?“ zunehmend mit „Kunst“. Der internationale Kunstmarkt hat aktuell ein Volumen von 20 Milliarden Euro, in Boom-Jahren wie 2010 können es auch schon mal 43 Milliarden sein. „Das liegt auch daran, dass der Markt internationaler geworden ist, immer mehr Sammler kommen aus Asien, vor allem aus China“, sagt Horsthemke.

Horsthemke spricht mit ruhiger, sonorer Stimme. Seine goldenen Manschettenknöpfe blitzen auf, wenn er während des Gesprächs kurz E-Mails auf dem iPad checkt oder das Klingeln seines iPhones unterdrückt. Die beiden Geräte wirken seltsam aus der Zeit gefallen in dem dunkel-gediegenen Konferenzraum der Stadtvilla direkt am Rhein mit ihrem schmiedeeisernen Gitter und dem Kamera-Auge am Eingang. Seine sorgfältig gegelten grauen Haare und die markante schwarze Brille lassen den 46-Jährigen nicht nur jünger wirken, sondern für einen gebürtigen Westfalen auch ziemlich düsseldorferisch. Wenn Horsthemke unterschreibt, wird daraus eher eine Zeichnung denn eine Signatur. Das ist vermutlich angemessen, wenn man seinen Namen unter Millionen schwere Transaktionen setzen muss.

Leztens hatte er fast wieder so einen Fall. Ein Kunsthändler sprach Stefan Horsthemke an. Er wollte einen Picasso zurückkaufen, den Horsthemke ihm vor zwei Jahren im Auftrag eines Kunden abgekauft hatte. Auf 2,5 Millionen Euro hatte man sich damals geeinigt – ein sehr gutes Preis-Leistungs-Verhältnis, fand Horsthemke. Und er hatte recht: Mittlerweile könnte der Kunsthändler das Bild für bedeutend mehr Geld verkaufen. Er bot Horsthemke 3,8 Millionen für das Bild. Horsthemke sprach mit seinem Kunden, dem damaligen Käufer. Eine Rendite von über 50 Prozent in zwei Jahren – ein Traum, sollte man meinen, auch wenn man die hohen Transaktionskosten von 10, bei Auktionshäusern bis zu 35 Prozent berücksichtigt. Doch der Picasso-Besitzer wollte sich nicht trennen. „Seine Liebe zu dem Bild ist gewachsen“, sagt Horsthemke, „ursprünglich hatte der Mann mit Kunst wenig am Hut und wollte nur sein Geld sinnvoll anlegen.“ Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Anleger zum Sammler wird.

Ein betriebswirtschaftlich irrationales Verhalten – und doch ein für diesen Markt typisches. Der Kunstmarkt ist noch unberechenbarer als andere Märkte, was nicht nur am unkalkulierbaren Verhalten der Marktteilnehmer liegt. Anders als bei Aktien oder Immobilien lässt sich der Wert von Kunst nur begrenzt kalkulieren. Und da ist sie wieder, die Frage aller Fragen: Was ist gute, qualitätvolle Kunst? Was ist Kunst wert?

Fragt man Stefan Horsthemke danach, dann klingt alles ganz logisch und transparent. Horsthemke redet von „Art Evaluation Process“ und „Due-Diligence-Prüfung“, einem Verfahren, mit dem man vor einem Kauf verborgene Risiken aufspüren und die Qualität prüfen kann. „Im Falle der Kunst schauen wir, wo das Werk herkommt und wie häufig es bereits gehandelt wurde, wie stark es restauriert wurde, ob es gefälscht sein könnte, und welche Preise es auf dem Kunstmarkt erzielt hat.“ Neulich etwa habe ein Kunde ein bestimmtes Gemälde von Ernst Ludwig Kirchner im Auge gehabt und um Beratung vor dem Kauf gebeten. Es zeigte sich, dass bei einer älteren Restaurierung Leinwand und Farbschicht des Bildes in Acrylharz getränkt wurden. Die schlechte Restaurierung ließ sich nicht mehr rückgängig machen. „Dadurch war das Bild wertlos geworden“, so Horsthemke, „es kommt für viele Käufer nun nicht mehr in Frage, auch wenn es motivisch interessant ist.“ Natürlich riet er vom Kauf ab.

Doch was, wenn Bilder weder gefälscht noch beschädigt sind? Wie kommt man rechtzeitig dahinter, dass Bilder aller Schaffensperioden von Gerhard Richter Summen erbringen, die der Künstler selbst „unverständlich, albern, unangenehm“ nennt?

Man kann es nur vermuten – also spekulieren. „In der Tate Modern in London läuft eine Richter-Ausstellung, die demnächst nach Berlin kommt, und er wird nächstes Jahr 80 Jahre alt – solche Faktoren spielen in die Bewertung hinein“, sagt Horsthemke, „für viele ist Richter ein zweiter Picasso.“ Aber niemand kann garantieren, das Richter an seinem 107. oder 122. Geburtstag von den Zeitgenossen noch ebenso geschätzt werden wird. Letztlich kann keine noch so gute Qualitätsprüfung die Wertentwicklung vorhersehen. Es ist der Markt, der den Rang eines Kunstwerkes bestimmt, und nicht das Werk selbst. Sobald es jemanden gibt, der bereit ist, Geld auszugeben, steigt der Wert. Ein einfacher Mechanismus.

Wenn man Stefan Horsthemke glauben darf, dann ist er glücklich darüber, dass der Millionen schwere Picasso-Rückkauf nicht zustande kam. „Eine Kunstinvestition“, sagt er, „ist für uns eine langfristige, konservative Anlage und kein kurzfristiges Spekulationsobjekt.“ Man sollte nur kaufen, was zu einem passt und einem gefällt, findet er, und es mindestens fünf, besser zehn Jahre halten – am liebsten noch länger. Kunstwerke, die Berenberg Art Advice als Geldanlage empfiehlt, haben alle eines gemein: Sie entstanden vor 1945. Ihre Schöpfer sind tot, ihr Stellenwert auf dem Kunstmarkt ist geklärt. „Wenn man die wichtigen, großen Künstler nimmt, die in Museen und Sammlungen vertreten sind, und auf gute Qualität achtet, kann man wenig falsch machen“, sagt Horsthemke. Große Wertverluste sind dann ebenso wenig zu erwarten wie große Steigerungen: Mal steht Renaissance-Künstlern eine Renaissance bevor, weil die Ausstellung „Gesichter der Renaissance“ im Berliner Bode-Museum das Interesse neu entfacht. Mal sind es die Impressionisten, die wieder im Interesse steigen. Natürlich muss man für Kunst dieser Kategorie tiefer in die Tasche greifen. Die Kunden von Berenberg Art Advice können das. Ihre Kunden investieren mindestens 100.000 Euro jährlich in Kunst. Zwischen fünf und zehn Prozent des Verkaufspreises landen als Beratungsgebühr bei Berenberg Art Advice.

Immer mehr Kunden wollen jedoch etwas anderes. Sie sind auf der Suche nach junger, zeitgenössischer Kunst, nach dem ultimativen Geheim-Tipp, der sich top entwickeln wird. „Ich werde das sehr oft gefragt, auch von Künstlern selbst“, sagt Horsthemke und schaut sehr ernst durch seine schwarze Brille. „ Kunstspekulationen sind für uns ein No-Go-Thema. Damit macht man Kunst zur Ware und zerstört jungen Künstlern den Markt.“ Beispiele dafür gebe es genug, seit Christie’s und Sotheby’s vor 15 Jahren damit begonnen hätten, auch sehr junge zeitgenössische Kunst zu versteigern. Zu viele Künstler seien zu früh auf dem so genannten zweiten Markt, dem Auktionsmarkt, gehandelt worden, anstatt nach und nach über Galerien ihre Weg in Sammlungen zu finden.

Kunst als Ware – ist das nicht die Basis des Geschäftsprinzips von Berenberg Art Advice? Diesen Umstand möglichst auszublenden, ist noch so eine Eigenheit der Akteure auf dem Kunstmarkt. Auch Horsthemke spricht lieber davon, wie glücklich das Sammeln von Kunst macht, welche Lebensfreude es bringe und wie wichtig die richtige Vermittlung von Kunst sei.

Viele Künstler sind da längst einen Schritt weiter. Jeff Koons oder Damien Hirst spielen mit den Mechanismen und Funktionsweisen des Marktes, der Flirt – wenn nicht gar der Beischlaf – mit Markt und Kommerz ist zu ihrem Markenzeichen geworden. Damit stehen sie in der Tradition Andy Warhols, der bewusst die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz verwischte, und das weit über seinen Tod hinaus: Nie war er so teuer wie heute, was vor allem an den Absprachen der größten Warhol-Sammler untereinander liegt.

Wer sehr viel Geld in Kunst investieren will, dem raten Horsthemke und seine Kompagnons nicht zu Warhol, sondern eher dazu, sich an Ankäufen großer, teurer Werken zu beteiligen, die anschließend zum Beispiel an Museen ausgeliehen werden. Allerdings ist man auch dann vor bösen Überraschungen nicht gefeit. In Dortmund schrubbte unlängst eine Putzfrau Martin Kippenbergers Installation „Wenn’s anfängt durch die Decke zu tropfen“ kaputt. Das Werk war die Leihgabe eines anonymen Sammlers und ist nun irreversibel beschädigt. Dass die Versicherungssumme 800.000 Euro beträgt – ein für die kunstferne Öffentlichkeit unglaublicher Betrag angesichts des mageren Materialwertes aus einigen Brettern und einer rostigen Wanne – dürfte den Leihgeber kaum trösten, zumal die Installation nach Ansicht Horsthemkes stark unterbewertet war.

 

Der Text erschien zuerst in der Dezember-Ausgabe des NRW-Kulturmagazins K.West.




Als Heinrich Heine von den Franziskanern lernte

Mitten im Trubel der Düsseldorfer Altstadt gibt es seit etwa fünf Jahren einen sehr ungewöhnlichen Ort der Ruhe – das „Max-Haus“.

Es ist katholisches Stadthaus, Veranstaltungszentrum, Kunstgalerie, Gebetsstätte, Cafe und Konzerthaus in einem. Ungewöhnlich wirkt es nicht nur durch die Ausstrahlung, sondern vor allem durch seine preiswürdige Architektur, seine Offenheit für jedermann und seine Geschichte.

In der Nähe des früheren Hafens hatten Franziskaner auf den Resten der alten Citadelle 1661 ein Kloster errichtet, eine Kirche gebaut und ab 1695 eine Lateinschule eingerichtet, die Vorläuferin der heute noch bestehenden Max-Schule. Die Kirche war ursprünglich dem heiligen Antonius von Padua gewidmet. Als jedoch 1803 durch den Beschluss zur Säkularisation auch Kirche und Kloster abgerissen werden sollten, benannten die Mönche ihren Komplex schnell um nach dem heiligen Maximilian – dem Namenspatron des Kurfürsten. Durch diesen schmeichlerischen Trick (man ist eben in Düsseldorf) konnten die Gebäude erhalten werden, die Franziskaner gingen als Pfarrer in die Gemeinden und die Schule wurde im Sinne der französischen Besatzung als „Lyceum“ weiter betrieben.

