Das verlorene Gesicht – Düsseldorfer Ausstellung „Ich ist etwas Anderes“ entwirft Visionen vom Ende der Identität

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Mit der menschlichen Identität, den fest gefügten Selbstbildern ist es mehr allzu weit her. Jedenfalls lautet so die Diagnose in der avancierten Kunst, die ja als Seismograph des Künftigen gilt. Unter Zersplitterungen, Verletzungen und Verformungen winden sich da die Restbestände des „Ich“.

Die Schau „Ich ist etwas Anderes“ erstreckt sich über die gesamte Fläche der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW. Mit Werken seit etwa 1970 und vielen klingenden Namen (Beuys, Warhol, Bruce Nauman usw.) rührt sie ans bedrohte Menschenbild, an den Realitäts-Schwund in Zeiten virtueller Netze und gentechnischer Manipulationen. Es ist eine Ausstellung, über deren Befunde man erschrickt und die überdies in die Wahrnehmung des Betrachters eingreift, so dass man von Selbst-Erfahrung im Museum sprechen kann.

Die Furien des Verschwindens

Grandios schon der Auftakt: Da schreit einem in grellem Rot das altarförmige „Triptychon“ (1983) des Francis Bacon entgegen, Schmerzensbild eines gänzlich isolierten, in sich verschraubten Körpers – geradezu eine masochistische Weihestätte des Ich-Verlustes.

Weitere Furien des Verschwindens: Maria Lassnig malt tief in die psychische Befindlichkeit dringende Selbstporträts. Der geschundene Frauenkörper löst sich auf in tier- und maschinenförmige Phantasmagorien, in monströse Ausgeburten des Selbst. Arnulf Rainer überpinselt mit heftig-aggressiven Strichen das eigene Antlitz, als sei es ohnehin nicht mehr gültig.

Während der Einzelmensch derart seine Konturen verliert, sammeln die Objekte gespenstische Kräfte. Christian Boltanski hat mit dem Sach-Inventar aus dem Leben einer verstorbenen alten Dame einen Raum gefüllt. Vom Bett bis zum Bügeleisen, von derSchallplatte bis zur Haarspange findet sich alltägliches Gebrauchsgut wieder. Daraus erwächst eine frappierend deutliche biographische Erzählung. Ist der Mensch verstummt, beginnen die Dinge zu sprechen.

Eine Frau ohne Augen, aber mit zwei Mündern

In ausgeklügelten Installationen, die oftmals den Betrachter (z. B. durch Verspiegelung oder lauernde Kameras) mit Psycho-Effekten fordernd einbeziehen, erlebt man alle denkbaren Stadien der Zersetzung und der Neu-Montage des Menschenbildes.

Doch es gibt auch Kabinette, die gleichsam Meditationsräume eröffnen, wie denn überhaupt die Schau an jedem zweiten Samstag mit Yoga-Übungen inmitten der Kunst spirituell flankiert werden soll. Andy Warhol und Jürgen Klauke dokumentieren mit Fotoserien Geschlechts-Umwandlungen, das zeitweilige Spiel mit sexueller Identität. Die Bosnierin Danika Dakic greift das Thema kultureller Identitäts-Spaltung auf. Ihr Videofilm zeigt eine Frau ohne Augen, aber mit zwei Mündern, die in verschiedenen Sprachen reden.

Monster aus der Zukunft

Rosemarie Trockel vergegenwärtigt die partielle Ich-Aufgabe in der Hinwendung zu einem Idol: Ihre Schwester schwärmte seinerzeit für Brigitte Bardot. Die Norwegerin Vibeke Tandberg hat sich eine Zwillingsfigur ausgedacht, dargestellt von ihr selbst und per Computer täuschend echt in Fotos einmontiert: Eine Frau ist zwei Schwestern…

Schließlich gelangt man in jenen Raum, in dem einem Kinder-Skulpturen sozusagen als geklonte Monster einer entmenschten Zukunft begegnen. Es ist, als wäre man in einen Horrorfilm geraten. Hernach ist man froh, draußen sein – aber auch froh, dass man drinnen gewesen ist.

„Ich ist etwas Anderes“. Kunstsammlung NRW, Düsseldorf. Bis 18. Juni. Tägl. außer Mo 10-20 Uhr. Eintritt 12 DM, Katalog 49,80 DM.

 




Der Kult um den Besitz – Düsseldorfer Ausstellung erkundet Wechselströme zwischen Geld und Kunst

Von Bernd Berke

Düsseldorf. „Wir zeigen keine Aktenkoffer“, stellt Jürgen Harten gleich klar. Der langjährige Chef der Düsseldorfer Kunsthalle, inzwischen im Ruhestand, hat noch einmal eine große Schau an früherer Wirkungsstätte inszeniert: „Das fünfte Element – Geld oder Kunst“.

Der Titel sagt’s: „Mammon“ wird als so elementar begriffen wie Feuer, Wasser, Luft und Erde. Er breitet sich überall aus, macht sich alles Untertan – so mitleidlos das Lebendige niederdrückend wie auf jenem Gemälde von George Frederick Watts (1884). Gewiss: Geld setzt die Werte, doch Kunst setzt die Zeichen.

Keine Aktenkoffer also. Es wäre ja auch zu naheliegend. Nein, hier geht es ungleich subtiler zu: Zwischen archäologischen Kostbarkeiten, älteren und neueren Kunstwerken sowie Alltagsdingen werden Wechselströme im Spannungsfeld zwischen Kunst und Leben aufgespürt.

„Das Museum der höchsten Werte“

Die sechs Abteilungen der Ausstellung tragen so schöne Überschriften wie „Im Atelier des Kapitals“ oder „Das Museum der höchsten Werte“. Bestimmt auf der Basis anspruchsvoller theoretischer Überlegungen, jedoch vom Besucher eher flanierend und assoziativ zu erschließen, begegnen einander die Epochen ganz unmittelbar: Neben dem altägyptischen Kodex findet sich etwa eine Raum-Installation neuesten-Datums, oder kurz nach dem klassischen Tafelbild (besonders prägnant: Quinten Massys‘ „Der Geldwechsler und seine Frau“, 1514) trifft man auf eine Harley Davidson, Baujahr 1945, jene fahrbare Wertanlage mit Kultcharakter.

Es gibt Motive, sozusagen Wert-Zeichen, die durch all die Jahrhunderte gelten. Beispielsweise das Gold als archaisches Unterpfand des Reichtums. Rein wirtschaftlich ist es nicht mehr so bedeutsam, doch das kultische Wesen des Besitzes kommt in ihm zum reinsten Ausdruck. Wir sehen es als Lasur auf einer Mumienmaske, in Gestalt altrömischer Münzen, aber auch als Phantasie-Währung und als Goldfarbe auf fotografierten Gesichtern der Künstler Joseph Beuys oder Katharina Sieverding, die sich somit selbst zu glitzernden Kultobjekten stilisieren.

Die Warenform drängt zur seriellen Kunst

Den „Tanz ums Goldene Kalb“ vollzieht man hier freilich nur virtuell, indem man um einen 1995 von Jeffrey Shaw gestalteten Bildschirm herumgeht. Apropos: Auch das Rind, als Hinweis auf stattlichen Besitz und Zeugungskraft, zählt zu den uralten Reichtums-Symbolen mit sexuellem Anspielungspotenzial. Selbst die Kuhkopf-Tapete von Andy Warhol bezieht sich lässig auf diese Tradition.

Spürbar werden nicht nur die aus Religion und Künsten geborgten kultischen, sondern auch die vom Einzelstück abstrahierenden, gleichmacherischen Kräfte des Geldes. Senta Connerts Regale mit Hemden und Handtüchern (1998) oder ein Verkaufsraum voller Teddybären zeigen die Dinge in ihrer Warengestalt, welche zur seriellen Kunst drängt. Die Sachen werden wie in einer Fabrik vervielfacht und damit letztlich herabgewertet.

Roboter zerreißt Familienbilder

Erschreckend konkret wird derlei Entseelung in einer Maschine von Max Dean, deren Roboterarm sich nach festem Zeitraster Familienfotos (Hochzeiten, Urlaube etc.) greift und sie säuberlich zerschnitzelt. Sind menschliche Bindungen derart zerstört, offeriert sich die käufliche Lust: Edward Kienholz baute 1980 den „Playboy“-Flipperautomaten. Heftige Hüftbewegungen beim Abschießen der Kugeln kann man hier gleich in die Öffnung eines vom ans Gerät montierten weiblichen Torsos leiten…

Gnadenlos abstrakt und lebensfern wirkt die abgebildete Realität des alles regierenden Geldverkehrs: Laura Kurgan macht den unaufhörlichen Fluss weltweiter Devisenströme mit Hilfe des Reuters-Nachrichtendienstes in beängstigender Echtzeit als ein schier ewig weiter zitterndes Kurvenbild sichtbar. Vorher las man auf einer Tafel: „Nur noch 1017 Tage bis zum Ende des Kapitalismus.“ Es muss wohl Jahre heißen, oder?

Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz. Bis14.Mai. Di-So11-18, Fr 11-21 Uhr. Katalog 65 DM.




Die große Langeweile mit den Außerirdischen – Anna Badora stemmt Vera Kissels „Die Apokalypse der Marita Kolomak“ auf die Düsseldorfer Bühne

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Es gibt Aufführungen, nach denen sich selbst der glühende Theaterfan fragt, ob er sich in diesen Stunden nicht lieber dem unmittelbaren Leben hätte zuwenden sollen. Einen solchen Abend bescherte jetzt das Düsseldorfer Schauspiel, wo Intendantin Anna Badora ein neues Stück zur Uraufführung brachte oder besser: schleppte.

„Die Apokalypse der Marita Kolomak“ stammt von Vera Kissel (40). Sie hat ein Journalistik-Studium in Dortmund absolviert und im Ruhrgebiet als Redakteurin gearbeitet. Irgendwann entdeckte sie ihre (halbwegs vorhandene) lyrische Begabung – und dann hat sie beschlossen, Dramatikerin werden zu wollen.

Das Handlungsschema der „Apokalypse“ ist rasch erzählt. In einer Dorfkneipe mit dem Namen „Wegsend“ (will heißen: Ende des Weges, will heißen: Verzweiflung am Schlusspunkt der Zeiten) erwartet man zu Silvester bebend die Ankunft eines Ufos (Teil 1), das aber nach der ersehnten Pause denn doch nicht gekommen ist (Teil 2). Vorhang zu und wenige Fragen offen.

Besagte Marita Kolomak (Heidi Ecks) ist die Frau des Wirtes „Jupp“ (Martin Schneider). Sie hat ihr Baby verloren, ist dem seherischen Irrsinn nahe. Nun hört sie „Stimmen“, welche die Ankunft von Außerirdischen ankündigen. Aussicht für alle Geplagten: Dann werde sich das Unterste nach oben kehren und umgekehrt, es werde eine neue Zeit anbrechen. Eine Handvoll anderer Enttäuschter zeichnet Maritas Gestammel („Und morgen und morgen und morgen…“) gläubig auf, fertigt Kopien und heftet selbige für den Tag X in Ordnern ab.

Eigentlich recht simpel: Die vom Leben Gebeutelten richten all ihr Warten und Hoffen auf ein Anderswo, sie projizieren munter drauflos und kompensieren ihre Defizite.

Eierlikör als Trost für Witwe Gisela

Die 17-jährige Juliane (Birgit Stöger) sieht ansonsten keine Zukunft für sich, Maritas Schwester Monika (Anke Schubert) wird ewig den „Mann fürs Leben“ suchen und nicht finden. Die Witwe Gisela (Anke Hartwig) trauert den Zeiten nach, da sie in der DDR noch solide Büstenhalter nähen durfte und wendet sich dem Damentrost Eierlikör zu. Der Student Tobias (Markus Danzeisen) verheddert sich in pseudo-wissenschaftlichem Gefasel. Nur Opa Schlott (Winfried Küppers) hat das Gröbste hinter sich und ist zufrieden, wenn Jupp „noch eine Lage“ Bier und Schnaps bringt. Er braucht keine Außerirdischen.

Die Bühne (Kathi Maurer, auch Kostüme) für dieses Panoptikum sieht aus, als solle Horváth oder Kroetz gespielt werden. Diese beiden, nebst Fleißer und Sperr, scheinen denn auch die Traditionslinie zu markieren, in der dieser Text sich sehen mag. Jene traurige Kneipe, über der der Pleitegeier schwebt, ist mit bunten Glühbirnen und Sternchen rundum dürftig dekoriert. Die farblich jeweils klar zugeordnete Kleidung (Marita in Gelb, Monika in Rot usw.) wirkt schräg, gestrig, ganz schön „daneben“ und lässt die Figuren debil aussehen.

In den besten Momenten klingen die Worte des Stückes nach lakonischen Volksweisheiten. Es ist viel Angelesenes und Angehörtes, hernach kaum verdautes und sprachlich nur zugerichtetes Zeugs drinnen. Knappe, oft lyrisch gedrechselte Sätze prägen den Stil: „Hab‘ sie weg“ heißt es statt „Ich habe sie weggegeben“. Es hört sich arg manieriert an.

Anna Badora lässt die Konfusion brav vom Blatt spielen. Treibende Konflikte gibt es im Grunde nicht, nur die beständige Erwartung einer Ankunft. Das Stück deshalb mit Samuel Beckett („Warten auf Godot“) verkuppeln zu wollen, wie es im Programmheft geschieht, ist sternenweit zu hoch gegriffen.




Hinter der Abstraktion lauert schon das Nichts – Gefühle direkt aufs Bild bringen: Werke von Jackson Pollock in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Reichlich rabiat muß er gewesen sein, der amerikanische Maler Jackson Pollock (1912-1956). Eine vom Künstler-Kollegen Willem de Kooning verbreitete Anekdote besagt, Pollock habe auf einer Party mit bloßer Faust ein Fenster eingeschlagen, um für Frischluft zu sorgen. So geht’s natürlich auch…

Bei einer schicken Vernissage pinkelte Pollock auch schon mal beherzt in den Kamin der Gastgeber. Rund elf Monate, nachdem der Filmstar James Dean tödlich mit dem Auto verunglückt war, starb auch Pollock – nur 44jährig – 1956 am Lenkrad. Er war sturzbetrunken. Ein Hollywood-Film mit Ed Harris, der im nächsten Jahr herauskommt, wird sein wildes Leben nachzeichnen. Man wundert sich nur, daß dies so spät geschieht.

Hollywood verfilmt sein wildes Leben

Solche voyeuristischen Blicke auf Dinge des Lebens und Sterbens mögen interessant sein. Doch in der Pollock-Schau der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW gilt es, nicht Grob-, sondern Feinheiten zu würdigen.

Für alle Zeiten berühmt wurde Pollock, als er ab 1947 die wohl spontanste Form der Kunst ausübte: Er ließ die Farbe vom Pinsel oder direkt aus der Tube auf die Bilder tropfen (sogenanntes „dripping“, aus dem sich Pollocks späterer Spitzname „Jack the dripper“ ergab). Im engen Atelier lagen die Bilder auf dem Boden, Pollock ging herum und ließ seinen Regungen Lauf. Im gelenkten Zufall konnten Gemütszustände ganz unmittelbar durch Körperbewegungen auf die Leinwand gebannt werden. Von diesem „action painting“ sieht man in Düsseldorf einige prachtvolle Proben.

Weitaus wichtigste Quelle der konzentrierten Auswahl (rund 50 Werke) war das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA), wo 1998 mit 150 Bildern eine große Pollock-Retrospektive zu sehen war, die an London weitergereicht wurde.

Im Kreisen der Formen der Schmerz des Kreißens

„Birth“ (Geburt) heißt ein um 1938 entstandenes Bild. Es illustriert den Vorgang des Werdens nicht, sondern drückt ihn schmerzlich aus. Im Kreisen der Formen meint man das Kreißen zu spüren. „The Flame“ (Die Flamme, ca. 1940) flackert nicht als Abbild, sondern scheint den Bildträger direkt zu versengen.

Auch die Kunst eines Pollock kam nicht voraussetzungslos zur Welt. Manche Einflüsse, etwa aus der indianischen Kunst, von Picasso oder den Surrealisten (die eine „automatische“, das Unbewußte freisetzende Bildschöpfung anstrebten), werden von Fall zu Fall deutlich.

Auch kleine Formate (Zeichnungen, Druckgraphik) entfernen sich zunehmend von erkennbarer Gegenständlichkeit. Es ist, als habe Pollock hier die seiner Ausdruckskraft gemäßen Formenvorräte gesichtet und das bildnerische Arsenal angefüllt, um es hernach zur ungeheuren Eruption zu bringen.

Galaxien einer grenzenlosen Freiheit

Bilder wie „Free Form“ (Freie Form, 1946) oder „Shimmering Substance“ (Schimmernde Substanz, 1946) sind Orgien scheinbar regelloser Linienmuster und Farbballungen. Mit grandioser Geste manifestiert sich solch neu gefundene, schier grenzenlose Freiheit in Monumentalbildern wie „Nummer 1 A“ (1948), „Nummer 31″ und „Nummer 32″ (beide 1950). Jede dieser Arbeiten entwirft radikal einen eigenen Bildkosmos. In solchen Galaxien können die Augen des Betrachters halt- und endlos schweifen.

Es war ein Gipfel, auf den Pollock die abstrakte Malerei getrieben hatte. Doch zugleich war es ein Nullpunkt, hinter dem das Nichts lauerte. Von Depressionen geplagt, verfiel er fortan in eine düstere, längst nicht mehr selbstgewisse Schwarz-Malerei. Kunst vor dem gähnenden Abgrund…

Man kann es sich schön zurechtlegen: Pollock war wie ein Komet, der leuchtend aufstieg und rasch niederging. Stoff für Legenden. Die Wahrheit sieht vermutlich anders aus, doch wer will sie kennen?

Jackson Pollock. Bis 3. Oktober in der Kunstsammlung NRW, Düsseldorf, Grabbeplatz. Eintritt 12 DM. Katalog 24 DM.




