Kleine, große Lichtgestalt: Die Deutsche Oper am Rhein zeigt erstmals „Der Kreidekreis“ von Alexander Zemlinsky

Beide Frauen wollen das Kind: Lavinia Dames (l.) als Tschang-Haitang und Sarah Ferede als Yü-Pei, eifersüchtige Erstfrau des Herrn Ma. (Foto: Sandra Then)

Die Federn fallen, fallen wie von weit, als kämen sie aus einer fernen Sphäre. Sanft schweben sie von den Vogelkäfigen nieder, in denen die Frauen eingesperrt sind, die für den Teehausbesitzer Tong arbeiten: gefallene Engel, verkaufte Kreaturen. Weiß sind ihre Gewänder, weiß die Federn. Weiß leuchtet hier alles, was noch gut und recht sein kann in einer düsteren Welt.

Es waren finstere Zeiten, in denen der 62-jährige Alexander Zemlinksy 1933 seine letzte vollendete Oper „Der Kreidekreis“ schrieb. Im alten Textgewand eines chinesischen Märchens steckend, ist sie eine typische Zeitoper der zwanziger und frühen dreißiger Jahre. Nach der Machtübernahme der Nazis verfiel sie – wie auch ihr jüdischer Komponist – der Verfemung. Regisseur David Bösch hat sie nun für die Rheinoper Düsseldorf in Szene gesetzt, zum ersten Mal in der Geschichte des Hauses.

Für sein Düsseldorfer Debüt greift Bösch gewissermaßen selbst zur Kreide. Mit liebevollem Strich zeichnet er den Lebensweg des Mädchens Tschang-Haitang nach, auf einer dunklen Spielfläche vor schwarzem Hintergrund. Von der Mutter verkauft, vom Teehausbesitzer weiterverschachert, als Nebenfrau eines Mandarins von dessen Erstfrau bekämpft und schließlich des Mordes bezichtigt, wird diese Figur bei ihm zu einer Lichtgestalt der bescheidenen Art: keine große Heldin und schon gar keine Rebellin, eher eine chinesische Butterfly.

Tschang-Haitang (Lavinia Dames) wird verkauft und wie ein Vogel in einen Käfig gesperrt. (Foto: Sandra Then)

Wie sie sich den Verhältnissen beugt, wie sie trotz aller Demütigungen ihre Würde bewahrt, wie sie in einer Welt voller Unrecht und Lüge aufrecht und wahrhaftig bleibt, steht mächtig – und durchaus irritierend – quer zum Kampf für Frauenrechte. Mit empathischem Blick arbeitet Bösch heraus, dass Tschang-Haitang nicht einfach unterwürfig ist, sondern sich auf ihre Weise behauptet, im märchenhaften Happy End sogar in eine Position der Stärke gelangt. Dass sie Prinz Pao glatt eine Vergewaltigung verzeiht, ist nur die halbe Wahrheit: Sie nutzt sein Geständnis für einen Deal, der ihr und ihrem Kind Sicherheit gewährt. Dann legt sie sich stolz seinen Königsmantel um. Böschs Inszenierung ist von dem Credo geprägt, dass selbst der Kleinste den großen Weltenlauf zu ändern vermag.

Die Regie fordert für dieses Märchen unseren kindlichen Blick. Strichmännchen aus Kreide, auf die Vorhänge zwischen den Akten projiziert, raffen die folgende Handlung zusammen. Das Kind, um das Tschang-Haitang mit der Erstfrau des Mandarins streitet, ist ein übermenschlich großes Riesenbaby mit einem Pappmaché-Kopf, wie Bert Brechts Meisterschüler Achim Freyer ihn seinen Bühnenfiguren zu geben pflegte. Gleich zu Beginn nimmt es auf der Bühne Platz und zieht den Kreidekreis um sich, aus dem beide Frauen das Kind herauszuziehen versuchen. Der salomonische Richterspruch ist auch aus der Bibel und aus Brechts Drama bekannt.

Im Elend: Tschang-Haitang (Lavinia Dames) wird zu Unrecht als Mörderin verurteilt. (Foto: Sandra Then)

Bühne und Videos (Patrick Bannwart) tragen uns aus dem Alltag fort. „Eine bessere Welt ist möglich!“ raunt nahezu alles, was wir sehen. Der Flügelschlag der Möwen, die als heller Schattenriss über den Bühnenhintergrund schweben. Die zarten Lampions in Blütenform, die auf der dunklen Bühne blühen. Die Kreideskizzen an den Wänden, die Kindheitstage heraufbeschwören. Und während das durch und durch korrupte Gerichtspersonal Papierfahnen entrollt, die Kindsraub, Vergiftung und Terror propagieren, schweben chinesische Schriftzeichen von der Decke, die hohe Ideale formulieren: Freiheit, Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit. Die Kostüme (Falko Herold) fügen sich perfekt in diese poetische Bühnensprache ein.

Die Fabel vom Kreidekreis entstand im 13. Jahrhundert in China, sie wird dem Chinesen Li Xingdao zugeschrieben. Klabund griff sie 1925 auf, Zemlinsky 1933, Bertolt Brecht 1944.
(Foto: Sandra Then)

Das zwischen Schauspiel und Oper changierende Zwitterwerk zusammenzuhalten, ist keine leichte Aufgabe. Der Stilmix ist unerhört: Es gibt freie und rhythmisch gebundene Sprache, Gesang Brecht-Weill’scher Prägung, Jazzelemente, fernöstliches Kolorit, schwelgerisch romantische Orchesterfarben und Klänge einer neuen Sachlichkeit. Die Nahtstellen zwischen Text und Musik sind kritisch, das Timing ist für die Sängerinnen und Sänger folglich heikel. Aber die Quadratur des Kreises gelingt: Die Düsseldorfer Symphoniker und das Gesangsensemble der Deutschen Oper am Rhein ziehen die Linie bemerkenswert geschlossen durch.

Unter der kundigen Leitung des Dirigenten Hendrik Vestmann fügt sich die stilistische Vielfalt zu einem faszinierenden Abenteuer für die Ohren. Was fließt da nicht alles ineinander: Jazzelemente und fernöstliche Pentatonik, romantische Schwärmerei und lakonische Sachlichkeit, Drohendes und Intimes und Groteskes, Turandot-Wucht und Butterfly-Zartheit. Das differenzierte und expressive Spiel der Düsseldorfer Symphoniker gereicht Zemlinsky zur Ehre.

Durch Leitmotiv-Techniken wird das Orchester an diesem Abend zum Erzähler, zum unentbehrlichen Kommentator. Es gleicht einer tönenden Karikatur, wie es den korrupten Richter Tschu-Tschu ankündigt, der nach durchzechter Nacht die Szene betritt. So verkatert, wie das Fagott hier in höchster Lage wimmert, und so unstet, wie die Takte hier ins Taumeln geraten, ist bereits alles gesagt, bevor dieser höchst fragwürdige Amtsträger auch nur den Mund aufmacht.

Das Gericht ist weder hoch, noch spricht es Recht: Tschang-Haitang (Lavinia Dames, am Boden), Richter Tschu-Tschu (Werner Wölbern, im roter Robe) und die Statisterie der Deutschen Oper am Rhein. (Foto: Sandra Then)

Der Schauspieler Werner Wölbern verkörpert ihn nach allen Regeln der Kunst als anmaßenden, schlecht gelaunten Gierlappen, der keinen Funken Interesse am Schicksal derer hat, über die er zu Gericht sitzt. Der Prozess führt zu einer mächtigen Steigerung im Orchester, die sich drohend aufbäumt, und einem Verzweiflungsausbruch von Tschang-Haitang, die Lavinia Dames uns mit ihrem Sopran nahebringt. Wie die Sängerin eine stille Traurigkeit in ihre hellen Farben mischt, wie sie sich stimmlich biegsam zeigt, ohne in den dramatischen Höhepunkten zu brechen, gleicht einer vokalen Studie des Phänomens, das heute Resilienz genannt wird. Für diese anrührende Charakterstudie wird die Sängerin vom Publikum begeistert gefeiert.

Dames ist von einem Ensemble umgeben, das seine Figuren nicht weniger genau zeichnet. Die Frauenstimmen ergänzen ihre Farbpalette: Katarzyna Kuncio als Tschang-Haitangs Mutter mit entsprechender Wärme, Sarah Ferede als intrigante Erstfrau Yü-Pei mit hochfahrender Dramatik. Im Baritonfach glänzen Richard Šveda, der dem Bruder der Hauptfigur wütende und rebellische Töne gibt, und Joachim Goltz, der den Mandarin Ma auch stimmlich von starrer Autorität in einen weicheren, liebenderen Mann verwandelt. Hinzu kommen Matthias Koziorowski (als Prinz Pao mit teils heldischen Farben), Jorge Espino (als Gerichtssekretär Tschao mit abgerundet sonorem Volumen), sowie einige hübsch gestaltete Mini-Rollen.

„Es ist Zemlinksy-Zeit“, heißt es im Programmheft der Rheinoper: Eine Behauptung, die durch diese starke Premiere beglaubigt wird. „Der Kreidekreis“ verdient unsere Aufmerksamkeit. Es ist Zeit für dieses Klangabenteuer, für dieses Werk, in dem die Schwachen die Starken sind und die Menschlichkeit gegen Gewalt und Lüge gewinnt.

(Karten und Termine: www.operamrhein.de)




Auch ohne Bundesinstitut: Essen will Maßstäbe in der Fotokultur setzen

Sein Nachlass kommt nach Essen: Fotograf Michael Schmidt (1945-2014), hier in seiner Ausstellung „Waffenruhe“ im Essener Museum Folkwang, aufgenommen am 9. Februar 1988. (© Marga Kingler/Fotoarchiv Ruhr Museum)

Essen als d i e deutsche Fotografie-Stadt? Nun ja, es ist kompliziert. Nach politischem Willen, insbesondere auf Bundesebene, wird das noch zu gründende Deutsche Fotoinstitut eben nicht in der Ruhrstadt, sondern in Düsseldorf angesiedelt. Doch just heute ging man in Essen an die Öffentlichkeit, um kundzutun, dass man auch so gehörige Pflöcke einschlagen kann: Das hochkarätige Archiv Michael Schmidt, Nachlass eines prägenden Fotografen des 20. Jahrhunderts, kommt im Herbst aus Berlin dauerhaft in die Fotografische Sammlung des Museums Folkwang.

Da erhob sich im Verlauf der Pressekonferenz gar die Frage, ob Düsseldorf angesichts solcher Entwicklungen vielleicht nur noch die zweite Geige spielen werde. Nun aber mal halb lang! Folkwang-Museumschef Peter Gorschlüter legt jedenfalls Wert auf die Feststellung, dass die Essener mit dem künftigen Bundesinstitut und anderen fotografischen Einrichtungen einvernehmlich kooperieren wollen – und das in guter föderalistischer Tradition. Gorschlüter gehört zur Gründungskommission des Deutschen Fotoinstituts und vertritt von daher nicht ausschließlich Essener Interessen, sondern nimmt eine übergeordnete Perspektive ein. Er mag sich nicht einmal andeutungsweise zu Äußerungen über den vormaligen Konkurrenten Düsseldorf verleiten lassen.

Neuer Verein bündelt kulturelle Anstrengungen

Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen fasste es so: Die Stadt habe sich „redlich und engagiert“ um den Standort des Fotoinstituts bemüht. In der nun einmal gefällten Entscheidung für Düsseldorf sehe er keinen Fehlschlag. Überdies sei kaum eine deutsche Region seit Erfindung der Fotografie gründlicher ins Bild gesetzt worden als das Ruhrgebiet. Man könnte anfügen: Das Revier ist ja auch nicht so furchtbar weit von der NRW-Landeshauptstadt Düsseldorf entfernt.

Unterdessen hat sich in Essen ein Zusammenschluss gewichtiger Institutionen formiert, der hier Anstrengungen zur fotografischen Kultur bündeln soll. Das Ruhr Museum auf Zeche Zollverein zählt ebenso zum erlesenen Kreis wie das Historische Archiv Krupp, die Folkwang Universität der Künste und eben das Museum Folkwang. Neuerdings (genauer: seit 31. Januar) agieren sie zusammen als gemeinnütziger Verein mit Sitz im markanten SANAA-Gebäude auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein. Auch dieses „Zentrum für Fotografie Essen“ ist ein Statement.

Bedeutsamer Nachlass kommt von Berlin nach Essen

Vor diesem Hintergrund darf die bevorstehende Überführung des Archivs Michael Schmidt als bedeutsames Signal gelten. Der Fotograf, der von 1945 bis 2014 gelebt hat, hatte schon sehr früh und fortan recht häufig Ausstellungen in Essen, wo er – in der Tradition eines Otto Steinert – zeitweise auch eine Lehrtätigkeit ausgeübt hat. Zentraler Ort seines bildnerischen Schaffens war allerdings Berlin, wo in Kreuzberg nach und nach ein bestens aufgearbeitetes Archiv seiner Werke entstanden ist. Folkwang-Direktor Gorschlüter über den wertvollen Nachlass: „Wir übernehmen also keine Bananenkisten.“

Schon jetzt hat man im Depot eine spezielle Ebene vorbereitet, auf der das Archiv Platz finden wird. Das Schmidt-Konvolut kommt als Dauerleihgabe nach Essen – vorläufig bis zum 31. Dezember 2039, sodann mit Verlängerungs-Option bis 2045, wenn sich Michael Schmidts Geburtstag zum 100. Mal jährt. Auch danach sind Vertrags-Verlängerungen möglich. Zur Bedeutung des Werks nur diese Stichworte: Nach schwierigen Anfängen brachte es Michael Schmidt zu einer internationalen Fotokunst-Laufbahn, die bis hin zu einer großen Retrospektive im Museum of Modern Art (MoMa) in New York führte. Zu seinen bekanntesten Schülern gehört Andreas Gursky.

Kein Ankauf, sondern großzügige Dauerleihgabe

Wie Peter Gorschlüter erläuterte, handelt es sich nicht um einen Ankauf, sondern um eine großzügige Überlassung durch die „Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt“, eine Einrichtung des finanzkräftigen Sparkassen- und Giroverbandes. Mit der Übergabe ans Museum Folkwang gelangt der Nachlass in öffentliche Obhut. Weitere Vergünstigung: Das Copyright an den Fotografien geht für die Dauer der Leihgabe ans Essener Museum über, kann also womöglich lukrativ genutzt werden. Außerdem stellt die Stadt Essen in diesem und wohl auch im nächsten Jahr je rund 250000 Euro bereit, um die Übernahme zu begleiten.

Schmidts Nachlass umfasst u. a. 107 Ordner mit Negativen, etwa 2000 Prints mit Werkcharakter sowie rund 20000 Kontakt-, Arbeits- und Testabzüge. Hinzu kommen umfangreiche Fachbibliotheken. Künftig wird all das für Forschungsarbeiten an der Folkwang Universität der Künste zur Verfügung stehen. Gut denkbar, dass der Bestand eine Art Magnetwirkung ausüben und weitere Sammlungen nach sich ziehen wird.




Was wäre ich geworden, wenn…? – Uraufführung der Oper „Septembersonate“ von Manfred Trojahn in Düsseldorf

Surreale Treppen auf der Bühne von Heike Scheele: „Septembersonate“ von Manfred Trojahn in der Inszenierung von Johannes Erath in Düsseldorf mit Holger Falk (Osbert Brydon) und Juliane Banse (Ellice Staverton). (Foto: Wolf Silveri)

Spätestens, seit die Romantik die Welten hinter der Welt entdeckt hat, werden die Grenzen zwischen der positivistischen Realität in einer aufklärerisch-rationalen Perspektive und der Fiktion brüchig.

Einer Fiktion, die sich als mächtiger Einfluss auf das offenbart, was gemeinhin als „real“ beschrieben wird. Einer Fiktion, die sich im Begriff manifestiert, jenem denkerischen Instrument, mit dem wir unsere Welt „begreifen“. Aber auch, wenn Gott ein Hirngespinst sein sollte, auch, wenn Heilige und Helden nie leibhaftig gelebt haben, so existieren sie doch, haben auf den Lauf der Ereignisse gewaltigen Einfluss. Doktor Faust oder Harry Potter: Die Erinnerung, die Erzählung macht sie zu Personen unserer inneren Welten.

Erfahrungen und Erinnerungen, Träume und Traumata, Visionen und Projektionen: Die Antriebskräfte, die das Leben mit vitaler Dynamik aufladen, balancieren zwischen Realem und Fiktionalem, durchdringen das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen, geben ihm Sinn, Motiv und Richtung.

In Manfred Trojahns neuer Oper „Septembersonate“ treffen sich zwei Menschen, die schon in ihrer Existenz die Grenzüberschreitung in sich tragen: Er, Osbert Brydon, hat vor Jahrzehnten die auf realen Gelderwerb zielenden Aktivitäten seiner vermögenden Familie verlassen und ist nach „dort drüben“ gegangen, um ein Schriftsteller zu werden – also jemand, der fiktive Welten gestaltet. Sie, Ellice Staverton, ist Schauspielerin geworden, wechselt die Rollen und verleiht im Spiel fiktiven Personen eine leibhaftige Existenz. Beide liebten einst als Kinder das Puppentheater, in dem die Frauen Königin werden – oder das Krokodil.

Manfred Trojahn. (Foto: Dietlind Kobold)

Eine „Konjunktiv-Oper“ nannte Dramaturgin Anna Melcher Trojahns gut 100 Minuten wenig dramatisches, aber intensiv meditatives Musiktheater. Ein Satz der früheren Jugendfreundin bringt Osbert zum Nachdenken: „Was hätte ich dafür gegeben, Sie als junge Frau so getroffen zu haben, ich hätte mich auf der Stelle in Sie verliebt.“ Die Möglichkeit – die Frage „Was wäre, wenn?“ – lässt den Schriftsteller nicht mehr los. Im Traum, so Ellice, habe sie den anderen Osbert gesehen – den, der er geworden wäre, hätte er sich den Konten und Häusern seiner Familie gewidmet.

Wer ist dieser „Andere“? In einer surrealen Vision – oder ist es eine gespenstische Manifestation? – trifft Osbert auf sein anderes Ich: „Voll Wehmut grüßt der, der ich bin, den, der ich hätte sein können.“ Rainer Maria Rilkes „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ geben den Protagonisten die letzten Worte: „Du machst mich allein ….“ Das Ende bleibt offen.

Trojahn hat sein eigenes Libretto nach der Erzählung „The Jolly Corner“ von Henry James entworfen – jenem amerikanischen Schriftsteller, dessen Biografie sich in seiner 1908 erschienenen Story spiegelt. James ist ein Meister des Ungesagten, des Uneindeutigen, des dunkel Ungreifbaren – Benjamin Britten hat das in „The Turn of the Screw“ in unerreichter Meisterschaft in Musik gefasst. Auch bei Trojahn findet sich diese Atmosphäre mit dem Hauch des Surrealen und einer dämonischen Transzendenz wieder.

Blasen aus leiser Grundierung

Zitiert wird Richard Strauss‘ „Tod und Verklärung“, über Reminiszenzen an „Arabella“ oder an Arnold Schönbergs „Pierrot lunaire“ berichtet der Komponist im Programmbuch. Erinnerungen werden wach, an Korngolds „Die tote Stadt“, an Debussys „Pelléas et Mélisande“, an Richard Rodney Bennetts „The Mines of Sulphur“ oder an Philip Glass‘ „The Fall of the House of Usher“. Aber das fünfzehnköpfige Orchester, schon vor dem ersten Ton von einem ständigen Herzschlag-Pochen grundiert, findet nicht oft zu klangfülligem Ausbruch, bewegt sich meist in unendlichen Variationen von trüben Piano- bis delikatesten Pianissimo-Klängen, intim bis zum verschwimmenden Verschwinden.

Juliane Banse (Ellice Staverton) in der „Septembersonate“ in Düsseldorf. (Foto: Wolf Silveri)

Musikalisch erinnert nichts an eine „Sonate“: der Komponist hat den Begriff nicht strukturell, sondern eher atmosphärisch verstanden. Stattdessen sind flexibel-flächige Tonfolgen zu hören, die lange gleich bleiben, um sich plötzlich wie Blasen aus leiser Grundierung zu einem kurzen Forte aufzuwölben. Ihre Klangglätte wird aufgeraut, wenn Trojahn von den Ketten der Triolen oder Quintolen Staccato oder Marcato fordert. Die Gruppe der fünf Bläser (Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott, Horn) agiert im Kontrast oder in Wechselwirkung mit den Streichern, bei denen die Violinen fehlen, dafür die tiefen Instrumente in extreme Höhen getrieben werden. Die Folge ist ein melancholischer, an signifikanten Stellen unwirklich schwebender Flageolett-Klang.

Harfe, Klavier und Schlagzeug akzentuieren sparsam, brechen aber ebenfalls punktuell kraftvoller durch das Gewebe der Töne. Die Celesta taucht erstmals in der zweiten Szene auf, in der Osbert in seine Vergangenheit, in seine Erinnerung tanzt. Ihr entrückter Klang umschwebt das Bedrohliche der Erinnerung, vor dem die Haushälterin Mrs. Muldoon warnt: Sie versucht, das Nachwirken des Gewesenen zu verdrängen und auszulöschen – wie Mrs. Grose in „Turn of the Screw“.