Diese Schule nun bekam durch den späteren Dichter Heinrich Heine ein literarisches Denkmal. Der jüdische Junge hieß zu der Zeit noch Harry und besuchte die katholische Einrichtung von 1807 bis 1814. Er erinnert sich an mehreren Stellen seines Werkes, zum Beispiel in den „Reisebildern“, an diese für ihn meist angenehme Zeit, er führt einzelne Lehrer an und klagt über die Schwierigkeiten des Sprachenlernens. Im „Buch Le Grand“ schreibt er unter anderem über seine Probleme mit dem Lateinischen: „In den dumpfen Bogengängen des Franziskanerklosters, unfern der Schulstube, hing damals ein großer, gekreuzigter Christus von grauem Holze, ein wüstes Bild, das noch jetzt zuweilen durch meine Träume schreitet und mich traurig ansieht mit starren blutigen Augen – und vor diesem Bilde stand ich oft und betete: O du armer, ebenfalls gequälter Gott, wenn es dir nur irgend möglich ist, so sieh doch zu, dass ich die verba irregularia im Kopfe behalte.“ Dieses Kreuz hängt übrigens immer noch im Kreuzgang des ehemaligen Klosters.

Nachdem die Franziskaner vor drei Jahrzehnten das Kloster aufgegeben hatten, drohte es zu verfallen oder kommerziell genutzt zu werden. Weil die Düsseldorfer Katholiken und das Erzbistum Köln jedoch auf der Suche nach einem geeigneten Zentrum waren, wurde der Komplex nach einem Architektenwettbewerb renoviert und modernisiert. Der ehemalige Kreuzgang blieb erhalten, und durch ein großes quadratisches Glasdach entstand im Innenhof ein wetterfester, lichtdurchfluteter Veranstaltungsraum, der unter anderem für die „Mittwochsgespräche“, aber auch für Konzertreihen wie „Bach beflügelt“ genutzt wird. Besucher können das Haus jederzeit betreten, lesen, Kaffee trinken oder in einem „Raum der Stille“ meditieren oder beten. Außerdem gibt es im ehemaligen Kreuzgang ständig Ausstellungen verschiedener Künstler. Zur Zeit läuft noch bis zum 20. August 2011 eine Gemeinschaftsausstellung von fünf Künstlern unter dem Titel „Graffiti im Kreuzgang“. Kurator für diesen Teil des Zentrums ist der Düsseldorfer Künstler Christoph Pöggeler, dem man im Stadtbild überall begegnet: Er schuf die lebensgroßen und lebensechten Figuren, die man in der Düsseldorfer Innenstadt an vielen Stellen auf Litfasssäulen stehen sieht.

Zur Straße hin wurde die Fassade des ehemaligen Klosters unverändert gelassen. Auch das bronzene Erinnerungsschild an den berühmten Schüler Heinrich Heine hat man gelassen. Nebenbei: Weil der Umbau des Klosters zum „Katholischen Stadthaus“ so gelungen sei, hat der Düsseldorfer Architekten- und Ingenieursverein 2010 dem Max-Haus die jährliche Auszeichnung „Bauwerk des Jahres“ verliehen.

Ein Besuch in diesem Ensemble lohnt sich also, auch wenn man als Atheist oder Protestant oder sonst etwas keinen Bezug zum Katholizismus hat.




Zum Tod des Malers Norbert Tadeusz

Der 1940 in Dortmund geborene Maler Norbert Tadeusz ist tot. Der Schüler von Gerhard Hoehme und Meisterschüler von Joseph Beuys ist am Montag in seinem Düsseldorfer Atelier gestorben. Tadeusz besuchte anfangs die Dortmunder Werkkunstschule, studierte von 1961-1965 an der Düsseldorfer Kunstakademie, wo er später (1981-1988) als Professor wirkte. Um eine ungefähre Vorstellung von seiner Kunst zu geben, hier ein Rückblick auf seine letzte größere Ausstellung im Ruhrgebiet, die 2009 im Museum Bochum zu sehen war:

Dem Werk von Norbert Tadeusz kann man sich von vielen Seiten her nähern. Wollte man den physischen Zugang betonen, so würde man sich wohl bevorzugt seinen Fleisch-Bildern widmen. Deren immer wieder obsessiv durchmessene Bandbreite reicht vom prall ausgekosteten Frauenakt bis zum tierischen Kadaver im Schlachthaus. Begehren und Blut. Vital und letal.

Doch es gibt nicht nur diese (bestürzend) sinnliche, sondern auch eine übersinnliche, traumverlorene Dimension dieses Schaffens, die sich geisterhaft in allgegenwärtigen Schatten zeigt. Diesen Aspekt fasst nun das Museum Bochum in den Blick.

Die gemeinsam mit der Düsseldorfer Galerie Gmyrek in relativ kurzer Frist zusammengestellte Auswahl erstreckt sich aufs erste und zweite Geschoss des Hauses. Besonders stolz ist Bochums Museumsdirektor Hans Günter Golinski darauf, dass er erstmals Tadeusz’ Collagen zeigen kann. Sie lassen ermessen, wie sehr auch bei den großformatigen Gemälden ein „collagierender Blick“ die Wirklichkeit abtastet, zerlegt und neu fügt.

Schatten verleihen den zuweilen drastischen, gar schockierenden Figuren (nackte Frauenleiber in Situationen der „Verfügbarkeit“ oder der embryonalen Schutzbedürftigkeit) etwas Doppelbödiges, Unwirkliches. Fleisch ist nicht nur Fleisch. Da fällt auch schon mal ein Schatten so unvermittelt, als wolle er den vergänglichen Körper skelettieren, ihm so seine Grenzen vorführen. Überhaupt werden Mühsal und Qual der Körperlichkeit sichtbar – eher, als dass seine (auch abgründigen) Freuden sich aufdrängten.

Schatten modellieren die Körper. Sie verleihen ihnen Plastizität, sie können aber auch verfremdend und verstörend wirken, schlimmstenfalls Angst auslösen. Norbert Tadeusz erklärt, dass ihn die „Schauseite“ seiner Aktmodelle (die diese ihm am liebsten präsentieren möchten) überhaupt nicht interessiere. Er wartet wohl auf den Moment, wo das Ganze umschlägt in etwas, das auch vergeistigt genannt werden kann. In solchem Sinne hat er auch eine Schwangere gemalt, die als Tänzerin zu einigen Verrenkungen im Dienste der Kunst bereit und damit „zuhanden“ war. Da mag nicht nur nützlich, sondern auch erregend gewesen sein. Doch es verweist auf etwas Jenseitiges. Mit Fenster- und Bilder-Rahmen sowie Leitern (u. a. in seinen Atelier-Ansichten) lässt der Künstler übrigens häufig die christliche Kreuzesform anklingen, ohne sie aufdringlich herbeizuzitieren oder gar zu exponieren.

Nun ließe sich gewiss eine generelle, weit ausschweifende Kunstgeschichte des Lichtflusses ebenso wie eine der Schatten-Malerei verfassen. Harte Schlagschatten etwa waren lange verpönt, dann wieder (z. B. nach Caravaggio) ein anderes Maß der Dinge. Bei Tadeusz sind Schatten tatsächlich eine Hauptsache. Sehr formbewusst baut er seine Bilder. Der Verlauf von schattigen Linien, Flächen und Feldern erzeugt allemal Irritation, lässt neue imaginäre Räume entstehen, in denen sich der irrende Blick des Betrachters erst einmal verfängt und nur halbwegs zurechtfindet.

Es ist, als werde da ein zweites Leben, eine geheime Parallelwelt bis an die Grenze der Sichtbarkeit gehoben. Gefährlich genug. Zuweilen verquicken sich die Schatten hier so körperlos, dass sie ein eigenes Schattenreich bilden. Ist dort die Dingwelt lebendiger als der Mensch?

Doch solche Zuschreibungen wären Tadeusz wahrscheinlich schon viel zu viel. „Ich male einfach“, sagt er. Darüber reden sollen andere. Oder auch schweigend schauen. Trotzdem kann der Beuys-Meisterschüler und spätere Akademielehrer Tadeusz – abseits der Deutung einzelner Bilder – auch ins beseelte oder betrübte Reden geraten. Von der bleibenden Hypothek des Weltkriegs, die (nicht nur) auf seiner Generation laste, aber leider aus dem allgemeinen Bewusstsein schwinde, ist dann sehr ernsthaft die Rede. Von politischen Enttäuschungen der letzten Jahre. Vom allfälligen Kleinbürgertum, das heute sämtliche anderen Schichten verdränge. Davon, dass die Ausübung der Kunst ihn leidlich ernährt, aber keinesfalls reich gemacht habe. Ein teures Atelier in Düsseldorf habe er einst aufgeben müssen…

Zurück zum vieldeutigen Schattenwurf. Bisweilen verbindet sich das Schattenhafte mit einem althergebrachten Motiv der bildenden Kunst: Maler und Modell. Verstörende Sicht von schräg oben: Da reckt sich der Schatten des Künstlers (der beispielsweise hoch auf einer Leiter steht) bedrohlich über die völlig entblößte, hilflos, ja geschunden wirkende Frau. Filmkenner werden hier vielleicht an Jacques Rivettes Meisterwerk „La belle noiseuse“ („Die schöne Querulantin“) denken, jenes ungemein intensive Wogen der Passion zwischen Maler (Michel Piccoli) und Modell (Emmanuelle Béart). Auch dabei war letztlich etwas Spirituelles und Sakrales im Spiel.

Schatten erwächst aus Licht. Tadeusz sucht immer wieder gern die besonderen Lichtverhältnisse Italiens auf. Noch dazu kann er dort sein profundes kunstgeschichtliches Wissen anhand der alten Meister mehren. Tadeusz erinnert sich: Bereits Plinius der Ältere (ca. 23-79 n. Chr.) habe sinngemäß geschrieben, die Malerei sei auch nicht mehr das, was sie einmal war. So uralt ist mithin das Nachsinnen über die Krise der Kunst – und so oft ist sie seither in strahlenden Augenblicken glückhaft überwunden worden.

INFO:
„Schatten“ – Bilder von Norbert Tadeusz. Museum Bochum, Kortumstraße 145, Bochum.

(Der Text ist am 27. August 2009 erstmals im Westropolis-Kulturblog erschienen und befindet sich unter dem angegebenen Datum auch im Revierpassagen-Archiv).

(Das Bild zeigt das Cover des Bochumer Ausstellungskatalogs, der bei Kerber Art herausgekommen ist).

Tadeusz-Katalog "Dunkle Begleiter - Schattenbilder" zur Ausstellung der Galerie Gmyrek und des Museums Bochum, 2009 (Verlag Kerber Art)

Tadeusz-Katalog "Dunkle Begleiter - Schattenbilder" zur Ausstellung der Galerie Gmyrek und des Museums Bochum, 2009 (Verlag Kerber Art)

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Museum Bochum: Anatol und seine Arbeitszeit

Anatol neben seinem Bild "Brief einer sterbenden Lehrerin" (Acryl auf Pressspan, 1996)

Anatols künstlerische Arbeiten zu sehen, das ist das Eine. Ihn reden zu hören, das ist das Andere. Wobei natürlich eins mit dem anderen zu tun hat. Eine Präsentation im Museum Bochum legt jetzt Gewicht auf die leibhaftige Gegenwart des inzwischen 80-jährigen, staunenswert vitalen und nach wie vor handfest arbeitsamen Künstlers, der für so genannte „Ringgespräche“ im Kreise interessierter Besucher in die Revierstadt kommt. Er verlegt also seine „Arbeitszeit“ (Ausstellungstitel) an den Ort, wo sonst „nur“ Hinterlassenschaften der Künstler anzutreffen sind.