Der Chirurg als Schatten seiner selbst – Christoph Heins Stück „Bruch“ in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Der Mann wird nicht mehr gebraucht, sein Weltruf ist nur noch Legende: Prof. Theodor Bruch, einst ein genialer Chirurg, wartet seit Monaten auf Anrufe aus „seiner“ Klinik. Stets hält er sich für die ganz große Operation bereit. Er will einfach nicht wahrhaben, daß er pensioniert ist und ein verhaßter Nachfolger das Skalpell führt.

Aus solchem Stoff hätte uns ein Thomas Bernhard selig den grandiosen Weltschmerz-Nörgler hervorgezaubert, welcher in kunstreichen Wiederholungsschleifen das allfällige Elend beschwört. Doch der Autor des Stückes „Bruch“, das jetzt in Düsseldorf uraufgeführt wurde, heißt Christoph Hein. Er ist, wie in der VorabWerbung des Schauspielhauses über Gebühr betont wurde, Präsident des deutschen Zweiges der Autorenvereinigung PEN. Als ob es darauf ankäme.

Hein hat in der Biographie des großen Arztes Ferdinand Sauerbruch gestochert und ist auf die Zeit um 1949 gestoßen, als der Heilkünstler schon zittrige Hände hatte. Auf der von Karl Kneidl nicht sehr inspiriert ausgestatteten Bühne (Erinnerungskram aus Preußens Glorienzeit) sehen wir Bruch (Lichtblick des trüben Abends: Wolfgang Hinze) als Schatten seiner selbst, manchmal polternd gegen seinen Verfall aufbegehrend. Unablässig erfahren wir aus dem Mund seiner Haushälterin und vormaligen OP-Schwester Luise Kubin (Anke Hartwig), daß er gar nicht mehr heizt und kaum noch vernünftig ißt.

Ebenso wortreich wie geheimnislos

Keine kunstvollen Wiederholungen sind dies, sondern hilflose. Ein ebenso wortreiches wie geheimnisloses Stück. Das Ganze mag sich denn auch partout nicht zur Parabel aufs Befinden jener Männer runden, die Macht oder Einfluß verlieren und nicht loslassen können.

Überhaupt vermag Hein nicht zu vermitteln, warum er jetzt just dieses Thema gewählt hat. Sein Text dringt nie zu einem wirklichen Kern vor. Bruchs Faible für ganzheitliche Medizin wird nur lustlos gestreift, seine Rolle in der NS-Zeit lediglich angedeutet. Statt dessen wird sein Wolkenkuckuckstraum vom Nachkriegs-Neubau einer Prachtklinik, die natürlich von ihm geleitet werden soll, ermüdend ausgebreitet. Der Traum bleibt Ruine, auch weil ein windiger Geschäftsmann (Marcus Kiepe) keine Geldgeber auftreibt.

Wo also liegt der Reiz einer Umsetzung? Düsseldorfs ohnehin schon arg gebeutelte Intendantin Anna Badora wird wohl wissen, warum sie die nahezu klägliche Vorlage zur Uraufführung angenommen und sich höchstselbst darum gekümmert hat. Sie hätte freilich irgend einen entschlossenen Aufriß finden müssen, gleichsam einen hinterhältigen Überfall auf den Text. So aber dümpelt alles so kreuzbrav naturalistisch daher, wie es geschrieben steht.

Die Schauspieler tun ihr Bestes, doch gegen die Ästhetik von vorgestern ist schwerlich anzukommen. Man glaubt sich streckenweise in eine Inszenierung der frühen 60er Jahre versetzt – Lebenslüge à la Arthur Miller, minutenweise Traumspiel à la Tennessee Williams.

Tragischer Schluß: Bruch hat in besseren Tagen einer jungen Frau (Myriam Schröder) durch eine Operation das Leben gerettet. Nun fleht sie ihn an, ihr eine Geschwulst am Hals zu entfernen. Im Wahn, er sei dazu noch fähig, vollzieht er den Eingriff ohne Narkose und steriles Gerät daheim. Die Frau stirbt ihm unter den Händen weg, der Staatsanwalt ermittelt…

Vielleicht gibt’s ja bald einen Ärztekongreß in Düsseldorf. Dann empfiehlt sich dies als harmloses Beiprogramm.

Termine: 10., 13., 14. März. Karten: 0211 / 36 99 11




Nur ein kleinbürgerliches Ferkel – Uraufführung von Franz Xaver Kroetz‘ „Der Dichter als Schwein“

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Man stelle sich vor, jemand ließe immerzu ein Tonbandgerät etwa in seiner Wohnküche mitlaufen. Alle Worte und auch jeder Mist, den man schwätzt, würden aufgezeichnet und sodann schriftlich für Mit- und Nachwelt festgehalten. Schrecklicher Gedanke. Und schon eine schnurgerade Hinleitung zu Franz Xaver Kroetz‘ Stück „Der Dichter als Schwein“, das jetzt in Düsseldorf zur Uraufführung gelangte.

Bereits zwischen 1986 und 1988 hat Kroetz diesen ungefügen Text aus seiner Feder rinnen lassen. Mit guten Gründen hat sich seither niemand heranwagen wollen an dieses allseits ausufernde, so gut wie unverdichtete Geplapper, das – je nach Durchgangstempo – ungekürzt wohl für vier bis fünf Stunden Spieldauer gut wäre, von der Substanz her aber auf einige gedrechselte Aphorismen zusammenschnurren müßte.

In Düsseldorf, wo derzeit offenbar auch das Telefonbuch eine reelle Bühnenchance hätte, erlebt man nun die vorweihnachtliehe Bescherung, eine seltsame Mixtur aus Kraftmeierei und Weinerlichkeit.

Gipfelsturm zum fäkalischen Frohsinn

Rund um den Dichter Toni Keck (Jörg Pose) hat Kroetz all das aufgehäuft, was für unbürgerlich gilt. Dieser Keck ist ein Säufer, er treibt’s heftig bisexueil mit Inge (Veronika Bayer) und dem Schauspieler Max (Marcus Kiepe), die er ansonsten beide wie Sklaven behandelt, und er hat sich bei den Eskapaden wohl einen Tripper eingefangen.

Trotz all der Bemühungen bringt’s der Mann aber nicht zum wirklichen Schwein, sondern bloß zum kleinbürgerlichen Ferkel. Er wirkt wie ein reichlich unseriöser Verkäufer in eigener Sache.

So beginnt das Stück: Gerade hat Keck wegen eines Vorabendsuffs eine Lesereise nach Kairo platzen lassen (Ach, wäre er doch abgeflogen!), da klingeln auch schon seine drei Telefone: Regiegrößen wie Zadek und Peymann oder das Goethe-Institut wollen ihn unbedingt sprechen. Anhand dieser Telefonate serviert Kroetz klägliche Bruchstücke einer „Dramentheorie“. Wir erfahren beispielsweise, daß Gentechnik schwer fürs Theater umzusetzen sei, da man ja die Gene nicht sehen und zeigen könne. Potzblitz!

Hernach ist manchmal von der Nichtigkeit der Welt und oft von Sperma oder Exkrementen die ungebremste Rede. Als Keck seine bäuerlichen Bekannten in Bayern aufsucht, darf sich jeder mal so richtig vollsudeln, indem er/sie auf dicken Haufen von Hundescheiße ausgleitet und sich die stinkenden Schuhe sogleich am TV-Gerät abstreift. Welch ein Gipfelsturm fäkalischen Frohsinns!

Der Schmarrn läßt sich schwerlich mit Sinn durchdringen

Genug. Der Schmarrn läßt sich schwerlich mit Sinn durchdringen, man kann ihm nur ein paar Applikationen aufnähen – oder besser gleich: auf einen Schelmen anderthalbe setzen. Die Dramaturgie und die tapfere Regisseurin Thirza Bruncken haben zu mindest ein Drittel der Textmasse gekürzt. Dafür Dank.

Kroetz‘ Figuren werden wie Genre-Marionetten behandelt, und das läßt sich mit den versierten Darstellern auch passabel an. Mal agieren sie gravitätisch mit gepuderten Perücken, sozusagen in Opernkluft, dann wieder verfallen sie gezielt in dumpfes Bauerntheater oder hampeln in Revue- und Slapstick-Manier herum. Vermutlich sind derlei Wechselspiele ja auch postmodern – oder so ähnlich.

Man verbirgt zudem keineswegs, daß man über eine Drehbühne verfügt. Die saust in einem Akt ohne Unterlaß wie ein Karussell umher. Dabei bekommt man doch schon vom bloßen Text einen Drehwurm.

Das Stück konnte also nicht gerettet werden. Die Schauspieler hatten halt was zu spielen. Der Betrieb geht weiter. Fragt sich nur, wie: Bei dieser Uraufführung klafften enorme Lücken im Parkett, der Beifall war begrenzt. Erosionserscheinungen?

Termine: 27., 30. Dezember 1996 – 3. und 10. Januar 1997.




Leiden am falschen Leben – Anna Badora inszeniert Tschechows „Iwanow“ in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Kaum ist der Bühnenvorhang beiseite gezogen, da läßt Iwanow einen kleinen weißen Flugdrachen quer über die karge Szenerie segeln. Das gibt schon den ersten Beifall. Nimm’s leicht – nimm Tschechow.

Doch eigentlich ist dieser Iwanow (Artus-Maria Matthiessen), eine frühe Schöpfung des russischen Dichters, von namenloser Melancholie befallen. Erschöpft hat sich Iwanows Liebe zu seiner Frau Anna (Anke Schubert). Überhaupt hat sich seine Lebensenergie verflüchtigt. Alles ist ihm zur Neige gegangen. Um diesen bedauernswerten Menschen kreist und trudelt das Stück wie um eine leere Mitte.

Regisseurin Anna Badora, bislang von der Kritik nicht eben verwöhnte Intendantin des Düsseldorfer Schauspielhauses, will sich offenbar nicht nachsagen lassen, sie habe das Rätsel von Iwanows „Krankheit zum Tode“ nicht gelöst. Als süßsaure Typenkomödie führt sie das Bestiarium einer versoffenen und geldgierigen, vor allem aber zutiefst gelangweilten Gesellschaft vor, die nur noch in gelegentlichen Zornesausbrüchen Reste von Lebendigkeit verspürt.

Selbstgerechter Tugendbold als Gegenpol

Als moralischer Gegenpol geriert sich Annas Arzt Lwow (Thomas Schendel), der Iwanow als betrügerischen Mitgiftjäger entlarven will. Doch dieser penetrant selbstgerechte Tugendbold ist kaum weniger widerwärtig als die latenten Rassisten, die Intriganten, Zinswucherer und Zyniker, die dieses Drama bevölkern.

Das Leiden an solcher Umgebung läßt Iwanow also verzagen. Zudem krankt er am Utopie-Verlust. Sein Studienfreund Pavel Lebedew (Wolfgang Reinbacher) münzt einen verräterischen Satz auf Iwanows Jugendträume: „Es gibt kein richtiges Leben im Falschen.“ Die Sentenz stammt nicht von Tschechow, sondern von Theodor W. Adorno, dem Vordenker der 68er-Studentenrevolte. Iwanow, einst leidenschaftlicher Verfechter der Landreform und des alternativen Wirtschaftens, gleicht einem gescheiterten „68er“. Auch eine Deutung.

Sie hilft freilich nicht weiter, wenn sich die Geschlechterfrage stellt. Iwanow verläßt allabendlich seine unheilbar schwindsüchtige Frau Anna (die einst seinetwegen ihren jüdischen Glauben aufgab und von ihren Eltern verstoßen wurde) und treibt sich im Salon seiner Gläubiger, der Lebedews, herum. Könnte er deren blutjunge Tochter Sascha (Bibiana Beglau) heiraten, wäre er aller Schulden ledig. Ein Schuft, aber mehr noch ein Schmerzensmann: Sein Gefühl allseitiger Sinnlosigkeit vergiftet jegliches Kalkül.

Untiefen des Textes kaum ausgelotet

Für derlei Verwehen und Vergehen, ja für jederlei Hinfälligkeit findet die Inszenierung keinen Ton. Meist steht sie zu fest auf dem Boden des vermeintlich gesunden Menschenverstandes, sie verfehlt den grassierenden Wahn, gerät nicht ins melancholische Schweben.

Stattdessen kommen die Akteure vielfach stampfend, dampfend oder gar schenkelschlagend daher. So können, trotz guter Ansätze in psychologischer Feinzeichnung, die Untiefen des Textes nicht ausgelotet werden. Selbst Iwanow und Anna wirken nicht wirklich versehrt, sondern so, als simulierten sie.

Nicht jene Fassung wird gespielt, in der Iwanow am Ende einfach tot niedersinkt, sonder jene, in der er sich erschießt. Ein Knalleffekt, nach dem die Schlußszene zum Tableau erstarrt.

Das Gefühl, recht ordentlich unterhalten worden zu sein, und ein gewisses Unbehagen halten sich die Waage. Das Premierenpublikum war angetan. Aber vom Geiste Tschechows war dieser Abend nicht.

Termine: 12., 13., 16., 22. und 25. Dez. – Karten: 0211/36 99 11.




Aus Lust und Liebe wird rohe Gewalt – Düsseldorf: Karin Beier inszeniert „Sommernachtstraum“ in neun Sprachen

Von Bernd Berke

Düsseldorf. In grauer Vorzeit wurden alle Wesen in eine männliche und eine weibliche Hälfte geteilt. Seitdem, so will es der griechische Mythos, gibt es die Sehnsucht nach Vereinigung. Und irgendwann fiel die Menschheit in babylonische Sprachverwirrung. Seither, so steht’s in der Bibel, ringen wir um Verständigung. Karin Beiers Düsseldorfer „Sommernachtstraum“-lnszenierung handelt von den Folgen beider Ur-Trennungen.

In neun bunt durcheinander gewirbelten Sprachen wird Shakespeares Stück vom internationalen Ensemble gespielt: Italienisch, Englisch, Französisch, Hebräisch, Ungarisch, Polnisch, Bulgarisch, Russisch und Deutsch.

Man muß sich erst an den schwindelerregenden Wechsel der Idiome gewöhnen. Doch die so verschiedenen Sprachmelodien verleihen dem Text musikalische Qualität, als spielten da diverse Instrumente eines Orchesters; schrille Mißklänge inbegriffen. Denn die Figuren und ihre Sprachen hetzen einander auch schon mal mit nationalistischen Untertönen. Jedes Wort birgt Gefahr.

Wenn die Körper zu reden beginnen

Vor allem aber: Shakespeares unverwüstliche Liebes-Wirrnis. mit der man auf der Bühne so manches wilde Phantasie-Abenteuer riskieren darf, wird im polyglotten Chaos ungeheuer körperbetont dargeboten. Wie im Urlaub: Menschen, die einander sonst nicht verstehen, reden mit Händen und Füßen. Hier erlebt man hochgezüchtete Kunstformen solcher Bemühungen. Sie münden mal in tanztheatralische Figuren à la Pina Bausch, mal in die vollends famosen Clownerien des (beileibe nicht nur) komischen Handwerker-Haufens, der hier mit Bohrmaschinen zum Satyrspiel antritt. Über den aufgebockten Bühnenboden, in den allerlei Falltüren eingelassen sind, werden nur hie und da ein paar Tücher gespannt und drapiert. Schon kann es losgehen mit der Ideenflut, mit unbändigem Spaß und blutigem Ernst.

Karin Beier beweist, auch unter erschwerten Bedingungen der vielen Zungenschläge, ihr enormes Geschick im Umgang mit Schauspielern. Gelegentlich wirkt das Ensemble wie ins absolute Spielglück „freigelassen“; mag die Szene denn rollen, wohin sie auch will. So bekümmert man sich auch nicht allzu sehr um integren Text, sondern dichtet munter hinzu und borgt Zeichen auch aus trivialen Bereichen (Comics, Kino, Fernsehen, Horror).

Zupackende Frauen und hilflose Männer

Elfenkönig Oberon und Athens Herrscher Theseus werden hier vom selben Manne gespielt (Paolo Calabresi mit perlendem Parlando). Er ist Doppel-Regent im Tages- wie im Traumreich (durch das der Puck in Damenschuhen stöckelt) und präsentiert die Szenen wie ein Impresario.

Unnachgiebig enthüllt werden zumal die Demütigungen und Gewaltakte, die aus Liebe und Lust erwachsen. Die Frauen werden heftig handgreiflich in ihrer Liebessucht, sie reißen den Männern geradezu Hemd und Hosen runter. Dies macht die Herren so hilflos, daß sie sich in Aggression flüchten. Jedwede erotische Anziehung endet als brutale Abstoßung, gewaltsames Mitschleifen, Schlagen oder Würgen. Dunkle, unbeherrschbare Macht der Triebe. Liebe oder Haß? Es scheint fast egal zu sein. Oh, jammervolles Begehren. Gegen solche Härten werden – wie poetische Wunschbilder – jene hauchzarten Szenen gesetzt, durch die von fernher leise ein magisches „Kling-Klang“ zu wehen scheint.

Phänomenal, wie sich Karin Beier eine gleichsam kindliche Sicht bewahrt hat. Manchmal wähnt man sich auf dem Spielplatz. Dann setzt es z.B. Pitsche-Patsche-Ohrfeigen, und alle tummeln sich mit heißen Köpfen und Geschrei. Doch derlei wunderliche Alberei kann sogleich in untröstliche Trauer übergehen – wie ein lachlustiger Kindertag in plötzliche Tränen.

Termine: 3., 4., 5., 18. Nov. Karten: 0211/36 99 11.

 




Ist Sprache nur mit Schuld beladen? – Kontroverse Debatte über Schreiben in gewaltsamer Zeit

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Kann man der rechten Gewalt mit Worten Einhalt gebieten? Darf man dabei hoffnungsvolle Gegen-Begriffe wie „Solidarität“ und „Utopie“ noch ganz unschuldig verwenden, als seien sie nicht vom zerfallenen Kommunismus in Mißkredit gebracht worden? Um solche gewichtigen Fragen drehte sich jetzt eine prominent besetzte Autorendiskussion beim Jahrestreffen des bundesdeutschen P.E.N.-Zentrums in Düsseldorf.