Ein Meister des Uneigentlichen

Ein Meister des Uneigentlichen ist auch Regisseur Johannes Erath, der an der Deutschen Oper am Rhein zuletzt mit Vincenzo Bellinis „La Sonnambula“ ein anderes Werk mit schwankendem Realitätsbegriff inszeniert hat. Er nimmt die Statisterie der Rheinoper in Beschlag, um den geheimnisvoll in schwärzliche Fernen geöffneten Bühnenraum Heike Scheeles mit stummen Menschen(gruppen) zu füllen – einzig durch ihr Dasein sprechende Resonanzkörper zu den vier Akteuren.

Bibi Abel erweitert die Raumwirkung mit Video-Stills surrealer Treppenkonstruktionen – manchmal scharf definiert, als wären sie gegenständlich in drei Dimensionen erbaut, manchmal nur in Konturen in den wunderbar plastisch geführten Lichtakzenten Nicol Hungsbergs zu erahnen, dann wieder deutlich als Projektionen erkennbar, in denen sich dennoch die Protagonisten wie schwarze Schatten bewegen, so als seien die Stufen aus fester Materie.

Erath wechselt zwischen handfester Aktion und traumnahen Bewegungssequenzen. Osberts zweites Ich – der Kampf beider spielt sich in cineastisch wirkender Großaufnahme ab – wankt mit wunderliche Eselsohren durch die Szene. Ellice, die Schauspielerin, manifestiert sich in vielerlei „Rollen“-Kostümen, vom Zwanziger-Jahre-Girl über die Projektion einer ikonischen Szene von Marylin Monroe mit aufgebauschtem Kleid bis hin zur Diva, die auf einem lackweißem Krokodil reitet und von Bibi Abel einen opulenten Theatervorhang – als Projektion! – bekommt. Erath legt sich bewusst nicht fest, stellt eher Fragen als Antworten zu geben. Der Abend endet mit einem Coup, einer weiteren Ebene von Fiktionalität, die den Zuschauer von vielleicht mühsam errungenen Gewissheitsinseln in finale Unsicherheit vertreibt.

Souveräner Dirigent

Unter der souveränen Leitung des designierten Chefdirigenten der Deutschen Oper am Rhein, Vitali Alekseenok, sind die Solisten der Düsseldorfer Symphoniker hochkonzentriert und mit Klangsinn am Werk. Die vier singenden Darsteller gehen in ihren Rollen auf: Holger Falk als zunehmend an Boden verlierender Osbert Brydon, mit sprechstimmenhaft zurückgenommenem Bariton, aber exzellent deklamierend, kämpft manchmal mit dem Orchester. Juliane Banse als Ellice setzt all ihre Stimmkoloristik, all ihre körperhafte Präsenz, all ihre variablen Tonbildungskünste ein, um eine schillernde, kraftvolle Frauenfigur auf die Bühne zu zaubern.

Roman Hoza ist das andere Ich Osberts und achtet in seinen wenigen Sätzen darauf, das Spannungsfeld zwischen Distanz und Identifikation nicht zu verletzen. Susan Maclean (Mrs. Muldoon) wirkt zunächst tief in der Vergangenheit erstarrt, wie ihr pompöses viktorianisches Kostüm signalisiert, deutet aber am Ende eine überraschende Wendung an: Zögernd schlägt sie eine Taste der Schreibmaschine an, deren Geklapper am Beginn der Oper, vielfach multipliziert, als Signet für jene andere Welt steht, in der sich Osbert und Ellice ihre erinnerungsgetränkten Wenn-Fragen gestellt haben.

Manfred Trojahns „Septembersonate“ steht am 9.,14., 29. Dezember 2023 und am 3., 14. und 27. Januar 2024 auf dem Spielplan der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf. Info: https://www.operamrhein.de/spielplan/a-z/septembersonate/

Am Sonntag, 10. Dezember, 11 Uhr, zeigt das Opernhaus den halbstündigen Film „Das weiße Blatt“ mit anschließendem Publikumsgespräch. Der Film von Jo Alex Berg zeigt, wie die Uraufführung entstanden ist. Er begleitet die Künstler von der Arbeit an der Partitur bis zur ersten Hauptprobe auf der Bühne. Der Eintritt ist frei.




Wer hat die Nase vorn? „Parsifal“ in Düsseldorf und Hannover

Szene aus dem dritten Aufzug des „Parsifal“ in Düsseldorf mit Daniel Frank (Parsifal) und Sarah Ferede (Kundry). (Foto: Sandra Then)

In Düsseldorf steht er mit leeren Händen im gleißenden Licht, der neue Gralskönig Parsifal. In Hannover bleibt von den Wirrnissen der Ritter- und der Klingsor-Welt ein Kind übrig. Erlösung wird der Welt in beiden Inszenierungen nicht zuteil. Die Sicht auf Richard Wagners „Bühnenweihfestspiel“ ist pessimistisch, bei allen Unterschieden. Und die sind markant, in der szenischen wie in der musikalischen Gestaltung.

Die Premiere in Düsseldorf bringt den viel gelobten „Parsifal“ aus Genf an den Rhein, in einer minimalistischen Regie von Michael Thalheimer, der in der letzten Spielzeit einen faszinierenden Verdi-„Macbeth“ an der Deutschen Oper herausgebracht hat. Auf der Drehbühne (Henrik Ahr) ein Podest, abgeschlossen nach hinten durch eine mittig vertikal geteilte, schmutzigweiße Wand, horizontal gegliedert durch einen Querbalken. So ergibt sich ein Kreuz, einziger Hinweis auf die christlichen Konnotationen von Wagners Weltabschiedswerk.

Der künftige Erlöser schreitet strahlend weiß aus diesem Spalt auf eine Fläche, auf der Gurnemanz, ein stattlicher, gebrochener Mann, allzu hörbar schlurfend seine Runden dreht. Bis zu den Hüften muss er einmal im Blut gestanden haben – so wirkt jedenfalls sein schwerer Mantel. Das Blut holt alle ein: Die Gewänder von Michaela Barth, in denen die Gralsritter geistern, sind rot verschmiert; Kundry malt im dritten Aufzug unentwegt den Kernsatz des Werks wie eine Beschwörungsformel an die Wand: „Durch Mitleid wissend der reine Tor. Parsifal“. Die Sphäre Klingsors ist schwarz und vertikal gebrochen – die Rückseite der Welt der Gralsgesellschaft.

Woher das Blut, woher die Schuld? Thalheimer verweigert die Antwort, so wie er seinen „Parsifal“ überhaupt strikt von Deutung frei hält und damit bisweilen Bedeutung gefährdet. Mit den Mitteln minutiöser Personenführung und der peniblen Planung von Gesten und Gängen schafft Thalheimer ein zugespitztes Kammerspiel, das die Gefahr öder Langeweile bannt, weil die Figuren auch durch die szenische Konzentration der Darsteller selbst in langen Passagen gesungener Texte spannend und lebendig bleiben. Dieser „Parsifal“ hat viel mit der Magie des Spielens zu tun und ist deshalb auch ein Stück faszinierendes Schauspieler-Theater.

Vollgepackte Bühne in Hannover

Der Kontrast zu Hannover könnte nicht größer sein: Dort inszeniert einer der neuen Mode-Regisseure, der Isländer Thorleifur Örn Arnarsson, designiert für „Tristan und Isolde“ in Bayreuth 2024. Er schafft es, auf der vollgepackten Bühne von Wolfgang Menardi trotz ausgiebigen Einsatzes von Licht, Nebel und Personal langatmige Ödnis zu verbreiten. Auch bei Arnarsson gibt es verlangsamte Bewegung, wankende Choraufmärsche wie weiland bei Wolfgang Wagner, aber auch Schreiten und Stolpern, Holpern und Rennen, dazu einen nervigen Umbau bei offener Bühne, ein auf- und abfahrendes Gerüstpaneel mit Neonröhren über einem rätselhaften Becken, und verkohlte Baumstämme, die uns die wie auch immer geartete Katastrophe signalisieren und am Ende des ersten Aufzugs erwartungsgemäß nach oben entschweben.

Irgendwie Katastrophe: Die Bühne von Wolfgang Menardi für den „Parsifal“ in Hannover, hier mit Marco Jentzsch (Parsifal) und Shavleg Armasi (Gurnemanz). (Foto: Sandra Then)

Im Klingsor-Akt umschließt ein weißer Kasten eine steril-museale Landschaft, bevölkert von lethargischen Frauen mit aufgemalten primären Geschlechtsmerkmalen auf halbtransparenten Verschleierungen (Kostüme: Karen Briem). Das Gespräch zwischen Parsifal und der unruhig auf und ab tigernden Kundry wird zum finalen Durchhänger eines mit geschäftigen Leerläufen gesegneten Abends. Der im Interview im Programm zitierte C.G. Jung mag erklären, warum Arnarsson Amfortas und Klingsor vom selben Sänger – dem energisch, rotzig und gewalttätig, aber auch erbarmenswert schmerzvoll singenden Michael Kupfer-Radecky – verkörpern lässt. Aber die zentrale Idee der Regie wirkt trotz Psychologie als bloße Bedeutungs-Behauptung: Parsifal erscheint als Kind, junger Erwachsener und reifer Mann, um seine Entwicklung erfahrbar zu machen. Doch die Doppelungen und Mehrfachauftritte von Sänger Marco Jentzsch mit den Kindern Maximilian Blossfeld und Leandro Klyszcz vermitteln keine konzentrierte Erzähllinie.

Steril und ohne Blumenzauber: Klingsors Welt in Hannover. Im Zentrum Michael Kupfer-Radecky. (Foto: Sandra Then)

Was am Ende des Assoziationstrubels bleibt, als die blendende Weißlichtfläche, die wohl den „Gral“ symbolisieren soll, endgültig zur Hölle gefahren ist und die Gralsritter ihre Hörnerhüte – eine Assoziation an Hägar-der-Schreckliche-Helme und Frickas Widder – abgelegt haben, bleibt unklar. Die Sinnlosigkeit jeder Entwicklung? Das Kind – der Anfang der immergleichen Geschichte? Das Panorama vergeblicher menschlicher Versuche, der Akzeptanz des immerwährenden Leids der Welt zu entkommen? Das Gefühl der Erlösung jedenfalls wird nur in der erleichterten Erkenntnis spürbar, dass der Abend endlich zu Ende geht.

Spannungsreiches Klangbild

Musikalisch allerdings hätte er noch länger dauern dürfen, denn der Hannoveraner GMD Stephan Zilias spornt das vorzüglich auf Wagner eingestellte Niedersächsische Staatsorchester zu einem lebendigen und spannungsreichen Klangbild an. Man mag über das eine oder andere langsame Tempo an der Grenze zum Zähen streiten, man mag manche Steigerung für zu überbordend halten – am fabelhaften Eindruck des Abends ändert das nichts.

Zilias zeigt, dass „Parsifal“ sich nicht im Rausch der Linien erschöpft, dass die psychedelische Verführungsabsicht Wagners keineswegs das bestimmende Element der Musik sein muss, wie offenbar ein hartnäckiger, Protest im Publikum hervorrufender Buh-Rufer annimmt. Deutlich wird vielmehr, dass die Musik aus Konturen lebt, dass der Klang ausdifferenziert werden will, dass Einsätze, Farb- und Haltungswechsel nicht nur unmerklich ineinander übergehen, sondern akzentuierenden Zugriff brauchen. Auch der Chor von Lorenzo da Rio verliert sich nicht im Säuseln, lässt im marcato auch die aggressive Note dieser Gesellschaft erkennen. In den Fernchören gibt es schmerzhafte Wackler, das ist aber auch in Düsseldorf nicht anders, wo Gerhard Michalski seine Herren auf satte Sonorität und entschieden drängenden Gleichklang getrimmt hat.

Axel Kober in Düsseldorf, mit der Erfahrung des Bayreuther „Abgrunds“ im Sinn, liest die „Parsifal“-Partitur mischklangverliebter, aber auch mit Lust an langsamem, im ersten Aufzug zerfließend lahmendem Zeitmaß. Die Düsseldorfer Symphoniker zeigen in den Violinen wenig Kontur, bleiben im Finale zu sehr im Hintergrund und ohne Magie. Für die sensualistischen Provokationen der Klingsor-Welt produziert das Orchester nur gedeckte Farben und schalen erotischen Kitzel.

Sänger-Triumphe an beiden Häusern

Düsseldorf: Hans-Peter König (Gurnemanz) und Sarah Ferede (Kundry). (Foto: Andreas Etter)

Gesungen wird an beiden Häusern sehr achtbar, teilweise auf einem Niveau, das man sich für Bayreuth wünschen würde. Der Trumpf in Düsseldorf heißt Hans-Peter König: ein beispielhafter Wagner-Sänger, klangvoll im Timbre, ausgeglichen in der Tonproduktion, wortverständlich und mit musikalischen Nuancen gestaltend. Ein großartig erzählender Gurnemanz. Aber auch Luke Stoker als präsenter Titurel überzeugt auf ganzer Linie. Michael Nagy erscheint im Zentrum der sich kreuzenden Linien der Bühne als blutige Christus-Assoziation und singt entspannt und expressiv – ein markanter Kontrast zum Klingsor von Joachim Goltz, der mit bewusst gehärteten, schneidenden Tönen und konzentriert fokussierend aus dem verstoßenen einstigen Gralsritter die grimmige Enttäuschung und den Willen zur Vergeltung herausstößt.

Daniel Frank, der Düsseldorfer Parsifal, wirkt zunächst recht dünnstimmig und grell, fängt sich im zweiten Aufzug und kann im dritten beweisen, dass er mit Kern und gesichertem Klang aussingen kann. Sarah Ferede wird in die Partie der Kundry noch hineinwachsen: Ihr Auftritt im Reiche Klingsors beginnt imposant, ihren Schmeicheltönen fehlt es nicht an Schmelz. Die letzte Rundung, die Souveränität über die Momente des Extremen, das Vermeiden von Schärfe in der Kraft fordernden Höhe sind noch nicht ausgereift. Auch Irene Roberts, die Kundry in Hannover, ist noch nicht so weit: Lautstärke ist keine Garantie für die Intensität des Ausdrucks, eine Stimme am Limit wirkt eher gefährdet als gefährlich und das Vibrato darf kontrollierter sein.

Der Star in Hannover heißt Michael Kupfer-Radecky – in Bayreuth war er Wotan in der „Walküre“ und Gunther in der „Götterdämmerung“. In der Doppelrolle Amfortas/Klingsor versteht er es, das Gemeinsame der ähnlichen existenziellen Verletzung, aber auch die Spannung zwischen den beiden so unterschiedlichen Charakteren herauszuarbeiten. Sein Bariton ist kraftvoll, aber nicht übermächtig, der Klang konzentriert, ohne verfestigt zu wirken. Kupfer-Radecky legt die Seele der Worte frei, und allenfalls in der einen oder anderen Verzerrung eines Vokals macht sich bemerkbar, wie viel Einsatz und Mühe hinter einer solchen Gesangsleistung steckt.

Daniel Eggert rückt als Titurel nicht in den Vordergrund; er singt klangschön zurückhaltend, Shavleg Armasi ist ein beredter Gurnemanz, der dieser Figur eine sympathische menschliche Note mitgibt – kein Grund, Missfallen zu äußern, wie es am Ende vom Rang herabschallte. Marco Jentzsch entkleidet den Parsifal in Hannover jeder heldischen Attitüde, hat aber nicht die Reserven, um die plötzliche Einsicht nach dem Kuss Kundrys und die daraus folgende Entschlossenheit zu beglaubigen. Zumal der Tenor auch im Lyrischen dünn wirkt, Piani nicht gestützt sind und die ausgemergelte Schärfe des Tons in dramatischen Momenten nur lautes und explosives Stemmen erlaubt. Dennoch bleibt es dabei: Musikalisch hat Hannover wegen der Klasse des Orchesters und einem spannungsvolleren Dirigat die Nase vorn, szenisch muss sich Düsseldorf vor dem Aufwand auf der niedersächsischen Bühne in keinem Augenblick verstecken.

Vorstellungen in Düsseldorf: 1., 15., 21.10.2023; 29.03., 07.04.2024. Info: https://www.operamrhein.de/spielplan/kalender/parsifal/1285/?a=termine

Vorstellungen in Hannover: 3., 8., 15., 22., 31.10. Info: https://staatstheater-hannover.de/de_DE/programm-staatsoper/parsifal.1343152

 




Geschichtenerzähler im Videokabinett – Kunstsammlung NRW präsentiert den britischen Künstler Isaac Julien

Isaac Juliens Zehnkanalinstallation „Lessons of The Hour“ über den ehemaligen Sklaven, Freiheitkämpfer und Fotografen Frederick Douglass. (Foto: Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Achim Kukulies)

Überall Videos. Abgedunkelte Räume voll von unterschiedlich großen Projektionsflächen, auf denen in bunten Farben Bewegtbilder ablaufen. Alles sehr ordentlich, professionell und, ja, so kann man durchaus sagen: schön. Natürlich ordnet sich der überwältigende erste Eindruck zügig, die realen Räume sind eben auch Themenräume, in denen auf drei, fünf, zehn Bildflächen, je nachdem, Geschichten erzählt werden.

Große Werkschau

Der Schöpfer dieser Arbeiten, den Videokünstler zu nennen es nur zum Teil trifft, ist Isaac Julien, Jahrgang 1960, Brite, Documenta- und Biennale-Teilnehmer und für sein künstlerisches Schaffen bereits hoch geehrt. Zu sehen sind nun elf Video-Installationen sowie eine Reihe von Fotografien in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, im K21, dem Haus für das Zeitgenössische, das früher mal den Landtag beherbergte.

Videokünstler, Filmemacher, Fotograf: Isaac Julien (Foto: Theirry Bal/Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen)

Schwarz und schwul

Seit Julien in den frühen 80er Jahren, mit Amateurvideo-, 8- und 16-Millimetermaterial zunächst, zu arbeiten begann, sind „schwarz“ und „schwul“ zentrale Motive. Von Anfang an ist da der Zorn über die ungerechten Verhältnisse. „Who Killed Colin Roach?“ aus dem Jahr 1983 etwa thematisiert den Mord an einem Farbigen vor einem Londoner Polizeirevier, „Territories“ (1984) Erfahrungen junger farbiger Frauen in England, und der Titel des Zehnminüters „This Is Not An AIDS Advertisement“ (1987) ist quasi selbsterklärend. „Western Union: Small Boats“ (2007) erzählt von afrikanischer Migration, verwebt die Dokumentation auf unerhörte Weise mit einer Tanzperformance Russell Maliphants. Altchinesische Mythen wiederum und die zu Anfang des 20. Jahrhunderts glamouröse Filmstadt Shanghai sind Thema von „Ten Thousand Waves“ (2010), werden thematisch in Zusammenhang gebracht mit dem tragischen Tod von chinesischen Wanderarbeitern in England. Es gibt der Themen etliche mehr.

Harlem Renaissance: Szene aus „Looking For Langston“ von 1989 (Foto: Isaac Julien, Courtesy the artist and Victoria Miro/Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen)

Geschichte

Seit dem Ende der 80er Jahre, jedenfalls vermittelt die Düsseldorfer Schau diesen Eindruck, verlagert sich Juliens Interesse stärker hin zu historischen Themen. „Looking for Langston“ (1989), ein zwischen schwelgerischer Reinszenierung, Spielhandlung und eleganter Erotik meisterlich changierendes Werk in Schwarzweiß, thematisiert die „Harlem Renaissance“, die selbstbewußte Manifestation schwarzen homosexuellen Lebens in den 20er Jahren. „Ein wichtiger Beitrag zur Erforschung schwarzen, queeren Begehrens“ ist „Looking…“ laut Pressetext, „die wichtigste Arbeit der Ausstellung“ in den Worten von Kuratorin Doris Krystof.

Sklave, Freiheitskämpfer, Fotograf

Auch das üppigste Werk der Schau hat ein historisches Thema. „Lessons of The Hour“ (2019) – 10 Bildkanäle, Surroundsound, knapp eine halbe Stunde lang – portraitiert Leben und Werk des ehemaligen Sklaven Frederick Douglass, der sich selbst befreite und zum Freiheitskämpfer wurde. Douglass befaßte sich intensiv mit Fotografie, schrieb über sie, gilt überdies „als die meistfotografierte Persönlichkeit in den USA im 19. Jahrhundert“. „Der moralische und soziale Einfluß des Bildermachens“, noch einmal sei mit diesem Terminus der Pressetext zitiert, hat Isaac Julien in seinem eigenen Schaffen tief und nachhaltig motiviert. Und das Video (wenn man es denn doch einmal so nennen darf): schöne Bilder aus einer versunkenen Zeit, lange Kleider, Samt und Seide. Bilder gerade so, wie sie seinerzeit in den Fotoateliers entstanden.

In einem Fotoatelier des 19. Jahrhunderts; Szene und Still aus „Lessons of The Hour“ von 2019 (Foto: Isaac Julien, Courtesy the artist and Victoria Miro/Kunstsammlung Nodrhein-Westfalen)

Bildergalerie

Vier Stunden 35 Minuten braucht man, um alle in Düsseldorf gezeigten Filme vollständig anzuschauen. Aber dazu muß man sich schon zwingen, denn die Gleichzeitigkeit vieler Bildbotschaften nebeneinander vermittelt einen paradoxen Eindruck von Bewegungslosigkeit, von Gemäldeausstellung mithin. Das scheint ein wenig auch gewollt zu sein, ähnelt die Bildpräsentation doch sehr jener der brasilianischen Architektin und Designerin Lina Bo Bardi, die in von ihr geplanten Museumsbauten Alte Meister gerade so im Raum platzierte wie Isaac Julien in seinen Ausstellungen die Videoflächen. „Lina Bo Bardi – A Marvellous Entanglement“ (2019) heißt sein Film über sie, der übrigens nur über drei Videoflächen läuft.