Das hört sich einigermaßen harmlos an, kann aber im Falle Anatols geradezu durchtrieben sein, jedenfalls geistig ungemein produktiv. Jeweils zwei Stunden dauern die inspirierenden Runden. Wer den einstigen Beuys-Weggefährten einmal erlebt hat, zweifelt keinen Augenblick daran, dass er diese Zeitspanne ebenso mühelos wie unterhaltsam überbrückt. Fast schon meditative Qualitäten gewinnt beim schier uferlosen Erzählen sein rheinisch grundierter Singsang. Solch einer hörbar lebenskundigen Stimme darf man sich anvertrauen, sie trägt einen an andere, vielleicht ungeahnte Plätze.

Doch sollte man sich nicht nur aufs Treibenlassen in einem langen ruhigen Sprachfluss einrichten, sondern auch auf plötzlich aufblitzende Erkenntnisse. Gut möglich, dass man auf einmal etwas genauer weiß, was die mit Leben und Tod verwobene Kunst auf Erden kann und was nicht.

Man lausche.

Gar manche bezeichnende Anekdote hat dieser Künstler parat. Manchmal verliert er sich freilich auch im Geflecht seiner Sätze. Aus solcher Trance erwachend, zeigt er ein weises, menschenfreundliches Lächeln. Gern untermalt er seine Berichte gestisch, nahezu schauspielerisch. Wie einer geht und aufsteht, wie einer stockt oder stolpert, das wirft Schlaglichter aufs Leben.

Doch weiter, weiter im Fluss: Eben noch hat Anatol prägnante Passagen von Goethe oder Hildegard von Bingen zitiert. Nun berichtet er unversehens vom Errichten einer Blockhütte. Oder vom Bootsbau. Er weiß aus Erfahrung, wie man einen unsinkbaren Einbaum anfertigt. Anno 1973 begab sich jene spektakuläre Kunstaktion auf dem Rhein: Joseph Beuys sollte mit dem urtümlichen Wasserfahrzeug zurück zur Düsseldorfer Kunstakademie geholt werden, aus der man ihn hinausgeworfen hatte. Keine ganz ungefährliche Sache, zumal bei Hochwasser. „Beuys war der einzige, der keine Schwimmweste trug“, erinnert sich Anatol. Eine Heldenlegende? Ach, nicht doch! Nicht, wenn einer so verschmitzt parliert.

Längst hat Anatol den Mittelpunkt seines Schaffens zur Museumsinsel Hombroich (Neuss) verlegt. Düsseldorf, so lässt er wissen, habe er aus gutem Grund den Rücken gekehrt: „Schickimicki liegt mir nun einmal überhaupt nicht.“

Wer die verbleibenden Gesprächstermine mit Anatol (der sonst vorwiegend bildhauerisch tätig ist) versäumt, kann sich in Bochum an eine kleine Auswahl seiner Tafelbilder halten. Bildträger dieser neueren Arbeiten sind „ärmliche“ Materialien wie Pressspan und Pappe.

Die auf den ersten Blick oft unscheinbaren Figurationen setzen unter der Hand „Erscheinungen“ frei, eins entzündet sich am anderen und glimmt auf. Eine antike Amazone neben einer martialischen Polizistin. Michael Jackson beim bizarren Totentanz. Ein Kraftwerk, das ein Dorf überwölbt. Das mag sich plakativ anhören, ist es aber nicht. Besonders in den hauchzarten Aquarellen scheint alles dem allmählichen Verfall preisgegeben. Vor der Vergänglichkeit muss schließlich auch die Kunst ihre Segel streichen.

„Anatol – Arbeitszeit“ (Ausstellung bis 17. Juli), weitere öffentliche „Ringgespräche“ mit dem Künstler am 9., 16. und 22. Juni, jeweils 10 bis 12 Uhr. Museum Bochum, Kortumstraße 147.

Weitere Infos:

http://www.bochum.de/kunstmuseum




Blinky Palermo: Rebellion mit Wasserwaage

Düsseldorf. Mit Blinky Palermo verhält es sich so: Manche seiner Arbeiten hat dieser Künstler aus Unzufriedenheit selbst vernichtet. Von vielen anderen hat sich später die Spur gleichsam im Nichts verloren.

Das erhaltene Gesamtwerk des 1977 mit nur 33 Jahren auf den Malediven gestorbenen Künstlers ist überschaubar. Nur rund 200 größere Bilder und Objekte sowie etwa 600 Zeichnungen nennt der Œuvre-Katalog. Wohl gerade deshalb gilt Palermo als Mythos. Knappes Werk und früher Tod – das sind nach den Marktgesetzen zwei Bedingungen, die solch einen Status begünstigen können.

Jetzt zeigt die Düsseldorfer Kunsthalle einen Überblick zum schmalen Schaffen – den allerersten in jener Stadt, in der Palermo einst Meisterschüler des noch ungleich berühmteren Joseph Beuys gewesen ist. Damals bekam der Mann, der bürgerlich Peter Heisterkamp hieß, von Künstler-Kumpanen den Spitznamen „Blinky Palermo” – wegen einer gewissen Ähnlichkeit mit dem berüchtigten US-Mafioso und Boxmanager.

Zu sehen sind Stoffbilder (Kaufhausware, auf Rahmen gezogen), Metallbilder (in bis zu 20 Schichten bemaltes Aluminium) und Installationen. Palermo ist nicht zuletzt ein „Künstler für Künstler”. Bis heute interessieren sich auch und gerade Leute vom Fach für seine Schöpfungen. Seine meist titel- und gegenstandslosen Versuchsanordnungen wirken auf den ersten Blick oft spröde; obwohl hie und da ein Blau kontemplative Weite verströmt oder ein Rot lebensgierig leuchtet.

Formale Spitzfindigkeiten liegen nahe: Warum hat er gerade diese Farben auf diese Weise angeordnet? Wieso verlaufen die „Nähte” dazwischen so und nicht anders? Palermo hatte außerordentlich präzise Vorstellungen von seinem Tun, vielfach arbeitete er buchstäblich mit der Wasserwaage. Auf Bildrückseiten notierte er häufig exakte Vorgaben zur Hängung.

Erstaunlich nun, wie aus dieser vermeintlich so ordentlich gefügten Welt der Quadrate, Rechtecke und Dreiecke dann doch Visionen eines befreiten Daseins aufsteigen. Einigermaßen paradox gesagt, setzt sich eine geradezu mustergültige Regellosigkeit durch. Es ist eine stille Revolte mit dem Lineal.

Anhand der Düsseldorfer Auswahl kann man gut verfolgen, wie sich die geometrischen Ur-Elemente immer freier im Bildraum bewegen. Irgendwann lösen sich diese Einzelformen vollends heraus und befinden sich auf einmal hoch oben an der Wand, als wäre da etwas explodiert. Sie sind als Objekte in den Raum vorgedrungen und haben ihn neu definiert. Ein anderes Koordinatensystem als Vorbote einer anderen Wirklichkeit?

All diese Arbeiten sind seit Mitte der 60er Jahre entstanden. Die damals so rebellische Stimmung wird indirekt spürbar, fern von plakativen Effekten. Worin wohl die Einflüsse von Beuys gelegen haben? Vielleicht vor allem in einer Aufforderung dieser Art: Sei so frei, dir selbst zu folgen!

Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz 4. Bis 20. Januar 2008. Di-Sa 12-19, So 11-18 Uhr. Eintritt 5,50 €, Katalog (erst Mitte November) 29,80 €.




Wenn Rockmusik zur Reife kommt – Düsseldorf: Lou Reed spielt sein stilprägendes „Berlin“-Album nach 34 Jahren erstmals live

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Die Wiederkehr von Rock-Heroen der 60er gerät stets auch zur Generationen-Beschau: Wer geht beispielsweise hin, wenn Lou Reed in Düsseldorf auftritt?

Es pilgern Leute aus ganz Nordrhein-Westfalen in die Philipshalle. Vom Leben ledrig gezeichnete Altfreaks sind reihenweise dabei; aber auch jüngere Fans, die ahnen, dass Reed seit jeher „cooler“ ist als manche, die sich heute so gebärden. Zudem finden sich in dieser Gemeinde wahrhaftige Wiedergänger. Einer hat sich so gestylt wie der Pop-Künstler Andy Warhol (der Lou Reed einst mit dessen legendärer Truppe „Velvet Underground“ förderte), und eine Frau kommt wie Janis Joplin daher. Fast gespenstisch.

Bereits 1973 hat Lou Reed seine vielleicht finsterste Platte herausgebracht, die manchen als sein stilprägendes Meisterwerk gilt: Das als eine Art Rockoper angelegte Konzept-Album „Berlin“ taumelte durch ein schier auswegloses Labyrinth zwischen Drogen, Sex, Gewalt und Tod. Die bedrückende Mauer-Atmosphäre in der damals geteilten Stadt stand auch als Menetekel für die Depression eines verzweifelten Junkie-Paares. Übrigens kannte Reed die Stadt seinerzeit nur vom literarischen Hörensagen.

Eine Gesichtslandschaft wie Keith Richards

Lou Reed befand, dass die Zeit reif sei, das gesamte Opus erstmals live zu spielen – 34 Jahre danach. Der prominente US-Maler Julian Schnabel, der auch die wohltuend zurückhaltende Konzert-Inszenierung inspirierte, soll ihn dazu bewogen haben. Natürlich führte die Tournee auch nach Berlin. Doch Düsseldorf war im deutschen Westen die einzige Chance, den Mann mit der exzessiven Vergangenheit zu erleben. Die Gesichtslandschaft des 65-Jährigen erinnert denn auch an Keith Richards von den Stones. Solchen Kerlen glaubt man vieles, auch Bizarres.

Auf der Bühne steht beileibe nicht nur die klassische Gitarren-Band. Da versammelt sich eine rund 30-köpfige Formation – mit Streichern, Bläsern, Kinderchor und der Begleitsängerin Sharon Jones, die nicht raspelt, sondern gospelt. Welch ein Kontrast zu Lou Reeds Reibeisenstimme, die sich am besten auf lässigen, trockenen, schmutzigen Sprechgesang versteht! Puristen ist dies am liebsten. Und wenn Reed eines seiner energischen Gitarrenduelle mit Steve Hunter (schon 1973 dabei) austrägt, möchte man gern auf den Instrumenten mitreiten – notfalls durch jede Schleife der Geisterbahn.

Unverwüstliches Song-Material

Der Song-Reigen ist neu arrangiert worden. Über weite Strecken geht es deutlich druckvoller, rockiger zu als im Uralt-Original, hie und da freilich auch noch etwas bezuckert, leicht überproduziert. Hochkulturelle Ambition scheint gelegentlich dem schnurgeraden Ausdruck in die Quere zu kommen. Doch das starke Material (Titel wie „Men of Good Fortune“, „Caroline Says“, „How do you Think it Feels“) ist ja gar nicht kleinzukriegen. Und oft genug fügen sich Streicher, Chor und scheppernde Gitarren tatsächlich zu beinahe schon surrealen Harmonien.