Motto des Abends und der gesamten Tagung der Autorenvereinigung: ein vieldeutiger Satz von Roland Barthes, der da lautet „Sprache ist niemals unschuldig“. Moderator Klaus Bednarz (ARD-„Monitor“) wählte als Einstieg in die Debatte über „Schreiben in gewalttätiger Welt“ eine Brecht-Geschichte vom „Herrn Keuner“. Der begegnet der Gewalt, indem er sie zwar nicht bejaht, aber zuwartet, bis sie endlich entkräftet von selbst verschwindet – und erst dann aufatmend „Nein!“ zu ihr sagt.

Haben die Begriffe „rechts“ und „links“ noch Sinn?

Daran entzündete sich die Kontroverse. Günter Grass befand, so sei es in Deutschland ja stets. Nachher, wenn es vorüber sei, seien immer alle dagegen – gegen die NS-Diktatur, gegen das SED-Regime usw. Die duldsame Brecht’sche List im Umgang mit der Gewalt sei gefährlich. Man müsse hier und heute widersprechen. Er, Grass, lasse sich auch von niemandem Worte wie „Utopie“ ausreden. Er werde wütend, wenn man sich – wie es gegenwärtig Mode sei – über eine so wichtige Sache wie „Betroffenheit“ lustig mache oder wenn man schlankweg behaupte, die Begriffe „rechts“ und „links“ hätten gar keinen Sinn mehr.

Herta Müller („Niederungen“, „Der Fuchs war damals schon der Jäger“), die die Ceausescu-Diktatur in Rumänien durchlitt, bezog vehement die Gegenposition: „Das Wort ,Utopie` kann ich nicht mehr hören. Wenn jemand ,Solidarität‘ sagt, muß ich kotzen.“ Unter Ceausescu seien derlei Worte mörderisch mißbraucht worden. Also sei die Sprache mit Schuld beladen.

Und was bleibt? Herta Müller: Nur die Verantwortlichkeit in jeder einzelnen Situation. Die großen übergreifenden Gedankengebäude hätten keinen Wert mehr. Für solche Sätze gab’s Beifall vom zahlreich erschienenen Publikum in der Düsseldorfer Kunsthalle.

Die Demagogen auf der Straße zur Rede stellen

Der zuletzt über die Maßen gelobte junge Lyriker Durs Grünbein (ehemals DDR) meinte, nicht Literatur sei derzeit Schauplatz des Meinungskampfes, sondern die Straße. Vielleicht müßten Autoren sich auf die Straße begeben, um dort die Demagogen zu stellen. Ähnlich wie Herta Müller, die als Beispiel die furchtbare Bedeutung des Wortes „Abholen“ zur NS-Zeit nannte, sah auch Grünbein viele Ausdrücke ideologisch „kontaminiert“ und verseucht. Selbst ein so harmlos klingendes Wort wie „Treuhand“ sei auch Nazi-Deutsch gewesen. Den Schriftstellern selbst dürfe man nie trauen, man müsse ihnen vielmehr „alles zutrauen“. Schöngeister seien oft zu Tätern geworden. Der Diktator und Massenmörder Pol Pot habe Lyrik geliebt…

Autor Dieter Wellershoff wehrte sich gegen den geballten Sprachzweifel. Sprache könne immer noch „Ort der persönlichen Wahrheit“ sein, sie sei nicht von vornherein mit Schuld behaftet.

Doch wie begegnet man nun als Schreibender der akuten rechten Gewalt? Sind radikale Skinheads überhaupt mit (literarischer) Sprache erreichbar? Da blieb man recht ratlos, denn die Aufklärungs-Versuche all der zurückliegenden Jahre scheinen ja bei etlichen Leuten wirkungslos verpufft zu sein. Überdies speist sich Gewaltsamkeit längst nicht nur aus Sprache, sondern aus Bildern und Verhältnissen. Durs Grünbein: Schon das heftige Zuschlagen einer Autotür enthalte verkapselte Gewalt, unsere übertechnisierte Umwelt mache uns aggressiv…

Nach solchen Gedankenflügen vernahmen Podium und Publikum am Schluß ziemlich verblüfft die Wortmeldung eines Exil-Afghanen, der die Frage nach Worten wie „Solidarität“ ganz praktisch entschied: „Wir Ausländer in Deutschland brauchen Solidarität!“ So einfach ist das.




Lore Lorentz: First Lady des deutschen Kabaretts – „Kom(m)ödchen“-Gründerin starb mit 73 Jahren

Von Bernd Berke

Sie hat auf der Bühne so manche geschliffene Boshaftigkeit von sich gegeben. Doch zwei Dinge milderten noch ihre schärfste Kritik: ihr gespielt naiver Augenaufschlag und das „R“, das sie mit böhmischem Zungenschlag so herrlich rollen lassen konnte. Lore Lorentz, die mit 73 Jahren in Düsseldorf starb. war die First Lady der deutschen Brettlbühnen.

Die Wut aufs mißliche politisehe Getriebe, befeuert durch Zeitungen, die sie stapelweise las, hat sie lange jung gehalten. „Wir dürfen die Demokratie nicht verplempern“, das war ein Leitspruch. Die letzten Jahre waren freilich nicht mehr ihre Zeit. Wer sie im September 1993 auf ihrer Hausbühne, dem Düsseldorfer „Kom(m)ödchen“ in dem Programm „Verfassungslos“ erlebte, sah eine gebrechliche, durch den Tod ihres Mannes gebrochene Frau. Bewegend der Moment, als sie mit großer Würde dennoch ihren kurzen Chanson-Auftritt absolvierte.

Sie kam bis zuletzt noch täglich ins „Kom(m)ödchen“-Büro, um nach dem Rechten zu sehen, doch die Leitung der Bühne hatte sie im letzten Sommer ihrem Sohn Kay Sebastian übertragen. Zuletzt bekundete sie vor allem ihre „ungeheure Angst“ vor einem neuen Nationalismus in Deutschland. Viele Vorgänge nach der deutschen Vereinigung waren ihr nicht recht geheuer. Sie fand, daß manches schlichtweg gar nicht mehr „kabarettabel“ sei.

Besonders in den 50er und 60er Jahren hatte sie noch ein ganz anderes Feld und kernigere Gegner vorgefunden. Da trafen etliche Spitzen gegen tiefschwarze Politiker wie etwa Franz-Josef Strauß. Die kleine Bühne von Lore und Kay Lorentz (er starb im Januar 1993) wurde zu einem Hort unbeugsam-kritischen Geistes in der Adenauer-Ära. Doch man fraß auch nicht den Sozialdemokraten aus der Hand, sondern erinnerte sie vielmehr hartnäckig an ihre „unverwirklichten guten SPD-Grundsätze“.

Zudem gelang eine Verbindung politischer Aussagen mit literarscher Qualität, wie sie in Deutschland sonst kaum zu finden war. Dafür sorgten nicht zuletzt die Stammautoren Martin Morlock und Eckart Hachfeld. Als studierte Germanistin mit Gefühl für die Feinheiten der Sprache hatte Lore Lorentz dabei mehr als ein Wörtchen mitzureden. Und ohne ihre Vortragskunst wären die besten Texte sowieso vergebliche Liebesmüh‘ gewesen.

Wie es so oft geschieht: Lore Lorentz, am 12. September 1920 als Tochter eines Ingenieurs in Mährisch-Ostrau (heute Ostrava/Tschechien) geboren, hatte durch Zufall zum Kabarett gefunden. Mit Ehemann Kay arbeitete sie 1946 für die Brettl-Bühne eines gemeinsamen Freundes – als Kassiererin. Erst als eine Darstellerin ausfiel, sprang Lore Lorentz ein und konnte zeigen, was in ihr steckte. 1947, in der zerbombten Altstadt von Düsseldorf, schlug dann die Geburtsstunde für das „Kom (m)ödchen“. Das erste Programm hieß „Positiv dagegen“. Zahlreiche Auslandsgastspiele machten die Truppe alsbald auch zu Botschaftern eines besseren Deutschland.

Lore Lorentz, die „mit freundlich-dankbarer Entschiedenheit“ das Bundesverdienstkreuz ablehnte, trat mehrfach auch in Produktionen des Düsseldorfer Schauspielhauses auf (z. B. als „Mirandolina“ von Goldoni, als „Jenny“ in Brechts „Dreigroschenoper“) und war ab 1978 zeitweise Professorin an der Folkwang-Hochschule in Essen. Dort unterrichtete sie die Fächer Chanson, Song und Musical. Kabarett brachte sie den Studenten allerdings nicht bei. Denn das, so meinte sie, „kann man nicht lehren.“




Einen Turm bis in die Wolken bauen – Wladimir Tatlin: Der Künstler und die russische Revolution

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Einen Turm bis in die Wolken bauen oder auf einem geflügelten Fahrrad durch die Lüfte segeln – solche übermenschlichen Träume weckte die Sowjet-Revolution bei dem Künstler Wladimir Tatlin (1885-1953). Die Düsseldorfer Kunsthalle zeigt als „Weltpremiere“ (Direktor Jürgen Harten) eine umfangreiche Werkschau des Russen.

Große Überraschung: Tatlin, der doch weithin als Bannerträger der Revolution galt, hat – bis auf eine recht begrenzte Phase – vorwiegend konventionell gearbeitet. In seiner Frühzeit versenkte er sich in Blumen-Stilleben, vertrat dann heftig Positionen der Moderne, wandte sich aber schon nach einigen Jahren wieder Porträts und Landschaften zu. Es war offenbar eine erzwungene Anpassung an die Zeitläufte: Kühne Traum-Konstruktionen waren im erstarrten Sowjet-Reich nicht mehr genehm. Sie hätten die Menschen daran erinnern können, daß das Leben viel Besseres zu bieten hat als aschgrauen kommunistischen Alltag oder gar finsteren Stalinismus.

Im Vor- und Umfeld der Revolution ergießt sich Tatlins Kunst geradezu in die erhoffte Zukunft hinein. Selbst eine Aktdarstellung („Weibliches Modell“, 1913) wird in jener Phase zum Fanal: Der Frauenleib schraubt sich dynamisch und selbstgewiß in den Raum – körperliche Vorform jenes Turms zu Ehren der „III. Internationale“, der Tatlin berühmt gemacht hat.

Optimismus oder Anmaßung?

Das schneckenförmige, himmelstürmende Gebilde, in Düsseldorf als Rekonstruktion zu sehen, sollte zum Ruhme des Sozialismus 400 Meter in die Höhe ragen, ist aber nie gebaut worden. Es wäre vielleicht eine Art zweiter Turm zu Babel geworden, Zeichen eines grandiosen Optimismus, der in Anmaßung umschlagen kann.

Bewegliche Teile im Turm sollten sich nach bestimmten Zeitmaßen drehen – wie bei einer gigantischen Uhr, die dem Menschengeschlecht anzeigte, daß die Stunde der Befreiung vom Kapitalismus geschlagen hatte. Eine Kunst, geboren auch aus dem Geiste der Physik, gedacht für ein „wissenschaftliches Zeitalter“. Von Ideologie einmal abgesehen, kann man sich der formalen Faszination auch heute nur schwer entziehen.

Ähnlich bemerkenswert auch das Luftfahrrad, das Tatlin nach sich selbst benannte („Letatlin“) und mit Gebrauchsanweisungen versah. Auch diese Erfindung zeugt davon, daß der „neue Mensch“ über die Wolken hinaus zu den Sternen strebt. Wie war das noch mit Dädalus und Ikarus: Gab es da nicht einige Pannen? Turm und Fahrrad bilden das optische Zentrum, jedoch nicht das Schwergewicht der Schau. Die zahlreichen Bühnenbild-Entwürfe belegen, daß Tatlin über enorme szenische Vorstellungskraft verfügte.

Typisierungen fürs Theater

Seine gezeichneten Figurinen, Anschauungsmaterial für Theaterrollen, stehen für eine entschiedene Typisierung, die freilich böswillig auch schon wieder als Entindividualisierung im Sinne eines gesichtslosen Kollektivismus mißdeutet werden könnte. Ganz anders die Porträts im späteren Werk: Hier bekommt der Einzelmensch sein Antlitz wieder zurück.

Tatlin hatte seine liebe Not mit den Sachwaltern der kommunistischen Kunstlehre. Arbeiten wie seine „Konterreliefs“ aus Holz, Metall und Schnüren, die aus der Bildfläche hervortraten und als Objekte in den Raum vorstießen, waren den Herrschaften nicht realistisch geschweige denn heroisch genug. Trotzdem halten manche nun der Kunsthalle vor, „in diesen Zeiten“ einen Kommunisten zu präsentieren. Kommentar überflüssig.

Eine stille Sensation verbirgt sich hinter der Ausstellung. Im Vorfeld wurde enorme Forschungsarbeit geleistet. Listete das bisher größte Werkverzeichnis nur 50 gesicherte Tatlin-Arbeiten auf, so sind es nun über 1300. Davon sind in Düsseldorf rund 320 zu sehen.

Wladimir Tatlin. Retrospektive. Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz 4. Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 10 DM, Katalog 39 DM.




Geldnot bei den Kunstvereinen: Die Wirtschaft knausert immer mehr

Von Bernd Berke

Im Westen. Deutschlands Kunstvereine geraten finanziell zusehends in die Klemme. Nach Alarm-Meldungen aus Dortmund, wo das Spendenaufkommen bis zur Jahresmitte praktisch „gleich Null“ war, wollte die WR wissen: Wie sieht es bei anderen Kunstvereinen aus?

Offenbar steht es bundesweit nicht zum besten. Beim Dachverband, der „Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine“, heißt es, die Bereitschaft zu Spenden sei „eindeutig geringer“ als bis vor ein paar Jahren. Verbandsvorsitzender Andreas Vowinckel, zugleich Chef des Badischen Kunstvereins in Karlsruhe: „Die Wirtschaft verhält sich jetzt sehr, sehr zögernd.“

Nicht nur in Dortmund ist die Lage heikel

Kein Einzelfall: Man verschickt mehrere hundert Bittbriefe, bekommt dann nur eine Spende – und die Portokosten übersteigen den Ertrag. Fast alle Firmen machen die allgemeine Konjunkturflaute oder dringende Investitionen in Ostdeutschland geltend. Selbst in Baden-Württemberg und in Rheinland, bislang favorisierte Regionen für Kunst-Sponsoring, sei das Auftreiben von Spenden nun „ein hartes Brot“ (Vowinckel). Doch auch die öffentlichen Mittel, weiß Vowinckel, „fließen nicht mehr so recht“. Finanzprobleme durch die deutsche Vereinigung hätten auch hier eine traurige Trendwende bewirkt.

Der Düsseldorfer „Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen“ gehört mit rund 6000 Mitgliedern zu den größten der Republik. Man ist – im Gegensatz zu Vereinen im Revier – alteingesessen, und es gibt rundum kunstsinniges Publikum zuhauf. Doch selbst hier heißt es, man müsse „unheimlich ackern“ (Mitarbeiterin Doris Rother), bis man an Sponsoren herankomme. Zudem falle neuerdings ein wichtiger Sponsor aus, nämlich die Lufthansa, die sich auf rigidem Sparkurs befindet. Den ganz harten Einschnitt merkt man in Düsseldorf noch nicht, doch hat man bereits arge Schwierigkeiten, die Jahresgaben an Mitglieder zu verkaufen.

Man muß sich sehr abstrampeln

Etabliert ist auch der Westfälische Kunstverein zu Münster, der seit 1831 existiert und heute 1250 Mitglieder hat. Aus dem letzten Jahrhundert datiert denn auch ein Glücksfall, dessen Folgen den Verein noch heute über Wasser halten. Die Altvorderen konnten Kirchenschätze wie mittelalterliche Tafelbilder und Altäre günstig erwerben. Vor sechs Jahren veräußerte man ein einziges dieser Bilder, gab den Erlös in eine Stiftung – und kann sich nun aus den Zinsen bedienen. Hildegard Feldmann, zuständig für die Buchführung: „Ansonsten muß man sich aber sehr abstrampeln. Bargeld von einzelnen Sponsoren kommt praktisch nie.“ Sowohl die Stadt Münster als auch der Landschaftsverband hätten seit vielen Jahren ihre Zuschüsse nicht mehr erhöht — angesichts von Preissteigerungen ein herber Verlust. Verwundert zeigt man sich in Münster über die Dortmunder Situation: „In Dortmund gibt es doch viel mehr Großfirmen als in Münster“.

Im Revier nur Geld für den Sport übrig?

Und wie sieht es aktuell in Dortmund (540 Kunstvereins-Mitglieder) aus? Nun, immerhin hat der Notruf drei örtliche Firmen zu Spenden bewegt, eine Hypothekenbank will gar Mitglied werden. Die Geschäftsführerin des Kunstvereins, Annette Reker, findet trotzdem: „So dramatisch wie bei uns ist es fast nirgendwo“. Zu allem Überfluß habe man gerade die Mitgliedsbeiträge erhöhen müssen, was vielleicht manchen Kunstfreund abschrecke. Zuweilen fühle man sich in Dortmund wie in einer künstlerischen Diaspora.

Diesen Eindruck bestätigt Hugo Koch, Zweiter Vorsitzender des Kunstvereins im nahen Bochum (680 Mitglieder). Wenn es überhaupt Spenden gebe, seien sie meist „beschämend gering“. Koch: „Im Revier hat man wohl nur Geld für Sport übrig.“ Ein Jahresbeitrag von 60 DM für den Kunstverein könne kaum erhöht werden, sonst drohe eine Austrittswelle. Koch: „Für ihren Tennisclub zahlen die Leute das Mehrfache im Monat…“

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Kommentar

Anschluß verpaßt

Kunstvereine bieten selten leichte Kost. Die meisten Firmen aber wollen, wenn sie für Kultur spenden, große Besucherzahlen sehen. Das bereitet den Vereinen schon längst Probleme. Jetzt, da die Finanzen allenthalben knapper werden, bekommen sie das noch deutlicher zu spüren.