Freiheit bedeutet, keine Furcht zu haben

Je länger man in der Schau verweilt, im Untergeschoß des K21, desto mehr verflüchtigt sich der Eindruck von „Oberflächlichkeit“ (ich stelle das mal in Tüttelchen, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen), den die formal makellose, technisch aufwendige Präsentation zunächst hervorgerufen hatte. In der zeitgenössischen Kunstproduktion begegnet man einem gewissen Mißverhältnis zwischen Aufwand und Botschaft häufiger, da hat sich beim Betrachter vielleicht eine falsche Erwartungshaltung herausgebildet. Isaac Julien jedenfalls erzählt ganze Geschichten, die trotz ihrer Opulenz nur zu einem Teil über die Videowand laufen und ihre Ergänzungen in den Köpfen der Betrachter finden. Und vielleicht erzählt er auch nur eine Geschichte. „I’ll tell you what freedom is to me. No fear” zitiert er die amerikanische Jazz-Sängerin und Bürgerrechtsaktivistin Nina Simone. Aus ihrem Satz ist der Titel der Ausstellung, die vor Düsseldorf übrigens in der Londoner Tate-Gallery zu sehen war, abgeleitet.

  • „Isaac Julien. What Freedom Is To Me“
  • Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K21, Ständehaus, Ständehausstr. 1
  • Bis 14. Januar 2024
  • Geöffnet Di-So 11-18 Uhr
  • www.kunstsammlung.de
  • Katalog 207 Seiten, 46 €

 




„Wenn man einmal in Bayreuth war, ist man süchtig danach“: Altistin Karolin Zeinert aus Düsseldorf singt im Chor der Festspiele

Karolin Zeinert vor dem Bayreuther Festspielhaus. (Foto: Werner Häußner)

Die Düsseldorfer Altistin Karolin Zeinert singt mittlerweile in ihrer 11. Spielzeit im Chor der Bayreuther Festspiele. Im Interview erzählt sie, wie sie in Bayreuth ihre professionelle Laufbahn begonnen hat und warum es so faszinierend ist, im Chor der Festspiele mitzuwirken.

Wie hat’s bei Ihnen begonnen mit Bayreuth?

Ich habe immer gerne im Chor gesungen. Mit fünf habe ich damit angefangen, bin dann in meiner Heimatstadt Gera auf ein chororientiertes Gymnasium gegangen und wollte immer Choristin werden. Ich habe dann das Studium begonnen, war nach vier Semestern beim RIAS Kammerchor als Praktikantin und habe festgestellt: Chorsingen ist wirklich meins. Dann habe ich an verschiedenen Theatern Produktionen mitgemacht. Nach dem Abschluss meines Studiums habe ich mich initiativ in Bayreuth beworben. Wagners Musik mochte ich immer, ich habe ja auch am gleichen Tag wie er Geburtstag. Ich habe vorgesungen und ehrlich gesagt nicht geglaubt, dass es klappt, aber ich wurde genommen und bin nun seit 2012 jedes Jahr bei den Festspielen in Bayreuth. Als ich 2014 an der Deutschen Oper am Rhein ins Festengagement ging, habe ich mir das Okay geholt, dass ich im Sommer nach Bayreuth gehen kann. Mein Chef ist da extrem kulant und die Kollegen haben Verständnis für mich. Das klappt also ganz gut.

Sie sind also bei den Bayreuther Festspielen in Ihre professionelle Laufbahn eingestiegen?

Karolin Zeinert. (Foto: privat)

Ja, tatsächlich. Vorher war ich mal eine Spielzeit in Leipzig, hatte aber sonst immer nur Gastverträge. Ich habe so mein Studium finanziert und Erfahrungen gesammelt. Und nicht zuletzt für mich geklärt, ob ich diesen Job mein Leben lang machen möchte und auch kann. Denn das Singen im Chor ist schon ein spezieller Beruf. Man ist viel unterwegs, soziale Kontakte zu Menschen außerhalb des Theaterbetriebs sind schwierig, und immer, wenn andere frei haben, arbeiten wir. Aber Bayreuth war schon das Highlight für mich. Als ich hier anfing, war ich 26, und lange war ich die jüngste unter den zweiten Altistinnen im Festspielchor.

War Bayreuth neu für Sie? Waren Sie vorher einmal hier?

Weder als Gast noch als Stipendiatin. Die Festspiele waren für mich totales Neuland. Ich kannte auch die Stadt nicht, fühlte mich aber sehr schnell zu Hause. Auch weil ich in Weimar studiert hatte, eine Stadt von ähnlicher Größe und Struktur.

Und wie sind sie mit der Arbeit am Grünen Hügel umgegangen? Hat Sie ein besonderes Bayreuth-Gefühl erfasst?

Die Damen des Bayreuther Festspielchores in Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ mit Nadine Weissmann als Mary (links) und Elisabeth Teige als Senta. (Foto: Enrico Nawrath)

Ich erinnere mich, dass ich an einem der ersten Tage einmal an der Hinterbühne vorbeigegangen bin. Die großen Tore waren offen, so dass man von dort in den Zuschauerraum blicken konnte. Ich hatte noch nie in einem Haus mit so vielen Plätzen gesungen und noch nie ein Theater mit so einer tiefen Bühne gesehen. Das war ehrfurchtgebietend, aber ich habe es damals nicht als furchteinflößend erlebt. Erst später, wenn ich jungen Kollegen davon erzählt habe, wurde mir bewusst, was man für Produktionen erlebt hat und mit welchen Sängern man zusammen auf der Bühne gestanden hat. Da habe ich so ein bisschen „das Fürchten gelernt“. Der Premierentag in Bayreuth macht mich immer noch etwas nervös und auch die Vorstellungen sind etwas Besonderes, wenn ich zum Beispiel die kleine Rolle eines Edelknaben im „Tannhäuser“ singe. Da herrscht eine andere Anspannung, weil man es besonders gut machen möchte.

Wie hat sich Ihr Verhältnis zu Wagners Musik entwickelt?

Ich hatte eine Lehrerin in Weimar, die schon recht früh gesagt hat, meine Stimme passe gut ins deutsche Fach und zu Wagner. Daher habe ich mich bald dran versucht und im Studium Erda oder die Wesendonck-Lieder gesungen. Das lag mir gut und passte zu meiner Stimme, weil es viel um die Ausgestaltung von Text geht. So habe ich mich in Wagner reinverliebt. Meine erste Produktion, da war ich Anfang Zwanzig, habe ich in Gera mitgemacht, das war „Tannhäuser“ mit einem Vierzig-Personen-Chor. Das habe ich sehr genossen, und so habe ich mich nach und nach mit den anderen Opern befasst.

Welche ist Ihre Wagner-Lieblingsoper?

Karolin Zeinert im Kostüm – hier für Wagners „Tannhäuser“. Rainer Sellmaier hat die Kostüme für Tobias Kratzers Inszenierung entworfen. (Foto: privat)

Das ist eine fiese Frage, schwierig zu beantworten und von den Umständen abhängig. Beim Bayreuther „Ratten-Lohengrin“ von Hans Neuenfels dachte ich, ja, das ist „meine“ Wagner-Oper. Dann kam der nächste „Lohengrin“, der szenisch anders war und bei dem ich die Längen des Stücks spürte. Ich bin auch eine große Freundin von „Parsifal“, der kann aber auch ewig dauern. Wenn ich mich entscheiden müsste, dann zwischen „Tannhäuser“ und „Parsifal“. Das Elegische im „Parsifal“ finde ich ganz wunderbar, und das zaubert Pablo Heras-Casado in diesem Jahr wirklich toll. Er lässt das Orchester so leise spielen, dass wir in der Höhe stehen und uns manchmal fragen, ob das Orchester überhaupt noch spielt. Für jemanden, der in Bayreuth debütiert hat und die akustischen Finessen des Hauses noch nicht kennt, hat er die Musik großartig umgesetzt. Er hat auch eine Chorsaalprobe mit uns gemacht und ganz fein gearbeitet. An einem normalen Haus ist gar keine Zeit, so intensiv an Details zu arbeiten. Hier ist es möglich, auszuprobieren, wie weit man ein piano dimmen kann, damit es noch trägt und hörbar bleibt. Das hat großen Spaß gemacht.

Wenn Sie die Arbeit hier mit Düsseldorf oder anderen Theatern vergleichen: Was ist das Spezielle in Bayreuth? Gibt es das?

Ja, das gibt es auf jeden Fall, und zwar unter einigen Aspekten. Zum einen ist der Chor mit 134 Personen hier groß genug. Wir haben zum Beispiel in Düsseldorf auch einen „Fliegenden Holländer“, und da ist es nicht üblich, dass am Abend die Matrosen und der Geisterchor beide live gesungen werden. Die Geister kommen in aller Regel vom Band. Und dabei sind wir in Düsseldorf mit 65 Sängern ein relativ großer Chor – aber hier ist es eben das Doppelte. Hier kommt alles live. Zum anderen konzentriert man sich hier nur auf Wagner. In Düsseldorf haben wir innerhalb einer Spielzeit ein breites Repertoire. Da ist für eine solche Konzentration einfach kein Raum. Es gibt auch nicht so viele musikalische Proben und nicht so viel Zeit, an kleinsten Nuancen zu feilen.

Hier machen wir zehn Wochen lang nichts anderes als Wagner. Wir treffen uns bei „Parsifal“ vor jeder Vorstellung, sogar vor jedem Akt, und singen uns ein. Das heißt, man singt sich zusammen, geht nahe ans Dirigat, lotet noch einmal die Dynamik aus. Man ist hier sehr darauf angewiesen, auf die Chordirigenten zu achten, weil auf der Bühne eine andere Akustik herrscht als im Saal. Wir sind extrem davon abhängig, dass unsere Chordirigenten gut hören und uns perfekt führen. Wir leben hier in der „Glocke Bayreuth“, das ist keine Alltagssituation.

Was nehmen Sie mit aus Bayreuth für Ihre Arbeit an Ihrem Stammhaus? Auch wenn das Niveau der Dirigate unterschiedlich beurteilt wird, arbeiten Sie hier mit verschiedenen musikalischen Charakteren mit unterschiedlichen Auffassungen.

Man nimmt in jedem Fall die unterschiedlichen Weisen des Herangehens an die Musik mit. Wir haben dieses Jahr mit Nathalie Stutzmann im „Tannhäuser“ eine Sängerin als Dirigentin, und es ist interessant, wie ganz anders sie mit der Musik umgeht als Axel Kober, der ja mein Chef in Düsseldorf ist und mit dem wir hier in den letzten Jahren viel Freude hatten. Frau Stutzmann macht viel vor, dirigiert sehr gesanglich, mit viel Bogen und Fläche. Für das Orchester mag das schwierig sein, weil sie wohl weniger akzentuiert. Aber für uns im Chor ist das etwas ganz anderes. Manchmal ist es auch ein bisschen schwierig, wenn ich zurückkomme und von Bayreuth eine genaue Vorstellung mitbringe, wie bestimmte Stellen zu klingen haben.

Aufschlussreich ist auch zu beobachten, wie unterschiedlich Dirigenten im Umgang mit dem Orchester, dem Ensemble und auch mit Regisseuren sind – und welche Entwicklung sie im Lauf der Zeit machen. Ich erinnere mich an meine ersten Begegnungen mit Christian Thielemann, bei denen ich dachte: Oh, das ist hier aber ein harscher Ton. Einige Jahre später habe ich ihn viel gelöster erlebt. Da wirkte er, als wäre er „angekommen“. Was ich an Bayreuth schätze, ist das Verschwimmen der Distanz zu den „großen“ Sänger-Solisten. Man sitzt in der Kantine, und dann setzt sich ein Georg Zeppenfeld einfach mit an den Tisch. Wenn solche Solisten an einem Haus als Gast kommen und gehen, kommt dieses Miteinander nicht auf.

Wie erleben Sie die Arbeit mit den Regisseuren?

In den letzten elf Jahren habe ich hier – wie auch anderswo – festgestellt: Arbeit und Name gehen nicht immer konform. Es gibt Leute mit großem Ruf, bei denen ich bei der Arbeit die Hände über dem Kopf zusammenschlage und denke, die Ergebnisse sind nur ihrem Team zu verdanken. Und dann gibt es welche, die vielleicht nicht den prominentesten Namen haben, aber genau wissen, was sie wollen und eine tolle Arbeit machen, bei der man sich als Choristin auch mitgenommen fühlt. Die große Herausforderung speziell in Bayreuth ist, dass man den großen Chor auf der Bühne abholt und mitnimmt. Wenn von 134 Leuten jeder am Abend wissen soll, was er zu tun hat, wie seine Rolle und Funktion ist, dann ist das nochmal eine andere Hausnummer als beispielsweise den Chor in Düsseldorf zu führen, der halb so groß ist. Manche Regisseure sind von dieser Menschenmasse einfach eingeschüchtert und vielleicht auch überfordert.

In welchen Inszenierungen haben Sie sich besonders wohl gefühlt?

Die beste Produktion, die ich in den letzten Jahren mitgemacht habe, ist sicherlich der „Tannhäuser“ von Tobias Kratzer. Er kam zur ersten Probe und konnte jeden mit Namen ansprechen! Jeder hat von ihm eine Intention, eine Rolle bekommen, hat genau erfahren, was er wann und wo zu tun hat. Da ist eine solche Truppe dann natürlich voll dabei. Genauso Barrie Kosky. Bei ihm würde ich gerne noch einmal eine Regierarbeit mitmachen, weil mich seine Perfektion beeindruckt hat. Das ist natürlich anstrengend. Im letzten Akt seiner „Meistersinger“ gab es einige „freeze“-Situationen, in denen alle Bewegungen auf Stichwort „einfrieren“ müssen. Das hat er so lange geprobt, bis es 134 Leute plus Statisterie auf den Punkt gemacht haben. Das beeindruckt, nimmt den Chor mit und macht Spaß. Bei Regisseuren, die den Chor eher als Masse oder als Kollektiv betrachten, fühlen sich nicht alle angesprochen. Das ist ein normales Gruppenproblem.

Hat der Bayreuther Festspielchor im Vergleich zu anderen Chören eine eigene Gruppendynamik?

Von den 134 Menschen, die wir in diesem Jahr glücklicherweise wieder sind, sind nicht alle in festen Engagements. Viele arbeiten frei, treffen sich im Sommer hier und haben Bayreuth als Schwerpunkt in ihrem Arbeitsplan. Wer nach Bayreuth kommt, um hier seinen Sommerurlaub zu verbringen, bringt ein spezielles Arbeitsethos mit. Das zeigt sich, wenn der Chor nach einem Jahr wieder zusammenkommt zur ersten Probe. Wir haben die Stücke im Jahr zuvor so minutiös geprobt, dass man das Ergebnis unter den Umständen eines anderen Opernhauses ohne weiteres auf die Bühne stellen könnte. Aber an diesem Punkt beginnt die Arbeit in Bayreuth erst. Da wird an der Intonation gefeilt, da werden Einzelstimmen herausgekitzelt. Das ist anstrengend, aber die Chorsänger, die hier sind, wollen genau das. In einem normalen Opernhaus würde man das zeitlich überhaupt nicht schaffen. Außerdem ist das Klangerlebnis ein ganz anderes. In Düsseldorf haben wir sechs Stellen im zweiten Alt, hier sind es zwölf. Das ist ein ganz anderes Gefühl in der Gruppe. Wenn man da die Augen zumacht, ist der Klang traumschön.

Kann es dieses Erlebnis nicht doch auch anderswo geben?

Ich glaube, das kann man an keinem anderen Haus erreichen. Der Chor ist auch sehr multikulturell, die Sänger kommen von überall her, man trifft so viele Leute, was total schön ist und ein ganz eigenes Gefühl erzeugt. Dann bilden sich Freundschaftsgruppen, die auch Bayreuth überdauern. Man hat eine gemeinsame Leidenschaft, gemeinsame Erinnerungen. Das sind Gründe, warum sich so viele Leute den Sommer um die Ohren schlagen und lange dabei bleiben. Wir feiern regelmäßig 30jährige Jubiläen. Viele sagen: Wenn man einmal in Bayreuth war, dann ist man süchtig danach.




Szenisch demontiert, musikalisch erhöht: Mozarts römischer Kaiser Titus an der Rheinoper Düsseldorf

Maria Kataeva als Sesto in Mozarts „La Clemenza di Tito“ an der Rheinoper in Düsseldorf. (Foto: Bettina Stöß)

Ein Fest der noblen Töne und der durchgearbeiteten Details: Die Dirigentin Marie Jacquot hebt in luziden Klang, was Wolfgang Amadé Mozart in seine kurz vor der „Zauberflöte“ uraufgeführte Krönungsoper „La Clemenza di Tito“ an kompositorischen Kostbarkeiten eingeschrieben hat.

Trotz der Herkunft des Stoffs aus der Opera seria des Wiener Hofdichters Pietro Metastasio ist die alte Manier an vielen entscheidenden Stellen überschrieben. Äußerlich mag die Folge von Arien und Rezitativen noch an Althergebrachtes erinnern; innerlich haben es Librettist Caterino Mazzolà und Mozart mit seiner Kunst des Ensembles, aber auch mit der Aufwertung der Rolle des Orchesters gründlich hinter sich gelassen. Da ändern auch die Rezitative nichts, die vermutlich aus Zeitmangel von Mozarts Schüler Franz Xaver Süßmayr in Töne gesetzt wurden.

Die „Milde des Titus“ also. Zuletzt im Mozartjahr 2006 in Düsseldorf, diesmal unter dem so analytischen wie leidenschaftlichen Blick der jungen französischen Kapellmeisterin, die sich gerade an der Deutschen Oper am Rhein und bei einer Reihe von Gastdirigaten erfolgreich ihre Sporen verdient. Mit dem „Barbier von Sevilla“ war sie zu Beginn der Spielzeit schon mit viel Willen zu lockerer Beweglichkeit und witzig-spritziger Rossini-Verve unterwegs, ausgebremst freilich von einem nicht entsprechend alert reagierenden Orchester und einer wenig inspirierten Inszenierung von Maurice Lenhart.

Staatsaktion mit beseelten Menschen

Jetzt kommt ihr in diesem Lehrstück eines exemplarisch-idealen Regierungsstils die Regie von Michael Schulz ebenfalls nicht gerade entgegen. Aber die Düsseldorfer Symphoniker verstehen sich auf Mozart weit einfühlsamer als auf den trockenen Humor des Italieners. Und so wird der Abend in erster Linie ein musikalisches Erlebnis. Man mag sich den Kopf heiß reden über die Frage, ob das innere Pathos der Musik dem rückwärtsgewandten Auftragsstoff geschuldet ist – die böhmischen Stände als Auftraggeber wollten unbedingt einen „Titus“ haben –, oder ob Mozart nicht doch ein feines Ohr für die aus Frankreich kommende, neue musikalische Ausdruckssphäre hatte. Spannend auch zu hören, was Mozart seinen Zeitgenossen Christoph Willibald Gluck und Antonio Salieri an die Seite stellt, die beide auf ihre Weise bewegende Seelentöne trafen, ohne Mozart in seiner unendlich einfallsreich variativen musikalischen Sprache zu erreichen.

Marie Jacquot. (Foto: Werner Kmetitsch)

Marie Jacquot jedenfalls treibt das Pathos nicht auf die Spitze, entdeckt aber die Subtilität der Komposition, wie sie sich in der Ouvertüre nach der Dreiklangseröffnung und einem gekonnt gesteigerten Mannheimer Crescendo in der Verarbeitung des eigentlich simplen Themas mit seinen schreitenden, durch Pausen getrennten Achteln zeigt. Bei ihr klingen diese Momente nicht kühl poliert, sondern erfüllt mit lyrischer Wärme – denn es geht ja nicht (nur) um eine Staatsaktion oder ein Herrscherideal, sondern ebenso um beseelte Menschen. Jacquot lässt sie in sensibler Finesse und Liebe zum Detail vor unser musikalisches Ohr treten: Man hört das Fagott im Aufzugsmarsch des Kaisers, man folgt den Halbtonschritt-Sequenzen, die Titus als abgeklärten, in sich ruhenden Charakter in die Nähe Sarastros rücken. Wolfgang Esch mit seiner Bassettklarinette und Ege Banaz mit dem Bassetthorn haben den Raum, den Reiz des Instrumentalklangs wunderschön zu entfalten.

Auch die hohe Kunst der Ensembleführung wird vom Dirigentenpult aus gepflegt. Ob im Finalquintett des ersten Akts, das Friedrich Rochlitz ein „großes Meisterstück“ nannte, oder in der erregten Hektik des Terzetts „Vengo! Aspettate …“: Marie Jacquot übertreibt die Ausdrucksmittel nicht, hält Tempi und Dynamik stets ausgewogen im Zaum, ergreift aber gerade dadurch die Chance, sie mit innerem Leben und mit eleganter Expressivität zu erfüllen. Da sie die Sänger diskret und rücksichtsvoll begleitet, haben sie die Chance, sich stimmlich ohne Druck zu entfalten.