Im Song „The Bed“ beschwört Lou Reed die desolate „German Queen“ Caroline, die sich die Pulsadern aufgeschnitten hat. Einst hatte die Klage einen eher zynischenUnterton. Heute hört sie sich gebrochen an, melancholisch, tief traurig, von Erfahrung und Wissen getränkt. So klingt lang gereifter Rock.

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ZUR PERSON

Einfluss bis zum Punk

  • Lou Reed wurde 1942 in Freeport/New York geboren.
  • 1965 gründete er mit John Cale und Sterling Morrison „Velvet Underground“ – mit Langzeit-Einflüssen bis in die Punk-Szene hinein.
  • Legendär die Platte mit Bananen-Cover, an der die deutsche Sängerin Nico mitwirkte.
  • Ab 1972 Solokarriere. Alben wie z. B. „Transformer“, „New York“ und „Ecstasy“.
  • Drei seiner Hits waren Zugaben in Düsseldorf: „Sweet Jane“, „Satellite of Love“ und „Walk on the Wild Side“.



Frechheit siegt im Kunstbetrieb – Sonderfall der Szene: der gebürtige Dortmunder Martin Kippenberger

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Mit dem üblichen Werkbegriff kann man an einen wie Martin Kippenberger (1953-1997) nicht herangehen. Der Kerl nahm’s und gab’s, wie es kam. Häufig zog er auch andere in seinem Namen zur Kunst heran. Er schlug dann die Motive vor und ließ von fremder Hand fertigen. Eine Serie heißt denn auch „Lieber Maler, male mir…“

Der gebürtige Dortmunder brachte seit den späten 70er Jahren sozusagen drastischen „Punk“ in Galerien und Museen. Immer gleich drauf und dran, erfrischend direkt, zuweilen dilettantisch, um keinen Kalauer verlegen. Er führte ein rastloses, verzehrendes Leben, als hätte er geahnt, dass er früh sterben würde. Heute gilt er als typische Leitfigur des damaligen Zeitgeistes – wie gewisse Rockstars.

Jetzt würdigt ihn das Düsseldorfer K 21 (Kunstsammlung NRW, Haus fürs 21. Jahrhundert) mit einer letztlich doch als „Werkschau“ gedachten Auswahl, die in Kooperation mit Tate Modern (London) entstanden ist.

Eine ausufernde Installation füllt weite Teile des Erdgeschosses: „The Happy End of Franz Kafkas .Amerika'“ (1994). Dazu muss man wissen: Kafka entwarf am Schluss seines Amerika-Romans („Der Verschollene“) die Utopie eines allumfassenden Bewerbungsgesprächs mit massenhafter Einstellungsgarantie. Fiebriger Traum für Zeiten der Arbeitslosigkeit…

In jedem Moment könnte alles passieren

Davon inspiriert, bespielte Kippenberger ein grünes Feld, das (nicht nur in diesen WM-Tagen) an einen Fußballplatz erinnert. Darauf befinden sich, jeweils mit Stühlen und Tischen gebaut, vielfach variierte Situations-Vorgaben für Gespräche. Allein das Formenvokabular der Sitzmöbel reicht vom Kinderstühlchen bis zum Jagd-Hochsitz, vom Cocktailsessel bis zum erhöhten Ausguck des Tennis-Schiedsrichters. Im Detail sind es lauter festgelegte Hierarchien, in der überwältigenden Summe aber leuchtet eine Offenheit, in der wahrhaftig alles simultan möglich zu sein scheint. Es ist ohnehin ein Kennzeichen dieses windungsreichen Kunst-Kosmos‘: In jedem Moment könnte alles passieren. „Geht nicht“ gibt’s nicht.

Im Untergeschoss sieht man einen Querschnitt durch Kippenbergers Schaffen. Mehrfach tauchen Skulpturen auf, die dem Betrachter gekränkt den Rücken zuwenden. Tîtel jeweils: „Martin, ab in die Ecke und schäm Dich.“ So lachlustig ging Martin Kippenberger mit Kunstkritik um. Und überhaupt mit dem ganzen neunmalklugen Betrieb, der ihn dann hofierte. Oh, närrischer Überdruss, oh, siegesgewisse Frechheit!

Ein hellwacher Ideenschöpfer, oft aus Launen heraus

Ob wilde, munter beschriftete Collagen oder zerstörte Bilder, deren Fetzen er in einen Container packte – vieles wirkt so, als wäre bald Schluss mit aller Kunst. Jedoch: So sehen Neuanfänge aus! Joseph Beuys‘ Sinnsprüchlein, jeder Mensch sei ein Künstler, hat Kippenberger flugs umgedreht: „Jeder Künstler ist ein Mensch.“ Just an solchen Grenzlinien zum Alltagsleben wollte er Freiräume ausloten. Kein Material, das er nicht verwendet und kommentiert hätte. Nichts und niemand war vor ihm sicher.

Ein großer Maler oder Zeichner ist Kippenberger nicht gewesen, gewiss aber ein hellwacher Ideenschöpfer, oft aus Augenblickslaunen heraus. Eine Ausstellung kann allerdings nur Spurenelemente dieses regen, wüsten, spontanen Geistes und seiner Eingebungen konservieren. Der Selbstdarsteller, der recht unverfroren zur Sache ging, ist leider nur noch in Filmen präsent, die hier in Endlosschleifen laufen. Seine Bilder wirken hingegen wie Relikte (oder je nach Lesart: Reliquien) eines Verschwundenen.

Kunstsammlung NRW „K 21 „. Düsseldorf (Ständehausstr. 1). Bis 10. September. Di-Fr 10-18, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 6,50 Euro.

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ZUR PERSON

Zoff in Schule und Lehrzeit

  • 1953 wurde Martin Kippenberger in Dortmund geboren. Sein Vater war Zechendirektor, die Mutter Hautärztin.
  • 1956 zieht die Familie nach Essen, es folgen Schuljahre im Schwarzwald. Martin schwänzt den Zeichenunterricht, weil der Lehrer ihm nur eine „zwei“ gegeben hat.
  • 1968: Nach dreimaliger Wiederholung der Untertertia: Abbruch der schulischen Laufbahn.
  • 1968/69 Dekorateurslehre bei einem Bekleidungshaus. Küdigung wegen Drogenkonsums.
  • 1971 Umzug nach Hamburg, diverse WGs.
  • 1977 Erste Einzelschau in einer Hamburger Galerie – Beginn einer unverhofft steilen Kunst-Karriere.



Mit Herzblut für die wahre Freiheit – Einer unserer allergrößten Dichter: Vor 150 Jahren ist Heinrich Heine in Paris gestorben

Von Bernd Berke

Vielleicht treffen sie sich jetzt dort droben: Wolfgang Amadeus Mozart und Heinrich Heine. Falls ja, dann können der Komponist und der Dichter einander Hochachtung, aber auch wechselseitiges Mitleid bekunden. Allenthalben werden sie rituell gefeiert, weil sich biographische Daten „runden“. Heute vor 150 Jahren starb Heine nach langjährigen Leiden in seiner Pariser „Matratzengruft“.

Wie überaus betrüblich: Einer, der dem göttlich guten Leben im Diesseits derart zugetan war, musste so elendiglich enden. Nur zu verständlich, dass Heine zuletzt allen atheistischen Anwandlungen abschwor und um Gottgläubigkeit rang. Nur ahnungslose Schandmäuler können ihm dies verübeln.

Seine Werke gehören unverbrüchlich zur Weltliteratur. In Frankreich zählen die Bücher von „Henri“ ebenso zum ehernen Bestand wie bei uns – und mancher Japaner oder Russe kann wahrscheinlich das „Loreley“-Gedicht im deutschen Original aufsagen.

Sein Witz war kühn und treffsicher

Das berühmte „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ konnten nicht einmal die Nazis verschweigen. Allerdings schrieben sie die Zeilen einem „unbekannten Dichter“ zu.

Heine war Rheinländer jüdischen Glaubens, als junger Mann ließ er sich allerdings christlich taufen, denn: „Der Taufzettel ist das Entréebillet zur europäischen Kultur.“ Antijüdische Vorurteile gegen Heine steigerten sich schon bei einigen seiner Zeitgenossen zu erschreckenden Hasstiraden. Die üblen Klischees des 19. Jahrhunderts führten letztlich auch zur Bücherverbrennung von 1933.

Der Heißsporn Heine hat sich zu seiner Zeit mit nicht lauteren Mitteln gewehrt: Als der Dichter August Graf von Platen ihn mit antisemitischen Untertönen angriff, machte sich Heine öffentlich über dessen Homosexualität lustig – damals ein ungeheurer Skandal und wohl der schlimmste deutsche Dichterstreit überhaupt.

Nachwirkung zwischen Karl Kraus und Nietzsche

Heines Nachwirkung ist stets eine Streitfrage gewesen. Selbst ein ungemein kluger, doch hitziger Kopf wie Karl Kraus hat Heine als Vorläufer eines unverbindlich plaudernden Stils missverstehen wollen. Kraus-Zitat: „Ohne Heine kein Feuilleton. Das ist die Franzosenkrankheit, die er uns eingeschleppt hat.“ Heine habe „der deutschenSprache so sehr das Mieder gelockert (…), dass heute alle (…) an ihren Brüsten fingern können.“ Friedrich Nietzsche bezog die Gegenposition: „Man wird einmal sagen, dass Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind …“

Die Vaterstadt Düsseldorf hat sich mit Heine schwer getan. Schier endlos währte das Gezerre darum, ob die Uni seinen Namen tragen sollte 1989 war es so weit. Ehrenbürger ist er bis heute nicht.

Mit Herzblut hat Heine einige der schönsten romantischen Gedichte geschrieben. Doch sein flackernder, treffsicherer Witz und seine oft kühnen Formulierungen (er reimte schon mal „ästhetisch“ auf „Teetisch“) ließen wehe Idyllen und Schauermärchen der Romantik weit, weit hinter sich.

Gemischte Gefühle fürs aufkommende Proletariat

Er hat nicht nur höchst sprach- und formbewusste, sondern aufsässige Texte geschrieben – mit satirischer Stoßrichtung gegen schläfriges Biedermeier, starres Preußentum und aggressiv dumpfen Nationalismus (nationale Einigung ja, aber bitte unter freiheitlichen Vorzeichen). Ach, wüsste man doch, was der Erz-Journalist Heine zum jetzt so akuten Streit um Karikaturen und Pressefreiheit gesagt hätte!

Mit gemischten Gefühlen sah Heine das Proletariat heraufkommen. Er begriff die Notwendigkeit dieser Entwicklung, fürchtete aber auch die Barbarei der neuen Klasse – eine Schreckensvision, die im Realsozialismus grässliche Gestalt annahm. Im Grunde blieb Heine Monarchist, freilich ein aufgeklärtes Königtum, das per Verfassung alle (bürgerlichen) Menschenrechte wahren sollte.

Mit Potentaten und Zensoren in Berlin hatte er ebenso Probleme wie mit kaufmännischen „Pfeffersäcken“ in Hamburg, wo sein reicher Bankiers-Onkel Salomon und sein Verleger Campe lebten – zwei Menschen, mit denen er oft um Geld gestritten hat.