Unsere Kunstvereine sind als Ausdruck bürgerlichen Selbstbewußtseins entstanden. Bis dahin hatten praktisch nur der Adel und die Kirehe Kunst gehörtet. Das ist lange her. Fast könnte man sich jetzt in die Zeit des alten Bildungsbürgertums zurücksehnen. Doch damals hat man Kunst nicht nur aus edlem Sinn gefördert, sondern sich damit auch über politische Realitäten hinweggelogen. Wünschen wir uns das lieber nicht zurück.

Betrüblich ist, daß sich die Lage im Ruhrgebiet besonders schlimm darstellt. An der Bevölkerungsstruktur, die sich der von anderen Zentren angleicht, kann es nur zum Teil liegen. Man muß wohl von kulturpolitischen Versäumnissen sprechen, die auch sinnfällig werden: Man schaue sich nur die öde „Kunst am Bau“ in unseren Städten an.

                                                                                                                   Bernd Berke

 




Zukunftsgewißheit mit rechtwinkligen Mustern – Kunstsammlung NRW zeigt Konstruktivisten

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Welch‘ eine Nüchternheit, grandios und erschreckend zugleich: An Erich Buchholz‘ Entwurf eines völlig rechtwinklig durchmusterten Zimmers „stören“ eigentlich nur noch die Rundungen des Konzertflügels.

Und wenn man in der Kunstsammlung NRW die mathematisch inspirierten Stadtplaner-Ideen mancher Konstruktivisten betrachtet, kann man sich nur die Augen reiben: Welche maschinellen Wesen sollten dort eigentlich wohnen? Doch dann gibt auch wieder die kühle Schönheit der Geometrie, etwa in den „Proun“-Bildern von El Lissitzky, in Arbeiten von Kurt Schwitters, Walter Dexel oder Theo van Doesburg.

Die Konstruktivisten betrieben „Grundlagenforschung“ in der Kunst. Wie die Chemiker die Welt auf Elemente zurückführten, so die Konstruktivisten die Bildwelt auf elementare Formen. Wie in der Naturwissenschaft, so lagen auch im Konstruktivismus Fluch und Segen dicht beisammen. Vor allem die Anwendung im Wohnungsbau hat mitunter prekäre Züge. Besagte Grundformen jedenfalls sollten universell einsetzbar sein und den Alltag durchdringen. Es war die Kunst eines technischen, eines Ingenieur-Zeitalters. Man folgte, heute nicht mehr ohne weiteres nachvollziehbar, einer Utopie der „Machbarkeit“, Auswüchse inbegriffen.

Himmelwärts strebende „Lenin-Treppe“

In Rußland vermählte sich die Zukunftsgewißheit anfangs noch mit Revolutions-Optimismus. Man sehe in Düsseldorf nur El Lissitzkys Modell einer himmelwärts strebenden „Lenin-Treppe“ von 1924 – und staune, wie rasch und gründlich sich derlei Huldigungen verflüchtigt haben. So viel zur vermeintlichen „Rationalität“ dieser Kunstrichtung. Auch sie ist relativ. Aller Mathematik zum Trotz, kommt selbst in der scheinbar objektiven Verteilung von Linien. Kreisen und Rechtecken immer mal wieder persönliches Temperament zum Vorschein. Der Konstruktivismus ist nicht seelenlos. Außerdem ist er unterwegs zur vehementen Verschmelzung der Künste: Schönes Beispiel in Düsseldorf ist ein Breitwand-Bild von Hans Richter, das sich auf frappierende Art der musikalischen Partitur und einer filmischen Sehweise nähert.

Ein Keim entsprang in Düsseldorf

Die Kunstsammlung NRW hat rund 130 Exponate aufgetrieben, die – auch bei weitherziger Betrachtung – keinesfalls alle dem Konstruktivismus zuzurechnen sind. Zudem sind 130 Belegstücke für eine thematisch so ausgreifende Ausstellung eine recht schmale Basis. Der damit nur angeregte Besucher kann sich am Katalog schadlos halten, der einen wirklich großzügigen Überblick gibt.

Ein Keim des Konstruktivismus sproß übrigens vor genau 70 Jabren in Düsseldorf: Die Kunstlergruppe „Junges Rheinland“ (eher dem Expressionismus zuzurechnen) hatte die internationale Avantgarde an den Rhein gebeten, darunter auch El Lissitzky und Theo van Doesburg. Die Konstruktivisten formierten sich, zunächst lose, im heftigen Widerspruch zum „Jungen Rheinland“, dessen Vereinsmeierei ihnen einfach zu fad war.

„Konstruktivistische Internationale – 1922-1927″. Düsseldorf, Kunstsammlung NRW, Grabbeplatz 5. Bis 23. August. Eintritt 8 DM, Katalog 59 DM.




Heller Aufruhr und mühsame Bändigung – Aquarelle und Zeichnungen von Wassily Kandinsky

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Es beginnt harmlos, mit lieblichen Szenen aus Bibel und Paradies. Bilder mit recht fest umrissenen Linien, starkfarbig, beinahe plakativ. Diese Kunst ist noch befangen in russischer Tradition.

Doch irgendwann geraten die Linien, Formen und Farben in hellen, produktiven Aufruhr. Sie drängen zueinander, ballen sich dynamisch, tragen regelrechte Kämpfe auf der Bildfläche aus. Derlei Explosionen im Bildgefüge, wie sie Wassily Kandinsky (1866-1944) herbeigeführt hat, kann man nun in der Kunstsammlung NRW erleben, wo man sich ganz auf Aquarelle und Zeichnungen konzentriert, rund 180 an der Zahl. Diese freilich sind bei Kandinsky nicht bloßer Gemälde-Ersatz, sondern eigenständiger Bestandteil des Gesamtwerks.

Zwei weitere Vorgaben prägen die Auswahl: Zum einen hat man bewußt auf selten gezeigte Stücke aus Privatsammlungen zurückgegriffen, zum anderen das gegenständliche Frühwerk bis auf wenige Einzelbeispiele beiseite gelassen. Hingegen wird deutlich, daß Kandinsky in seinen spätesten Arbeiten sich wieder mehr ans Erkennbare hielt. Gestützt auf botanische Studien, kommt er hier vor allem auf pflanzliche Formen zurück. Der Weg in die Abstraktion ist umkehrbar.

Höhepunkte der Ausstellung sind die etwa zwischen 1915 und 1935 entstandenen Blätter. Da findet man in der Tat viele Arbeiten, auf denen gleichsam jede Linie auszurufen scheint: „Hier bin ich!“ — wie der auch wort- und schreibversessene Kandinsky es einmal selbst ausgedrückt hat. Die Bildflächen werden hier zu Bezugs- und Ereignis-Feldern, auf denen sich die Elemente eher nach musikalischen Gesetzen bewegen. Gebirgsketten oder Reiterfiguren – häufige Motive bei Kandinsky – wandeln sich zu abstrakten Zeichen, die weitaus mehr bedeuten, als es die Abbildung von Objekten könnte. Man kann in diesen Bildern wunderbar frei „lesen“ – auf und ab, seitwärts, diagonal – und immer wieder wird man, angeleitet von Form- und Farbverläufen, neue Beziehungen finden. Kandinsky war hier, wie er es formuliert hat, unterwegs zum rein „Geistigen in der Kunst“.

Ganz anders die Werke aus den „Bauhaus“-Jahren. Fast scheint es, als habe Kandinsky die zuvor „wildwüchsige“ Bildweit bannen und bändigen wollen. Nun huldigt er einem mehr oder weniger strengen Konstruktivismus, zieht Liniengerüste durch seine Bilder, tariert Farben, Formen und Gewichtungen nahezu mathematisch aus. Interessant wäre in dieser Phase ein Vergleich mit Arbeiten des Bauhaus-Kollegen Paul Klee. Es scheint da tiefgreifende Einflüsse gegeben zu haben, wirken doch manche der Kandinsky-Arbeiten dieser Jahre so, als habe Klee seine Hand im Spiele gehabt.

Allerdings verlegt sich Kandinsky, ebensowenig wie Klee, selten auf pure Geometrie. Schönes Beispiel dafür, wie er Emotionalität mit scheinbar sachlichen Grundformen kollidieren läßt, ist das Bild „Inneres Kochen“ (1925), auf dem blutiges Rot alles Ebenmaß hinwegzufegen droht.

Kandinsky hat nach einem universell verstehbaren „Urvokabular“ der Bildsprache gesucht. Beleg dafür ist u. a. das in 18 Kästchen unterteilte Werk „Kleine Bildchen“ (1927), dessen Felder sowohl an altägyptische Kunst als auch an moderne Piktogramme gemahnen: Das Uralte ist das ganz Neue, und dieses ist immer schon dagewesen.

Im Spätwerk frappiert vor allem die eigentümliche Farbpalette aus schwarzen und kreidigen Tönen, die man vage mit dem Wort „mondsüchtig“ umschreiben könnte.

Kandinsky – „Kleine Freuden“ (Aquarelle und Zeichnungen). Kunstsammlung NRW, Düsseldorf, Grabbeplatz. Bis 10. Mai. Katalog 49 DM.




Himmel und Hölle des Bildschirms – Nam June Paik in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Einerseits ist diese Ausstellung die schiere Medienhölle: Da dröhnt es aus ungezählten Lautsprechern, da gibt es ein wahnsinniges Bildergewitter auf hunderten von TV-Geräten, da flirren irrwitzige Großprojektionen über die Wände. Hier kann man wirklich einmal testen, wie lange man dem elektronischen Terror standhält.

Andererseits findet man sich in Zonen der Ruhe und der Meditation wieder, die von den selben Medien erzeugt werden: Eine Buddha-Figur „betrachtet“ göttlich-geruhsam ihr eigenes Erscheinungsbild; eine Kamera nimmt ein Ei auf, dessen perfekte Form synchron auf verschieden große Bildschirme übertragen wird. In einem abgedunkelten Raum erstreckt sich sodann ein Garten mit echtem Grün, dessen „Blüten“ freilich aus lauter Video-Farbbildern bestehen.

All dies sind Werke von Nam June Paik, dem großen Anreger der Video- und Fernseh-Kunst. Der Koreaner, heute in New York lebend, aber seit jeher auch der Düsseldorfer Szene eng verbunden, setzt mit diesen Medien sozusagen Himmel und Hölle frei, man erfährt Qualen, aber auch Wohltaten der künstlichen Bildwelten. Die Installationen in der vollverkabelten Düsseldorfer Kunsthalle sind mal Huldigung, mal Fluch.

„This is a Heimspiel for me“

„This is a Heimspiel for me“, soll Paik auf Anglo-Deutsch über diese Ausstellung gesagt haben – Anspielung auf alte, glorreiche Zeiten der rheinischen Kunstszene in den 60er Jahren, auf damals noch provozierende Kunstaktionen, die Paik gelegentlich auch mit Joseph Beuys gemeinsam veranstaltete, dessen Werk jetzt gegenüber in der Kunstsammlung NRW gezeigt wird (die WR berichtete).

Es dominieren Bildschirm-Arbeiten, die auch Leute ins Museum locken könnten, die sonst wenig mit Kunst am Hut haben. Kennzeichnend für Paik ist unter anderem die gegenseitige Durchdringung von Natur und Elektronik, so in besagtem „Fernseh-Garten“, aber auch bei einem Werk wie „Video Fish“: Aquarien mit lebenden Zierfischen stehen vor laufenden TV-Geräten. Die Videos laufen gleichsam „unter Wasser“.

Fernsehen und der christliche Kreuzweg

Paik knüpft mit seinen Arbeiten nicht nur an Naturformen an, sondern auch an die Kunstgeschichte: Den wohl stärksten Eindruck der Ausstellung hinterlassen jene 13 gotischen Schreine, in die der Kunst-„Ketzer“ Paik Femsehapparate montiert hat. Hintergrund: Ursprünglich sollten sich 14 Schreine auf die Stationen des christlichen Kreuzweges beziehen. Station heißt auf Englisch bekanntlich „station“, dies Wort steht auch für Fernsehkanäle – und 13 Stations-Schreine wurden es dann, weil es friiher einmal in New York diese Zahl von Fernsehsendern gab. Siehe da: Die Geschichten hinter den flimmernden Bildern können ganz schön vertrackt sein.

Nam June Palk. Retrospektive. Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz. Bis 12. Januar 1992. Tägl. außer montags 10 -18 Uhr. Katalog 42 DM.




Joseph Beuys als Leitfigur der Gegenwart – eine nahezu sakrale Schau in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Was Düsseldorf jetzt in Sachen Kunst bietet, dürfte schwerlich zu übertreffen sein. Just haben die Große Düsseldorfer Kunstausstellung sowie eine Renato Guttuso-Retrospektive begonnen, da folgt ein doppelter Paukenschlag mit Retrospektiven auf Werke zweier Leitfiguren der Gegenwart: Joseph Beuys (Kunstsammlung NRW) und Nam June Paik (Kunsthalle, gleich gegenüber). Wenn da die Kunstpilgerfahrt an den Rhein nicht lohnt, lohnt sie nie.

Während Paik die Welt durchs mediale Auge der TV- und Videokunst sieht (die WR wird darauf zurückkommen), verwandelt Beuys die Dinge und ihre Formen in Energie-Felder. Natürlich ist nicht sein komplettes Werk in Düsseldorf zu sehen, dazu war er einfach zu produktiv. Zudem sind viele seiner Arbeiten heute standortgebunden oder aus anderen Gründen nicht verfügbar.

Aber man sieht doch einen namhaften Querschnitt durch das Werk des Mannes mit dem Filzhut. Zeitlich reicht die Auswahl der über 400 Exponate von 1941 (eine aufgeklebte Birkenrinde als erste Arbeit deutet schon auf das große Thema „Natur“ hin) bis 1985. Gezeigt werden Zeichnungen, Aquarelle, plastische Bilder, Objekte und Rauminstallationen sowie „Multiples“ (in höheren Auflagen gefertigte Kleinobjekte).

Der Didaktiker und Sozialutopist Beuys ist zudem mit Aktions-Überbleibseln und schwungvoll beschriebenen Lehrtafeln vertreten. Wenn man diese Arrangements sieht, vermißt man doch die reale Gegenwart des am 23. Januar 1986 gestorbenen Künstlers, der wie kein anderer mit seiner ganzen Person für seine Kunst einstand.

Schon bei der gestern massenhaft frequentierten Pressevorbesichtigung war es zu spüren: Man geht durch diese Ausstellung still, ja ehrfürchtig, denn sie hat einen sakralen Beigeschmack — und welches Werk würde sich dazu besser eignen als jenes von Joseph Beuys – mit seinen hauchfeinen, sich zuweilen fast ins Nichts verflüchtigenden Zeichnungen und mit seinen derart genau austarierten Installationen, an deren Kraftlinien man nichts verändern darf, ohne sie nachhaltig zu stören.

Grandios die Offenheit der Beuys’schen Arbeiten, die nie eine Interpretation aufdrängen, sich aber auch selten im Belanglos-Anekdotischen verlieren. Man lasse sich nicht von Vordergründigem, von Materialien wie Filz oder Fett täuschen. Hinter deren Kombination stehen komplexe Denk- und Erlebens-Muster. Die formale Umsetzung erfolgt mit beispielhafter Ökonomie der Mittel: Ein „Zuviel“ gibt es bei Beuys nicht.

Selbstverständlich ist auch sein Werk der Zeit unterworfen. Beispiel: die Warenregale mit dem Titel „Wirtschaftswunder“, die vor wenigen Jahren noch als Kapitalismuskritik galten. Heute „liest“ man die karge Ansammlung als eine Art Nachruf auf die Ex-DDR.

Joseph Beuys. Natur — Materie — Form. Kunstsammlung NRW. Düsseldorf, Grabbeplatz. Bis 9. Februar. Tägl. (außer montags) 10 bis 18 Uhr. Eintritt 8 DM, Katalog 49 DM.




Der ganze Kosmos des Max Ernst – Werkschau jetzt in Düsseldorf zu sehen

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Alles ist da: Vögel ohne Zahl, dunkel-bedrohliche Wälder, riesenhafte Stadthügel, Frauenfiguren, die zu Tier- oder Pflanzengestalten mutieren. Es ist der ganze Kosmos des Max Ernst, der jetzt in Düsseldorf zu besichtigen ist. Man hat die ständige Sammlung ausgeräumt, um Platz zu schaffen.

Niemals vor dieser Tournee (London, Stuttgart, jetzt Düsseldorf, dann Paris) hat es eine derart umfangreiche Ernst-Retrospektive gegeben. Vergleichbares wird wohl auch nie wieder möglich sein, denn fast 70 Prozent der gezeigten Werke befinden sich in Privatbesitz. Wegen des 100. Geburtstags von Max Ernst (1891-1976) ließen sich die Leihgeber zur Großzügigkeit bewegen.

Der Gang durch die Ausstellung mit ihren weit über 200 Exponaten gleicht fast einer Reise durch das Werkverzeichnis. Jedenfalls sind die Gemälde — flankiert von wenigen Skulpturen und Collagen — in staunenswerterVollständigkeit zu sehen; man findet reihenweise Leinwand-Berühmtheiten wie den Elefanten „Celebes“, „Die ganze Stadt“, „Die Einkleidung der Braut“, „Die Versuchung des Hl. Antonius“. Dennoch machen nicht diese Gipfelpunkte den eigentlichen Reiz aus, noch wichtiger sind qualitätvolle Fülle und Vergleichsmöglichkeiten.