Utopische Milde contra Zynismus der Macht

Das glückt nicht durchgängig: Immer wieder setzen sie sich unter Spannung, wo die Dirigentin eigentlich locker führen will. Aber Maria Kataeva singt sich schon nach dem ersten, noch etwas gehemmten Einstand frei und gestaltet vor allem ihre Arie „Parto, parto“ und das große, zum Finale überleitende Rezitativ „Oh Dei, che smania e questa“ mit dramatischem Gespür und flexibler Beweglichkeit. Das Freundschafts-Duettino mit Annio leidet unter der Manier von Anna Harvey, Töne zu „stoßen“ statt gleichmäßig auf dem Atem zu führen; in der Arie „Tu fosti tradito“ im zweiten Akt gelingt es Harvey besser, den Ton zu fokussieren und strömen zu lassen.

Als eine mit allen kriminellen Wassern gewaschene Zynikerin der Macht hat Titus‘ Gegenspielerin Vitellia ein breites Spektrum von Affekten vokal zu bewältigen, von zupackender Aggressivität über fiebrige Erregung bis hin zu – für die Figur erstaunlichen – Äußerungen weicher Empfindung. Dem strahlkräftigen, mit funkelndem Metall angereicherten Sopran von Sarah Ferede kommen die energischen und dunklen Seiten dieses Charakters eher entgegen; gleichwohl gelingt es ihr, ihre erste Arie („Deh, se piacer mi vuoi“) differenziert zu singen.

Jussi Myllys hat die undankbare Aufgabe, mit dem Kaiser eine Figur ohne innere Entwicklung und Handlungsmacht darzustellen. Der Edelmut des Herrschers – ganz im Gegensatz zum historischen Titus Flavius Vespasianus, wie ihn der römische Historiker Sueton sicher in tendenziöser Absicht schildert – ergießt sich in Betrachtungen etwa über die Rolle der Wahrheit vor Fürstenthronen, macht aber auch den Schmerz und die Enttäuschung deutlich, über die Titus dennoch seine „clemenza“ siegen lassen will. Die trocken-unbeteiligte Farbe des Tenors von Jussi Myllys und eine introvertierte, öfter belegt wirkende Tongebung mache die Rolle nicht eben interessanter. Auch Beniamin Pop als Publio kann – anders als Lavinia Dames als anmutige Servilia – keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen.

Dirk Beckers Bühne zu Mozarts Oper. Foto: Bettina Stöß

Für seine Inszenierung hat der erstmals an der Rheinoper inszenierende Gelsenkirchener Generalintendant Michael Schulz genau eine Idee – und die stellt sich nach langen, umständlichen Auftritten und Abgängen in einem unspezifischen, für alle möglichen Werke recycelbaren Bühnenaufbau von Dirk Becker erst am Ende ein. Milde, Verzeihung, Menschlichkeit? Alles nur Show. Mit dieser Desavouierung von Mozarts hochgestimmtem Fürstenspiegel entlässt Schulz die Zuschauer in eine Realität, die leider allzu oft einen ähnlichen Eindruck nahelegt. Ob allerdings auf diese Weise „Macht, Güte, Milde und Weisheit als Korruption, Schmeichelei und devoter Untertanengeist“ enttarnt werden, wie Wolfgang Willaschek in einem provokanten Programmheftbeitrag meint, bleibe dahingestellt.




Wie sieht das Museum der Zukunft aus? Wuppertaler Gesprächsreihe sammelt Ideen

Wie können sich die Museen – auch und gerade „seit Corona“ – aufstellen, um womöglich neues Publikum zu erschließen? So lautet eine Kernfrage der fünfteiligen Gesprächsreihe, zu der Roland Mönig, neuer Direktor des Wuppertaler Von der Heydt-Museums, Kolleg(inn)en aus anderen NRW-Häusern eingeladen hat. Just wegen Corona ist die Reihe nun als Videoschalte ins Netz gewandert. Das Motto lautet nach wie vor: „possible to imagine“. Und ja: So manches ist vorstellbar.

„possible to imagine“: So sieht es aus, wenn man sich zur Wuppertaler Videoschalte anmeldet. (Screenshot des Zoom-Bildschirms)

Gestern Abend schloss sich als vierter von fünf Terminen ein Gespräch mit Felix Krämer an, dem Direktor des Düsseldorfer Kunstpalastes. Dessen ausgedehnte Häuser beherbergen beispielsweise auch angewandte Kunst und Design, so dass Krämer und sein Team im Zweifelsfalle auch Rasierapparate ausstellen könnten, was den Zugang zu breiteren Publikumsschichten erleichtern mag – ebenso wie das allgemeine Ziel einer allzeit verständlichen Vermittlung. Sehr breit ist denn auch das Ausstellungsspektrum, es reicht von Caspar David Friedrich und der Düsseldorfer Malerschule bis hin zu einer Mode-Schau, die von Claudia Schiffer kuratiert wird (vermutlich ab August 2021).

Wenn die „Palast*Pilotinnen“ loslegen

Die Düsseldorfer haben einiges in Gang gesetzt, um auch Leute zu erreichen, die sonst nicht ins Museum gehen. Nur 5 bis 10 Prozent aller Deutschen, so Felix Krämer, betreten überhaupt Museen, man habe also ein Legitimationsproblem. Gegensteuern möchte er mit Aktionen wie der Suche nach „Palast-Pilot*innen“, die an der Neupräsentation der Sammlung gestaltend mitwirken sollen und aus ganz verschiedenen Berufsfeldern stammen. Kunsthistorische Vorkenntnisse waren nicht gefragt, als zur Teilnahme aufgerufen wurde. Über 1000 Leute meldeten sich, dann wurde gesiebt und gesiebt, bis schließlich 10 übrig blieben. Über die Auswahlkriterien hätte man gerne noch Näheres erfahren. (Übrigens: Von Migrantinnen und Migranten als Zielgruppe war nicht die Rede, jedenfalls nicht ausdrücklich).

Endlich mal ein richtiges Ölbild sehen

Weitere Aktivität: die in ihrer Art bundesweit einmalige, spezielle Kinder-Website des Museums. Auch gehen die Leute vom „Kunstpalast“ zwar nicht mit Spitzenstücken, wohl aber mit preiswert erworbenen Ölgemälden des 19. Jahrhunderts in Grundschulen, denn viele, viele Kinder haben tatsächlich noch nie ein echtes Ölbild gesehen, sondern allenfalls Reproduktionen oder elektronische Wiedergaben. Krämer (Düsseldorf) und Mönig (Wuppertal) waren sich einig: Es herrsche ein ungeheurer Bilderüberschuss bei gleichzeitiger „Bilderarmut“.

Der Corona-Frust war Krämer deutlich anzumerken. In diesen Zeiten ein (geschlossenes) Museum zu leiten, sei „einfach Mist“, befand er unumwunden. Zugleich lege die Pandemie die Schwächen bisheriger Planungen bloß. Zumal in Zeiten, in denen alle Einnahmen wegfallen, die meisten Ausgaben aber weiterlaufen, dränge sich die Frage auf: „Muss denn wirklich jede Ausstellung sein?“

Ein wenig provokant auch Krämers lautes Nachdenken über Depots, die durch Ankäufe immer mehr gefüllt und überfüllt würden. Wolle man denn wirklich das zehnte oder fünfzehnte Depot bauen, statt auch einmal Arbeiten zu v e r kaufen?

„…wie nach einem Zahnarztbesuch“

Felix Krämer richtete den Blick auf andere europäische Länder, wo man viel mehr jüngeres Publikum („unter 30″) in den Ausstellungshäusern sehe und wo man digitalen Vermittlungsformen aufgeschlossener gegenüberstehe. Als leuchtende Beispiele nannte er vor allem England und die Niederlande. Dort, so pflichtete Roland Mönig bei, würden etwa Shoppen, Kaffeetrinken und Museumsbesuch nicht so säuberlich getrennt wie bei uns. Hierzulande trinke man den Kaffee immer erst nach Absolvierung des Museums, gleichsam als Trost – „wie nach einem Zahnarztbesuch…“

Selfies vor Kunstwerken? Kein Problem!

E i n e Zukunft, das kristallisierte sich aus dem Gespräch heraus, liegt für die Museen offensichtlich in Formen der Virtual Reality (VR) oder auch Augmented Reality (AR). Krämer verwies auf ein Vorhaben, bei den virtuelle Skulpturen im Düsseldorfer Hofgarten verteilt werden sollen, die dann mit Smartphone oder Tablet aufgespürt und aufgerufen werden können – fast wie bei „Pokémon Go!“ Nützliche Nebeneffekte: Bei einer imaginären Ausstellung entfallen alle Mühen des Transports. Kein Kunstwerk kann beschädigt werden. Und man könnte eine solche Schau simultan an andere Orte „beamen“. Allerdings dürfte auch zumindest eine Dimension der Sinnlichkeit fehlen.

Einmütigkeit herrschte auch zum Thema Fotografierverbot im Museum. Sowohl Krämer als auch Mönig lehnen derlei Restriktionen rundweg ab. Im Gegenteil: Fotografieren (mitsamt Selfies vor den Kunstwerken) sei geradezu erwünscht. Na, da schau her!

Alles nur noch virtuell? Beileibe nicht. Roland Mönig betonte auch, dass Kunstwerke, wie sie in Museen gezeigt werden, „konkrete Körper“ seien, die beim Betrachten „Nähe herstellen“. Darin bestehe immer noch eine Kernaufgabe der Ausstellungs-Institute.

Was zuvor geschah – und was noch folgt

Die Gesprächsreihe war am 30. September mit Roland Nachtigäller eingeleitet worden, dem Chef des Marta-Museums in Herford. Er überraschte mit einer „steilen These“ (Roland Mönig), die da lautete: „Das Museum der Zukunft wird kein Museum mehr sein.“ Sodann stellte Katia Baudin, Direktorin der Krefelder Kunstmuseen, ihr Institut vor allem als „Ort des Experiments“ vor. Wer, wenn nicht die Museen, solle dafür zuständig sein? Dritter Gesprächsgast war der Journalist und Kunstkritiker Stefan Koldehoff (Deutschlandfunk), der in Museen vor allem Stätten der Kontroverse sieht und allenfalls in zweiter Linie den Tourismus-Faktor gelten lassen möchte.

Zwischenfazit: eine anregende Reihe, die zukunftsweisende Ideen sammelt. Wer weiß, welche Folgen und Folgerungen sich daraus noch ergeben werden.

Am 2. Dezember (18.30 Uhr) gibt es noch eine Gesprächsrunde mit Christina Végh, Direktorin und Geschäftsführerin der Kunsthalle Bielefeld.

 




„Es ist, wie es ist“ – die frühen Jahre des Gerhard Richter

Gerhard Richter: „Sitzende“ (Oktober 1961), Öl auf Hartfaserplatte, 70×50 cm, Privatsammlung, Norddeutschland. (© Gerhard Richter 2020 (10042020) / Foto: Estel/Klut SKD)

Eigentlich geht es Gerhard Richter in der DDR gar nicht schlecht. Vom Erlös seiner Bilder kann er ganz gut leben. In Dresden, wo er studiert hat und an der Kunst-Hochschule weiterhin wirkt, gilt er manchen jungen Kollegen sogar schon als Bonze und Sprachrohr der Einheitspartei.

Doch Gerd (wie er sich damals nennt) sieht sich in einer künstlerischen und politischen Sackgasse. Auf der documenta in Kassel hat er den Surrealismus und die abstrakte und informelle Moderne kennengelernt. Jetzt hat er keine Lust mehr, sein Talent mit dem von der SED propagierten sozialistischem Realismus zu vertrödeln. Auch wenn es für den 29-jährigen Künstler ein enormes Risiko und Wagnis ist: Gerd will in den Westen und noch einmal ganz neu anfangen.

Im Westen erwartet ihn nichts und niemand

Im Februar 1961 verkauft er seinen Trabant, steckt ein paar Zeichnungen ein und fährt mit seiner Ehefrau Marianne von Dresden nach Berlin. Schon vorher hatte er, auf der Rückreise von einem Studienaufenthalt in Leningrad und Moskau, auf dem Berliner Bahnhof Zoo ein paar Koffer mit privaten Sachen deponiert. Die wird er jetzt brauchen: Denn außer einem kleinen Begrüßungsgeld und einigen warmen Worten erwartet ihn im Westen nichts und niemand.

Gerhard Richter: „Wunde 16″ (Nr. II/16/62), Februar 1962, Öl auf Hartfaserplatte, 70×100 cm, Sammlung Susanne Walther (©Gerhard Richter 2020 (10042020))

Trotzdem hofft er, an der Kunstakademie in Düsseldorf, wo sich in diesen Jahren um Joseph Beuys und der Künstlergruppe ZERO eine progressive Kunstszene entwickelt, Fuß fassen zu können. Doch bis er in die Klasse von Professor Ferdinand Macketanz aufgenommen wird und ein eigenes Zimmer in der Kirchfeldstraße 104 beziehen kann, ist es noch ein weiter Weg, muss er noch ein paar Wochen ins Aufnahmelager nach Gießen, um dort die Formalitäten seiner Übersiedelung zu beschleunigen.

„…beruflich habe ich nur vage Hoffnungen“

An Helmut und Erika Heinze, seine in Radebeul (bei Dresden) gebliebenen Freunde, schreibt er in der Zeit des Wartens und Übergangs in eine ungewisse Zukunft immer wieder Briefe: „Es ist triste hier und beruflich habe ich nur vage Hoffnungen“, notiert er. Ein anderes Mal: „Nicht dass ich irgendetwas bereue. Für mich war das Abbrechen logisch und notwendig, wie immer es auch ausgehen mag.“ Und immer wieder zieht er, zwischen vagen Hoffnungen und existenziellen Nöten schwankend, das lakonische Fazit: „Es ist, wie es ist.“

„Gerd Richter 1961/62: Es ist, wie es ist“: So heißt jetzt eine Ausstellung im Dresdner Albertinum, die sich ganz dieser weithin unbekannten Phase im Leben des inzwischen bekanntesten zeitgenössischen deutschen Künstlers widmet und Briefe und Dokumente, Zeichnungen und Bilder präsentiert, die bisher kaum jemand zu Gesicht bekommen hat. Die Schau ist klein und präsentiert nur wenige Werke, aber sie ist – will man wissen und verstehen, wie Richter zu dem wurde, was er heute ist – ungemein wichtig.

Zubrot mit Bemalung von Karnevalswagen

Die in Vitrinen präsentierten Briefe zeigen einen von Angst und Sorgen gepeinigten Künstler, der sich in einer Zeichnung als Gefangener im Gießener Lager stilisiert; der sich ein Zubrot mit dem Bemalen von Karnevalswagen und dem Verkauf von Mal-Utensilien verdient; der alles daran setzt, in Düsseldorf zu reüssieren, seine in Dresden erprobten figurativen Bildelemente mit den informellen und abstrakten Möglichkeiten der westlichen Moderne zu kombinieren.

Gerhard Richter: Ohne Titel („Emas Bluse“), 1962, Bluse mit Gips und Lack, 71,7 ×38,1 cm (gerahmt), Igal Ahouvi Art Collection (© Gerhard Richter 2020 (10042020))

Während seine „Sitzende“ noch sehr an Picassos kubistische Zeichenhaftigkeit erinnert, sind die verschmierte graue „Wunde“ und der bunt verkleckerte „Fleck“ schon abstrakte Farbfantasien, die er sich bei Karl Otto Götz abgeschaut haben mag, dem von Richter hoch verehrten Mal-Professor, in dessen Düsseldorfer Klasse er bald schon, im April 1962, wechseln wird.

Aufgeregte Debatten um Debüt in Fulda

Immer wieder schickt er Briefe zu seine Freunde nach Radebeul, reflektiert sein Werk, entwirft Skizzen für seine Bilder, legt Fotos bei, die er von seiner Wohnung macht. Natürlich berichtet er ihnen auch von seiner ersten Ausstellung: Gemeinsam mit Manfred Kuttner kann er im September 1962 in der „Galerie junge Kunst“ in Fulda einige seiner neuesten Werke zeigen. Sie erregen in der örtlichen Presse einiges Aufsehen, die an die Wand gehängten präparierten Kleidungsstücke – zum Beispiel ein lackiertes Hemd – lösen Debatten aus: Von „einfach toll“ über „großer Blödsinn“ bis „Kulturschande“ reichen die von der „Fuldaer Volkszeitung“ wiedergegebene Kommentare der Besucher. Verkaufen wird Richter kein einziges der in Fulda gezeigten Werke. Aber das macht nichts. Er weiß jetzt, dass alles ganz anders werden muss.

Bilderverbrennung und radikaler Neubeginn

Um sich von allem Ballast zu befreien, verbrennt er die Bilder in einem Baucontainer im Hof der Düsseldorfer Akademie: ein Befreiungsschlag und radikaler Neubeginn. „Wer weiß, was aus mir geworden wäre, wenn ich mit den Bildern Erfolg gehabt hätte“, wird er viele Jahre später sagen. Nach dem Autodafé wird er Ende 1962 beginnen (Gemälde Nummer 1: „Tisch“), seine Werke zu nummerieren und zu katalogisieren. Doch das ist ein anderes Kapitel. Wer einige dieser Werke – zum Beispiel das nach einem Foto gemalte unscharfe Bild Nummer 14: „Sekretärin“ oder die mit dem Rakel gezogene Farbexplosion Nummer 722-3: „Abstraktion“ – bewundern will, braucht nur eine Treppe höher zu steigen: In der Dauerausstellung des Albertinums sind zwei Säle dem großen Meister gewidmet.

„Gerd Richter 1961/62: Es ist, wie es ist“, Albertinum, Dresden. Bis 29. November. Aktuelle Informationen zu Öffnungszeiten, Programm und Besuchsmodalitäten in Zeiten von Corona auf der Webseite www.skd.museum. Katalog (Verlag der Buchhandlung Walter König, Köln), 125 Seiten, 29,80 Euro.




Corona: Viele Absagen für Theater, Oper und Konzert in NRW – und auch jenseits der Landesgrenzen

Sagt bis 19. April alle Vorstellungen ab: das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. (Foto: Werner Häußner)

Für die Kulturszene in NRW hat das Corona-Virus bereits Auswirkungen. Hier ein erster Rundblick:

Die Maßnahmen, die eine weitere Verbreitung von Sars-CoV-2 – so heißt das tückische Kleinteilchen – hemmen sollen, führten bereits gestern, 10. März, zur Einstellung des Spielbetriebs des Musiktheaters im Revier in Gelsenkirchen bis voraussichtlich 19. April.

Soeben hat auch das Theater Hagen alle Vorstellungen im Großen Haus – nicht aber in den kleineren Spielstätten – abgesagt. In Dortmunder Konzerthaus sind der Auftritt von Bodo Wartke am heutigen 11. März auf den 23. Juni verschoben und alle öffentlichen Veranstaltungen bis 15. April abgesagt. Und nun hat auch das Beethovenfest Bonn alle Konzerte zwischen 13. und 22. März abgesagt,

Seit dem Erlass des Gesundheitsministeriums vom 10. März sollen die örtlichen Behörden Veranstaltungen mit mehr als 1.000 zu erwartenden Besucherinnen und Besuchern grundsätzlich absagen. Liegt die Zahl darunter, sei – wie bisher – eine individuelle Einschätzung der örtlichen Behörden erforderlich, ob und welche infektionshygienischen Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, heißt es auf der Homepage der Landesregierung.

Düsseldorf deckelt die Zahl der Besucher

Während bei der Theater und Philharmonie (TuP) Essen die Entscheidungsfindung noch im Gang ist, hat sich die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf entschieden, vorerst weiterzuspielen, den Verkauf von Karten aber so zu deckeln, dass die Zahl von 1.000 Menschen im Raum (Besucher und Mitwirkende) nicht überschritten wird. Auch die Wuppertaler Bühnen führen momentan den Spielbetrieb weiter. Die Historische Stadthalle begrenzt ihren Kartenverkauf ebenfalls, damit die 1000er-Marke nicht überschritten wird.

Nicht – oder noch nicht – betroffen scheinen die Museen: Das Essener Folkwang Museum sagt zwar seine Ausstellungseröffnung zu Mario Pfeifer, Black/White/Grey (am 12. März, 19 Uhr) ab, hat aber ansonsten wie üblich geöffnet. Auch die Beethoven-Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn bleibt unberührt.

In Sachsen spielt man vorerst weiter

Ein Blick über die Grenzen: In Bayern sind alle Staatstheater geschlossen, die Theater in Bamberg, Würzburg und Regensburg haben bereits nachgezogen und ihre Vorstellungen bis Mitte April abgesagt. In Wien schließen Burgtheater, Staats- und Volksoper. Auch in den drei Berliner Opernhäuser gibt es bis 19. April keine Vorstellungen. Sachsen dagegen meldet derzeit keine Absagen: Semperoper, Staatsoperette Dresden, Theater Chemnitz spielen, und auch die Landesbühnen Sachsen kündigen die Premiere von Heinrich Marschners „Der Vampyr“ in der Regie von Manuel Schmitt – erfolgreicher Regisseur von Bizets „Perlenfischern“ in Gelsenkirchen – weiterhin für den 14. März an.

Fatale Folgen haben die Schließungen und Absagen für freie Künstler, vor allem, wenn Verträge keine Ausfallhaftung vorsehen. Sechs Wochen ohne oder mit deutlich vermindertem Einkommen führen in solchen Fällen schnell in eine prekäre Lage. Es wird sich zeigen, ob die Institutionen bzw. die Geldgeber zu unbürokratischen und großzügigen Lösungen bereit sind. Der Präsident des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, hat bereits einen Notfonds gefordert – „sehr schnell und mit wenig Bürokratie“.