Welch eine Befreiung muss Paris bedeutet haben, damals die konkurrenzlose Weltmetropole mit rauschendem Kultur- und Gesellschaftsleben, an dem Heine ausgiebig teilnahm. Hier traf er prägende Gestalten jener Zeit – von Richard Wagner bis Karl Marx, von Hector Berlioz bis Balzac und George Sand.

„Dicht hinter Hagen ward es Nacht.. .“

Seinen Büchern kann man entnehmen, dass er trotz alledem wehmütig an seiner Heimat gehangen hat. Er hatte „das Vaterland an den Sohlen“ – wären es doch nur befreite Lande gewesen! „Denk ich an Deutschland in der Nacht…“

Der Rheinländer Heine hat die geradlinige westfälische Wesensart sehr geschätzt. In Göttingen sang und trank er mit Studienfreunden aus hiesigen Breiten.

Die Zeilen, die jeden Westfalen rühren, stammen aus der ansonsten eminent politischen Dichtung „Deutschland. Ein Wintermärchen“ und schildern Heines Reise nach Hamburg (1843), die durch Westfalen führte:

„Dicht hinter Hagen ward es Nacht, / Und ich fühlte in den Gedärmen / Ein seltsames Frösteln. Ich konnte mich erst / Zu Unna, im Wirtshaus, erwärmen…/ Den lispelnd westfälischen Akzent / Vernahm ich mit Wollust wieder.“

Und nun kommt’s:

„Ich habe sie Immer so lieb gehabt, / Die lieben, guten Westfalen, / Ein Volk so fest, so sicher, so treu, / Ganz ohne Gleißen und Prahlen (…) / Sie fechten gut, sie trinken gut, / und wenn sie die Hand dir reichen, / Zum Freundschaftsbündnis, dann weinen sie; / Sind sentimentale Eichen.“

Beileibe nicht nur wegen dieser Verse: Der Weltbürger Heine verdient unbedingt auch die westfälische Ehrenbürgerschaft.

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LEBENSDATEN

Kaufmannslehre und Romantik

  • Heinrich Heine (Bild) wird am 13. Dezember 1797 in Düsseldorf geboren.
  • Er erwirbt kein Reifezeugnis, sondern wechselt zur Handelsschule.
  • Ab 1815 Kaufmännische Lehrzeit in Frankfurt und Hamburg.
  • 1816 Unglückliche Liebe zur Cousine Amalie.
  • 1817 Erste Gedichte unter Pseudonym.
  • Ab 1819 Jura-Studium in Bonn, Göttingen, Berlin. Auch philosophische Vorlesungen, u. a. bei Hegel.
  • 1825 Examen, Promotion, protestantische Taufe.
  • 1826 Erster Teil der „Reisebilder“ (u.a. „Die Harzreise“, „Die Nordsee“).
  • 1827 „Buch der Lieder“ (zu Lebzeiten 13 Auflagen). Reise nach England.
  • 1828Norditalien-Reise
  • 1829 Umzug nach Berlin
  • 1837 Heine zieht nach Paris, berichtet von dort für deutsche Zeitungen.-•1835 Verbot der Schriften Heines im Dt. Bund.
  • 1836 „Die romantische Schule“
  • 1840 Streitschrift gegen Ludwig Börne (Folge: Duell mit einem Börne-Fan).
  • 1 841 Heirat mit der 18 Jahre jüngeren Mathilde, die er 1834 kennen gelernt hatte. Heine schrieb: „Sie hat einen sehr schwachen Kopf, aber ein ganz vortreffliches Herz.“
  • 1843 und 1844 Reisen nach Hamburg.
  • 1844 „Deutschland. Ein Wintermärchen“.
  • 1847 „Atta Troll“
  • 1848 Feb./März: Bürgerliche Revolution in Frankreich und Deutschland. Heine ist ab Mai für den Rest seines Lebens durch Krankheit ans Bett gefesselt („Matratzengruft“).
  • 1851 „Romanzero“
  • 1854 „Geständnisse“
  • 1856 (17. Februar): Heinrich Heine stirbt in Paris.



Von Luxus, Lust und Melancholie – Düsseldorfer Kunstsammlung NRW wartet mit famoser Matisse-Ausstellung auf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Picasso ist in Deutschland leichter zu zeigen. Denn das Werk von Henri Matisse (1869-1954) wurde hierzulande häufig als bloß „bürgerlich dekorativ“ abqualifiziert. Das Urteil war wohl auch durch nationale Rivalitäten mit Frankreich getrübt. Jedenfalls haben sich hiesige Museen bis in jüngere Zeit mit Ankäufen zurückgehalten.

Umso erstaunlicher ist, was Düsseldorf nun aufbietet: Die Kunstsammlung NRW hat eine immense Fülle von Matisse-Werken zusammengetragen – dank guter Kontakte zu den großen Museen der Welt. Sollte der Ansturm dem Anlass entsprechen, so könnte das Haus gar logistische Probleme bekommen.

Wie bei Schauen dieses Formats üblich, will man nicht nur imposant anhäufen und gängige Meinungen bestärken, sondern just „Legenden“ in Frage stellen, die sich um Matisse ranken. Der Franzose, so behaupten die Ausstellungsmacher, sei längst nicht nur der schwelgerische Prophet eines „Goldenen Zeitalters“ und eines kunstvoll schönen Gleichgewichts gewesen. Nein, sein Werk zeuge vielfach auch von Instabilität und Gebrochenheit.

Weite Teile der Dauersammlung mussten weichen. Das Oeuvre von Matisse erstreckt sich somit über drei Etagen. Dennoch konzentriert man sich vorwiegend auf Interieurs (also Innenräume, Zimmer) und Frauenbildnisse aus allen Schaffensphasen – von der noch traditionell akademisch bestimmten Themenfindung bis hin zu flächig komponierten, fast musikalisch freien Formen.

Besessen vom weiblichen Leib

Matisse muss besessen gewesen sein vom weiblichen Leib, doch auch inspiriert von durchgeistigten Valeurs erotischer Ausstrahlung. Das „Ewigweibliche“ durchtränkt jede Faser der Bilder. Es ergießt sich über die Dinge, durchströmt die Räume, teilt seine Geheimnisse vorzugsweise mit Tieren oder Blumen – doch nie mit männlichen Wesen, den Künstler freilich ausgenommen.

Vielfältig sind die immer neuen Reize der Bildstrategien: Mit raffinierten Spiegeleffekten setzt Matisse manche Frauen und Räume entgrenzend in Szene. Oder er spielt subtil auf den Blick des Kunstbetrachters an, indem er ein Mädchen versonnen ins Goldfischglas schauen lässt.

Überhaupt scheinen all diese Frauen, ob nun Berufsmodelle oder engere Gefährtinnen des Künstlers, ganz in sich selbst und ihre Träumereien versunken. In überaus aparten Farbmischungen und oft überraschenden, zuweilen kühnen Perspektiven lässt Matisse etwa die zahllosen Leserinnen erglühen. Im Bann ästhetischer Moden malt er reihenweise hingegossene Odalisken. Das Wort meinte ursprünglich weiße Sklavinnen im orientalischen Harem orientalischen Harem. Hier aber sind es träge, laszive Heroinen, die von zeitloser Lust und Luxus künden.

Anfangs mögen manche Bilder auch schockiert haben. Doch natürlich ergeben sich daraus denn doch höchst dekorative Schauwerte; zumal im Spätwerk, wo sich der Drang zu ungeahnten Formen besänftigt. Auch spürt man – anders als etwa bei Pablo Picasso und so vielen anderen – von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts in diesen Bildern kaum einen Hauch.

Es ist jener Art von erlesener Schönheit, die sich vor den Übeln der Zeit ins gepflegte Interieur zurückzieht – zwischen Klavier, edle Bücher und kostbare Möbel. Allerdings weht auch ein wenig Melancholie durch diese spätbürgerliche Welt. Doch diese Bilder können allen Streit und Gram der Tage überstrahlen.

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Größte Schau seit langem

• Die Düsseldorfer Matisse-Schau ist seit 1970 die größte in Europa und seit 1930 die größte in Deutschland. Sie umfasst 90 Gemälde, 80 Zeichnungen und 25 Skulpturen.

• Umfangreich auch das Rahmenprogramm. Beteiligt: Filmmuseum und Institut Français.

• Ausstellung in der Kunstsammlung NRW, Düsseldorf, Grabbeplatz: 29. Oktober 2005 bis 9.Februar 2006. Geöffnet: tägl. außer Mo 10-20 Uhr. Eintritt 10 Euro, Katalog 25 Euro.




Kultur besteht nicht nur aus „Leuchttürmen“ – Gespräch mit NRW-Staatssekretär Grosse-Brockhoff

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Nicht noch mehr kulturelle „Leuchttürme“ errichten, sondern die wertvolle Substanz im Lande erhalten und pflegen. Das ist eine kulturpolitische Leitlinie der neuen Landesregierung. Die WR sprach gestern in Düsseldorf mit dem für Kultur zuständigen Staatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff (CDU).

Der neue Mann für die Landeskultur, bislang Schul- und Kulturdezernent der Stadt Düsseldorf, versichert, dass das Wahlversprechen umgesetzt werde: Mittelfristig soll demnach der NRW-Kulturetat von etwa 67 auf 135 Mio. Euro verdoppelt werden. Was heißt „mittelfristig“? Grosse-Brockhoff: „In den nächsten fünf Jahren.“ In welchen Schritten dies geschieht, ist noch offen.

Grosse-Brockhoff ist davon überzeugt, dass NordrheinWestfalen „die dichteste und reichste Kulturlandschaft der Welt ist“. Er wolle dafür sorgen, dass dies endlich auch in Berlin oder München wahrgenommen werde – und international. Eine Idee, die sein Vorgänger Michael Vesper (Grüne) aus Finanzgründen fallen ließ, will Grosse-Brockhoff eventuell aufgreifen: eine gemeinsame Präsentation von NRW-Museen in den USA oder etwa auch in China.

Blankoscheck auch nicht für die RuhrTriennale

Vorstellbar sei dies auch im Zusammenspiel mit der heimischen’Wirtschaft. Kultur als „Türöffner“ für Unternehmen? Grosse-Brockhoff: „Die Kultur als Vorreiter! Das gab es schon im Mittelalter und zur Zeit der Hanse.“ Solange Kultur nicht vereinnahmt werde, sei das in Ordnung.