Da wird zum Beispiel klar, wie oft Max Ernst seine Figuren mit Durchbrüchen in Gestalt von „Fenstern“ versehen hat. Es sind dies Durchblicke in zweite, dritte und vierte Dimensionen. Das ist ja eben das Herrliche an diesen Bildern: daß sich am einzelnen Werk notfalls die gesamte psychologische Theorie abarbeiten könnte und doch nie an ein schlüssiges Ende käme. Diese Werke behaupten ganz souverän den Vorrang der Kunst vor deren bündiger Erklärung.

Manches grenzt an „Historienmalerei“

Dennoch sind viele Arbeiten in einem vertrackt-höheren Sinn auch realistisch, ja politisch. Man betrachte etwa das 1936 gemalte Bild „Die Lust am Leben“: undurchdringlicher Dschungel, darin eine schadenfroh lachende Monsterfigur. Intensiver läßt sich kaum darstellen, daß damals tatsächlich die „Bestie Mensch“ losgelassen wurde. Auch eine Arbeit wie „Die ganze Stadt“ scheint ja die damals gängige faschistische Architektur auf ihren lebensverachtenden Begriff zu bringen. Man könnte beinahe sagen, dies sei „Historienmalerei“, aber natürlich eine mit modernsten Mitteln.

Andere Bilder wiederum reizen — nicht nur durch ihre dadaistisch inspirierten Titel, sondern besonders durch ihre kombinatorischen Verfahren und ihre Durchlässigkeit für vielerlei Deutungen — ganz einfach zum Lachen; sie müssen in einer Art „fröhlichem Irrsinn“ oder irrsinniger Freude entstanden sein.

Schließlich hat Max Ernst auch, wie hier ersichtlich wird, immens viel mit der Gegenwartskunst zu tun. In manchen späteren Arbeiten ist er deutlich ein Vorläufer der Pop-art, andere wirken gar wie mit einem fortgeschrittenen Computerprogramm erzeugt. Und ein Bild wie „Die chemische Hochzeit“ (1948) kann gut und gerne auf düstere gentechnologische Aussichten bezogen werden. Da droht, wie überhaupt in so vielen Bildern Max Ernsts, eine Welt ohne Menschen.

Max Ernst. Werkschau. Kunstsammlung NRW. Düsseldorf, Grabbeplatz. 24. August bis 3. November. Täglich 10-18 Uhr, außer montags. Katalog 49 DM.




Wols: Die leisen Explosionen

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Wolfgang Otto Schulze (1913-1951) war ein heimlicher Kunst-Mythos der Nachkriegsjahre. Sein Leben war weniger mythisch. Lange Jahre lebte der gebürtige Berliner, der 1933 aus Deutschland emigrierte, als verarmter Alkoholiker in Paris, quasi ein Clochard. Der Mann, der seinen Namen seit 1937 mit „Wols“ abkürzte, starb 1951 an einer banalen Lebensmittelvergiftung.

Wols ist zeitlebens ein „Künstler-Künstler“, ein Idol seiner Kollegen geblieben. Jetzt ist, erstmals seit langem und umfangreicher denn je, zu besichtigen, was vom Mythos bleibt – ohne das Pathos der Nachkriegsjahre.

Bei den 43 Gemälden, die in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW ausgestellt sind (bis 27. Mai, Katalog 59 DM), handelt es sich fast um die Hälfte aller seiner Ölbilder. Diese entstanden erst in den letzten Lebensjahren, in zwei relativ kurzen, höchst produktiven Schüben. Außerdem umfaßt die Ausstellung etwa 120 Zeichnungen sowie Aquarelle und Druckgraphik. Leider hat man die photographischen Arbeiten aus der von Zürich kommenden Schau wegen Platzmangels aussortieren müssen.

Im photographischen Werk und den frühen Aquarellen finden sich noch deutliche Bezüge zur Traumwelt des Surrealismus. Äußerst filigrane Arbeiten mit Aquarelltechnik und Tuschfeder lassen auch Einflüsse von Paul Klee erkennen. Es sind empfindliche, verletzliche Linien-Gespinste, in der Bildmitte kreisförmig in sich zusammengezogen, zuweilen auch zu amöbenhaft-biologischen Urformen mutiert.

Wols gehörte der „verlorenen Generation“ zwischen den wilden 20er und den dumpfen 50er Jahren an. Aus NS-Deutschland emigriert, wurde er in Frankreich zeitweise interniert. Nach dem Krieß verdächtigten ihn die Amerikaner der Spitzeldienste für das „Dritte Reich“. Es war ein unbehaustes Dasein fernab vom Kunstbetrieb.

Die Abwendung vom Gegenständlichen ist bei Wols weniger kunstgeschichtlicher Fortschritt als Ausdruck einer Verlust-Erfahrung. Die zerstörte Welt ist nicht mehr in unversehrten Gegenständen zu fassen. Oft scheinen sich die Formgebilde von Wols auf schwankendem, unsicherem Boden zu befinden. Nicht nur „Le bateau ivre“ (Das trunkene Schiff) schlingert ziellos dahin, auch die zahlreichen Stadt-Bilder gleichen bedrohten Organismen oder im luftigen Raum schwebenden Strahlungen. Anders als Emil Schumacher, trägt Wols – auch er eine Leitfigur des Informel – die Farbe selten in leidenschaftlicher Manier auf. Es sind Explosionen der leiseren Art. Linien und Wirbel verlieren sich im dunklen Nirgendwo.




Jedes Bild ein neuer Aufbruch – Vitales „Spätwerk“ von Emil Schumacher in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Als fange die Kunst noch einmal ganz von vorn an, krümmt sich – wie auf einer vorzeitlichen Höhlenzeichnung – ein Pferd, es scheint im Bildraum zu stürzen. Doch dann der Hintergrund: giftig-gelb, ein farblicher Aufschrei, wie er so nur in unserem Jahrhundert möglich ist. Ganz von vorn und doch immer ein neuer Aufbruch – überhaupt ein Kennzeichen der Arbeiten Emil Schumachers (76), des Hagener Ehrenbürgers mit internationalem Ruhm.

Kaum können zeitliche Entwicklungen nachvollzogen werden, denn jedes Einzelbild verlangt nach einer Betrachtung „für sich“, erst recht die vierzig „späten Bilder“ (seit 1969), die ab heute bis zum 25. Juni in der „Kunstsammlung NRW“ am Düsseldorfer Grabbeplatz zu sehen sind und dann in die Ferne (Budapest, Madrid) reisen.

Gegenüber der Erstpräsentation 1988 in der Berliner Nationalgalerie ist die Zusammenstellung erheblich verändert worden. Das besagte Pferdebild (Titel: „Fallaca“, 1989) war seinerzeit noch gar nicht entstanden. Es ist übrigens die einzige gegenstandsnahe Arbeit in Düsseldorf – Hinweis auf eine künftige Hinwendung zum Figurativen? Hinzugekommen sind außerdem sieben Gouachen. Doch ansonsten sah sich Museums-Chef Werner Schmalenbach aus Platzgründen gezwungen, auf die meisten Berliner Bilder zu verzichten. Er glaubt aber, daß die derart konzentrierte Düsseldorfer Version intensiver und spannender geraten sei. Schmalenbach bekennt, erst 1961 (als er Schumacher in Hannover ausstellte) von der Kunst des Hageners überwältigt worden zu sein. Seitdem habe er sich laufend mit diesem Werk befaßt. Nur beipflichten kann man SchmaÏenbach in der Kritik am im Berlin erstellten Katalog (30 DM), der – mit bonbonfarbenen Titelrand – Schumachers Farbempfinden Hohn spricht und im Innern mächtig von den Originaltönen abweicht.

Ein Grund mehr also, nach Düsseldorf zu kommen und die Bilder selbst zu betrachten. Vor den Arbeiten stehend, spürt man denn auch erst die „sportive Aggressivitat“ (Schmalenbach), mit der sich Schumacher an seinen Bildern abarbeitet. Doch pure Aggression wäre keine Kunst. Gegengewicht sind jene vorsichtig, tastend und skrupelhaft geführten Linien, die dem reinen „Angriff“ auf die Bildfläche Einhalt gebieten und der zuvor reinen Körperlichkeit Geist und Seele einhauchen.

Exotische Titel verleihen den meist schrundig aufgerauhten Bildern zusätzliches Geheimnis: „Halaf“, „Autuno“, „Tamana“, „Elam“, „Harim“, „Maroussi“ – in Reihenfolge gelesen, wirkt das wie orientalische Poesie. Die Titel „helfen“ nicht eigentlich beim Verstehen, lenken aber zuweilen die Assoziationen, so bei der Arbeit „Lacrima“ (Tränen) von 1977, deren Oberfläche wirklich zu weinen scheint, oder bei „Hiob“: Nicht die biblische Leidensgestalt, vielleicht aber ihr ganzer Weltjammer wird da sichtbar.

Gerne würde Werner Schmalenbach, dessen Haus zwei Bilder von Schumacher besitzt, ein weiteres erwerben. „Besonderen Appetit“ habe er auf das großartige „Indemini“ (1974), ein Materialbild mit Teerstücken. Doch es fehlt Platz für dauerhafte Hängung. Schmalenbach: „Einen Schumacher kauft man nicht, um ihn im Depot zu verstecken.“ Womit er abermals recht hat.




Warum Norbert Blüm die Schriftsteller beneidet – Diskussion über Sprache in Literatur und Politik

Von Bernd Berke

Düsseldorf. „Im Zentrum steht vielmehr der Dialog als Prozeß, in den sich jeder einbringen kann.“ Bekenntnis einer Selbsterfahrungs-Gruppe? Nein, das Zitat stammt aus einer Einladung der CDU. Die Christdemokraten baten zu einer prominent besetzten Kulturdiskussion in die Düsseldorfer „Rheinterrassen“, als Moderator fungierte Geert Müller-Gerbes (Talkmaster von RTL plus). Motto, ganz ohne Fragezeichen ausgedruckt:„Sprachlos: Politik und Literatur“.

„Kritikerpapst“ Marcel Reich-Ranicki argwöhnte gleich zu Beginn, „daß wir hier in den Wahlkampf eingespannt werden“. So sei es doch bisher immer gewesen: Nach dem Urnengang hätten die Parteien die Kultur sehr bald wieder ignoriert. Reich-Ranicki: „Aber heute wird uns sicher wieder gesagt, wie sehr diese Partei die Literatur liebt.“

Ihm gegenüber saß der, der sich angesprochen fühlen mußte: Norbert Blüm, Arbeits-und Gesundheitsminister sowie Vorsitzender der CDU in NRW. Blüm wich der Attacke aus, und zwar mit dem Knabber-Sprachbild, das er so gern benutzt: „Ich liebe die Literatur nicht. Manchmal geht sie mir sogar auf den Keks“. Warum? Nun, Geist und Macht ließen sich nicht vorschnell versöhnen. Die schreibenden Intellektuellen seien immer stärker im Kritisieren gewesen als im Bejahen. Das sei zwar ihre Rolle, die man akzeptieren könne, aber: „Manchmal werde ich da ein bißchen neidisch“. Denn ein Politiker müsse viel genauer auf Konsequenzen seines Redens und Tuns achten als ein Literat. Reich-Ranicki hatte das passende Böll-Zitat zur Hand: Der Schriftsteller müsse mitunter „zu weit gehen, um zu sehen, wie weit er gehen kann“.

Die Frage des Abends brachte Düsseldorfs Schauspiel-Intendant Völker Canaris auf den Punkt: Öffentliche Politiker-Sprache richte sich oft gar nicht mehr an den Zuhörer, sie sei vielfach zur puren Selbstdarstellung verkommen und geeignet, Realität zu verschleiern. Blüm räumte ein, daß die Politik Schaden nehme, wenn sie sich zu sehr von Alltags- und Literatursprache abkapsele. Aber: In den bestenfalls 90 Sekunden langen Fernseh-Statements könne ein Politiker auch nur schematisch reden. Komplizierte Entscheidungswege seien da kaum darstellbar, man müsse sich auf Resultate beschränken. Canaris: „Aber ihr Politiker erweckt doch den Eindruck, als könntet ihr in 90 Sekunden alles erklären“. Statt zur Schau getragener Selbstgewißheit wünsche er, Canaris, daß Politiker öfter mal Hilflosigkeit oder Angst eingestünden. Außerdem fehle die Dimension der Utopie, fehlten Visionen in der politischen Rede. Hier habe die Literatur eine wichtige Funktion.

Doch auch die Literatur, wortkarg vertreten durch Gabriele Wohmann („Ich weiß zu wenig über das Thema“), blieb nicht ungeschoren. Kritiker Reich-Ranicki: „Es ist schon viel politischer Unsinn aus Autoren-Federn geflossen“. Amt der Literatur sei es ja auch eher, „besser zu formulieren“. Blüm pflichtete bei: Er könne keine „höhere Autorität“ der Schriftsteller auf politischem Felde anerkennen.

Zu einem kleinen Eklat kam es, als Reich-Ranicki die „Unverantwortlichkeit“ von Literatar ausgerechnet am Beispiel Kurt Tucholskys verdeutlichen wollte: Tucholsky habe zu jenen gehört, die das Ende der Weimarer Republik herbeigeschrieben hätten. Volker Canaris: „Die Republik ist doch wohl von ganz anderen zerstört worden“. In einem war man sich dann wieder einig: Politiker müssen keine Literatur-Experten sein. Reich-Ranicki: „Bei meinem Arzt ist es mir ja auch lieber, wenn er Fachzeitschriften liest, als Rilke“.




Dem Ruf der Dinge folgen – Kölner Ausstellung über Joan Miró als Bildhauer

Von Bernd Berke

Köln. Am Rhein huldigt man dem berühmten Spanier gleich zweifach. Während in Düsseldorf noch bis zum 20. April ein Überblick zum malerischen Oeuvre von Joan Miró zu sehen ist (WR berichtete), zeigt das Kölner Museum Ludwig von heute bis zum 8. Juni die dreidimensionalen Arbeiten des Katalanen.

Den hohen Bekanntheitsgrad seiner Bilder voraussetzend, konnte man in der Landeshauptstadt alte Vorurteile „ankratzen“, denen zufolge Miró ein „ewiges Kind“ geblieben sei. So einfach ist es in der Domstadt nicht: Die Skulpturen und Objekte Mirós, in solcher Fülle erstmals außerhalb Spaniens ausgestellt, müssen überhaupt erst einmal als eigenständiger Teil des Werks zur Kenntnis genommen werden.

Die Schau gibt sich bewußt ahistorisch, die rund 100 Objekte aus den Jahren 1931 bis 1975 und die zahlreichen Vorzeichnungen (Katalog 32 DM) sind nicht chronologisch, sondern eher nach assoziativen Mustern geordnet. So bilden etwa jene Arbeiten, bei denen die Textur, also die sinnlich ertastbare Beschaffenheit der Oberfläche, den Hauptakzent setzt, eine eigene Untergruppe. Hier finden sich Arbeiten, die an urtümliche Gesteinsformationen erinnern, andere gleichen totemistischen Kultgegenständen archaischer Religionen. Auch die farbigen Skulpturen, dem malerischen Werk näher verwandt, wurden einander zugeordnet.

Schwerpunkt sind die „Objets trouvés“, also die vorgefundenen Zivilisations- und Natur-„Abfälle“ (meist mediterranes Strandgut). Vom Knochenfund bis zur ausgedienten Telefonklingel und zum Wasserhahn reichen die Dinge, die Miró um sich versammelte. Der schöpferische „Gärprozeß“, aus denen die Gegenstände künstlerisch geformt hervortraten, dauerte oft viele Monate. Miró wartete gleichsam, bis die Dinge ihn „riefen“, bis sie poetischen Zauber und Magie entfalteten, ja bis sie zu „Personen“ wurden, die Miró dann „nur noch“ ausformen mußte. Der Ursprung der montierten Gegenstände wird dabei nie kaschiert, er bleibt weiterhin „lesbar“ – ein Umstand, der selbst die größten Objekte noch im faßbaren, menschlichen Maß beläßt. Erdrückende Monumentalität findet man nirgendwo.

Nach surrealistischem Prinzip, aber nicht symbolschwer, montiert Miró die vorgefundenen Bruchstücke der Wirklichkeit, mit heiterer Leichtigkeit oder milder Ironie, hinter der Ängste nur sanft und geläutert durchschimmern. Den Assoziationen des Betrachters sind kaum Grenzen gesetzt. So mag sich ein Kleiderhaken im Figurzusammenhang zur Nase verwandeln, diese wiederum zum Zeichen des Geschlechts. Ein Kleiderständer mit hölzern-phallischer Ausprägung, versehen mit einem Regenschirm, stellt einen abstrusen „Kavalier“ nach Surrealisten-Art vor.

Auch in der oft verwendeten Eiform (Frauenskulpturen) mag man ein Symbol sehen, etwa für Mütterlichkeit und Fruchtbarkeit, in der Muschel wiederum die Anspielung aufs primäre weibliche Geschlechtsmerkmal. Doch die Symbolsprache ist nie erstarrt und eindeutig festgelegt, sondern bewegt sich frei wie im Vogelflug. Zudem lassen bewußte Nachlässigkeiten in der Gestaltung nie den Eindruck des Fertigen oder gar Weihevollen aufkommen.




Joan Miró: Träume und Alpträume

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Joan Miró? Dessen Werk kennt „man“ doch nun wirklich zur Genüge; seine federleichte Symbolsprache ist schließlich in unzähligen Drucken verbreitet. Miró, das ist doch – wie war das noch gleich? – ach ja: das spielerisch-spontane „Kind“ unter den Meistern der Klassischen Moderne, ein froher Traum-Poet, der Nachdenklichkeit abhold…

Derlei Vorurteile könnte man munter weiter pflegen, würde nicht jetzt eine Ausstellung in der Düsseldorfer Kunsthalle (in Zusammenarbeit mit dem Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen sowie dem Kunsthaus Zürich) eine Fülle von Gegenbeweisen oder zumindest Infragestellungen liefern.