„Opus Klassik“: Zwei Preise gehen nach Düsseldorf

Im Vordergrund: die Trophäe des Opus Klassik. Foto: Monique Wüstenhagen

Im Vordergrund: die Trophäe des Opus Klassik. Foto: Monique Wüstenhagen

Unser Gastautor Robert Unger (Geschäftsführender Vorstand des Internationalen Kurt Masur Instituts Leipzig) über die Verleihung des Musikpreises „Opus Klassik“:

Gleich zwei Preise des zum zweiten Mal vergebenen Opus Klassik gehen nach Nordrhein-Westfalen, genauer: in die Landeshauptstadt Düsseldorf.

Das musische sozial-integrative Projekt SingPause in Düsseldorf erhält den Preis in der Kategorie „Nachwuchsförderung“. In der Kategorie „Sinfonische Einspielung des Jahres für Musik des 19. Jahrhunderts“ zeichnete die Jury die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Ádám Fischer für ihre Interpretation der Dritten Sinfonie Gustav Mahlers aus.

Der Opus Klassik ist der Nachfolger des Echo Klassik: Diesen Preis hatte der Vorstand des Bundesverbands Musikindustrie (BMVI) 2018 eingestellt, nachdem es für die Verleihung des Echo Pop an die Rapper Kollegah und Farid Bang anhaltende Kritik gegeben hatte. Nicht wenige Kritiker hatten die Texte auf dem prämierten Album „JBG3“ als gewaltverherrlichend, sexistisch und antisemitisch eingestuft.  Der Preis solle nicht als „Plattform für Antisemitismus, Frauenverachtung, Homophobie oder Gewaltverharmlosung wahrgenommen“ werden, begründete der BVMI seinen Schritt. Das Album landete später auch auf dem Jugendschutz-Index.

Ausrichter des Opus Klassik Preises ist der Verein zur Förderung der Klassischen Musik e. V., in dem Labels, Veranstalter, Verlage und Persönlichkeiten aus der Klassik-Welt vertreten sind. Dieser zeichnet außerordentliche Künstler und Leistungen aus dem Genre Klassik aus. Eine unabhängige Jury wählt nach Nominierungen in verschiedenen Kategorien die Preisträger aus. Der Opus Klassik soll dabei „ein Preis von der Klassik für die Klassik sein“, so der Vorsitzende des Vereins zur Förderung der klassischen Musik Dr. Clemens Trautmann, Präsident der Deutschen Grammophon. Die Preisverleihung findet am 13. Oktober im Konzerthaus Berlin statt und wird dann vom Partner ZDF um 22.15 Uhr ausgestrahlt.

Die SingPause als sozial-integratives Bildungsangebot hat das Ziel, ganzen Jahrgängen von Grundschulkindern die Musik zurückzubringen. Sie startete erstmals 2006 und ist heute die größte Singbewegung für Kinder in Europa. Zwei Mal in der Woche besucht in 69 Grundschulen ein in der amerikanischen WARD-Methode ausgebildeter Sänger eine Grundschulklasse und macht mit den Schülern eine SingPause. Durch den gemeinsamen Gesang lernen die Kinder, dass die Stimme ein wunderbares Instrument ist, während sie durch den Gesang selbstbewusst und stark werden sollen. Die Düsseldorfer SingPause ist ein Projekt des vor mehr als 200 Jahren gegründeten Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf.

Ausgezeichnete Aufnahme: Mahlers Dritte Sinfonie mit den Düsseldorfer Symphonikern und dirigiert von Ádám Fischer. Cover: Avi music

Ausgezeichnete Aufnahme: Mahlers Dritte Sinfonie mit den Düsseldorfer Symphonikern und dirigiert von Ádám Fischer. Cover: Avi music

Seit 2015 führen Ádám Fischer und die Düsseldorfer Symphoniker in einem Zyklus alle Sinfonien Gustav Mahlers gemeinsam mit Sinfonien von Joseph Haydn auf. Die Aufnahme von Gustav Mahlers Dritter Sinfonie vom November 2017 aus der Tonhalle wurde nun mit dem Opus Klassik ausgezeichnet. Der Mitschnitt unter Mitwirkung der Altistin Anna Larsson, dem Clara-Schumann-Jugendchor und den Damen des Städtischen Musikvereins entstand in Kooperation mit dem Deutschlandradio und ist erschienen beim Label Avi Music.

Die Aufnahme setzte sich in der Kategorie „Sinfonische Einspielung / Musik des 19. Jahrhunderts“ gegen 16 weitere Nominierte durch. Dies ist bereits die zweite renommierte Auszeichnung für einen Mitschnitt des Mahler-Zyklus: Die 2018 erschienene Sinfonie Nr.1 unter Ádám Fischer erhielt im Januar den BBC Music Magazine Award. Der Zyklus wird am 28. Februar sowie 1. und 2. März mit Mahlers Sechster in der Düsseldorfer Tonhalle vollendet; zum Abschluss dirigiert Ádám Fischer am 15., 17. und 18. Mai 2020 Joseph Haydns „Die Jahreszeiten“.

Die Preise sind ein Achtungszeichen für die Kulturvielfalt in der Rhein-Ruhr-Region, die sich sonst im nationalen Feuilleton neben Metropolen wie München, Berlin, Hamburg oder Frankfurt schwer tut, Aufmerksamkeit zu erzielen. Für die Kommunen, die unterstützenden Institutionen und die erfreulich ausgebaute Kulturförderung der Landesregierung mögen die Auszeichnungen ein Signal sein: Es lohnt sich, in Kultur zu investieren.




Rauschende Partys, gnadenloser Heiratsmarkt: Tschaikowskys „Pique Dame“ – ins Hollywood der 50er Jahre verlegt

Szenenbild aus „Pique Dame“ in Düsseldorf. (Foto: Hans Jörg Michel/Rheinoper)

Der kleine Indianer geht traurig über die Bücke, von der sich die unglücklich verliebte Lisa gleich stürzen wird. Dabei ist er gar nicht real, sondern die Kopfgeburt des Drehbuchautors Hermann, der für die Traumfabrik Hollywood Ideen produziert, aber zu seiner High Society nicht wirklich dazugehört: Denn er besitzt weder einen Swimmingpool noch eine mondäne Villa, geschweige denn einen Pfennig Geld. Nur seine leidenschaftliche Liebe zu Lisa, für die er zu arm und die auch bereits mit einem Fürsten verlobt ist.

Für die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf und Duisburg (dortige Premiere am 28. September 2019) hat die amerikanische Regisseurin Lydia Steier Tschaikowskys russische Oper „Pique Dame“ kurzerhand ins Hollywood der 50er Jahre verlegt und diese Interpretation funktioniert überraschend gut. Denn die Mechanismen des Jet Set gleichen sich, ob es sich nun um die russische Aristokratie oder die Hollywood-Schickeria handelt.

Die „alte Hexe“ und das Kartengeheimnis

Rauschende Partys, ein gnadenloser Heiratsmarkt, unglückliche Leidenschaften, Geldgier und Spielsucht sind in beiden Sphären zu finden und wer nicht mithalten kann, wird schnell zum Außenseiter. Deprimiert sitzt nun Hermann (Sergey Polyakov) im ausgebeulten Breitcord-Anzug am Rande der Poolparty und kann seine Angebetete Lisa (Elisabet Strid) nur von Ferne anschmachten, denn ihr Verlobter Fürst Jeletzki (Dmitry Lavrov) weicht ihr nicht von der Seite.

Da erzählt ihm sein Freund Graf Tomski (Alexander Krasnov) eine abenteuerliche Geschichte: Die Großmutter Lisas, inzwischen über 80 Jahre alt und in ihrer Jugend in Paris eine gefeierte Schönheit, kennt ein Kartengeheimnis: Wer die drei geheimen Karten spielt, gewinnt immer. Nur dass die alte Gräfin, grandios gesungen von Hanna Schwarz und als eine Art alternder Stummfilmstar inszeniert, das Geheimnis natürlich partout nicht verraten will. Denn die Prophezeiung sagt: Der nächste, der es ihr entreißen wird, tötet sie. Also vergräbt sie sich lieber in ihre Villa, lässt sich stundenlang maniküren und schönheitsbehandeln und zickt ihre Enkelin Lisa an, die beim Jungesellinnenabschied mit ihren Freundinnen zu viel Lärm macht.

So kann die „alte Hexe“ eigentlich gar keiner mehr leiden, dabei war sie in ihrer Jugend doch so schön und begehrt, wie das überlebensgroße Porträt über ihrem Bett zeigt. Für das großartige Bühnenbild mitsamt Pool, Villa und Spielcasino zeichnet Bärbl Hohmann verantwortlich, die Kostüme à la 50er Jahre mit Petticoats, Cowboy- und Indianer-Statisterie und Badenixen-Flair besorgte Ursula Kudrna.

Da bleibt ihm nur der Selbstmord

Musikalisch ist die Düsseldorfer „Pique Dame“ ebenfalls extrem packend: Das Orchester unter Aziz Shokhakimov und die Sänger transportieren die Leidenschaftlichkeit, die emotionalen Höhen und Tiefen und die Zerrissenheit der Charaktere, die sich im Falle Hermanns bis in den Wahnsinn steigert, sowohl mit fiebriger Energie als auch tiefer Melancholie über die Rampe. Wer da nicht mitleidet, hat kein Herz und schon gar kein russisches. Herausragend dabei die Hauptpartien von Elisabet Strid und Sergey Polyakov, aber auch die kleineren Rollen sind gut besetzt und das Ensemble agiert als harmonisches Ganzes.

Leider geht die Sache, man ahnt es schon, nicht gut aus: Hermann und Lisa verlieben sich zwar, sie löst ihre Verlobung mit dem Fürsten und will mit ihm durchbrennen. Doch um die nötigen Mittel dafür zu erhalten, bedrängt Hermann die Großmutter zwecks des Kartengeheimnisses. In einer gespenstischen Szene will die Alte ihn dabei vernaschen, doch das macht ihr Herz nicht mehr mit – sie stirbt. Und Lisa gibt Hermann die Schuld daran. Nachts am Fluss wollen sie sich aussprechen, doch Hermann hat nunmehr die drei Gewinnkarten im Kopf und eilt in den Spielsalon. Lisa stürzt sich von der Brücke und der kleine Indianer guckt traurig.

Doch Hermann bringen die drei Karten auch kein Glück: Er verliert alles, weil er statt einem Ass die „Pique Dame“, so der Spitzname der Großmutter, zieht. Da bleibt ihm nur der Selbstmord mit dem Revolver. Ein großes Melodram, fast wie im Film.

Karten und Termine: www.operamrhein.de




Zweifel und Bekenntnis: Adam Fischer dirigiert in Düsseldorf Mahlers „Auferstehungs-Symphonie“

Bekenntnisse sehen anders aus. Sie haben vielleicht den erhabenen Ernst, mit dem Joseph Haydn die „Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“ umkleidet. Nicht aber den grellen Zweifel des „wüsten Traums“, der das Leben durchdringt, und den Gustav Mahler in einer programmatischen Erläuterung zu seiner Zweiten Symphonie erwähnt.

Der Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf und die Düsseldorfer Symphoniker unter Adam Fischer in der Tonhalle. ©Tonhalle Düsseldorf/Susanne Diesner Fotografie

Der Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf und die Düsseldorfer Symphoniker unter Adam Fischer in der Tonhalle. ©Tonhalle Düsseldorf/Susanne Diesner Fotografie

Und doch klingt im letzten Satz eine geradezu verzweifelt festgehaltene Zuversicht in der ätherischen Schönheit des Chorgesangs mit: In heißem Liebesstreben entschweben zum Licht, in das kein Aug‘ gedrungen. Hier dichtet Mahler selbst – und was man auch immer über seinen Wechsel zur katholischen Konfession raunt: Was der Komponist hier in unerhörten, Glaubensgewissheit verströmenden Klang fasst, sind persönliche Worte, die von seinem Fühlen und Denken nicht zu trennen sind.

Adam Fischer steigert diesen letzten Satz der c-Moll-Symphonie ins Monumentale, ohne ihn zu bloßer musikalischer Überwältigung degenerieren zu lassen. Wie er überhaupt in diesem vorletzten Mahler-Konzert seines Düsseldorfer Haydn-Mahler-Zyklus eine mustergültig beherrschte Auffassung zeigt: Er pflegt weder den technizistisch geglätteten, perfekt polierten Mahler-Sound moderner Breitband-Dirigenten, noch reißt er die Faktur der Symphonie in wilder, greller Übersteigerung auf. In der Zweiten sind die Märsche und Tänze weit weniger grotesk oder ironisch als in anderen Mahler-Symphonien, die Unruhe ist nicht so kantig formuliert, die lyrischen Teile sind eher von Wehmut und Schmerz als von Sarkasmus geprägt. Fischer hält in allem Maß, ohne unverbindlich zu werden.

Adam Fischer. Foto: Tonhalle, Susanne Diesner

Die Düsseldorfer Symphoniker finden unter Fischers Stab zu „böhmischen“ warmen Klangfarben, etwa im zweiten Satz mit seiner weichen, beinah zärtlichen Ländler-Erinnerung. Da tönt eine Bruckner’sche Idylle herüber, sacht und ohne Ironie. Die dramatisch gesteigerten Trios wirken – inklusive kraftvoller Harfen – scharf zugeschnitten, aber nicht katastrophisch gesteigert. Den Beginn des fünften Satzes mit seiner „wild herausfahrenden“ Streicherfigur bringt Fischer in Bezug zu dem schneidend forsch formulierten Motiv der tiefen Streicher in der Exposition des ersten Satzes; er arbeitet mit dem vortrefflich flexibel agierenden Orchester die Kontraste aus, steigert gelassen, majestätisch und unerschütterlich hin zu den dröhnenden Tutti-Schlägen, welche die Akustik der Tonhalle dann endgültig klirrend überreizen.

Und dann tritt der Chor ein, wie aus einer anderen Welt, ein allmählich sich artikulierendes Pianissimo, rein und licht. Der Chor des Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf leistet sich keine Trübung des Klangs, keinen Schorf in der Artikulation. Groß und leuchtend formuliert er den Appell Mahlers: „Bereite dich, zu leben“, bevor die Solisten Nadine Weissmann (Alt) und Tünde Szabóki (Sopran) den bezwungenen Tod besingen. „Tod, wo ist dein Sieg?“, fragt auch die christliche Osterliturgie. In diesem Moment ruht der Zweifel, der sich vorher – kaum hörbar von fern – doch immer wieder eingemischt hat, und sei es nur als ein Nachhall einer Welt, die jetzt in leuchtender Musik überwunden ist. So kommt Mahler am Ende dann doch zum Bekenntnis seines Sehnens „über die Dinge dieser Welt hinaus“.

Das letzte Mahler-Konzert des Zyklus mit der Sechsten Symphonie und Haydns f-Moll-Symphonie Nr. 49 findet am 28. Februar und 1./2. März 2020 statt. Abgeschlossen wird der Zyklus mit Joseph Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“ am 15./17./18. Mai 2020 in der Tonhalle Düsseldorf. Info: www.tonhalle.de

 




Nächste Spielzeit in der Düsseldorfer Tonhalle: Junge Dirigenten, Finale beim Mahler-Zyklus, musikalischer Humor

Die Tonhalle Düsseldorf. Foto: Werner Häußner

Die Tonhalle Düsseldorf. (Foto: Werner Häußner)

Das Abo lebt. Davon ist jedenfalls Tonhalle-Intendant Michael Becker überzeugt. Mit einem gründlich renovierten System von Abonnements ist es den Düsseldorfern gelungen, innerhalb von vier Jahren die Zahl ihrer Abo-Kunden mehr als zu verdoppeln und in dieser Spielzeit mit 5.200 noch einmal gut 200 mehr als im letzten Jahr zu gewinnen.

Möglich wird dieser Aufschwung durch flexiblere Angebote: Wer sich für einen Dauerplatz entscheidet, muss nicht zwölf Mal im Jahr ins Konzert gehen, sondern kann sich mit dem Sieben- oder dem Fünf-Sterne-Abo auf die entsprechende Zahl musikalischer Abende beschränken. Auch die Kammermusik – inzwischen regelmäßig im großen Mendelssohn-Saal – und das lockere Format „Ehring geht ins Konzert“ mit dem Kabarettisten gleichen Namens sind im Abo zu buchen.

Christian Ehring übrigens, so wurde angekündigt, nimmt ein Sabbatical und schickt dafür gute Freunde in den Ring: Marco Tschirpke, René Heinersdorff, Martin Zingsheim, Torsten Sträter und Anke Engelke werden die Konzerte moderieren – für Freunde des Genres also eine Gelegenheit, den jeweiligen Musik-Humor der Protagonisten zu genießen.

Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Programms der Tonhalle und der Düsseldorfer Symphoniker 2019/20 (von links): Uwe Sommer-Sorgente (Dramaturg Tonhalle), Hans-Georg Lohe (Kulturdezernent Landeshauptstadt Düsseldorf), Alexandre Bloch (Dirigent), Michael Becker (Intendant Tonhalle). Foto: Susanne Diesner

Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Programms der Tonhalle und der Düsseldorfer Symphoniker 2019/20 (von links): Uwe Sommer-Sorgente (Dramaturg Tonhalle), Hans-Georg Lohe (Kulturdezernent Landeshauptstadt Düsseldorf), Alexandre Bloch (Dirigent), Michael Becker (Intendant Tonhalle). (Foto:  Tonhalle / Susanne Diesner)

Bei allen Erfolgen: Kunst lebt nicht von Zahlen, und so verwies Tonhallen-Dramaturg Uwe Sommer-Sorgente auf einige spannende Linien und Ereignisse der kommenden Spielzeit 2019/20. Das Orchester zeigt sich offen für junge und (noch?) nicht am Jet-Set-Karussell beteiligte Dirigenten.

David Reiland etwa dirigiert beim Konzert mit dem Chor des Städtischen Musikvereins mit Alexander von Zemlinskys 13. Psalm und Robert Schumanns Zweiter Symphonie am 4./6./7. Oktober. Reiland ist Chefdirigent in Metz und Lausanne und regelmäßig an der Opéra in Saint Etienne tätig und hat eine beeindruckende Liste von Assistenzen anzuführen, u.a. bei Pierre Boulez, Dennis Russell Davies, Mariss Jansons, Simon Rattle und Sir Roger Norrington. Sein Interesse an Ungewöhnlichem zeigt sich etwa in einer Aufnahme in Zusammenarbeit mit dem Entdeckungs-Zentrum für die französische Romantik Palazzetto Bru Zane mit sinfonischen Werken von Benjamin Godard.

Aber auch andere Namen stehen auf der Liste: Jesko Sirvend etwa, einst Student in Köln, jetzt am Orchestre National de France und in Düsseldorf kein Unbekannter dirigiert Jean Sibelius‘ Fünfte und zwei Rhapsodien – die berühmte in Blue von George Gershwin und die auf ein Paganini-Thema von Sergej Rachmaninow mit Kirill Gerstein am Flügel (13./15./16. Dezember). Oder Joana Mallwitz, GMD in Nürnberg, eine in letzter Zeit stark beachtete Dirigentin. Sie kommt am 10./12./13. Januar 2020 mit Franz Schuberts „Unvollendeter“ und dem Zweiten Violinkonzert von Dmitri Schostakowitsch mit dem Geiger Vadim Gluzman.

Alpesh Chauhan, der im April 2018 ein „fulminantes“ Deutschland-Debüt bei den Düsseldorfer Symphonikern gegeben hatte, kehrt zurück und dirigiert Antonín Dvořáks Siebte und das Cellokonzert. Chauhan, Chefdirigent der Filarmonica Arturo Toscanini im italienischen Parma, ist selbst Cellist – so dürfte die Zusammenarbeit mit dem Solisten Pablo Ferrández ein spannendes Ergebnis zeitigen (31. Januar/2./3. Februar 2020). Chauhan leitet auch das Neujahrskonzert der Düsseldorfer Symphoniker am 1. Januar 2020.

Adam Fischer. (Foto: Tonhalle / Susanne Diesner)

Seinem Abschluss strebt der Haydn-Mahler-Zyklus mit Adam Fischer entgegen: Am Ende steht Haydns Hommage an die Offenbarung Gottes in der Natur. „Die Jahreszeiten“ erklingen am 15./17./18. Mai 2020. Mit der Sechsten wird am 28. Februar und 1./2. März 2020 die Serie der Mahler-Symphonien abgeschlossen; dazu gesellt sich Haydns Nr. 49.

Eine Rarität präsentiert Axel Kober am 24./26./27. April gemeinsam mit Felix Mendelssohn Bartholdys „Schottischer“ Symphonie und Brittens „Sea Interludes“: ein Konzert für zwei Harfen des 1808 in Devonshire/England geborenen Harfenvirtuosen Elias Parish Alvars. Der bereits 1849 in Wien gestorbene Alvars war Kaiserlicher Kammervirtuose und Solist an der Wiener Hofoper und genoss in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts einen internationalen Ruf als Harfenist, der die moderne Spieltechnik auf dem Instrument mit entwickelte.