GRosse-Brockhoff, der sich just gestern im neuen Büro (Weitblick aus der 12. Etage des Stadttor-Hochhauses) einrichtete, fungiert beim neuen NRW-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers als Leiter der Staatskanzlei. Nach eigenem Bekunden kann er etwa ein Drittel seiner Arbeitszeit der Kultur widmen. Genügt das? Grosse-Brockhoff: „Michael Vesper hatte noch weniger Zeit für Kultur, sein Ministerium war auch für Wohnen, Städtebau und Sport zuständig, außerdem war er stellvertretender Ministerpräsident.“ Vesper habe insgesamt gute Arbeit geleistet, aber: „Wenn man gewollt hätte, hätte man die Kultur von Sparmaßnahmen ausnehmen können.“

Bestehende „Leuchttürme“, wie etwa die RuhrTriennale, sollen nicht angetastet werden. Der studierte Jurist und Historiker Grosse-Brockhoff, der sich durch bisherige Ämter auch mit Finanzfragen auskennt, will freilich auch den Triennale-Etat überprüfen: „ Einen Blankoscheck gibt es nicht.“ Und die mögliche Kulturhauptstadt Ruhrgebiet? Grosse-Brockhoff steht voll und ganz hinter der Essener Bewerbung. Jedoch: „Da müssen wir uns noch ganz schön ins Zeug legen, dass wir’s auch werden…“

Ebenso wichtig wie solche Highlights sei indes die Substanz-Erhaltung. In Depots, Bibliotheken und Archiven seien viele Bestände gefährdet. Hier müsse das Land helfend eingreifen. „Stadt und Land Hand in Hand“, lautet Grosse-Brockhoffs gereimte Losung. Er wolle viel intensiver mit den Kommunen zusammenarbeiten, und zwar ohne Ansehen von politischen Mehrheitsverhältnissen. Und der Rheinländer stellt klar, dass er auf Gerechtigkeit zwischen den Landesteilen achten werde: „Ich mahne schon seit Jahren, dass Westfalen genügend gefördert wird.“

Weitere „Baustellen“ gibt es mehr als genug: Einen engen Zusammenhang will GrosseBrockhoff zwischen Kultur- und Bildungspolitik stiften. Er möchte Projekte anregen, bei denen Künstler in die Schulen gehen, denn: „Ästhetische Erziehung hat in NRW stark gelitten.“

Zudem sollen die gemeinsamen Kultursekretariate der NRW-Städte (in Wuppertal und Gütersloh) im Sinne einer regionalen Kulturpolitik gestärkt werden. Und auch der Erhalt der finanziell gebeutelten NRW-Landestheater (u. a. des WLT in Castrop-Rauxel) liege ihm am Herzen, so GRosse-Brockhoff. Vielleicht kommt diesen Bühnen ja ein Teil der angepeilten Etat-Erhöhung im Lande zugute?

 

 

 

 




Ein Fachmann für die Kultur – Grosse-Brockhoff als NRW-Staatssekretär

Von Bernd Berke

Wenn einem Kultur am Herzen liegt, so vernimmt man die Nachrichten aus Düsseldorf mit gemischten Gefühlen: Mit dem bisherigen Düsseldorfer Kulturdezernenten Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff ist eine gewichtige Persönlichkeit für kulturelle Belange in der NRW-Landesregierung gewonnen worden. So weit, so verheißungsvoll.

Dass der Mann keinen Ministerrang einnimmt, sondern beim neuen Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers in der Staatskanzlei angesiedelt wird, zeugt allerdings von Halbherzigkeit. Was hat dagegen gesprochen, die Kultur endlich wieder als eigenständiges Ressort zu etablieren?

Unter der rot-grünen Vorläufer-Regierung war Kultur in einen Gemischtwarenladen einsortiert. Michael Vesper war für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport zuständig. In solcher Gemengelage hängt eben vieles von den Personen ab. Vesper hat sich durchaus achtbar und zunehmend sachkundig um die Kultur gekümmert.

Mehr privates Geld nötig

Dieser persönliche Aspekt lässt aber auch für die Zukunft hoffen, denn Grosse-Brockhoff (55) ist ein erfahrener Mann vom Fach. Schon ab 1981 war er Kulturdezernent in Neuss, seit 1992 versieht er dieses Amt mit einiger Fortune in Düsseldorf. Die dortige Museumslandschaft etwa kann sich wahrlich sehen lassen, und auch das Theater steht recht ordentlich da.

Sparzwänge gibt’s wie überall im Lande, und so hat GrosseBrockhoff sich frühzeitig mit neuen Modellen der so genannten Public-Private-Partnership befasst, sprich: Er hat Chancen ausgelotet, wie Kulturinstitute mit der Wirtschaft kooperieren können. Die von Grosse-Brockhoff eingeleitete Zusammenarbeit des eon-Konzerns mit dem Düsseldorfer Museum kunstpalast gilt hier – bei aller möglichen Kritik im Detail – als wegweisend.

Verfahren, die mehr privates Geld in den kulturellen Bereich lenken sollen, spielen auch in der Koalitionsvereinbarung zwischen CDU und FDP eine besondere Rolle. Kein Wunder: CDU-Mitglied Grosse-Brockhoff hat im Vorfeld der Landtagswahlen an der kulturpolitischen Positionsbestimmung seiner Partei entscheidend mitgewirkt.

Nur zwei Seiten im Koalitionspapier

Dass Kultur im Koalitionspapier von CDU und FDP nur rund zwei von 60 Seiten einnimmt, ist jedoch enttäuschend. Ein neues, sponsorenfreundliches Stiftungsrecht wird da ebenso in Aussicht gestellt wie die (vor den Wahlen versprochene) mittelfristige Verdoppelung des Landes-Kulturhaushaltes, der bislang nur 0,27 Prozent des gesamten Etats ausmacht. Ausdrücklich stellen sich CDU und FDP hinter die Bewerbung des Ruhrgebiets um die „Kulturhauptstadt 2010″ und erwähnen RuhrTriennale, Klavierfestival Rühr sowie Ruhrfestspiele als „Leuchttürme“.

Manchen Rheinländer hat diese nachdrückliche Betonung des Reviers bereits misstrauisch gemacht. Gelten Köln und Düsseldorf denn gar nichts mehr? Eine absurde Frage, zumal sich jetzt der bisherige Düsseldorfer Dezernent der Sache annimmt. Anlass zur Sorge gibt allerdings die Tatsache, dass regionale Kulturpolitik ansonsten im Koalitionspapier nicht vorkommt.




Die magischen Momente – Werkschau von Gerhard Richter in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Mal stellt dieser Künstler acht gigantische verglaste Bildtafeln hin, die als graue Monumente vor dem Betrachter aufragen, lockend und abweisend zugleich. Dann wieder versammelt er gleich „4096 Farben“ (Titel) kästchenweise auf einem einzigen Bild.

Überhaupt hat der wandelbare Gerhard Richter (72) fast das gesamte Gelände der heutigen Mal-Möglichkeiten ausgeschritten. Seine Retrospektiven gleichen daher ästhetischen Wechselbädern. So auch jetzt in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW.

Dem „Kunst-Kompass“ zufolge ist Richter der gefragteste (und wohl auch teuerste) aller lebenden Künstler. Düsseldorf bereitet nun einen Bilderschmaus mit 120 Arbeiten, beginnend mit den 1960er Jahren. Seit einer Werkschau in der Bonner Bundeskunsthalle (1993) hatte keine deutsehe Richter-Ausstellung ein solches Volumen.

Gezielt verwischte, flirrende Landschaften

Der gebürtige Dresdner, der vor seiner Flucht in den Westen (1961) verhasste Pflichtübungen im Sozialistischen Realismus absolvieren musste, malt seit Mitte der 60er Jahre vielfach an den Grenzlinien des Sichtbaren. Grandiose Beispiele finden sich im Düsseldorfer Raum mit Richters gezielt verwischten, flirrenden Landschaften. Vergebens will man sein Auge „scharf stellen“ – und betrachtet die Vexierbilder somit ungemein intensiv.

Eigentlich unscheinbare, fernab gelegene Gegenden („Landschaft bei Hubbelrath“) hat Richter mit Vorliebe aufgesucht, um ihnen unversehens eine besonders magische Aura zu verleihen. Selbst banale Motive wie ein „Besetztes Haus“ entfalten hier transzendente Kraft. So, als könne an solchen Orten jederzeit das Ungeahnte geschehen.

Als Katalog-Abbildungen erscheinen derlei Gemälde wie nahezu fotorealistische Wiedergaben. Doch vor den Originalen bemerkt man dann doch sanfte Spuren der Machart, des Pinselschwungs, der verhaltenen Emotion. Gleichfalls verwischte Menschen-Darstellungen („Frau mit Kind“, „Zwei Liebespaare“) wirken mit ihren feinen Grauwert-Abstufungen wie vage Blitzlichter der Erinnerung. Es sind schmerzhaft vergängliche Momente, oft durchsetzt mit grotesker Mimik und Gestik. Da grinsen sozusagen die Fratzen und Phantome des „Jetzt“.

Eintauchen in die Eruptionen greller Farben

Gegenständlichkeit und Abstraktion, Gläubigkeit und Skepsis vor dem Bilde sind bei Richter keine Gegensätze, er driftet zwischen den Polen hin und her, offenbar regellos und frei: „Ich weiß nicht, was ich beim Malen tue“, hat er einmal gesagt. Doch die Hängung seiner Ausstellungen plant er penibel im voraus.

Die Dramaturgie der Düsseldorfer Schau (weitere Stationen: München, Japan) ergeht sich in Kontrasten. Da gibt’s meditative Raumfluchten in allen glatten, körnigen oder schlierigen Ausprägungen von Grau, Schwarz, Weiß. Oder man verliert sich in vakuumartigen Zuständen einer gleißenden Schneelandschaft, eines vollkommen leeren Zimmers.

Dann aber taucht man auf der nächsten Etage in ungeheure Emptionen der grellsten Farben ein. Hier wird auch schon mal der schiere Verlauf eines einzigen Pinselstrichs zum tragenden Thema und zuweilen zum mitreißenden Ereignis.

Mit neuesten Werken wie dem Riesenformat „Strontium“ (9 mal 9 Meter) erkundet Richter quasi mikroskopische Weiten der Biologie, Chemie und Physik. Serielle Wiederholungsmuster kommen dabei ins Spiel. Sieht es so im Kern aller Schöpfung aus? Oder schaut uns da die reine, polierte Oberfläche an?

Kunstsammlung NRW (K 20), Düsseldorf, Grabbeplatz. 12. Februar bis 16. Mai. Di-Fr 10-18, Sa/So 11-18 Uhr. Eintritt 6,50 Euro, Katalog 29 Euro.




Mit Ibsen auf die Hüpfburg: Nach Bochum spielt jetzt auch Düsseldorf „Peer Gynt“ – ein Inszenierungs-Vergleich

Von Bernd Berke

Düsseldorf/Bochum. Wer Frauen auf der Bühne sehen möchte, weil sie halt auch im Stück vorkommen, der ist jetzt in der Düsseldorfer „Peer Gynt“-Version falsch. Regisseur Michael Simon stemmt Henrik Ibsens Weltendrama mit einem reinen Herren-EnsembIe. Warum? Man muss es sich zusammenreimen, etwa so: Die faustische Steigerung des bürgerlichen „Ich“, das den Erdkreis kolonisieren will, war historisch eine männliche Domäne. Gut, dass wir drüber geredet haben.

Aber muss man deshalb auch Peer Gynts Mutter (Götz Argus) und die lebenslang treulich auf ihn wartende Solveig (Markus Danzeisen) männlich besetzen? So verzichtet man ja gerade auf weibliche Gegenkräfte zur maskulinen Dominanz. Streckenweise gerät die Geschlechtsumwandlung zur karnevalistischen Travestie.