Die größte deutsche Retrospektive des Werk von Miró (1893-1983) seit 1969 zeigt mit ihren 180 Gemälden, Zeichnungen und Objekten vor allem zweierlei: Miró hat keineswegs nur spontan gearbeitet, sondern sich ganz bewußt Klärungsprozessen gestellt, indem er Ideen Vielfach vorskizzierte. Und: Nicht alle Figurationen sind als reine Symbole oder Metaphern zu werten. In den 30er Jahren nämlich bricht das Leiden an den Zeitläuften, insbesondere am Spanischen Bürgerkrieg, auch in Mirós Bildwelt ein – in Gestalt „monströser“, gepeinigter Figuren. Keine pure Bildwelt, sondern alptraumhaftes Entsetzen mit Zeitbezug.

Die Ausstellung schlüsselt mit wichtigen Werken aus allen Schaffensperioden (1915 bis 1977), allerdings mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem Frühwerk, Mirós vielfältige Entwicklung auf. Seitenblicke auf andere Größen der Kunstgeschichte ergeben sich, deutliche Anklänge an Marcel Duchamp eingeschlossen. Mirós früheste Arbeiten lassen Einflüsse des Fauvismus und Kubismus, von Matisse, Braque und Gris erkennen. Es folgt eine Phase „Neuer Sachlichkeit“. Das gegenständliche Inventar erscheint in schärfsten Umrissen, denen eine immense Schärfung der Alltagswahrnehmung entspricht.

Aufschlußreich für den Übergang in die spezifische Symbolik Mirós ist „Der Bauernhof“ (1921/22). Der Kanon der Motive, die später – wenn auch abstrahiert oder in surrealen Verbindungsmustern – wiederkehren, ist hier bereits ausgebildet. Die Anverwandlung unterschiedlichster Einflüsse reicht bis in die 60er Jahre, als Miró mit „InformeI“-Strukturen experimentierte.

Die Fügungen in der Bildfläche erfolgen nie additiv, sondern nach quasi-musikalischen, rhythmischen Mustern. Auch in abstrakten Perioden entfernte sich Miró nie gänzlich vom Menschenbild. Solche Rückbindungen, wie auch jene an Mythos und Regionalismus (Verwurzelung in Katalanien), rücken das Werk in die Nähe aktueller Diskussionen.

Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz 4 (Bis 20. April. Di-Fr 10 bis 18, Sa/So 10-20 Uhr, montags geschlossen).




Naum Gabo – die „Wiedergeburt“ eines Pioniers

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Naum Gabo gehörte zu den Kunst-Pionieren dieses Jahrhunderts. Nicht mehr die Gestaltung von faßbaren Masse- und Volumen-Verhältnissen bestimmte seine Skulpturen, sondern weniger stoffliche Qualitäten wie die Gliederung von Licht, (leerem) Raum und Zeit.

Der gebürtige Russe, 1977 in den USA gestorben, wurde damit u. a. einer der Vorläufer der kinetischen (Bewegungs)-Kunst. Doch seine Arbeiten hat er nicht wie Meisterwerke gehütet, sondern er hat sie, öfter die Länder als die Schuhe wechselnd, demontiert und die Teile reisefertig in Kisten verpackt. Vom Urzustand kündeten seither nur Fotos. Jetzt sind – erstmals seit sechs Jahrzehnten – einige seiner frühen Skulpturen in authentischer Geslalt zu sehen.

Die zerlegten Werke waren nach Gabos Tod auf einem Dachboden gefunden worden. Des Künstlers langjähriger Assistent, Charles Wilson, setzte sie – beinahe, als seien es altgriechische Vasen – in mühevoller Kleinarbeit wieder zusammen. Im Kontext zahlreicher anderer Gabo-Arbeiten (auch Modelle und Vorzeichnungen) sind die derart „wiedergeborenen“ Werke nun bis zum 4. Januar in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW (di-so., 10-18 Uhr, Katalog 38 DM) ausgestellt.

Die Ausstellung (bisherige Stationen: Dallas, Toronto, New York, Berlin) kommt als Denkanstoß wohl gerade recht, macht sich doch angesichts oft wahllos historisierender Stil-Rückgriffe der sogenannten „Postmoderne“ derzeit einige Ratlosigkeit breit. Gabo hingegen hat, was anhand seiner Tätigkeit während der Aufbruchstimmung der Russischen Oktoberrevolution auch präzisiert werden kann, noch am großen Projekt der Moderne mitgewirkt. Davon zeugen besonders die konstruktivistischen und quasi-architektonischen Exponate, die in ihrer strengen Schönheit das allermeiste von dem weit hinter sich lassen, was heute an Unverbindlichkeiten unter dem Etikett „Modellbauer-Kunst“ auf den Markt geschoben wird.

Vibrierende Licht- und Raumwirkungen erzielte Gabo u. a. durch ausgeklügelte Draht- und Nylonverspannungen. Einem heute versiegten Fortschrittsoptimismus entsprechend, herrschen technoide Formen vor, die jedoch nie ganz der Funktion verschrieben sind und nie widernatürlich oder seelenlos wirken, sondern noch einmal die Faszination solcher Gebilde nacherleben lassen und vielleicht gar die Utopie einer Technik, die „menschenfreundlich“ ist.

Die konstruktiv verschachtelten Köpfe und Torsi aus Pappe haben in ihrer abstrakten Körperlichkeit sogar einen religiösen Aspekt, sie erinnern oft an Madonnenfiguren. Eine Arbeit ist speziell für die Raumecke gedacht – Klassische Moderne fiir den „Herrgottswinkel“.




Zwischen der verordneten und der innigen Trauer – Arbeiten von Joseph Enseling im Stadtmuseum Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Eine Brunnenfigur in der Essener Muster-Gartenstadt „Margarethenhöhe“ stammt von ihm, ein Ehrenmal für die Gefallenen des 1. Weltkrieges in Unna gleichfalls. Die Ruhrkohle AG besitzt mehrere seiner Skulpturen, und auch auf verschiedenen Revier-Zechen und Friedhöfen stehen oder standen solche Statuen.

Wer ist der „große Unbekannte“? Der Bildhauer Joseph Enseling (1886-1957), gebürtiger Coesfelder, der jedoch vor allem im Revier Spuren hinterließ. Aus Anlaß seines 100. Geburtstags zeigt Düsseldorfs Stadtmuseum (Bäckerstraße 7-9) die allererste Enseling-Einzelausstellung (bis 5. Oktober). Der Katalog (20 DM) enthält auch ein erstes Werkverzeichnis, das 150 Arbeiten umfaßt.

Enseling war wichtigen Kunstgruppierungen des beginnenden 20. Jahrhunderts verbunden, gehörte zum Umkreis des „Jungen Rheinland“, lehrte an der Kunstgewerbeschule Essen (spätere Folkwangschule). Wie viele andere Künstler, die damals entscheidende Impulse erhielten, legte auch der gelernte Schreiner Enseling vor allem Wert auf handwerkliche Grundlagen.

Übrigens: Selbst u. a. bei Aristide Maillol „in die Schule gegangen“, war Enseling ab 1946 Lehrer an Düsseldorfs Kunstakademie. Auch ein gewisser Joseph Beuys lauschte dort seinen Vorträgen…

Von 1916-18, also noch mitten im Ersten Weltkrieg, war Enseling in Münster Gestaltungsberater in Sachen Ehrenmäler und verlegte sich selbst auf dieses Genre. Hinzu kamen Monumente der Arbeit im Ruhrgebiet, wie jener riesige „Eisenhüttenmann“ (1939), der heute in der Mannesmann-Zentrale in Düsseldorf steht und sich fürs Museum als zu schwergewichtig erwies.

Bei den rund 50 Exponaten in Düsseldorf fallt durchgehend die solide Gestaltung auf. Weniges, darunter eine Hindenburg-Porträtbüste, weckt ungute Assoziationen. Die Arbeiterdarstellungen vermitteln oft eine seltsame Spannung zwischen Heroismus und „klassischer“ Schlichtheit. Am gegenwärtigsten wirken jene Skulpturen, die nicht eine öffentlich ausgestellte oder verordnete Denkmals-Trauer, sondern innigere Formen des Gedenkens verkörpern. Beispiel: die „Trauernde Frau“, ein Essener Privatgrabmal.




Halluzinationen des Alltags – die Bildwelt von Karl Horst Hödicke

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Der Alltag steckt voller Mythen, Märchen und Magie. Und: Gerade in den unscheinbarsten Banalitäten kündigen sich die schlimmsten Katastrophen an. Oder ist es doch umgekehrt? Erweist sich als harmlos, was katastrophal schien?

Nichts ist ohne Hinter-, Neben- und Doppelsinn in der irritierenden Bildwelt Karl Horst Hödickes. Jetzt bietet sich in Düsseldorf die Gelegenheit zu entsprechenden Rätselfragen. Die Kunstsammlung NRW zeigt mit 45 Gemälden, Skulpturen und Objekten (bis zum 21. September, Katalog 30 DM) eine Retrospektive des 48jährigen, der in den letzten Jahren zumeist als „Vater der Neuen Wilden“ gehandelt wurde – eine unzulässige Verkürzung, wie sich nun zeigt.

Hödicke widmete sich schon in den 60er Jahren der Figürlichkeit, als die meisten sich abmühten, hochfliegende Kunst-Theorien vom Ende des Tafelbilds zu „reflektieren“. Schüler des Tachisten Fred Thieler, bezog Hödicke von Beginn an die Trieb- und Fliehkräfte spontaner Malgestik mit ein. Vielfach ergab dies verblüffende Überblendungen des abstrakten und des gegenständlichen Expressionismus.

Hödicke verarbeitete vielerlei Einflüsse. Ein frühes Werk wie das dynamische Menschen- und Gestengeflecht „Am großen Fenster“ (1963) bezieht deutliche Anregungen von Max Beckmann. 1965 experimentierte er – Titel: „New York City?“ – mit Rastern à la Piet Mondrian, die er freilich ebenso eigensinnig variierte wie Picassos „Laufende Frauen am Strand“, denen er seine furiose „Vertreibung“ gegenüberstellt. Picassos schwellendes Formgefüge löst sich da vollends auf zu einem grellen, taumelnden Ausbruch. Auch Farbrinnsale, die beim Malprozeß entstanden, übertünchte Hödicke nicht.

Mit seinen Vexierbildern verspiegelter Großstadt-„Passagen“ griff Hödicke früh die Thematik der bedrohlich anonymen Metropolen auf, der er sich in den letzten Jahren wieder verstärkt zuwandte. Auf großformatigen Alltags-Halluzinationen scheinen Ur-Rituale, magische Praktiken und gefährliehe Tiere die Stadt zu erobern. Eine Frau bekommt ihre Geburtswehen mitten auf der Straße, bedroht von einem zähnebleckenden Krokodil und einem Auto, das gleichfalls wie eine Bestie wirkt.

Unter der dünnen Decke der Zivilisation brechen Dschungel und Wüste durch. Da starren offenbar hirnlose Monstren über die Berliner Mauer gen Osten (dicht vor der Mauer hat Hödicke sein Atelier – in einer Stadtödnis, die er „Wüste Gobi“ nennt). Auch die „Hausbesetzer“ (1983) werden zu sprungbereiten Bestien. Nicht denunzierend, sondern mythisch-märchenhaft auch dies: Die Gestalten sind nach dem Schema der „Bremer Stadtmusikanten“ aufgetürmt – ein für Hödicke typisches, ironisch-witziges Sinn-Spiel.

Harmlosigkeit und unterschwellige Bedrohung vermischen sich auch auf dem Bild „Telefonzelle“ (1982). Da könnte ebenso gut ein Mord verabredet wie ein Plausch gehalten werden. Und „Im Blaulicht“ (1983) fegt eine Gestalt durchs Bild, die Feuerwehrmann oder Todesbote sein könnte. Wie bei Standbildern eines Films, kann der Betrachter endlos Vorgeschichten und Fortsetzungen weiterspinnen.




Picasso – der zweite Schöpfungsakt

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Bei manchem Meister der Moderne muß man längst Ausstellungen zu ganz speziellen Werk-Aspekten zusammenstellen, um noch Aufsehen zu erregen. Bei Pablo Picasso (1881-1973) ist die Kunstwelt hingegen immer noch dabei, das immense, ja schier unerschöpfliche Werk überhaupt erst einmal in seiner Breite und Fülle zu sichten.

Vor zwei Jahren war Picassos plastisches Werk das Ausstellungsereignis in der Düsseldorfer Kunsthalle. Jetzt, wiederum zusammengestellt von Kunstprofessor Werner Spies und wiederum eine Art „Offenbarung“, sind über 200 „Arbeiten auf Papier“ in der Kunstsammlung NRW zu bewundern.

Die unglaubliche Anzahl von etwa 26 000 Picasso-Zeichnungen, Gouachen, Pastellen, Aquarellen und Collagen auf Papier verzeichnen die in internationalen Inventare. Höchst gewagt wäre es also die Behauptung, hier seien, nun wirklich die allerbesten Stücke versammelt. Fest steht, daß Werner Spies Leihgeber in aller Welt bewegen konnte, wirkliche Spitzenstücke schweren Herzens auf die Reise nach Tübingen (190.000 Besucher!) und jetzt – 20 Bilder wurden ausgetauscht – nach Düsseldorf gehen zu lassen. Die Besorgnis ist verständlich: Zeichnungen von Picasso werden auf Werte um 600 000 bis 1 Mio. DM „pro Blatt geschätzt“. Spies konnte nach und nach die Bedenken ausräumen. Das „Musée Picasso“ (Paris) und das „Museum of Modern Art“ (New York) gehören ebenso zu den Leihgebern wie das „Museu Picasso“ in Barcelona. Aus Konservierungsgründen hängen die kostbaren Stücke selbstverständlich unter Glas – den Spiegeleffekt muß man in Kaufnehmen.

Die chronologisch gehängte Ausstellung reicht von ersten Akademiestudien (1894) über Picassos sogenannte „blaue“ und „rosa“ Periode, es folgen die Pionierzeit des Kubismus,, die Rückkehr zu neoklassizistischen Formen, das bisher selten gewürdigte zeichnerische Spätwerk. Ein ganzer Formen-Kosmos entfaltet sich da, ein souveränes Verfügen über zahllose Traditionen und Formen, das immer erkennbar Picassos „Handschrift“‚ trägt, sich aber auf gar keinen Stil festlegen läßt.

Die Papier-Arbeiten können bei Picasso nicht als Nebenwerke gelten, eher ist das Gegenteil der Fall: Da er seine Arbeiten immer in einer durch schöpferische Ungeduld bestimmten Zeitspanne abschloß, hat er die Zeichnungen oft detaillierter ausgeführt als Gemälde.

Ob Picasso durch Verzerrung von Körpern oder durch Farbgebung psychologisiert („Der Verrückte“, „Die Frau mit dem Raben“ – 1904); ob er einfach Freude an Licht und Bewegung ausdrückt („Gauklerfamilie“, 1905); ob er die Figuren kubistisch zerlegt („Stehender weiblicher Akt“, 1909/10) oder schwellend-klassizistische Formen typisierend gestaltet („Sitzende Frau“, 1921) – das Ergebnis wirkt stets „gültig“, fast wie ein – Urtraum des Künstlers – zweiter Schöpfungsakt.

Im zeichnerischen Werk finden sich, in einem „ewigen Experiment“ beinahe unendlich variiert, alle Techniken und Themen Picassos dicht beieinander. Nur, daß der Künstler hier fabulierfreudiger war als im Malerischen. Daraus ergeben sich, insbesondere im Spätwerk, Notate zu Picassos psychischer Befindlichkeit, manchmal gar Seelendramen. Vor allem Atelier-Situationen werden im Spätwerk wieder aufgegriffen: hier das sinnliche Modell, dort der Künstler, offenbar einer ganz anderen Welt angehörend, ganz Aufnehmender, ganz Auge. Oder sogar ein mickriger Voyeur.

14. Juni bis 27. Juli. Wegen des erwarteten Andrangs geänderte Öffnungszeiten: Täglich 10-20 Uhr, montags geschlossen. Katalog (Hatje-Verlag), 39 DM, Plakat 12 DM.




Nuancen des Rot – Retrospektive über Rupprecht Geiger

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Solche, die sich wie Rupprecht Geiger über weite Phasen des künstlerischen Schaffens auf Nuancen einer einzigen Farbe konzentriert haben, dürfte es selten geben.

Nachdem Geiger lange Jahre mit der quasi-musikalischen „Kontrapunktik“, dem Spektrum zwischen Widerstreit und Gleichklang mehrerer Farben experimentiert hatte, widmete er sich immer ausschließlicher dem Rot, dessen Dimensionen er rundum ausgeschritten und das er konsequent bis zum Farb-Raum vorangetrieben hat.

In der Düsseldorfer Kunsthalle, wo jetzt die bislang größte Retrospektive auf das Lebenswerk des heute 77jährigen zu sehen ist (bis 21. Juli), ist ein solcher Farb-Raum ganz real vorhanden: ein voluminöses, blutrotes Zelt („Rote Trombe“, 1985).  Auf daß man ganz und gar in der Farbe „baden“ kann, empfiehlt sich die Benutzung einer bereitliegenden Decke. Für den, der sich unter und in das Farbzelt legt, existiert nur noch reine, abstrakte Farbe.

Geiger begann in den 40er Jahren als Kriegsmaler in Rußland und Griechenland. Schon für diese frühen Jahre bringt die Ausstellung Belegstücke bei. Der gelernte Architekt, in dieser Zeit Autodidakt der Malerei, schuf damals Landschaftsstudien, in denen sich die spätere Autonomie der Farbe schon ankündigt.

Im Lauf von Geigers Auseinandersetzung mit surrealistischen Strömungen gegen Ende der 40er Jahre verschmelzen solche Farbwerte noch nahtloser mit der Vorstellung eines seelischen Innenraums. In Trümmerdeutschland, 1949, war Geiger Mitglied der Münchener „ZEN“-Gruppe, der auch Willi Baumeister und Fritz Winter angehören. Bereits in diesen Jahren, und damit wohl als einer der ersten Künstler überhaupt, arbeitete er mit „shaped canvases“, mit Bildträgern also, die vom Rechteck- oder Quadratformat unregelmäßig abwichen. Im Kontext der Düsseldorfer Ausstellung wird greifbar deutlich, daß sich auf diesen zurechtgeschnittenen Leinwänden gleichsam Ausbruchsversuche, ja Befreiungen der Farbe ereignen. Die Abkehr vom konventionellen Bildzuschnitt bedeutete zugleich eine weitere Verselbständigung des Grundelements „Farbe“.