Auch ein Blick auf die Kammermusik lohnt: Zur Eröffnung der „Raumstation“-Reihe treffen sich am 30. Oktober so glanzvolle Solisten wie Bertrand Chamayou (Klavier), Daniel Müller-Schott (Cello) und Sabine Meyer (Klarinette) und spielen Beethoven und das d-Moll-Trio Alexander von Zemlinskys. Am 2. Dezember musizieren Elisabeth Leonskaja und das Jerusalem Quartet Werke von Mozart, Dvořák und die Fünf Stücken für Streichquartett von Erwin Schulhoff. Seltenes aus der Feder des Jahresjubilars Ludwig van Beethoven spielen am 4. Februar 2020 „Les Vents Français“, ein Quintett mit so klingenden Namen wie Francois Leleux (Oboe), Paul Meyer (Klarinette), Gilbert Audin (Fagott) Radovan Vlatković (Horn) und Eric Le Sage (Klavier).

Eine „Sternstunde“ will das Bach Collegium Japan bereiten, das am 14. März 2020 die Johannes-Passion des Thomaskantors aufführen wird. Und unter dem Titel „X-Mas Contemporary“ haben sich der Bariton Dietrich Henschel und das ensemble unitedberlin etwas Originelles einfallen lassen: Zwölf Komponistinnen und Komponisten aus unterschiedlichen kulturellen und religiösen Traditionen haben Weihnachtsstücke geschrieben, die am 17. Dezember erklingen.

Infos auf der Seite www.tonhalle.de unter den Reitern Reihen und Abos.




Maschinen von gestern, verödet in der Zeit: Fotos von Ricarda Roggan in Düsseldorf

Ricarda Roggan: Garage 12, 2008. Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin and VG-Bildkunst, Bonn 2018

Ricarda Roggan:
Garage 12, 2008.
Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin
and VG-Bildkunst, Bonn 2018

Einst waren sie beweglich, voll Energie, wirkten dynamisch und lebendig. Jetzt sind sie starr, verödet, von der Zeit gezeichnet. Die Fotografin Ricarda Roggan hält sie in einem Moment ihrer verfallenden Existenz fest: Maschinen oder Automaten, ausgedient und abgestellt, längst überholte Hinterlassenschaften einer vergangenen Ära. In der Sammlung Philara in Düsseldorf sind die Fotos nun bis 17. März zu betrachten.

„Ex Machina“ heißt die Schau, und die vergessene Dingwelt der Bilder – Autowracks etwa, oder staubbedeckte Videospiel-Automaten aus der Anfangszeit der Digitalisierung – besteht aus technischen Artefakten, die „ex“ sind, ausgemustert. Aber der Titel will auch auf den antiken Theatereffekt des Gottes „aus der Maschine“ verweisen. Was damals zur Überraschung der Zuschauer als Wunder inszeniert wurde, soll in den Bildern wiederkehren: Überraschende Wendungen, Momente der Katharsis.

Ricarda Roggan: Reset 3, 2011. Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin and VG-Bildkunst, Bonn 2018

Ricarda Roggan:
Reset 3, 2011.
Courtesy Galerie EIGEN + ART Leipzig/Berlin
and VG-Bildkunst, Bonn 2018

Die 1972 in Dresden geborene Fotografin Ricarda Roggan studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Darauf folgten zwei Jahre am Royal College of Art London im Photography Department. Ihre Arbeiten finden sich im Bestand öffentlicher Sammlungen wie in der Bundessammlung zeitgenössischer Kunst in Bonn oder der Fotografischen Sammlung des Museums Folkwang in Essen. Seit 2013 hat Ricarda Roggan eine Professur für Fotografie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart inne.

Die Ausstellung „Ex Machina“ in der Sammlung Philara in Düsseldorf wird bis 17. März gezeigt. Sie ist im Rahmen einer 75minütigen Führung zu besichtigen: an Freitagen um 14 Uhr (deutsch) und 16 Uhr (englisch), an Samstagen um 14 und 16 Uhr (deutsch) und an Sonntagen um 12 Uhr (deutsch) und 15 Uhr (englisch). An Donnerstagen ist die Schau von 16 bis 20 Uhr ohne Führung zugänglich. Der Eintritt kostet zehn, ermäßigt fünf Euro.

Während des Düsseldorf Photo Weekends sind Ricarda Roggans Fotos zu folgenden Zeiten zu sehen: am Freitag, 8. März, 18 bis 21 Uhr; am Samstag, 9. März, 12 bis 20 Uhr; am Sonntag 10. März, 12 bis 18 Uhr.

Info:
www.duesseldorfphotoweekend.de
www.philara.de/de/aktuell

 




Nicht mehr neu, aber noch jung: Konzertreihe in Düsseldorf würdigte Bernd Alois Zimmermann zum 100. Geburtstag

(c) Tonhalle Düsseldorf

Das Plakat zur Konzertreihe (© Tonhalle Düsseldorf)

Mancher Mensch wäre, vom Alter gebeugt, glücklich, erginge es ihm so wie der Musik des 20. Jahrhunderts. Sie mag komponiert sein, als die Großmütter der Zuhörer noch kleine Mädchen waren, doch sie bleibt ewig „neue“ Musik. Wer wäre nicht gerne ebenso alterslos?

Dabei ist Musik, die vor fünfzig, sechzig Jahren geschrieben wurde, eigentlich längst „alte“ Musik: Zu Mozarts Zeiten wäre es niemanden eingefallen, etwa Georg Friedrich Händel in Spezialkonzerten für „neue“ Musik zu spielen. Aber Bernd Alois Zimmermann etwa geht immer noch irgendwie als Zeitgenosse durch. Das ehrt ihn, zeigt es doch, wie zukunftsweisend seine Art zu komponieren war.

Aber der Mann wurde 1918 geboren und hat sich 1970 – vor fast 50 Jahren! – das Leben genommen. Dennoch ist seine Musik beim breiten Publikum noch nicht richtig angekommen. Das scheint sich soeben zu ändern: Die Neuinszenierungen seines Hauptwerks, der Oper „Die Soldaten“ in Nürnberg und Köln in seinem 100. Geburtsjahr waren Publikumsrenner mit ausverkauften Vorstellungen.

Bei den drei Konzerten, die in der Tonhalle Düsseldorf ein kleines Bernd-Alois-Zimmermann-Festival bildeten, ließ sich ein solcher Zulauf nicht feststellen. Das liegt sicher nicht daran, dass sich in Düsseldorf ein in Köln beheimateter Komponist nur mit Mühe vermitteln ließe. Es dürfte auch nicht an der attraktiven Dramaturgie der drei Abende liegen: An den zwei ersten spielte der kundige Pianist Udo Falkner Zimmermanns Gesamtwerk für Klavier – also Musik, die zwischen 1939 und 1956 entstanden ist. Dazu kombinierte er Stücke von Schülern Zimmermanns, Werke von tatsächlichen Zeitgenossen wie Wolfgang Rihm und Jörg Widmann sowie Musik von wichtigen Kollegen Zimmermanns wie Hans Werner Henze und Dieter Schnebel. Das dritte Konzert gehörte dem notabu.ensemble neue musik.

Bernd Alois Zimmermann. Foto: BAZ-Archiv

Bernd Alois Zimmermann. (Foto: BAZ-Archiv)

Bewandertes Publikum

An diesem Abend zeigten sich im weiten Rund der Tonhalle nur wenige der kulinarisch auf das Wiedererkennen beliebter Melodien geeichten Düsseldorfer Konzertgänger. Manch würdiger Herr, manch hoheitsvolle Dame dürften Zimmermann noch selbst erlebt haben. Ansonsten waren Aufmerksamkeit und Kenntnisreichtum zu spüren. Die Musiker konnten sich glücklich schätzen: Ein so bewandertes und gespannt lauschendes Publikum haben sie nicht jeden Tag.

Das notabu.ensemble neue musik. Foto: Hellmut Schlingensiepen.

Das notabu.ensemble neue musik. (Foto: Hellmut Schlingensiepen)

Schon die Rarität zu Beginn hätte den Besuch des Konzerts gelohnt: Es war gelungen, eine Aufzeichnung von „Metamorphose“ des Schweizer Filmemachers Michael Wolgensinger zu bekommen. Der Schwarz-Weiß-Film aus dem Jahr 1954 reiht ohne Handlung und ohne Worte Bilder aneinander, deren Verknüpfung assoziativ bleibt. Einzelne Szenen scheinen erzählen zu wollen, werden aber unterbrochen oder abgeschnitten durch Einblendungen, Grafiken und andere abstrakte Elemente oder archaische Landschaftsbilder.

Die sechs Sätze der Musik Zimmermanns tragen Bezeichnungen, wie sie in alten Suiten zu finden sind, etwa Invention, Kanon oder Gigue. Der dritte Teil ist eine „Romanza“, der fünfte eine „Habanera“: Zu Bildern von Geburt und Tod – ein Kalb kommt auf die Welt und ein Stier wird im Kampf getötet – findet Zimmermann spanisch anmutende Rhythmen; zu ruhigen Bildsequenzen und langen Einstellungen schreibt er schwebende, hochdifferenzierte Klänge. Zum Saxofon, einem typischen Instrument des Jazz und des Schlagers, tritt eine opulent besetzte Schlagzeuggruppe, ansonsten beschränkt sich Zimmermann auf die gängigen Orchesterinstrumente. Immer wieder klingen Jazz-Elemente durch und zeigen, dass er keine Scheu hatte, sich aus der „U-Musik“ zu bedienen und ihre Stilformen als Material in anspruchsvolles Komponieren zu integrieren.

Flirt mit Jazz und U-Musik

Abzulesen ist diese Offenheit auch im „Monolog für zwei Klaviere“, in dem Frederike Möller und Yukiko Fujieda stilistische wie pianistische Kompetenz bewiesen. Das 17-minütige Stück aus dem Jahr 1964 ist ein „Flirt mit U-Musik und Jazz“, aber auch eine ausgefeilte Studie über die Möglichkeiten der Zitat- und Collagetechnik. Zimmermann legt Debussy und Beethoven, Messiaen und Bach übereinander und verarbeitet sie formal staunenswert komplex.

In dieser Klavierstudie, aber auch im Konzert für Trompete und Orchester auf der Basis des bekannten Gospel-Melodie „Nobody knows the trouble I’ve seen“ verbindet Zimmermann Komplexität und Leichtigkeit auf wunderbare Weise: Das Schwere scheint ganz selbstverständlich und ungezwungen, die Musik „schwitzt“ an keiner Stelle, sondern fließt, als hätte es für sie nie einen anderen Weg gegeben. Ein Kennzeichen wirklich souveränen Komponierens. Der Trompeter Ferenc Mausz, Dirigent Mark-Andreas Schlingensiepen und das Orchester lassen – ebenso souverän – keine Anstrengung erkennen, spielen Zimmermann mit Freiheit und Bravour.

Ein Solitär im Programm ist die berührende Violasonate von 1955, ein persönlich gehaltenes Requiem, aber auch eine Studie über die Möglichkeit, alte Techniken der Komposition in die Gegenwart zu transformieren. Yuri Bondarev spielt das gebrochene Choralthema „Gelobt seist Du Jesu Christ“ deutlich heraus und nutzt seine eminenten tontechnischen Möglichkeiten vom satten Klang bis zu resonanzlos ausgedünnten Tönen, vom ruhevollen Grundpuls bis zu grellen Akzenten, um die Struktur des Werks zu verdeutlichen. Das ist keine „neue“, aber wirklich nach wie vor „junge“ Musik.




Mal woanders hingucken: Das Fremde und das Eigene als „museum global“ im Düsseldorfer K20

Der alte Chef interessierte sich nicht für die politische Korrektheit von Kunstgeschichte. Werner Schmalenbach (1920-2010), bis 1990 amtierender Gründungsdirektor der Kunstsammlung NRW, hatte nur einen Antrieb: „Die Lust auf das Bild“. So nannte er ein Buch über sein leidenschaftliches Leben mit der Kunst.

Lasar Segall: „Encontro", um 1924, Öl auf Leinwand (Acervo Museu Segall - IBRAM/MinC - Foto: © Kunstsammlung NRW)

Plakatmotiv, das die Welten verbindet: Lasar Segall „Encontro“, um 1924, Öl auf Leinwand (Acervo Museu Segall – IBRAM/MinC – Foto: © Kunstsammlung NRW)

Und so, mit den Augen und dem Herzen eines Liebhabers, trug er eine der schönsten Sammlungen der klassischen Moderne zusammen: Picasso, Matisse, Miró, Max Ernst und die anderen Großen. Alles nur westliche Ansichten, findet Schmalenbachs heutige Nachfolgerin Susanne Gaensheimer. Sie hat das Haus umräumen lassen und präsentiert nun mit einem Team von Kuratorinnen im Düsseldorfer K20 ihr „museum global – Mikrogeschichten einer ex-zentrischen Moderne“.

„Postkolonialer Diskurs“

Ex-zentrisch (mit Bindestrich) ist in diesem Fall wörtlich gemeint – weg vom zentralen Gedanken. Viele internationale Institute würden derzeit, erklärt Gaensheimer, ihre „Haltung hinterfragen“. Sie wollten wissen: „Was gab es noch?“ Praktischerweise hat die Professorin schon am Frankfurter Museum für Moderne Kunst, ehe sie ins K20 wechselte, mit Geld und Segen der Kulturstiftung des Bundes eine erste Station des Programms „Museum Global“ vorbereitet. Nach Berlin („Hello World“) ist nun Düsseldorf an der Reihe und beteiligt sich an dem, was Julia Hagenberg, die Leiterin der Abteilung Bildung, den „postkolonialen Diskurs“ nennt.

1965 bis 1985: Bilder von Paul Klee auf Weltreise

Da geht es nicht um die traditionelle Volkskunst Afrikas, die im 20. Jahrhundert von Meistern der Moderne geschätzt, von westlichen Galeristen vermarktet und von Bildungsbürgern gesammelt wurde. Zu heikel. Es geht vielmehr um neue Kunstformen, nach denen auswärtige Maler strebten – zeitgleich mit der europäischen Avantgarde. Die „Mikrogeschichten“ zeigen beispielhaft zwischen 1910 und 1960 entstandene Werke aus Japan, Russland, Brasilien, Mexiko, Indien, dem Libanon und Nigeria. Das Ergebnis sei, findet Gaensheimer, „absolut umwerfend“. Nun ja.

Paul Klee: „Omphalo-centrischer Vortrag", 1939, Kreide und Kleisterfarbe auf Seide und Jute (© Kunstsammlung NRW)

Paul Klee: „Omphalo-centrischer Vortrag“, 1939, Kreide und Kleisterfarbe auf Seide und Jute (© Kunstsammlung NRW)

Der innerste Schatz der Kunstsammlung NRW, ein 1960 von der Landesregierung erworbenes Konvolut von 88 Werken Paul Klees, wird zum „Prolog“ des Unternehmens. Schmalenbach liebte die kleinformatigen Kostbarkeiten wie das „Kamel in rhythmischer Baumlandschaft“ (1920/42) oder den „Schwarzen Fürsten“ (1927). Man kann die poetische Melancholie und Heiterkeit des frühen Bauhausmeisters Klee (1879-1940), der 1933 von den Nazis aus seinem Amt an der Düsseldorfer Kunstakademie vertrieben wurde, durchaus aufspüren. Doch die Werke werden im grau gestrichenen Erdgeschoss recht lieblos präsentiert. Dominant sind Texte, Kataloge, Fotografien, Audiodateien zu Ausstellungen zwischen Jerusalem und Rio de Janeiro, bei denen die Düsseldorfer Klee-Bilder zwischen 1965 und 1985 zu sehen waren: „Eine Sammlung auf Reisen“ mit Weltkarte. Erster Teil der Fleißarbeit.

Expressionismus made in Japan

Im zweiten Stock des Hauses sind zum Glück nicht alle grandiosen Bilder durch Unbekanntes ersetzt worden. Vertraute Prachtstücke werden vielmehr den zum Teil recht beliebigen Leihgaben gegenübergestellt. Kandinskys abstrakte „Komposition IV“ von 1911 zum Beispiel bildet einen sonderbaren Kontrast zu einer naiven Festszene des georgischen Autodidakten Niko Pirosmani (1862-1918).

Yorozu Tetsugoro: „Nude Beauty", 1912, Öl auf Leinwand (Important Cultural Property, The National Museum of Modern Art, Tokyo - Foto: © Kunstsammlung NRW)

Yorozu Tetsugoro: „Nude Beauty (Nackte Schönheit)“, 1912, Öl auf Leinwand (Important Cultural Property, The National Museum of Modern Art, Tokyo – Foto: © Kunstsammlung NRW)

Andere Kombinationen zeigen kuriose Verwandtschaften. Die Ähnlichkeit der 1912 gemalten „Nackten Schönheit“ des an Westkunst stark interessierten Japaners Yorozu Tetsugoro mit Bildern deutscher Expressionisten kann kein Zufall sein. Sein in Japan hochgeschätztes Selbstbildnis übt sich im Stil französischer Impressionisten. Da wirkt Ernst Ludwig Kirchners „Mädchen unterm Japanschirm“ (1909) wie ein stummer ironischer Kommentar.

Westliche Impulse zur Befreiung von Folklore

Wer sich von der eigenen Folklore frei machen wollte, ließ sich vom Westen beeinflussen, das zeigt die Ausstellung deutlich – ob sie es will oder nicht. Nicht nur die Libanesin Saloua Raouda Choucair (1916-2017), die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Pariser Akademie-Klasse von Fernand Léger studiert hatte, reagierte direkt auf die Vorbilder. Ihre kleinen stilisierten Figuren korrespondieren fast rührend mit Légers dominantem Paar „Adam und Eva“. Später wandte sie sich der Abstraktion zu. Die in Ungarn geborene Inderin Amrita Sher-Gil (1913-1941) malte sich selbst 1934 mit nacktem Busen „als Tahitianerin“ – in Anlehnung an Paul Gauguins exotische Schönheiten.

Anlehnung an Gauguin: Amrita Sher-Gil „Self-Portrait as a Tahitian", 1934, Öl auf Leinwand (Collection of Navina and Vivan Sundaram - Foto: © Kunstsammlung NRW)

Anlehnung an Gauguin: Amrita Sher-Gil „Self-Portrait as a Tahitian“, 1934, Öl auf Leinwand (Collection of Navina and Vivan Sundaram – Foto: © Kunstsammlung NRW)

Der Mexikaner Diego Rivera hingegen behielt, wie seine berühmte Gefährtin Frida Kahlo, seinen eigenen, volkstümlichen Stil. Ein Wallpaper mit der Reproduktion eines seiner bäuerlichen Fresken weist darauf hin. Das dunkle, verschmitzte Porträt, das der Italiener Amedeo Modigliani 1914 in Paris von Rivera malte, hat ein anderes, subtileres Niveau.

Verbunden werden die Welten durch das Plakatmotiv: ein kleines neu-sachliches Bild des jüdischen Malers Lasar Segall (1891-1957), der in Berlin und Dresden studiert hatte und 1919 einer der Gründer der avantgardistischen Dresdner Sezession war. „Encontro“ heißt es, Treffen, und zeigt ihn selbst mit dunklem Teint neben seiner sehr weißen Frau Margarete. Sie blicken starr aneinander vorbei. Im Jahr der Entstehung, 1924, trennten sie sich, und Segall emigrierte nach Brasilien, wo er zu großen Ehren kam. Sein monumentales, etwas pathetisches Bild „Emigrantenschiff“ erzählt von den Nöten seiner Zeit und erreicht uns mitten in der neuen Flüchtlingskrise.

Didaktik im offenen Raum

In der Abteilung Nigeria geht es hauptsächlich um die innere Loslösung von der britischen Kolonialherrschaft nach der Unabhängigkeit 1960. Ein Künstlerclub wurde gegründet, Schwarzweiß-Filme schildern ausbeuterische Verhältnisse, ein rotes Ölbild von Ueche Okeke mit abstrahierten Figuren trägt den Titel „Land der Toten“. Bilanz: Große künstlerische Entdeckungen sind im Museum Global nicht zu machen. Es ist eher ein historisch-politisches Interesse, das der Besucher braucht, um das mit wissenschaftlichem Eifer erarbeitete, mit viel Information befrachtete, aber nicht gerade betörende Projekt zu goutieren.

Saloua Raouda Choucair „Paris - Beirut", 1948, Gouache (ç Saloua Raouda Choucair Foundation - Foto: © Kunstsammlung NRW)

Von Fernand Léger beeinflusst: Saloua Raouda Choucair „Paris – Beirut“, 1948, Gouache (© Saloua Raouda Choucair Foundation – Foto: © Kunstsammlung NRW)

Das braucht didaktisches Bemühen. Ein zum Grabbe-Platz hin offener „Open Space“ soll auch museumsferne Gäste ins Haus locken. Es gibt da eine aus ökologisch einwandfreien Hölzern erbaute Arena, Tische, Stühle, Monitore, eine kleine Bibliothek mit Büchern und Spielen, freies WLAN und einen Kiosk für den schnellen Cappuccino. Auf diesem von der Kulturstiftung der Commerzbank finanzierten Spielplatz sollen sich Geist und Körper entfalten, bei afrikanischem Tanz und indischer Philosophie. So entsteht, hofft Stiftungsvorstand Astrid Kießling-Taskin, ein „Dialog mit der Stadtgesellschaft“. Hoffen wir mal.