Vor wenigen Wochen hatte sich Jürgen Gosch in Bochum Ibsens Riesendrama vorgenommen (die WR berichtete). In einer Art Bühnen-Sandkasten ergab sich dort ein putzmunteres, gelegentlich allzu turbulentes „Kinderspiel“ über Peer Gynts fortwährend fehlschlagende Selbstsuche. In Düsseldorf ist es nun eine aufblasbare Riesenmatte, welche zeitweise die Bühne überwuchert und als Hüpfburg dient. Es sieht so aus, als nähmen beide Regisseure Ibsen aus infantil getönter Tobe-Perspektive wahr. Zufall oder Zeichen der Zeit?

Reines Herren-Ensemble – und die Hauptfigur gibt es zehnfach

Die Hauptfigur ist in Düsseldorf gleich zehnfach vorhanden. Im fliegenden Wechsel lösen die Darsteller einander als Peer Gynt ab, gegen Ende sehen wir schon mal alle zugleich. Zehn Identitäten, also letztlich gar keine. Es ist ein Vexierspiel. Und man kann die einzelnen Darsteller schwerlich gesondert beurteilen. Das kollektive Gewusel lässt es nicht zu.

In Bochum wird insgesamt trefflicher agiert, in Düsseldorf genauer artikuliert. Während sie in der Bochumer Improvisations-Rasanz manche Zeile verschlucken, klingen hier die Worte recht klar. Immer wieder greift die Düsseldorfer Inszenierung zudem Kernsätze auf, die laut wiederholt werden. Da möchte man meinen, hier gelte die Textvorlage noch etwas. Doch im Revier und am Rhein setzt man einige Stückkenntnis voraus, man bedient sich freihändig aus dem Fundus. Dabei herrscht allemal der schnelle Jux vor.

Die Männer, der Westen und der Krieg

Regisseur Michael Simon will den Eroberer-Gestus des Peer Gynt geißeln: Etliche Dritte-Welt- und Öko-Verkaufsstände im Foyer werden flugs zum „Bestandteil der Inszenierung“ erklärt. Aha: Die Sache mit dem maßlos aufgeplusterten „Ich“ ist nicht nur eine der Männer, sondern auch des kolonisierenden Westens überhaupt. Lehrhaft wird dies vorgeführt, wenn Peer Gynt als Kapitalist in Amerika durchstartet. Drinnen erklingt Sinatras „Strangers in the Night“, draußen vor den Theaterfenstern bricht flammender Krieg los – und wir sollen gewiss an den Irak denken.

Vor den Fenstern? Genau. Denn weder den umtriebigen „Peer Gynt“ noch seinen rastlosen Regisseur hält es lange an einem Ort. Deshalb müssen auch die Zuschauer mobil sein. Erst sitzen sie im Parkett, dann werden sie auf die Bühne geleitet, wo sich die Szenen mit den grotesken Trollen ereignen und man nackenstarr zum Schnürboden hochschaut.

Hernach geht’s ins Foyer, schließlich darf man wieder im Gestühl Platz nehmen. Sonderlichen Deutungs-Mehrwert erbringen die Wanderungen nicht. Man kann nur von diesem Basar der Besonderheiten erzählen wie einer, der eine Reise getan hat. Wohin hat sie geführt? Ins Ungefähre, doch nicht näher zu Ibsen.

• Termine Düsseldorf: 24., 25. Nov., 11., 17., 21., 22. Dez. Karten: Tel. 0211/36 99 11.  • Termine Bochum: 27. Nov., 4.. 26. Dez. Karten: Tel. 0234/ 3333-111.




Ein Piktogramm zieht sich aus – Bilderfahnen-Serie des Briten Julian Opie in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Rechnet man nach Quadratmetern gefüllter BiIdfläche, so gibt es jetzt im obersten Geschoss des Düsseldorfer „Ständehauses“ (K 21) enorm viel zu sehen. Doch inhaltlich reduziert sich die Sache gehörig, denn es geht nur um dies: Eine Frau zieht sich aus.

Der Brite Julian Opie (Jahrgang 1958) „bespielt“ den Riesenraum unter der gläsernen Kuppel mit insgesamt 15 lang und strahlend weiß herab hängenden (Kunst)-Stoffbahnen, die wie Fahnen oder Banner wirken. Jede „Flagge“ ist rund 7 mal 2.50 Meter groß.

Doch keine staatlichen Symbole prangen darauf, sondem die scharf konturierten, anonymisierten Ganzkörper-Bildnisse einer jungen Dame, die in drei trickfilmhaften Sequenzen diverse Kleidungsstücke ablegt. Mal fällt nach und nach die Jeans-Hose, dann sinken Kleidchen und Bluse zu Boden. Es sieht hie und da recht nett aus. wenn man sich denn ‚was Schönes hinzudenkt. Doch eine Offenbarung ist es gewiss nicht.

Ohne jede persönliche Note

„Bijou gets undressed“ (Bijou entkleidet sich) heißt die ganze Serie, die den Dialog mit der umgebenden Architektur aufnehmen soll. Weitläufig ist der Weg um die beidseitig bedruckten Fahnen herum, stets ergeben sich neue Perspektiven.

Zuweilen ragt die halb entblößte Frau monumental über dem Betrachter auf, dann wieder scheint sie sich hinter dem gläsernen Aufzugsschacht verbergen zu wollen. Im Grunde aber „will“ sie gar nichts, denn es geht ihr ja jede persönliche Note ab.

„Gezeichnet“ sind die weiblichen Umrisslinien mit einem Computerprogramm. Individuelle Züge fehlen, es handelt sich um eine idealtypische Figur – wenigstens nach den (Schlankheits)-Maßstäben der gängigen Produktwerbung.

Schlicht und einfach die Sachen ablegen

Diese Piktogramm-Frau, deren Kopf als ungefüllte Kreisform halslos über den Schultern schwebt, vollführt freilich keinen lasziven Striptease. Sie legt schlicht und einfach ihre Sachen ab; ohne Pose, ganz alltäglich, offenbar gedankenlos. Standardisiert, ja geradezu steril wirken ihre Haltungen. Eros und Sexus sind fern.

Nichts für Voyeure also. Für wen aber dann? Wahrscheinlich für alle, die grübeln wollen über den Schwund der Individualität in den Stadtwelten oder über das mittlerweile ziemlich Unspektakuläre des in allen Medien beäugten nackten Leibes. Kein Mythos, keine Erregung. Nirgends.

Julian Opie: Installation „Bijou gets undressed“. Bis 25. April 2004 im „Ständehaus“ (K 21), Düsseldorf, Ständehausstraße 1. Di-Fr 10-18, Sa/So 11-18 Uhr.

 




Das Leben ist wichtiger als die Kunst – Düsseldorfer Schau über den Freigeist Robert Filliou

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Sein Herz schlug links: Dem französischen Künstler Robert Filliou (1926-1987) ging es um Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und immer um Veränderung. Da sollte alles fließen, nichts sich verfestigen. Deshalb galten ihm lustvolle Denkprozesse mehr als etwaige künstlerische „Ergebnisse“.

Hauptsache war der kreative Impuls. Filliou scherte sich nicht einmal darum, ob etwas gut, schlecht oder gar nicht gemacht war. Und so füllte er zahllose Holzboxen mit Fundstücken oder simplen Objekten (z. B. rote Socken) nach jener wurschtigen Anti-Regel. Die jeweils dritte Schachtel blieb leer: nicht gemacht eben. Er sei just ein „Genie ohne Talent“, hat Filliou einmal selbstironisch wissen lassen.

Schwierig ist’s, einem solchen Werk und seinem Witz posthum gerecht zu werden. Denn man kann ja nur die Relikte des fröhlichen Schaffens zeigen. Wenn Düsseldorfs Museum Kunstpalast jetzt eine Retrospektive mit rund 180 teilweise vielgliedrigen Exponaten präsentiert, dann läuft sie Gefahr, den einst so wachen und spontanen Geist „einzusargen“. Immerhin hat man auch Filme aufgetrieben, die von den munteren Aktionen zu Lebzeiten zeugen.

Uferloser Strom der Einfälle

Ab 1944 gehörte Filliou zur Résistance gegen die Nazi-Besatzung. In den 1950er Jahren war er als Wirtschaftsexperte für die UNO tätig. Weltweit, u. a. in Fernost, Kanada und Mali, hat er sich auch später umgetan. Stets hatte er soziale Utopien im Sinn, die er mit allerlei Netzwerken und Tauschbörsen animierte. Von 1968 bis 1974, in rebellischen Jahren also, hat Filliou in der regen Düsseldorfer Kunstszene gewirkt – im Umkreis von Joseph Beuys, Daniel Spoerri, George Brecht, Dieter Roth.

Die Schau vergegenwärtigt einen schier uferlosen Ideenstrom. Man spürt in diesem kopfgeborenen Chaos tatsachlich noch etwas von der permanenten Gärung, die alles zu verwandeln trachtete.

Jemand wie Filliou musste natürlich den Kunstbetrieb verulken: Eine Arbeit heißt „Wertloses Werk“, an einem Putzeimer mit Schrubber prangt das Pappschild „Bin in 10 Minuten zurück – Mona Lisa“, und zu einer „Ausstellung“ hat Filliou mal das Publikum freundlich ausgeladen. Daher kam auch niemand, und er war’s zufrieden.

Eine Mini-Galerie unter der Mütze

Filliou erweist sich als „Bastler“, der jegliches Ding zu verwenden wusste. Eine Art Glücksrad erzeugt beim Drehen nahezu poetische Zufalls-Sätze. Unter einer schlichten Papiermütze verbarg Fillou auf seinem Schopf eine „Galerie“ mit Mini-Exponaten, die er auf der Straße feilbot. Von diesem Einfall sind Fotos geblieben.

Eine Raumfolge (sie heißt „PoiPoi“ – nach einem Gruß- und Gesprächsritual in Mali) mit etlichen Werkzeugen soll die Besucher zum Mitschöpfen anregen. Jeder ist ein Künstler, wenn man’s so nimmt…

Die Meditation nach der Revolte

Filliou hat sich von Entdeckerlust leiten lassen, nicht von Fachdebatten. Man merkt, dass hier ein ziemlich freier Mensch zugange war, der nicht die Kunst, sondern das Leben verbessern wollte.

Grandioser Anblick zum Schluss: 5000 wahllos hingekippte bunte Spielwürfel zeigen samt und sonders den Wert „1″ obenauf. Kein Zufall, denn sie tragen diese Augen-Zahl auf allen Seiten. Letztlich eine spirituelle Aussage übers Schicksal. Gegen Ende seines Lebens zog sich Filliou denn auch in ein tibetisch ausgerichtetes Kloster in Frankreich zurück – die Meditation nach der Revolte.

Robert Filliou – „Genie ohne Talent“. Retrospektive. Bis 9. November im Museum Kunst Palast, Düsseldorf (Ehrenhof 4-5). Di-So 11-18 Uhr. Katalog 34 Euro, Kurzführer 50 Cent.




Technik kann die Tagträume beflügeln – Werkschau der Multimedia-Künstlerin Laurie Anderson in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. In den dezent abgedunkelten Räumen des Düsseldorfer Museums „kunst palast“ rumort es beständig aus Lautsprechern. Zudem hängen hier etliche Kopfhörer zur gefälligen Selbstbedienung. Dazwischen flackern Videos in Kabinetten. Ein medialer Overkill, der einen nur nervös macht? Im Gegenteil: Diese Ausstellung wirkt kontemplativ.