Als Geiger später zu rechteckigen Formaten zurückkehrt, scheint die Farbe gleichsam „gereinigt“ von allen Äußerlichkeiten und Zufälligkeiten. Nun werden die (meist titellosen) Bilder zu meditativen „Reiseführern“ ins Absolute, die mit Leuchteffekten den Blick bannen.

 

 




Düsseldorf: Kunstmuseum weicht in den Kunstpalast aus – Einblicke in den Keller

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Diese Ausstellung hat manche Züge einer Verzweiflungstat. Das gerade im letzten Monat wiedereröffnete Kunstmuseum Düsseldorf zeigt mit „Zeitgenössische Kunst – Eine Perspektive“ (bis l. September) Teile dessen, was sich sonst im Keller verbirgt.

Das Institut platzt nämlich aus allen Nähten. Es wich mit dieser Schau demonstrativ in den gegenüberliegenden Kunstpalast aus, um vorzuführen, was es an aktueller Kunst in den letzten Jahren angeschafft hat und was seither im Depot der Offentlichkeit entzogen bleiben muß.

Dem gerafften Überblick haften – vom Blickpunkt rascher Kunstmodewechsel aus betrachtet – naturgemäß Zeichen der Verspätung an. Man sieht, was in den letzten fünf bis sechs Jahren am Kunstmarkt „gängig“ gewesen ist. Ein Resümee, kein Ausblick.

Zahlreiche Genres und Unterabteilungen der Jetztkunst sind vertreten. Keine bestimmte Richtung wird da favorisiert. Das weckt Neugier auf die Gesamtheit der Neuankäufe, für deren angemessene Präsentation sich Kunstmuseums-Direktor Hans-Albert Peters „mindestens 3000 Quadratmeter zusätzlicher Fläche erhofft.

Welches Konzept der Einkaufspolitik zugrunde lag, wird allerdings an Hand dieser Auswahl noch nicht so recht deutlich. Ein gewisser Kernbestand immerhin scheint sich aus neueren Arheiten der Düsseldorfer und Kölner „Szene“ zu rekrutieren. Sparzwänge vor allem waren der Grund dafür, daß man sich in der unmittelbaren Nähe umsah. Des weiteren werden etwa monochrome Malerei, minimalistische Bodenplastiken und Rauminstallationen ebenso vorgeführt wie vereinzelte Streifzüge durch die sich heftig gebärdende Gegenständlichkeit der frühen 80er Jahre.

Die meisten Namen haben am Markt mittlerweile einen guten Klang: von Ulrike Rosenbach ist das auf der Pariser Biennale vielbeachtete „Glauben Sie nicht, daß ich eine Amazone bin“ zu sehen, jene mittelalterliche Madonna, deren Bildnis auf eine Zielscheibe montiert ist, in der Dutzende von Pfeilen stecken.

Isolde Wawrin, Reinhard Mucha, Harald Klingelhöller – um nur einige zu nennen – sind ebenfalls feste Größen geworden. Der frühe Ankauf aktueller Kunst zu einem Zeitpunkt, als deren Urheber noch unbekannt waren, hat in einigen Fällen offenbar schon Früchte getragen.




Von Subkultur kaum eine Spur – Rocklegende Lou Reed in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. „Fuck You!“ – Einige aus der Menge riefen dem Star immer mal wieder solche Kraftworte zu. Ein ganz besonderer Anhänglichkeitsbeweis. Denn Lou Reed war da. Und der schleppt immer noch Ruf und Ruch eines Underground-Vorturners mit sich herum.

Jedoch: Von Subkultur keine Spur. So könnte das Fazit seines Konzerts in der Düsseldorfer Philipshalle lauten. Reed, ehemals Kopf der legendären „Velvet Underground“, macht wieder geradlinigen Rock. Er setzt weder auf Überkünstelung noch auf überdrehte Dissonanzen, sondrn auf motorische Hochenergie. Ohne Esoterik, ohne Allüren. Hochprofessionell und aufregend. Jammerschade, daß der Auftritt in der (halb gefüllten) Arena der einzige in Deutschland während dieser Tournbe bleibt.

Lou Reed war es, der in der Rockmusik ab Mitte der 60er Jahre die „Blumen des Bösen“ hat sprechen lassen. Mit seinen näselnd vorgetragenen Songs aus der Halb- und Unterwelt der Transvestiten und Drogenschießer hatte er damals ein folgenreiches Kapitel der Rockgeschichte aufgeschlagen. Geblieben sind die einschlägigen Texte, sie werden aber kaum noch mit endlosen Rückkopplungsorgien übertönt, sondern mit „Rock pur“ unterlegt. Chuck Berry, zum Beispiel, könnte Pate gestanden haben.

Man hat Lou Reed oft nachgesagt, er sei bei Live-Auftritten immens launisch. Mal liefere er lustlos sein Programm ab, mal reiße er noch die Unterkühltesten zu Ovationen hin. In Düsseldorf, das war bis unter die Haut zu spüren,legte er sich richtig ins Zeug. Und stieg sofort machtvoll ein – mit seinen Klassikern „Sweet Jane“ und „I’m Waiting for my Man“. Mancher andere hätte danach einen Absturz erlitten. Doch Reed und seine Band (2 Gitarren, Bass, Keyboards, also ganz im Trend) konnten auf ein großes Repertoire mit vielen gleichwertigen Stücken zurückgreifen. Titelauswahl: „New Sensation“, „Legendary Love“ „Sally Can’t Dance“. Absolute Höhepunkte: „Satellite of Love“ und, na klar, „Walk on the Wild Side“. Eineinhalb Stunden ohne Pause, danach drei Zugabe-Songs.

Und der Mann selbst? Er betrat die Bühne mit vergleichsweise gnädiger Verspätung (20 Minuten), gab sich bescheiden, verzichtete auf jeden lauen Show-Effekt. Seine Bewegungen erwachsen direkt aus der Musik, nicht aus Imponiergehabe. Kurz: er ist glaubhaft.




„Von hier aus“: Kunst-Stadt auf dem Düsseldorfer Messegelände soll Kölner erbleichen lassen

Von Bernd Berke

Auch Unschlüssige soll die 60 Meter lange Rampe zur Kunst fiihren. Wer oben anlangt und sich einen groben Überblick über 14.000 Quadratmeter voller neuer deutscher Kunst verschafft, kann noch entschieden, ob er/sie für 8 DM die Halle 13 des Messegeländes betritt. Der Eintrittspreis wird erst hinter der Rampe fällig.

„Von hier aus“ heißt das wohl größte bundesdeutsche Ausstellungsprojekt dieses Jahres (29. September bis 2. Dezember, Katalog 40 DM). Witzbolde haben den Titel achselzuckend parodiert: „Von m i r aus“… Der Originaltitel aber verweist nicht zuletzt auf die stete Rivalität zwischen den rheinischen Kunstmetropolen Köln und Düsseldorf. „Von hier aus“, so behaupten nun bis zum Beweis des Gegenteils die Düsseldorfer, gehen derzeit die magnetischen Kraftlinien der Kunstentwicklung aus.

Besonders der Beschluß des Bundesverbandes Deutscher Galerien, Köln zur alleinigen Kunstmessenmetropole zu erklären, hatte vor Jahresfrist Düsseldorfs Galeristen auf die Palme gebracht. Mit einem noch nicht zum Abschluß gebrachten Kraftakt hat vor allem die örtliche Finanzwelt 3 Mio. DM für die gigantische Schau aufgebracht.

Kasper König als Ausstellungsmacher gewonnen

Kasper König (40), seit der 1981er „Westkunst“ in Köln zur ersten Garde der freien Ausstellungsmacher gestoßen, wurde von den Sponsoren (Rang eins: Stadtsparkasse Düueldorf mit 1 Mio. DM) angeheuert. König schuf, wenn auch wohl nicht der Kunst-Weisheit höchsten Gipfel, so doch eine Ausstellung, deren purer Ereignisrang hoch veranschlagt werden muß.

Hermann Czech, Wiener Stararchitekt, verbaute etwa ein Drittel des Gesamtetats für eine regelrechte Kunststadt, in deren Winkeln, Gassen, Arkaden, Tempelchen, Rotunden und Hinterhöfen König die Kunst so großzügig inszenieren konnte, daß dem einzelnen Kunstwerk beinahe eine Art „Majestät“ zurückgewonnen wird. Nach über 200 Atelierbesuchen konnte König etwa 70 Künstlern zusagen. Joseph Beuys ist, da es die Weltläufigkeit der Düsseldorfer zu belegen gilt, natürlich dabei.

Man geht nicht einfach durch diese Ausstellung – man schlängelt sich durch überraschende Türen und Öffnungen, wandelt zwischendurch auf breiteren Pfaden, betritt treppauf majestätische Bauten oder intimere Gelasse – kurz: In der Kunststadt wird jeder Schritt zum Abenteuer.

100 Video-Bildschirme flimmern unterm Hallendach

Dominierende Erscheinungen sind eine glockenförmig vom Hallendach hängende Installation mit etwa 100 Video-Bildschirmen (flimmerndes Werk des renommierten Koreaners Nam June Paik) und ein Ziegelsteinturm des Dänen Per Kirkeby, der – ebenso wie Paik – kurzerhand der deutschen Szene zugeschlagen wurde. Hernach gerät man zum Beispiel in einen Raum, in dem Dieter Roth 42 Fimprojektoren mit verschiedenen Fümea losschnurren äßt – Bewußtmachung beispiellosen Medientenors. Von Manfred Stumpf gibt’a das zeichnerische Gesamtwerk, abrufbereit auf einem Momtor. Der Besucher tippt dazu einfach eine dreistellige Zahl ein.

Malerei steht dennoch im Mittelpunkt. Keine Überraschund: Die meistens Stars der neudeutschen Szene, zum nicht geringen Teil Beuys-Schüler, sind dabei, u. a. Anselm Kiefer mit seinen Bildem der verbrannten Erde, Biennale-Teilnehmer A.R. Penck mit an die Schriftzeichen vorzeitlicher Kulturen erinnernden Riesenfromaten, Jörg Inmendorffs monumentaIe Meditations-Comics zur deutschen Geschichte, und auch „Wilde“ wie Salome (Porno-Szenen im heftigen Gestus) oder Rainer Fetting.

Dies ist vielleicht eine der hervorragendsten Leistungen der Mammutschau: Daß sie den bislang überschätzten Strömungen keinen übermäßigen Platz einräumt und behutsam verschiedene Tendenzen sichtbar macht.




Einöden der Historie – Werkschau von Anselm Kiefer in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Jahrgang 1945, und schon eine nennenswerte Werk-Rückschau – Anselm Kiefer, Schüler des einstweilen noch berühmteren Joseph Beuys, ist schon ein Jemand in der Kunstwelt. 50 Gemälde, zumeist in den Kiefer-typischen Riesenformaten, dazu 100 Aquarelle, Gouachen und Buchobjekte zeigt jetzt die Düsseldorfer Kunsthalle (bis 5. Mai, Katalog 30 DM).

Kiefer bezieht seine Stoffe teilweise aus heiklen Bezirken: Germanische Mythen, deren Umformung durch Richard Wagner, „hehre“ Historie: Auf einem Bild namens „Wege der Weltweisheit“ werden führende Köpfe deutscher Geistesgeschichte zu einem mythischen Reigen rund um eine Feuerstelle arrangiert: Dichter und Denker, die (Kiefer zufolge) die „Hermannschlacht“ des Cheruskers immer wieder zum Zentrum nationaler Identifikation gemacht haben.

Gegen Kiefer ist wiederholt der Vorwurf erhoben worden, „faschistische Kunst“ zu produzieren. Auch mir fällt es schwer, unmittelbare und entschiedene Brechungen des skizzierten Themenkreises auszumachen. Vielleicht ist Kiefers Kunst tatsächlich faschistisch (miß)deutbar. Große Vorsicht ist aber geboten, wendet sich Kiefer doch z. B. auch frei nach Theodor Fontane dem „Märkischen Sand“ oder biblischen Motiven zu. Außerdem sollte zu denken geben, daß gerade israelische und französische Aussteller weniger Berührungsangst zeigen: Jerusalem und Paris sind weitere Stationen der Retrospektive.

Auf dem Bild „Vater, Sohn, Heiliger Geist“: drei Stühle, von lodernden Flammen besetzt. Auch auf zahlreichen anderen Bildern wiederkehrend: Feuer, leerer, erdfarbener Raum, zur Mitte zentriert, den Betrachter gleichsam dorthin „einsaugend“.

Weiteres Schlüsselwerk: „Malerei dcr verbrannten Erde“ – eine Palette schwebt in versengter Landschaft. Auch hier, wie so oft bei Kiefer, hingeworfene Schriftzüge. Sie schweben in menschenleeren Räumen oder verlassenem Gelände, durchziehen (u.a. mittels Ankokeln der Bildoberfläche) aufgerauhte, verwüstete Landschaftsformationen. Endzeitbilder einer Einöde, welche die Geschichte hinterlassen und aus der sich der Mensch verabschiedet hat?




Sechs NRW-Museen zeigen „Westdeutschen Impuls“ – Kunst und Design im Rhein- und Ruhrgebiet nach 1900

Von Bernd Berke

Im Westen. Vom „Museum der gescheiterten Hoffnungen“ war die Rede, und Johann Heinrich Müller, Direktor des Hagener Osthaus-Museums, sah bestätigt, daß „Kunst seit jeher in politischen Sackgassen endet.“ Eine Pressekonferenz mit Molltönen: Dabei lautet der Titel des gestern in Essen vorgestellten Ausstellungsprojekts von sechs NRW-Museen selbstbewußt: „Der westdeutsche Impuls.“

Die insgesamt 1,1 Mio. DM teure Gemeinschaftsaktion von Museen in Hagen, Wuppertal, Essen, Düsseldorf, Krefeld und Köln soll künstlerische Anregungen und deren Umsetzungen in Architektur, Industrie und Handwerk darstellen, die zwischen 1900 und 1914 im Land an Rhein und Ruhr besonders ausgesprägt waren. Nur wenige Relikte haben „überlebt“, von der Aufbruchstimmung ganz zu schweigen. Darauf bezogen sich die eingangs zitierten Aussagen.

Der Anstoß kam vom Essener Folkwang-Museum, das heute große Teile der Sammlungen von Karl Ernst Osthaus beherbergt. So rankte sich das ursprüngliche Konzept auch um den Hagener Bankierssohn Osthaus, der um 1900 (umgerechnet) 60 Mio. DM erbte und vor allem in die Kunst „steckte“. Leitidee: dem Leben im industriellen Raum durch Verschönerung der Alltagsgegenstände Weihe zu verleihen. Von Osthaus und „seinem Architekten Henri van de Velde gingen „Impulse“ zu einem „Gesamtkunstwerk“ aus, das sich sogar auf eine umfassende Regionalplanung für das Revier erstrecken sollte – eine Keimzelle für den 1920 gegründeten Ruhrsiedlungsverband und für Ideen, die später vom „Bauhaus“ weitergeführt wurden.

Das Essener Konzept erweiterte sich. Das Ergebnis ist kaum überschaubar. „Von der Teekanne bis zur Schwebebahn; von Picasso bis zur Keksdose“ – so könnte man pointieren. Die einzelnen Schwerpunkte:

  • Hagen (Osthaus-Museum und „Hohenhof): Dokumente zur Sammlertätigkeit von Karl Ernst Osthaus, der Hagen nach 1900 zu einem Stützpunkt der Avantgarde machte; Mobiliar, das sich Osthaus im Jugendstil entwerfen ließ.
  • Wuppertal (Von der Heydt-Museum): Dokumente zur Schwebebahn, dem zukunftsweisenden Verkehrsmittel jener Zeit; Ideen zu einer funktionellen „Architektur ohne Ornament“ und Beispiele für die damals in Elberfeld und Barmen geleistete Vermittlung vorausweisender Kunst (z. B. 1911 weltweit der erste Picasso-Ankauf für ein Museum).
  • Essen (Museum Folkwang): Dokumente zur Siedlung Margarethenhöhe, Paradebeispiel für „Gartenstadt“-Konzepte; Industriedesign, das seinerzeit deutschen Waren auf die Weltmärkte verhelfen sollte, wodurch Bestrebungen, dem Alltag etwas „Kunstschönes“ zu verleihen, oft mit imperialistischen Unterströmungen in Berührung kamen.
  • Düsseldorf (Kunstmuseum): Peter Behrens und seine Entwicklung vom Jugendstilkünstler zum Industrie-Designer; „Sonderbund“ -Ausstellungen 1909-1911.
  • Köln (Kunstverein): Dokumentation zum „Werkbund“ (Gründung von Künstlern und Industriellen).
  • Krefeld (Kaiser Wilhelm-Museum): Erstmals eine geschlossene Präsentation der 1923 aus Hagen erworbenen Teile der Osthaus-Sammlung.
  • Sämtliche Ausstellungen beginnen an diesem Wochenende und dauern – je nach Lokalität – bis Mitte oder Ende Mai bzw. Mitte Juni. Der Katalog (6 Bände) kostet komplett 125 DM, einzeln je 25 DM.



Kaii Higashiyama – Düsseldorf präsentiert Altmeister der japanischen Landschaftsmalerei

Von Bernd Berke

Düsseldorf. In seiner Heimat ist er eine Berühmtheit: Kaii Higashiyama, 1908 in Yokohama geborener Altmeister der japanischen Landschaftsmalerei, ist gar Träger des äußerst selten verliehenen Titels „Lebender Kulturschatz“. Von ihm stammt ein großes Wandgemälde im kaiserlichen Palast.