„museum global: Mikrogeschichten einer ex-zentrischen Moderne“: Bis 10. März 2019 im K20, Düsseldorf, Grabbeplatz. Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr, Mi. bis 19 Uhr, Sa./So. 11 bis 18 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Zwei deutsch-englische Kataloge sind in Vorbereitung. Ein „Open Space“ mit Café und Rahmenprogramm ist von außen frei zugänglich. www.kunstsammlung.de




Düsseldorfer K21: Parkett saniert, Kunst neu sortiert

Türen neu, Parkett saniert, Technik repariert: Die Handwerker waren fleißig im Düsseldorfer K21, dem zeitgenössischen Teil der Kunstsammlung NRW.

Wiedereröffnung des K21 in Düsseldorf: Installations-Ansicht mit Werken von Jeff Wall und Rosemarie Trockel. (Foto: Achim Kukulies / © Kunstsammlung NRW)

Wiedereröffnung des K21 in Düsseldorf: Installations-Ansicht mit Werken von Jeff Wall und Rosemarie Trockel. (Foto: Achim Kukulies / © Kunstsammlung NRW)

Auch die beliebte Kletterinstallation „in orbit“ von Tomás Saraceno – Abenteuerspielplatz für Schöngeister – musste gewartet werden. Drei Wochen blieb das alte Ständehaus hinterm Schwanenspiegel geschlossen. Direktorin Susanne Gaensheimer nutzte die Zeit, um ein festes Team zu installieren und die Kunst frisch aufzumischen. Die Sammlungsräume sehen mal wieder anders aus, ein Besuch lohnt sich.

Eintritt frei heißt es im ersten Stock. Das ist allerdings nicht so sensationell, denn es gibt wenig zu entdecken außer Sammelkartons und Alt-Videos aus dem Archiv der legendären Düsseldorfer Avantgarde-Galerie Fischer. In einem rot ausgelegten und schräg bestuhlten Veranstaltungsraum mit dem Titel „Salon21“ darf der Besucher sich ausruhen oder lesen. Das machen wir aber lieber später bei einem Kaffee in der neu und praktisch möblierten Museumsbar Pardo’s, wo nur das Blubberblasen-Muster der Tapete noch darauf hinweist, dass das Ganze mal eine Rauminstallation von Jorge Pardo war.

Dicke Hosen mit Holzwolle

Wer mehr erleben will, zahlt zwölf Euro und steigt empor in den zweiten Stock, auch „Bel Étage“ genannt. Hier gibt es bis Januar eine kleine Sonderausstellung jener amerikanischen Konzeptkünstlerin, die sich das männliche Pseudonym Lutz Bacher zugelegt hat und ihre eigene Identität schon seit den 1970er-Jahren erfolgreich verbirgt. Die Szene schweigt sich aus, denn das Geheimnis gehört zur Show, die in diesem Fall nach einem Song von Tina Turner benannt ist: „What’s Love Got to Do With It“.

Was Liebe damit zu tun hat? Keine Ahnung. Wie die junge Kuratorin Beatrice Hilke erklärt, ist Bachers Werk sehr heterogen, also uneinheitlich. Durchgängig sei nur ihr „Interesse an Strategien der Aneignung“. Soll heißen: Lutz Bacher benutzt Vorgefundenes und macht es nicht ohne Witz zu ihrer Kunst: Konsumartikel, Handy-Videos, Notizzettel zum Beispiel. Die vergrößerte und verzerrte Unterschrift von Donald Trump hat sie zu einer Art Wandfries ausdrucken lassen. Drei Säle sind damit bestückt – und mit Holzwolle und Glitzerfolienstreifen ausgestreut. Was an den Schuhen kleben bleibt, kann weg. Stehen bleiben sollen 21 mit „Las Vegas“ bedruckte und mit Holzwolle ausgestopfte Schlafanzughosen („Vegas Pants“). Dicke Hosen ohne Inhalt. Verstehe.

Von draußen dröhnt Orgelgebraus: Bachs Toccata in d-Moll, von Lutz Bacher bei einem Konzert in New York mit dem Smartphone aufgenommen, samt Nebengeräuschen. Beherzt geklaut, wird der Klassiker nun als eigenes Soundwerk im Treppenhaus von K21 präsentiert: „Music in the Castle of Heaven“, Musik im Himmelsschloss. Jedenfalls nicht zu überhören.

Großer Geist im Treppenhaus

So beschallt döst keiner, der weitergeht zu den Sammlungsräumen. Zehn von 13 Mini-Ausstellungen wurden neu gestaltet. Dabei sind skurrile Kombinationen entstanden wie Rosemarie Trockels dunkle Wollbilder „My Phantasy“, ein aus der Wand ragendes Wachsbein mit Socken und Herrenschuh von Robert Gober und Jeff Walls Leuchtfotografie von zwei Mädchen am unheimlichen „Abfluss“ im Wald. Überhaupt gibt es von Wall, dem Meister der irritierenden Bilderzählung, einige interessante Arbeiten im K21. Schön, sie wiederzusehen.

Im Treppenhaus steht jetzt einer von Thomas Schüttes „Großen Geistern“ aus Gussstahl und bewacht den Eingang zum dritten Stock. Schüttes große „Bronze-Frau“ von 2001 liegt still in ihrer zerstückelten Pracht vor drei Regalen mit kleinen „Ceramic Sketches“. In einer anderen Raumfolge weist eine geschunden aussehende Gipsfigur des tabulosen amerikanischen Performers Paul McCarthy den Weg zu einem Video von Marina Abramović, die sich 1975 unter dem Motto „Art is beautiful“ (Kunst ist schön) die Haare bis weit über die Schmerzgrenze mit stählernem Gerät gekämmt und gebürstet hatte. „Einige Werke in diesen Räumen könnten möglicherweise verstörend wirken“, heißt der Warnhinweis an der Tür.

Magisches Schattenspiel

Jugendfrei sind hingegen die liebevollen Installationen von Hans-Peter Feldmann, der mit allerlei sich drehendem Trödelkram ein magisches „Schattenspiel“ geschaffen hat. Vier große Frauenköpfe, die Feldmann nach berühmten Bildnissen hat kopieren lassen, amüsieren den Betrachter mit ihren unerklärlichen Blicken. Weiterhin wurden sachliche Fotografien des Becher-Schülers Thomas Ruff kombiniert mit den für uns rätselhaften Bilderfunden von Akram Zaatari von der Arab Image Foundation, der die Direktorin Gaensheimer im letzten Herbst eine Ausstellung gewidmet hatte. Für den westlichen Blick ebenso fremd, aber faszinierend sind die „Cabaret Crusade“-Trickfilme des ägyptischen Künstlers Wael Shawky. Mit zauberhaften, gläsern wirkenden Marionetten vor surrealen Kulissen erzählt Shawky die Geschichte der Kreuzzüge aus arabischer Sicht.

Das ist originell, aber man weiß nicht, ob das Publikum davon so gebannt sein wird wie das „Audience“ auf Thomas Struths gleichnamiger Serie von Großfotografien, die im Flur hängen. Eine Sonderausstellung der angesagten chinesischen Multimedia-Künstlerin Cao Fei soll im Herbst für Spannung sorgen.

Info: Nach Sanierungs- und Umbauarbeiten ist das K21 in Düsseldorf an der Ständehausstraße 1 jetzt wieder für das Publikum geöffnet: Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr, Sa./So. 11 bis 18 Uhr. Neben neu sortierten Sammlungsräumen ist im zweiten Stock eine Ausstellung der US-Konzeptkünstlerin Lutz Bacher zu sehen: „What’s Love Got to Do With It“ (bis 6. Januar). Eintritt: 12 Euro. www.kunstsammlung.de




Hauptsache Grau: Kunst in „Black & White“

Jetzt wollen wir mal hoffen, dass der Frühling bald recht kunterbunt aufblüht. Denn solange draußen das Wetter dermaßen die Stimmung trübt, will man drinnen nicht unbedingt auch noch vorwiegend graue Kunst sehen.

Foto: © Museum Kunstpalast - ARTOTHEK/ © Gerhard Richter 2017

Gerhard Richter:
„Helga Matura mit Verlobtem“, 1966, Öl auf Leinwand (Museum Kunstpalast, Düsseldorf – Foto: © Museum Kunstpalast – Artothek / © Gerhard Richter 2017)

Der neutrale Mischton aus Schwarz und Weiß ist, sagte der Maler und Grau-Experte Gerhard Richter 2004 in einem Interview, „die ideale Farbe für Meinungslosigkeit, Aussageverweigerung, Schweigen, Hoffnungslosigkeit“. Auweia. Doch abgesehen von diesen bleischweren Zuweisungen ist die Nicht-Farbe auch schön – wie man in der Ausstellung „Black & White: Von Dürer bis Eliasson“ im Düsseldorfer Kunstpalast erkennen kann.

„Grau, teurer Freund, ist alle Theorie“, sprach einst Goethes Faust und mochte das nicht mehr. Die Moderne hingegen verehrt das Grau. Es ist die derzeitige Trendfarbe für Wände und Sitzlandschaften. Seit dem 20. Jahrhundert gilt es erstens als Farbe der vornehmen Zurückhaltung und zweitens als Symbol einer ernsthaften Haltung. Schon der alte Brecht in seinem epischen Theater soll, als es um das Bemalen einer Kulisse ging, gesagt haben: „Jede Farbe ist mir recht, Hauptsache, sie ist grau.“

Spezialeffekte in Schwarz-Weiß

Das war nicht immer so. In der frühen christlichen Kunst, die mit leuchtenden Pigmenten die Heiligkeit feierte, wurde das Farblose bewusst zum Zweck von Buße und Trauer eingesetzt. Abt Bernhard von Clairvaux verordnete den Zisterzienserklöstern im frühen 12. Jahrhundert einen Verzicht auf Farben, um den Brüdern die Sinnlichkeit auszutreiben. Später wurde auch dem Kirchenvolk in der Fastenzeit die Farbe entzogen. Man verhängte die prächtigen Flügelaltäre oder – man ließ die zugeklappten Seitenflügel einfach schwarz-weiß bemalen.

Ein faszinierendes Beispiel für die Technik der Grisaille (von gris, französisch grau) ist die „Verkündigung“ aus der Werkstatt des Marten de Vos (1532-1603). In feinsten Hell-Dunkel-Nuancen erscheint da der Engel auf der einen Seite, die Jungfrau auf der anderen. Und durch die Lücke zwischen den Altarflügeln blitzt von unten die Farbe der Verheißung: Geburt Christi, Kreuzigung, Auferstehung.

Jean-Auguste-Dominique Ingres und Werkstatt Odalisque in Grisaille, um 1824-1834 Öl auf Leinwand, 83,2 × 109,2 cm The Metropolitan Museum of Art, Catharine Lorillard Wolfe Collection, Wolfe Fund, 1938 (38.65) Foto: © bpk ǀ The Metropolitan Museum of Art

Jean-Auguste-Dominique Ingres und Werkstatt:
Odalisque in Grisaille, um 1824-1834 (The Metropolitan Museum of Art, Catharine Lorillard Wolfe Collection, Wolfe Fund, 1938 – Foto: © bpk ǀ The Metropolitan Museum of Art)

Die Fähigkeit der Künstler, mit Ölfarben zu zeichnen, verfeinerte sich. Immer plastischer wurde die Formensprache durch Abstufungen von Schwarz und Weiß. So perfekt gelangen dreidimensionale Effekte, dass man sie „Trompe-l’œil“ nannte: Täusche das Auge. Das gefiel auch den weltlichen Herrschaften im schwelgerischen 18. Jahrhundert. Für ihre Salons bestellten sie Bilder wie die ovale Öl-Raffinesse „Jupiter und Ganymed“ von Jacob de Witt oder „Spielende Kinder“ von Marten Jozef Geeraerts. Die niederländischen Meister erzeugten malerisch die Illusion von Marmor-Reliefs und Skulpturen.

Nur eine Frage der Wahrnehmung

Die barocke Druckgrafik – ein weites Geschäftsfeld von Rembrandt, Rubens und Kollegen – verblasst so ziemlich in der recht nüchtern inszenierten Ausstellung. In der nächsten Abteilung hängt das Plakatmotiv: Ingres’ berühmte „Odalisque“ in einer schmucklosen Grisaille-Version, um 1834 entstanden. 40 Jahre später war der Impressionismus da, und Edgar Degas malte eine „Ballettprobe“ ausnahmsweise ohne die üblichen Pastellfarben und doch so duftig und entzückend.

Allein: Raum für Träumerei gibt es hier nicht. Am Ende der unteren Saalflucht wartet schon die Gegenwartskunst in Gestalt eines monumentalen Männerkopfs, den der Amerikaner Chuck Close von einem Polaroid auf eine zweieinhalb Meter hohe Leinwand übertragen hat. Die klaren Konturen lösen sich auf, wenn man sie aus der Nähe betrachtet. Close hat Rasterquadrate benutzt, die mit malerisch freier Geste ausgefüllt sind. Und mit brauner Farbe, die im schwarz-weißen Gesamteindruck verschwindet.

Das Grau als besondere Mischung offenbart sich auch bei Alberto Giacometti, der seine „Annette, sitzend“ 1957 als dunkle Figur in den Schatten setzte, und bei Picasso, der im selben Jahr die Infantin von Velazquez in einer verschobenen Schwarz-Weiß-Variation malte. Die Auswahl von Fotografien, natürlich unbedingt zum Thema gehörend, ist etwas mager. Überhaupt hätte man sich von manchem mehr gewünscht, auch mehr Atmosphäre, mehr Poesie, mehr Spiele mit Licht und Dunkel. Was gänzlich fehlt, ist das Medium Film.

Doch noch ein Zauber zum Schluss

Besucher in der Installation von Hans Op de Beeck. (Foto: Stefan Arendt / LVR-ZMB)

Besucher in der Installation „The Collector’s House“ von Hans Op de Beeck. (Foto: Stefan Arendt / LVR-ZMB)

Es ist für Direktor Felix Krämer wahrscheinlich nicht ganz einfach gewesen. Die Ausstellung entstand nach einem Plan seines Vorgängers Beat Wismer in Zusammenarbeit mit der Londoner National Gallery. Viele Interessen und wissenschaftliche Stimmen mussten berücksichtigt werden, der umständlich betextete Katalog spricht diesbezüglich Bände.

Zum Glück wartet am Schluss der Ausstellung – nach einer klaren Präsentation schwarz-weißer Abstraktionen – noch ein echter Clou. Wer durch eine graue Schwingtür geht (ja, nur zu!), gelangt in „The Collector’s House“, eine spektakuläre Rauminstallation des Belgiers Hans Op de Beeck. Alle Bilder und Skulpturen (oder etwa Menschen?) in seinem „Haus des Sammlers“ sind so grau und still wie der Zierteich in der Mitte, die Bibliothek, der Flügel, das Kanapee, der Hund und sogar ein paar Damenpumps, zerquetschte Bierdosen und andere ordinäre Dinge des Lebens.

(Foto: Moderna Museet, Stockholm © Olafur Eliasson. Foto: Anders Sune Berg)

Olafur Eliasson:
„Room for one Colour“ 1997 (Installationsansicht aus dem Moderna Museet, Stockholm 2015 – Courtesy of the artist; Tanya Bonakdar Gallery, New York; neugerriemschneider, Berlin
(Foto: Moderna Museet, Stockholm / Anders Sune Berg © Olafur Eliasson)

Alles steht erstarrt, wie von feinster Lava übergossen, in Stein verwandelt, tot. Zu leiser Sphärenmusik bewegt man sich, halb ehrfürchtig, halb amüsiert, durch den Raum und wird selbst zum einzig farbigen, lebendigen Teil der Installation. Das kehrt sich um im allerletzten Raum der Schau, den der Isländer Olafur Eliasson in ein grell-gelbes Monofrequenz-Licht getaucht hat. Farben werden davon geschluckt, die Besucher haben kreidebleiche Gesichter, der rote Rock wirkt grau.

Ist etwa die ganze Realität nur eine Frage der Wahrnehmung? Schon allein für das Finale lohnt sich der Besuch der Schau um „Black & White“.

„Black & White: Von Dürer bis Eliasson“. Bis 15. Juli im Düsseldorfer Museum Kunstpalast, Ehrenhof 4-5. Geöffnet Di.-So. 11 bis 18 Uhr, Do. bis 21 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Katalog im Hirmer Verlag: 240 Seiten, 39,90 Euro. Umfangreiches Begleitprogramm unter www.smkp.de




Kindliche Wundertüte: Doppelabend des Künstlerkollektivs „1927“ an der Rheinoper

Das Kind aus „L’enfant et les sortilèges“ fliegt im Garten umher. (Foto: Hans Jörg Michel/Deutsche Oper am Rhein)

Ein kindliches Gemüt ist etwas Wunderbares: Alles ist immer neu, das Leben leicht und die Welt ein Spielzeug.

„Ravel war ein Kind“, heißt es denn auch im Programmheft zu seiner „Fantaisie lyrique“ namens „L’enfant et les sortilèges“ von 1925, die jetzt gemeinsam mit Strawinskys „Petruschka“ an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf/Duisburg Premiere hatte. Und weiter: „Das Besondere eines Genies besteht darin, sich die Kindheit, die mit klarem Blick alle Schatten des Lebens durchdingt, zu erhalten und zu verlängern.“

Und doch sind dieses Kind und sein „Zauberspuk“ zunächst keineswegs nett: Das Balg im Fatsuit (Kimberly Boettger-Soller/Double: Sara Blasco Gutiérrez) will seine Hausaufgaben nicht machen, erhält von der Mutter (Marta Márquez) Stubenarrest und aus Wut darüber schlägt es das Mobiliar kurz und klein und quält anschließend Tiere. „Ich bin böse und frei“ lautet die dazugehörige Textzeile; das Libretto stammt von der französischen Schriftstellerin Colette (1873-1954). Mitten in den Wirren des 1. Weltkriegs sandte sie erste Skizzen an den Komponisten, der zu dieser Zeit Lastwagenfahrer an der Front war und erst 1919 weiter daran arbeitete.

Zirkusartisten aus „Petruschka“. (Foto: Hans Jörg Michel/Deutsche Oper am Rhein)

In Szene gesetzt hat diesen ungemein poetischen Opernabend das Künstlerkollektiv „1927“, bestehend aus Suzanne Andrade, Esme Appleton und Paul Barritt, die das Publikum schon mit ihrer filmischen Inszenierung von Mozarts Zauberflöte begeisterten. Wie diese, ist auch der neue Doppelabend eine Koproduktion mit der Komischen Oper Berlin, die von Barrie Kosky geleitet wird.

Ästhetischer Ausgangspunkt für die Inszenierungen von „1927“ ist die Stummfilmära: Doch ihre Animationen verschmelzen kongenial mit den Auftritten der Sänger und dem Stoff des Singspiels – handelt es sich um volllaufende Teetassen, in denen das böse Kind fast ertrinkt, oder eine sexy Libelle, die den ungezogenen Jungen ins Ohr piekt.

Als Zuschauer kann man sich gar nicht sattsehen an der schnellen Folge der kreativen Einfälle; eine reizende Idee jagt die nächste und während man noch überlegt, „wie haben sie das bloß gemacht?“, folgt man schon entzückt dem nächsten Bilderreigen. Ein wenig schade fast nur, dass Chor und Kinderchor diesmal aus dem Off agieren, so dass man sich am Ende über die schiere Menge der Leute wundert, die sich verbeugen. Gesanglich und musikalisch (Leitung: Marc Piollet) überzeugt die Produktion aber trotzdem auf ganzer Linie.

Der Puppenmeister jagt Petruschka über den Jahrmarkt. (Foto: Hans Jörg Michel/Deutsche Oper am Rhein)

Man muss ergänzen: Auch tänzerisch. Denn den ersten Teil des Abends „Petruschka“ bestreiten die drei Zirkusakrobaten Tiago Alexandre Fonseca (Petruschka), Pauliina Räsänen (Ptitschka) und Slava Volkov (Patap). Ihre Heimat ist der russische Jahrmarkt und hier zeigen sie dem staunenden Publikum ihre Künste. Schrecklich nur, dass sie der sadistische Puppenmeister quält und verfolgt. Besonders Petruschka, der Clown, leidet darunter. Ihm gelingt zwar die Flucht, doch am Ende wird er wieder eingefangen und sieht nur noch den Selbstmord als Ausweg.

Die Animationen spielen mit großen kyrillischen Buchstaben, schrillen Jahrmarktsbesuchern mit riesigen Zahnlücken, die sich beständig volllaufen lassen und der ganzen Dämonie des Volksfestes, auf dem die Lustigkeit mit steigendem Alkoholkonsum in die Brutalität des Exzesses kippt.

Ästhetisch nimmt die Inszenierung Elemente des Stummfilms, aber auch des russischen Konstruktivismus auf und verzahnt ebenso wunderbar wie der 2. Teil des Abends Film und Tanz. Petruschka mit seinem schwarzen runden Hut erinnert dabei an Charlie Chaplin – melancholisch und lustig zugleich.

Karten und Termine: www.operamrhein.de

 




Tonhalle Düsseldorf: Erfolg mit ungewöhnlichen Programmen

Die Düsseldorfer Tonhalle widerlegt eine Legende: Dass nämlich hohe Auslastungszahlen in klassischen Konzerten nur mit einem populären Programm zu erreichen sind. Seit der Spielzeit 2014/15 ist es gelungen, die Zahl der Abonnenten von 1999 auf 4970 in der laufenden Saison zu steigern. Eine beeindruckende Erfolgsbilanz von Intendant Michael Becker und Marketingleiter Udo Flaßkamp.