Kein Wunder, dass man hier fast mehr zu hören als zu sehen bekommt. Denn die 1947 in Chicago geborene Urheberin heißt Laurie Anderson und hat als Musik-Performerin (Song-Erfolg: „O Superman“) einige Berühmtheit am avantgardistischen Saum des Pop-Sektors erlangt. Seit rund 30 Jahren regt sie sich auf der Szene. Größen wie Peter Gabriel, Brian Eno oder Wim Wenders haben bei gemeinsamen Projekten ihre innovative Kraft schätzen gelernt.

Laurie Anderson äußert sich in zahllosen Medien-Mischungen: Musik, Filme, Fotos, Stimmen, mit Schriftzeichen gefüllte Räume, Objekte, Installationen und theatralische Auftritte gehören zum Arsenal.

Ihre besondere Stärke liegt nicht so sehr auf den einzelnen Feldern, sondern vielmehr in der Kombinatorik, deren Alchemie oft gespenstisehe Einblicke in unbewusste Bezirke eröffnet. Eine Papageien-Figur plappert Worte und Satzfetzen daher, die man sonst höchstens still zu denken wagt – „Unsinns“-Sedimente des Lebens. Doch man lausche nur: Vielleicht kommt hier eine ungeahnte Wahrheit zum Vorschein.

Vielfach exponiert Anderson ihren Körper. So trommelt sie mit den Händen an ihren Kopf, fängt die „Hirnschalentöne“ auf und gibt sie verstärkt zum entsprechenden Videofilm wieder. Der Mensch als schaurig verkabelter Automat, als Anhängsel der Technik – oder als kreatives Wesen, das sich stets mutig in neue Symbiosen begibt?

Die Geige ist ihr Lieblings-Instrument. Es mag formal für Weiblichkeit stehen, was die Künstlerin freilich auch ironisiert, indem sie ihren eigenen männlichen „Klon“ elektronisch erzeugt. Digital gerüstet, entlockt der Strich mit dem Geigenbogen einer Computer-Festplatte präparierte Klänge der astralen Art.

Meditative Momente zuhauf: Auf einem Sockel liegt ein Kissen. Der Besucher soll seinen Kopf darauf betten. Die sphärischen Töne, die nun aus den Federn dringen, könnten seine Tagträume beflügeln. Selbst ein unscheinbarer Tisch beginnt sanft zu vibrieren, wenn man die Ellbogen darauf stützt.

Von Laurie Andersons Qualitäten als technische Tüftlerin zeugen Planskizzen, die auch Performance-Situationen penibel im Voraus kalkulieren. Die reiche Phantasie fußt auf solidem Fundament.

museum kunst palast, Düsseldarf (Ehrenhof). Bis 19. Okt., di-so 11-18 Uhr. Katalog 15 €

 




Mitten ins Traumreich – Grandioser Überblick zum Surrealismus in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW

Von Bernd Berke

Der Surrealismus war nicht bloß eine Kunstrichtung. Die Generation, die ihm frönte, hat einen ganzen Kontinent der menschlichen Psyche neu vermessen. Eine phänomenale Ausstellung der Kunstammlung NRW (neuerdings „K 20″ genannt) entwirft nun mit schier unglaublichen 500 (!) Exponaten ein Gesamtbild der Bewegung.

Werner Spies, einer d e r Surrealismus-Experten überhaupt, hat all die Schätze weltweit fürs Centre Pompidou eingesammelt. In Paris kamen rund 500.000 Besucher. Spies findet, die Düsseldorfer Version der Schau sei noch einmal eine Spur schöner geraten. Überhaupt erging man sich gestern bei der Pressekonferenz in Superlativen des Eigenlobs. Das Beste daran: Sie treffen zu!

Keinen bestimmten Stil entwickelt

Die Surrealisten haben keinen bestimmten Stil entwickelt, wie etwa die Im- oder Expressionisten. Die bildnerischen Reisen durch Gefilde des Unbewussten, des Traumes und des Rauschs erlauben so manchen Zugang und Nebenweg. Die Haltung ist wichtiger als die Malweise. Der Leitsatz surrealistischen Bestrebens könnte etwa so lauten: „Du sollst alles zulassen!“ Nämlich jeden noch so wilden Gedanken, sexuelle Urschreie und gewaltsame Wirrungen eingeschlossen, jede noch so abenteuerliche Kombination der Dinge. Legendär die Ansicht des Dichters Lautréamont, gar schön sei die Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Operationstisch…

Schwellende Akkorde von Max Ernst und Giorgio de Chirico

In Düsseldorf wartet man nun mit Meisterwerken sonder Zahl auf. Überall begegnet der Besucher berühmten Bildem. Chronologisch sortiert, hängt nahezu die komplette „Bestenliste“ an den Wänden. Einen Überblick zu den künstlerisch handelnden Personen verschafft gleich eingangs Max Ernsts Kopf für Kopf nummeriertes Gruppenporträt „Das Rendezvous der Freunde“ (1922), die sich um den oft „päpstlich“-doktrinären André Breton scharen. Zweiter schwellender Anfangs-Akkord: Die Schlagschatten-Welt des Giorgio de Chirico, der sich hier als machtvoller Anreger des Surrealismus erweist. Er hat gleichsam das Tor zum Traumreich aufgestoßen.

Einen grandiosen Auftritt hat der unerschöpflich rätselvolle René Magritte. Geht man über eine Wendeltreppe in den zweiten Stock (wo die ständige Sammlung vorübergehend weichen musste), so tut sich ein atemberaubendes Bilder-Ensemble auf, das fast schon für eine Einzel-Präsentation Magrittes reichen würde. Doch auch die Werkkomplexe von Max Ernst, Picasso und sogar Miró (der ja derzeit „nebenan“ im Kunstmuseum breit vorgestellt wird) sind enorm reichhaltig.

Der Triumph wirkt bedrohlich

Hinzu kommen erhellende Seitenblicke auf Hans Arp, Giacometti und Man Ray. Selbst der oft geschmähte Salvador Dalí erfährt eine Ehrenrettung – zumal mit kleineren, nicht so selbstgefällig auftrumpfenden Arbeiten.

All dies summiert sich fürwahr zu einem „Triumph des Surrealismus“. Just so heißt denn auch 1937 ein Bild von Max Ernst, dessen Phantasiefigur den Betrachter allerdings bedrohlich anspringt; ganz so, als hätte Max Ernst geahnt, dass sich die dunklen Triebe, die von den Surrealisten erkundet wurden, auch in Faschismus und Weltenbrand entladen könnten.

Kunstsammlung NRW / „K 20″. Düsseldorf, Grabbeplatz. Vom 20. Juli bis 24. November. Di bis Fr 10-18 Uhr, 1. Mittwoch im Monat 10-22 Uhr. Eintritt 7,50 Euro, Katalog 39 Euro. www.kunstsammlung.de




Gottsucher auf den finsteren Klippen – Späte Uraufführung des 1938 geschriebenen Stücks „Nacht“ von Gertrud Kolmar

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Regisseur Frank-Patrick Steckel war schon zu seiner Bochumer Intendantenzeit in einem Punkte der Schrecken der schreibenden Zunft: Meist war es bei ihm auf der Bühne so düster, dass sich kein Kritiker Notizen machen konnte, sofern er nicht über einen dieser albernen Leuchtstifte verfügte. Nun hat Steckel am Düsseldorfer Schauspiel ein Terrain tiefster Finsternis aufgetan. Das Stück heisst „Nacht“, und es bleibt in jeglichem Sinne dunkel.

Geschrieben hat es die als Lyrikerin äußerst sprachmächtige und formbewusste, einer Droste oder Lasker-Schüler ebenbürtige Gertrud Kolmar (geboren 1894). Die Tochter eines jüdischen Rechtsanwaltes in Berlin, der sich gänzlich assimilierte und deutscher Patriot war, blieb auch nach 1933 im Lande, als dies bedrohlich wurde. Aufopferungsvoll unterrichtete sie taubstumme Kinder und pflegte ihren Vater. Ab 1941 war sie Zwangsarbeiterin in der Rüstungsindustrie. Im März 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert.

Das Stück „Nacht“ entstand 1938 und erfährt hier seine späte Uraufführung. Hauptperson ist Tiberius Claudius Nero, nachmals römischer Kaiser. Im Jahr 2 n. Chr. befindet er sich – mit einigen Gefährten – noch im selbstgewählten Exil auf Rhodos, derweil sein Stiefvater mitsamt Günstlingen in Rom herrscht.

Wir erleben diesen Tiberius als unerbittlichen Gottsucher. An der römischen Göttervielfait zweifelnd, befragt er mancherlei zweideutiges Orakel. Die Begegnung mit der jungen Ischta aus Judäa (die felsenfest an einen einzigen Gott glaubt) führt schließlich zu Szenen, die vollends fremd in unsere profanen Zeiten ragen.

Magische Sprache und ein Pathos der höchsten Werte

In einer erotisch getönten religiösen Aufwallung gibt sich Ischta dem Tiberius als Sklavin anheim, und er wird sie den höheren Mächten als Menschenopfer darbringen. Klar und einfach wie ein Quell sprechend, nimmt Ischta die vermeintliche Bestimmung auf sich. Eine unendlich zarte und doch überlebensgroße Figur, von Birgit Stöger mit bewegendem Ernst gespielt.

Dennoch ist das Ganze eine Gratwanderung am Rande des Unfassbaren, ein Opfergang bis zum Saum des Schwülstigen. Es ist jedoch auch ein erschütterndes Dokument der verzweifelten Suche nach jüdischer Identität in finstersten Zeiten. Dinge also, an die man gar nicht zu rühren wagt.

Somnambules Passionsspiel

Lange geriert sich Tiberius (Marcus Kiepe), der sich am Ende doch wieder in die Niederungen politischer Herrschaft begibt, weltenfern, abweisend und ziellos drangvoll zugleich. Ein Mann, an dessen Schicksal man keinen unmittelbaren Anteil nehmen kann, vielleicht gerade deshalb ein Faszinosum. Außerdem passen derlei Figuren wohl zur neuesten Unterströmung unseres Zeitgeistes, die sich von aller Ironie abwenden und ein neues Pathos der höchsten Werte aufrichten will.

Ein Botho Strauß fände vermutlich Gefallen daran; auch an einer immerzu ans Firmament greifenden Sprache, die mit kostbaren Wendungen wie „gunstbedeutender Traum“ und „tagverborgenes Geheimnis“ edelsten Tones einher wandelt. Die Magie der Worte fügt sich zum Klang-Ereignis jenseits eines sofort nachvollziehbaren Sinnes.

Das Bühnenbild (Johannes Schütz) zeigt düster zerklüftete Klippen, auf denen sich Menschen wie bleiche Geistwesen bewegen, stets auf die größten und letzten Dinge gefasst. Hier vollzieht sich ein somnambules Passionsspiel wie aus unvordenklichen Zeiten.

Steckel und sein Ensemble behandeln den immens schwierigen Text mit Noblesse. Zuweilen werden Worte nur behaucht, als könnten sie sonst klirrend zerbrechen. So umschifft man jede etwaige Peinlichkeit, und es kommt die Würde zum Vorschein, die dem Drama innewohnt.

Termine: 11., 22., 25. und 29. März. Karten: 0211/36 99 11.