300 000 Besucher drängten sich auf seiner letzten großen Ausstellung in Tokyo. Zum Vergleich: Henri Matisse zog „nur“ 260 000 Japaner in seinen Bann. Seit dem vergangenen Wochenende ist – als Nachtrag zu den dortigen„Japan-Wochen“ – in der Düsseldorfer Kunsthalle eine Auswahl seiner Werke zu sehen.

Higashiyama arbeitet fast ausschließlich mit hierzulande kaum verwendeten Mineralfarben. Zerriebene Mineralien, durch besondere Verfahren „streichfähig“ gemacht, verleihen den Bildern eine ganz andere Oberflächen-Struktur als Ölfarben. Feinkörnig, zuweilen ganz leicht glitzernd, geben sie den Landschaftsmotiven etwas Magisch-Geheimnisvolles, Meditatives.

„Aussagen“ im herkömmlichen Sinne wird man diesen Naturbetrachtungen kaum abgewinnen können. Sie nähern sich der „reinen Anschauung“. Es sind menschenleere Landschaften, oft in sanftesten Schattierungen einer einzigen Farbe gestuft, Orte des stillen Nachdenkens und nicht Räume, in denen der Mensch sich ausbreitet.

„Weg“, 1950 auf Seide gemalt, zeigt eine ins Unendliche verlaufende Strecke zwischen hingehauchtem Grün. Ein „innerer Weg“, keiner, den man zu Fuß bewältigt. Farben und Lichtverhältnisse sind fahl, niemals kraftvoll oder gar plakativ. Zahlreiche Bilder zeigen Strukturen von Wurzeln oder Verzweigungen kahlen Geästs. Bleiche Monde spiegeln sich in vollständig ruhigen Wassern. Welch ein Kontrast zur Ausstellung „New York Now!“ (WR vom Samstag) in den oberen Stockwerken, mit ihren grellen und in jedem Wortsinn aufregenden Bildern.

Während Higashiyama trotz seiner Studien im Deutschland der frühen 30er Jahre deutlich in der japanischen Tradition steht, zeigen gleichzeitig ausgestellte Arbeiten von fünf jüngeren japanischen Künstlern die vorsichtige Annäherung an eine universelle „West-Kunst“.

Kaii Higashiyama, Fünf zeitgenössische Künstler aus Japan; Kunsthalle am Grabbeplatz, Düsseldorf: bis 28. August.




New Yorks Ruf wird aufpoliert – Neue Aufmerksamkeit für die Kunstmetropole

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Seit die gar nicht mehr so neuen europäischen „Wilden“, allen voran die Italiener Clemente und Cucchi, weltweit Furore machen, steht eine Stadt nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die bis weit in die Siebziger Jahre als d i e Metropole aktueller Kunstströmungen galt: New York.

Der Düsseldorfer Kunstverein führt daher jetzt in seiner Ausstellung „New York Now“ (New York jetzt!) die neuesten Stimmungen an der US-Ostküste vor, wie sie sich in der Malerei äußern. Und siehe da: Auch jenseits des „großen Teiches“ geht der Trend offenbar stracks in Richtung „Gegenständliches“.

Auch in New York hat sich, nimmt man diese Ausstellung zum Maßstab, eine meist expressive, grelle Malweise durchgesetzt, die oft auf ganz einfache Chiffren, wie sie in Zeichnungen von Kindern vorkommen, zurückgreift (besonders deutlich bei Richard Bosman und Jean Michel Basquiat).

Weitere Rückbesinnungen, nämlich auf zurückliegende Epochen der Bildenden Kunst, sind ebenfalls kaum zu übersehen. So malt Jonathan Borofsky ein skurriles Portrat von Frans Hals, und der heute zur New Yorker Kunstszene zählende, gebürtige Kölner Rainer Gross nicht minder ironische Werke, die auf Rubens anspielen. Daß der Umgang mit der Tradition nicht bierernst gemeint ist, zeigen schon die Titel. So nennt Gross eine seiner Rubens-Szenen mit drei beleibten Grazien „Schokolade, Erdbeer und Vanille“. Thomas Lanigan-Schmidt geht noch einen Schritt weiter: Mit bewußt überkitschten Arrangements aus golden und silbrig glitzernder Alufolie umkränzt er Imitationen russischer Ikonen, jener Heiligenbilder also, die als Abklatsch mittlerweile in jedem halbwegs gutsortierten Kaufhaus zu haben sind.

An US-„Pop“-Väter wie Warhol, Oldenburg und Rauschenberg wird kaum angeknüpft. Eher scheint sich eine amerikanisch-europäische Wechselwirkung anzudeuten. Nur wenige der Künstler, die in Düsseldorf präsentiert werden, sind einem breiteren deutschen Publikum schon ein Begriff. Manche waren zwar auf der letzten „documenta“ oder der Berliner „Zeitgeist“-Ausstellung vertreten (John Ahearn, Judy Pfaff mit ihren grellbunten Papierstreifen-Collagen, Julian Schnabel) die meisten aber entstammen den jungen Jahrgängen 1950 bis 1960 und haben teilweise gerade erst ihr Einzelausstellungs-Debüt in den USA gegeben („Futura 2000″, Rainer Gross).

Insgesamt sind von 25 Künstlern 70 Arbeiten zu sehen, die vornehmlich in den Jahren 1980 bis 1983 entstanden sind. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, daß diese Schau – soweit es das durch parallel laufende Expositionen begrenzte Raumangebot in der Kunsthalle zuläßt – einen, wenn auch nicht repräsentativen, so doch auch nicht völlig dem Zufall überlassenen Querschnitt durch die New Yorker „Szene“ bietet.

Dem Zufall zu verdanken ist hingegen die Chance eines interessanten Kulturvergleichs, der dadurch möglich wird, daß ebenfalls seit gestern eine Ausstellung mit Werken des japanischen Landschaftsmalers Kaii Higashiyama im selben Haus gezeigt wird. Wir werden auf diese Ausstellung (in Tokyo sahen sage und schreibe 300 000 Besucher die Bilder des Altmeisters) noch zurückkommen.

Düsseldorf, Kunsthalle am Grabbeplatz: „New York Now!“ (bis 4. September)




„Der Hang zum Gesamtkunstwerk“ – weit mehr als eine Besessenheit

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Ein ehrgeiziges Projekt macht Station in der Landeshauptstadt: „Der Hang zum Gesamtkunstwerk“, bisher lediglich in Zürich und dann nur noch in Wien zu sehen, dokumentiert ab heute in der Düsseldorfer Kunsthalle eine „Besessenheit“ europäischer Künstler in den letzten 150 Jahren: „Aufs Ganze“ zu gehen, alles zugleich ausdrücken zu wollen, universelle Utopien zu entwerfen, sämtliche Kunstformen (Dichtung, Musik, Malerei, Theater, Film, Architektur usw.) zu verschmelzen und damit in alle Bereiche des Gemeinwesens hineinzuwirken.

Der Ausstellungsmacher Harald Szeemann faßt den ohnehin kaum definierbaren Begriff des Gesamtkunstwerks (Urheber: Richard Wagner) weit: Goethes humanistisches Bildungsideal zeugt danach ebenso vom Hang zur Totale wie etwa die Anfänge des „Bauhauses“ (bevor es zur Stil-„Schule“ wurde), JosephBeuys‘ Arbeiten ebenso wie die eines Philipp Otto Runge, der das Einssein des Künstlers mit dem Universum ersehnte (Außerdem u.a.: Duchamp, d’Annunzio, C.D. Friedrich, Lissitzky, Schlemmer).

Merkwürdig genug: Der unübersehbare „Hang“ entstand, als die Künstler aus dem Mäzenatentum der Kirchen und des Hochadels „entlassen“ und ihrer Individualität überantwortet wurden. Seit dem Verlust eines einheitlichen Weltbilds also ist die Vorstellung von Gesamtkunst lebendig, sie wird somit zu einem Rettungsversuch.

„Einladung zur Meditation über die totale Freiheit“

Harry Szeemann, der dem Besucher „eine Einladung zur Meditation über die totale Freiheit“ anbieten möchte, trug eine Fülle von Beispielen für Kunst mit Totalanspruch zusammen: Zu Richard Wagner (der der Verwirklichung eines Gesamtkunstwerks immerhin nahekam), finden sich monumentale Entwürfe für Bühnenbilder und für das Bayreuther Festspielhaus. Wahlverwandt: Filmregisseur Syberberg, z. B. mit Modellen zu seinem „Hitler“-Film.

Von Robert Wilson, Großmeister des sprachlosen Theaters, sieht man Skizzen für eine Multimedia-Oper, die er in Los Angeles (Olympia ’84) ins Werk setzen will. Der Anthroposoph Rudolf Steiner ist u. a. mit Architektur-Entwürfen vertreten, Joseph Beuys mit 21 angebohrten Basaltblöcken (Titel: „Das Ende des 20. Jahrhunderts“). Walter Gropius entwarf für Erwin Piscator ein „Total-Theater“, Wladimir Tatlin für die junge Sowjetmacht einen schneckenförmig gedrehten Turm als „Monument für die III. Internationale“. Beide Projekte verblieben im Stadium der „Kopfgeburt“, wie vieles in dieser Ausstellung. Um die Entwürfe dennoch dreidimensional vor Augen zu führen, hat man eigens Modelle nach den Vorlagen gefertigt. Manches ist bereits in der Verkleinerung so monströs, erhebt einen so gebieterisch-totalitären Anspruch, daß man für die Nicht-Verwirklichung dankbar sein muß.

Anderes, so der rekonstruierte „Merzbau mit der Kathedrale erotischen Elends“ (das Original wurde 1943 im Bombenhagel zerstört), wirkt eher andächtig als aggressiv. Die Ausstellung verlangt Vorkenntnisse und ist ohne Zusatzinformationen kaum sinnvoll zu bewältigen. Da sie einen wesentlichen Aspekt der europäischen Moderne vergegenwätigt, lohnt sich der Weg an den Rhein aber unbedingt.

„Der Hang zum Gesamtkunstwerk“. Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz: bis 10. Jli, di-so 10-18 Uhr, Katalog 45 DM




Jetzt die Hauptmahlzeit! – Umfangreiche Matisse-Ausstellung in Düsseldorf

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Autofahrer können es kaum übersehen. Als hieße so ein neuer Düsseldorfer Stadtteil, geleiten Schilder mit der Aufschrift „Matisse“ den Ortsunkundigen zur Kunsthalle am Grabbeplatz. Dem logistischen Aufwand entspricht ein nahezu sensationelles Ereignis: Noch nie war in einem deutschen Kunsttempel das Schaffen von Henri Matisse derart umfassend dokumentiert wie jetzt am Rhein.

Genau 97 Exponate sind zu sehen, Leihgaben aus aller Welt. Die Ausstellung, die 1982 in Zürich Furore machte, dürfte derzeit eine der wichtigsten überhaupt sein. Stolz verglich denn auch Kunsthallen-Direktor Jürgen Harten die Schau mit der „kleinen“ Bielefelder Matisse-Ausstellung 1981, die lediglich ein „hors d’oeuvre“ (Vorspeise) gewesen sei, während man nun in Düsseldorf die „Hauptmahlzeit“ serviere.

Nahezu alle avantgardistischen Stilrichtungen bezogen oder beriefen sich in irgendeiner Form auf Henri Matisse (1869-1954), Picasso ebenso wie die wichtigsten Vertreter der US-amerikanischen Popart. Neuerdings richtet sich wieder ein verstärktes Interesse auf die Werke des Nordfranzosen, der nun auch als früher Vorläufer einiger Tendenzen in der Ausdrucks-Malerei der „Neuen Wilden“ gehandelt wird.

Die Düsseldorfer Ausstellung ist zwar gegenüber jener in Zürich (dort wurden 119 Werke gezeigt) geschrumpft, doch hat der Zürcher Museumsdirektor Felix Baumann, der auch die Hauptarbeit bei der Zusammenstellung für Düsseldorf leistete, zum Ausgleich einige rare Werke aufgetrieben, die in der Schweiz nicht zu sehen waren. Besonders stolz ist man darauf, das „Portrait d’Auguste Pellerin“ erstmals in der Bundesrepublik der Öffentlichkeit zugänglich machen zu können. Bislang kannten allenfalls Spezialisten dieses Bild.

Ein Novum ist auch, daß die Erben von Henri Matisse Bilder für eine Ausstellung in Deutschland zur Verfügung stellten. Es ist nur zu verständlich, daß dies bisher nicht der Fall war, denn Angehörige der Familie Matisse wurden als Mitglieder der Résistance (Widerstandsbewegung) von Deutschen verhaftet. Wie Jürgen Harten, Direktor der Kunsthalle, ausführte, sei es gelungen, in Düsseldorf eine glückliche Mischung aus verschiedenen Präsentationsformen zu finden: „Die Skala reicht von Monumentalität bis zur Intimität.“ Großflächige Matisse-Werke, so etwa „La danse“ („Der Tanz“) gewinnen im weiten, offenen Raum an Wirkung. Andere Bilder wiederum, die sich dafür eignen, wurden in kleinen „Inseln“ aufgehängt.

Die Ausstellung ist ein Erlebnis, und zwar allein schon deshalb, weil man hier ohne aufwendige Auslandsreise erstmals die Entwicklung von Henri Matisse an Originalbeispielen nachvollziehen kann. Gerade sein meisterhafter Umgang mit flächigen Farbwerten nämlich kommt selbst in teuren Reproduktionen nicht annähernd zum Ausdruck.

Außerdem liegt in Düsseldorf ein Schwerpunkt auf dem bisher wenig beachteten Spätwerk aus den 1940er Jahren. Aber auch aus der frühen, impressionistischen Phase sind genügend Werke (darunter „Le jardin du Luxembourg“ von 1901/02 und „Notre-Dame“ von 1905) vertreten, so daß man sich auch hier einen Überblick verschaffen kann. Wenn man genügend Zeit mitbringt, bleibt es nicht beim Überblick. Einige Werke – mir ging es so zum Beispiel mit „Interieur mit Harmonium“ – nehmen einen länger gefangen als nur für einen flüchtigen Augenblick.

Henri Matisse. Städtische Kunsthalle Düsseldorf, Grabbeplatz. 29. Januar bis 4. April 1983. Öffnungszeiten: dienstags bis donnerstags 10 bis 18 Uhr, freitags bis sonntags 10 bis 20 Uhr; montags und am Sonntag, dem 13. Februar, geschlossen, Karfreitag und Ostern (1. bis 4. April) von 10 bis 21 Uhr. Katalog (122 Abbildungen) 40 Mark.




Kuriosa und Tüfteleien: Schreibmaschinen-Historie seit 1855

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Der französische Kavallerist Viry erfand 1914 eine Mini-Schreibmaschine für Notizen, die auf schwankendem Pfelrderücken zu Papier gebracht werden mußten. Zu diesem Zweck schnallte sich der Benutzer das Gerät an den Oberschenkel.

Das seltene Maschinen-Exemplar ist eines von vielen interessanten Exponaten der Ausstellung „Schreibmaschinen-Historie von 1855 bis heute“, die jetzt im Düsseldorfer Landesmuseum Volk und Wirtschaft eröffnet wurde. 127 kostbare Stücke sind zu bewundern. Einen Katalog gibt es leider nicht. Hauptleihgeber Uwe H. Breker: „Die Versicherungssumme verschlang den Etat allein“. Dafür habe man aber eine Schau zusammengestellt, wie sie die Welt in dieser Qualität noch nicht gesehen habe.

Das betagteste Modell ist ein Produkt des Musikinstrumentenbauers Charles Wheatstone aus dem Jahr 1855. Das Farbband war noch nicht erfunden, also wurde jede Type einzeln eingefärbt. Ohnehin mußte jeder Buchstabe vor erfolgreichem Tastenanschlag zunächst mit einem Zeigerrad vorgewählt werden.

Weiteres Prunkstück der Ausstellung ist die erste in Serie (150 Stück) gebaute Schreibmaschine. Die Entwicklung des dänischen Pastors Hansen, 1867 für Taubstumme konstruiert, war dermaßen teuer, das sie den damaligen Gegenwert eines kleinen Bauernhofs darstellte.

Werden in Düsseldorf auch mancherlei kurios anmutende Geräte gezeigt (bei der „Grasshopper“-Maschine von 1891 etwa schwirren die Typenhebel tatsächlich insektengleich auf die Walze –, so leuchten doch dank kluger Zusammenstellung die großen Entwicklungslinien ein. Zu nennen wäre ein jahrzehntelang ungelöstes Problem, nämlich daß man beim Tippen nicht sehen konnte, was man gerade schrieb; ein Umstand, der die aberwitzigsten Erfindertüfteleien provozierte.

Immerhin: Das Typenrad, heute als letzter Schrei für Computerausdrucke gefeiert, gab es schon im 19. Jahrhundert. Die Schau macht außerdem deutlich, daß Schreibmaschinen immer eine Art „Friedensware“ darstellten. Eine „Remington“ kam 1876 nur deshalb auf den Markt, weil der Hersteller nach Ende des US-Bürgerkriegs, mangels Nachfrage, vom Waffenschmieden auf zivile Produktion umstellen mußte. Ähnlich erging es deutschen Firmen nach dem Ersten Weltkrieg.

Abgerundet wird die Kollektion durch Postkarten, Spielzeug, Schreibmaschinen und durch Schreibmaschinenbilder des Düsseldorfer Malers Konrad Klapheck. Am 4. Oktober soll im Museum eine Büromaschinen-Tauschbörse stattfinden.

„Schreibmaschinen – Historie von 1855 bis heute“. Landesmuseum Volk und Wirtschaft, Düsseldorf, Ehrenhof 2; Eintritt: 0,50 DM; Bis 18. Oktober. Öffnungszeiten: Werktags (außer Mittwoch) 9-17 Uhr, mittwochs 9-20 Uhr, sonntags 10-18 Uhr, samstags geschlossen.