Intendant Michael Becker (links), Dramaturg Uwe Sommer-Sorgente und Marketingleiter Udo Flaßkamp (rechts) bei der Pressekonferenz in der Tonhalle Düsseldorf. Foto: Werner Häußner

Intendant Michael Becker (links), Dramaturg Uwe Sommer-Sorgente und Marketingleiter Udo Flaßkamp (rechts) bei der Pressekonferenz in der Tonhalle Düsseldorf. (Foto: Werner Häußner)

Die Auslastung der „Sternzeichen“-Konzerte, also der symphonischen Abo-Reihe der Düsseldorfer Symphoniker, liegt inzwischen bei 95 Prozent. Und für 2018/19 ist trotz – oder eben wegen – eines anspruchsvollen Programms keine Trendwende erkennbar.

Von Ermüdungserscheinungen im Klassik-Bereich kann also zumindest in der NRW-Hauptstadt nicht die Rede sein. Auch die familienorientierten Veranstaltungen in der „Kleinen“ und der „Jungen Tonhalle“ sind gefragt. Trainee- und Jugendorchester, Klassik mit Nachwuchsmusikern und ein Jugendprojekt mit den Symphonikern – der Zustrom ist, versichern die Programm-Macher der Tonhalle, ungebrochen.

Wie schafft man das? Das Programm betreffend, hält Becker ein stimmiges Angebot für entscheidend. Dabei kommt es – mehr als auf die Auswahl einzelner Stücke – auf die richtige Kombination von Werken an. Wichtig sei das Vertrauen des Publikums ins Orchester und in seine Dirigenten, etwa in einen Künstler wie Alexandre Bloch, „der mit jugendlichem Ungestüm neue Bereiche mit Erfolg betritt“. Nicht zuletzt trage die Musikvermittlung Früchte: Beim Publikum sei durchaus Interesse an bisher nicht Erlebtem und Gehörtem vorhanden, wenn ein „Geländer“ bereitgestellt werde, an dem es sich ins unbekannte Terrain vorhangeln könne. Nicht zuletzt: Die hohe Zahl der Abonnenten vermindert auch das Risiko bei ausgefallenen Programmen.

Haydn-Mahler-Zyklus und Hommage an Bernd Alois Zimmermann

Die Tonhalle Düsseldorf. Foto: Werner Häußner

Die Tonhalle Düsseldorf. (Foto: Werner Häußner)

Ungewöhnliches haben die Düsseldorfer Symphoniker reichlich zu bieten. Aber zunächst eröffnen sie die Spielzeit am 7. September mit einem Klassiker, Joseph Haydns „Die Schöpfung“ unter Adam Fischer – ein Bestandteil des über mehrere Jahre laufenden Haydn-Mahler-Zyklus‘, der 2018/19 mit Mahlers Neunter (11./12./13. Januar 2019), kombiniert mit Haydns Sinfonie Nr. 101 „Die Uhr“, und mit der Zweiten Symphonie plus Haydns Nr. 95 (5./7./8. April) fortgesetzt wird.

Auch die Düsseldorfer Symphoniker würdigen den großen Kölner Bernd Alois Zimmermann aus Anlass seines 100. Geburtstages: Am 5./7./8. Oktober eröffnen sie ihr Konzert mit „Photoptosis“, einem „Prélude“, zu dem sich Zimmermann von den monochromen Bildflächen Yves Kleins im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier anregen ließ. Wie sich die Farbflächen durch „Lichteinfall“ – so die Übersetzung des griechischen Titels – verändern, so changiert auch die Musik Zimmermanns in einem großen Steigerungsprozess. Dazu erklingt eine weitere Rarität, Max Bruchs Konzert für Klarinette, Viola und Orchester, bevor Gustav Holsts „Die Planeten“ das Programm abschließen.

Leonard Bernsteins „Mass“ zum Jahresabschluss

Adam Fischer (Foto: Tonhalle, Susanne Diesner)

Zum Abschluss des Jahres, am 7./9./10. Dezember würdigen die Symphoniker mit Leonard Bernstein einen weiteren Jahresjubilar 2018 und führen unter John Neal Axelrod gemeinsam mit dem Clara-Schumann Jugendchor und dem Chor des Städtischen Musikvereins seine riesig dimensionierte „Mass“ auf.

Besondere Werke und Entdeckungen durchziehen das gesamte Programm, etwa Nikolai Medtners Klavierkonzert Nr. 2 mit dem fast noch als Geheimtipp zu handelnden phänomenalen russischen Pianisten Yevgeny Sudbin, Ralph Vaughan Williams‘ Oboenkonzert mit Ramón Ortega Quero und der hoffnungsvollen Grazer Chefdirigentin Oksana Lyniv am Pult, Aram Chatschaturians Violinkonzert mit Geigen-Aufsteiger Nemanja Radulovic und Clara Schumanns Klavierkonzert a-Moll im Vorgriff auf das Clara-Schumann-Jubiläum 2019 mit Mariam Batsashvili und Alexandre Bloch als Dirigent. In diesem Konzert am 31. Mai und 2./3. Juni 2019 erklingt auch ein neues Werk des italienisch-israelischen Komponisten Luca Lombardi.

Attraktive Kammermusik und Wiener Staatsoper

Auch die anderen Abo-Reihen, „Raumstation“, „Sternstunden/Fixsterne“ und „Ehring geht ins Konzert“ bieten höchst attraktive Ensembles und anregende Programme: Die Bläsersolisten des Concertgebouw Orkest Amsterdam spielen am 6. Oktober Harmoniemusiken von Mozart und Beethovens Oktett Es-Dur op. 103. Der Pianist Fazil Say kommt am 20. März 2019 mit dem Casal Quartett wieder und hat neben Beethoven, Haydn und Schumann auch eine eigene „Hommage à Atatürk“ für Klavier und Streichquartett dabei. Und das Trio Felix Klieser (Horn), Herbert Schuch (Klavier) und Andrej Bielow (Violine) eröffnet am 25. Mai 2019 das Schumann-Fest gemeinsam mit der Sängerin Fatma Said, unter anderem mit Werken von Clara und Robert Schumann.

Am 19. Mai 2019 dürfte es zu einer „Sternstunde“ für viele Musikliebhaber kommen: Unter Adam Fischer gastieren Solisten, Chor und Orchester der Wiener Staatsoper mit Wolfgang Amadeus Mozarts „Don Giovanni“ in einer konzertanten Aufführung in der Tonhalle.

Infos auf der Seite www.tonhalle.de unter den Reitern Reihen und Abos.

 




Heinz Mack und Goethe: Auf den Spuren des Lichts

„Mehr Licht!“ Diese letzten Worte auf dem Sterbebett wurden dem großen Johann Wolfgang von Goethe vermutlich nur angedichtet. Aber zweifellos war das Wirken gegen die Finsternis ein Leben lang eins der großen Themen des allseits verehrten Schriftstellers und Universalgelehrten, der zweimal, 1774 und 1792, das Städtchen Düsseldorf und den Freund Jacobi mit seiner Anwesenheit beehrte.

"Taten des Lichts": Ausstellungsansicht mit Arbeiten von Heinz Mack in Düsseldorf. (© Archiv Mack / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

„Taten des Lichts“: Ausstellungsansicht mit Arbeiten von Heinz Mack in Düsseldorf. (© Archiv Mack / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Mehr Licht gibt es nun endlich im zuvor stark eingestaubten Düsseldorfer Goethe-Museum: frische weiße Farbe, neue Lampen, helle Vorhänge – und ein neues Konzept. Was uns Goethe heute noch zu sagen hat, wie modern er ist, will Direktor Christof Wingertszahn im Schloss Jägerhof der Welt zeigen. Eine weithin leuchtende Kunstausstellung von Heinz Mack wird das Publikum locken – mit „Taten des Lichts“.

Dem Freigeist stets verbunden

Lichtkünstler Mack, der in diesen Tagen 87 Jahre alt wird, hat als reifer Mann, ganz wie einst der nimmermüde Goethe, nichts von seiner Leidenschaft eingebüßt. Es macht ihn wütend, dass die herrschenden westlichen Kuratorencliquen ihn und sein Werk so oft ignorieren. „Die gegenwärtige Kunst geht über ihn hinweg“, sagt er und spricht von sich in der in der dritten Person.

In der Tat würdigt man Mack zwar als Mitbegründer der legendären Gruppe Zero, die 1957 eine neue Klarheit in die wirre Nachkriegskunst brachte. Doch aktuell bevorzugt man Konzept, Installation und Video, befasst sich exzessiv mit Banalitäten und den Neurosen der Gesellschaft. Mack hingegen konzentriert sich ganz auf das, was er die „interstellaren Verhältnisse“ nennt. Man kann auch sagen, er feiert ganz zeitlos die Schönheit des Universums.

Dem alten Freigeist Goethe, der nebenbei auch ein begabter Zeichner war, fühlte sich der 1931 in Hessen geborene Mack schon als Unterprimaner verbunden. Neben Kunst an der Düsseldorfer Akademie studierte er Philosophie in Köln und gab seinen sicheren Job als Lehrer auf, um den Gedanken und dem Schaffen ungehinderten Lauf zu lassen.

Weiterer Blick in die Mack-Ausstellung des Düsseldorfer Goethe-Museums. (© Archiv Mack / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Weiterer Blick in die Mack-Ausstellung des Düsseldorfer Goethe-Museums. (© Archiv Mack / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Seine Inspiration fand Mack am Himmel über der Wüste, in der Arktis, auf Ibiza – und zu Hause in Mönchengladbach. Und während die Kollegen den Orient weitgehend vergaßen, beachtete er auch die Farben und Muster in der islamischen Kunst, die schon viel früher als der Westen die Abstraktion gefeiert hatte. „For an oriental mirror“, einen orientalischen Spiegel, malte er 2008 flirrende Ornamente. Auch Goethe wusste die morgenländische Kultur zu schätzen und widmete ihr die Gedichtsammlung „West-östlicher Divan“.

Die Freiheit denkt abstrakt

Und siehe da: Obgleich Jahrhunderte zwischen den beiden Künstlern liegen, passen sie doch auf wundersame Weise zusammen. Denn Goethe hatte nicht nur als Jüngling so zum Spaß das „Bild eines Mädchens in umgekehrten Farben“ gemalt als sei’s eine Idee von Picasso, er arbeitete auch in der Abstraktion. Wie Mack setzte der Dichter und Denker eine Kugel auf einen Würfel und betrachtete das, unerhört für seine Zeit, als sinnhafte Skulptur. Jenseits alles Gegenständlichen erforschte er das Spektrum des Lichtes, entwarf geometrische Skizzen und ließ eine Reihe von konstruktiv anmutenden Karten drucken, deren nüchterne Schwarz-Weiß-Formen, durch ein Prisma betrachtet, an den Rändern farbig erscheinen.

Mack malte 1991 nach dem Vorbild der Goetheschen Experimentalkarten große Pastelle auf Bütten. Schon viel früher hatte er sich stolz auf das inspirierende Vorbild bezogen und 1964 die Farben des Regenbogens in einem großen Pastell „for Mr. Wolfgang von Goethe“ strahlen lassen. Ordnung und Freiheit, sieht man hier, können einander vortrefflich ergänzen. Das zeigen Raster, zwischen denen es golden schimmert, Fächer überlappender Farbquadrate, ein Keil in Ultramarin, der dreidimensional aus der Fläche hervortritt, oder ein schillerndes Gitter vor den Tönen eines Sonnenuntergangs. Der Maler ist ja auch ein Bildhauer, der in viele Städte seine Himmelszeichen gesetzt hat.

Wo das Blau ewig fließt

Es ist eine Lust, in Goethes Museum den Leuchtspuren des Meisters Mack zu folgen oder auch, wie er es oft ganz sachlich nennt, seinen „Chromatischen Konstellationen“. Im ersten Stock, der von den alten Vitrinen befreit wurde, sind die Farben in Bewegung geraten – mit Hilfe einer Technik, von der Goethe nur träumen konnte. Kinetische Lichtkunst, zum Teil in früheren Jahren entworfen, erzeugt hypnotische Effekte. Da fließt ein ewiges Blau, da schwirren bunte Kreise, da pulsiert ein Sonnengelb. Ganz sicher wäre Goethe begeistert gewesen, seine Theorie so herrlich bestätigt zu sehen: „Jede Farbe also, um gesehen zu werden, muss ein Licht im Hinterhalte haben“, notierte er.

Das gilt auch für Schwarz und Weiß, zeigt Heinz Mack mit einer Serie von monumentalen Bildern, die von Licht und Dunkelheit handeln. Ein schwarzer Planet schwebt da auf einem weißen Nebel, eine Raute steht deutlich im hellen Schein, und die kreisrunde „Black Rotation“ beweist, dass Schwarz keineswegs eintönig ist, sondern in vielen Nuancen schimmern kann, ganz nahe am tiefen Blau, aus dem auf wunderbare Weise die anderen Farben der Schöpfung entstehen.

Wir spüren es, ehe wir es sehen. Und wir empfinden vor Macks Bildern mehr, als wir beschreiben können oder sollen. Bei Goethe gibt es das passende Zitat: „Des echten Künstlers Lehre schließt den Sinn auf; denn wo die Worte fehlen, spricht die Tat.“ Hingehen und ansehen!

„Taten des Lichts – Mack & Goethe“: 4. März bis 27. Mai im Goethe-Museum Düsseldorf, Schloss Jägerhof, Jacobistr. 2. Eintritt: 8 Euro. Di.-Fr. und So. 11 bis 17 Uhr, Sa. 13 bis 17 Uhr. Ein Buch zur Ausstellung erscheint demnächst im Verlag Hatje Cantz Verlag. 480 Seiten, ca. 50 Euro. Vortrags- und Begleitprogramm unter www.goethe-museum.de




Abstraktion macht den Kopf frei – Carmen Herrera im Düsseldorfer K20

Die Lady ist inzwischen 102 Jahre alt. Sie lebt immer noch in ihrem Wohnatelier in Manhattan und arbeitet täglich an ihrer Kunst – wenn auch mit Hilfe eines Assistenten, der für sie Linien abklebt und Farben mischt.

Porträt Carmen Herrera, um 1961. (© Fotografie von Ralph Llerena, George Perruc Staff Photographers - Foto: Kunstsammlung NRW)

Porträt Carmen Herrera, um 1961. (© Fotografie von Ralph Llerena, George Perruc Staff Photographers – Foto: Kunstsammlung NRW)

Carmen Herrera, 1915 auf Kuba geborene Malerin mit amerikanischem Pass, hat verdammt lange auf ihre Anerkennung warten müssen. Die Boys ihrer Generation, von Jackson Pollock bis Ellsworth Kelly, waren einfach zu dominant. Doch sie hat alle überlebt. Und jetzt ist ihre Zeit. Das coole New Yorker Whitney Museum hat Carmen Herrera 2016 eine Ausstellung gewidmet, die nun, repräsentativ erweitert, im Düsseldorfer K20 zu sehen ist: „Lines of Sight“.

Man wird sich dran gewöhnen müssen, dass Susanne Gaensheimer, die Biennale-erprobte neue Direktorin der Kunstsammlung NRW, unsere Sehgewohnheiten auf die Probe stellt. Ihr Ehrgeiz gilt nicht den geliebten Heiligen der klassischen Moderne, Picasso, Klee, Max Ernst, Modigliani, mit denen Werner Schmalenbach das Haus groß machte. Sie will den Blick des Publikums öffnen – zum Beispiel für Entdeckungen wie Carmen Herrera, deren Namen bisher nur Eingeweihte kennen. Dabei hat die Kubanerin, wie die klare Schau im Erdgeschoss zeigt, durchaus ihren Rang in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Im Salon der Neuen Realitäten

Carmen Herrera war das siebte Kind eines angesehenen Journalistenpaares in Havanna, malt schon früh und besucht Kunstkurse. Amerikanische Touristen kaufen ihr 1935 ein paar Landschaften in Öl ab – aber das Gegenständliche wird sie später nicht mehr interessieren. Auf der Suche nach der modernen Form beginnt sie 1938 in Havanna ein Architekturstudium, das sie wegen politischer Unruhen allerdings bald abbricht.

1939 heiratet die madonnenhafte Schönheit ihren Verehrer Jesse Loewental, einen jüdischen Amerikaner deutscher Herkunft, und zieht mit ihm nach New York. Bis zu seinem Tod im Jahr 2000 werden sie zusammen bleiben – unzertrennlich. Loewental ist Lehrer, unterstützt seine Frau in ihren Ambitionen und baut nebenher die Rahmen für ihre Bilder.

Ansicht der Herrera-Ausstellung im Düsseldorfer K 20. (Foto: Achim Kukulies / © Carmen Herrera / Kunstsammlung NRW)

Ansicht aus der Herrera-Ausstellung im Düsseldorfer K 20. (Foto: Achim Kukulies / © Carmen Herrera / Kunstsammlung NRW)

Er ist auch an ihrer Seite, als Carmen 1948 für einige Jahre nach Paris gehen will. In New York fühlt sie sich fehl am Platze. Die männliche Avantgarde erregt Aufsehen mit dem Abstrakten Expressionismus, und sie kann kaum Englisch. Französisch hingegen spricht sie fließend, und Paris kennt sie von früheren Aufenthalten. Das alte Europa nimmt sie freundlich auf, sie wird Mitglied der Gruppe „Salon des Réalités Nouvelles“ (Salon der Neuen Realitäten), lernt viele Künstlerkollegen kennen und experimentiert mit der Abstraktion.

Die Eroberung der Luft

Noch mag sie das Raue, Ungestüme, mischt Sand in ihre Acrylfarben, malt auf Sackleinen. Aus der freien Hand gesetzte geometrische Formen zeigen Spuren der Leidenschaft, die „Conquête de l’air“, die „Eroberung der Luft“ von 1950 ist sogar eine wilde, informelle Zeichnung.

Wie Kuratorin Susanne Meyer-Büser glaubt, befreit sich Carmen Herrera mit diesen Gesten endgültig von den kubanischen Farben und Formen, von der Vergangenheit. Nach Besuchen in der Heimat beklagt sie sich über Hitze und Moskitos, die Mutter geht ihr auf die Nerven. Nach deren Tod 1963 wird Carmen Herrera nie wieder nach Kuba zurückkehren. Sie zieht einen Schlussstrich.

Carmen Herrera: "Verticals", 1952, Acryl auf Leinwand. (Privatsammlung Portugal / © Carmen Herrera)

Carmen Herrera: „Verticals“, 1952, Acryl auf Leinwand. (Privatsammlung Portugal / © Carmen Herrera)

Ohne die hitzige Sinnlichkeit der Karibik kann sich Carmen Herrera viel besser auf eine Kunst konzentrieren, die nichts Erzählerisches mehr hat, die ganz streng bei sich bleibt. In einer ganzen Reihe von Bildern arbeitet sie nur mit Schwarz und Weiß, setzt Streifen so raffiniert gegeneinander, dass ein optisches Flirren entsteht – wie später auf den Bildern von Victor Vasarely. Um genauere Effekte zu erzielen, arbeitet sie fortan mit Klebebändern wie ein sorgfältiger Handwerker.

Die Kraft von Weiß und Grün

1954 kann sich Jesse Loewental nicht länger vom Schuldienst befreien lassen, das Paar kehrt zurück nach New York. Dort, im Zentrum der gespritzten und gekleckerten Ausdruckskunst, entsteht Carmen Herreras formal sparsamste Serie: „Blanco y Verde“, Weiß und Grün. Schmale Keile erscheinen da auf leerer Fläche und markieren mit subtilen, aber kraftvollen Effekten die Grenzen der freien Malerei. Und während die Pop-Art in den 1960er- und 70er-Jahren ihre auffälligen Späße macht und Warhols Factory die Tabus bricht, bleibt Carmen Herrera der Reduktion treu.

Carmen Herrera: "Verde de Noche", 2017, Acryl auf Leinwand. (Courtesy Lisson Gallery / © Carmen Herrera)

Carmen Herrera: „Verde de Noche“ („Grün der Nacht“), 2017, Acryl auf Leinwand. (Courtesy Lisson Gallery / © Carmen Herrera)

Schlicht wie gute Architektur ist ihre Arbeit. Als Hommage an die Baukunst kann man ihre „Estructuras“ sehen, Wand- und Bodenobjekte aus je zwei, in klaren Farben bemalten Sperrholzformen, die in reizvoller Spannung zueinander arrangiert sind. Carmen Herrera mit ihrem Werk ist, wie die Ausstellung beweist, den Heroen der Minimal Art wie Donald Judd oder Sol LeWitt durchaus ebenbürtig. Aber trotz aller Konsequenz wird die Meisterin in ihrer Wahlheimat USA lange nur im Rahmen von „Latin Art“ (lateinamerikanischer Kunst) oder Frauenforen wahrgenommen.

Symmetrie kann sexy sein

Doch Carmen Herrera gibt nie auf. 1975 komponiert sie schwarze Felder und leuchtende Farben zu kraftvollen „Wochentagen“ („Days of the Week“). Unbeirrbarkeit ist ein wichtiger Teil der künstlerischen Haltung.

Und siehe da: Ende der 1980er-Jahre bezeichnet der einflussreiche Kritiker Stephen Westphall in der Zeitschrift „Art in America“ ihr Werk als „a particularly sexy sort of geometric symmetry“, eine besonders scharfe Art der geometrischen Symmetrie. Stimmt: Man ist angezogen von diesen Bildern, die das Erdgeschoss der Kunstsammlung beherrschen, als hätten sie schon immer dazugehört.

Prof. Susanne Gaensheimer, Direktorin der Kunstsammlung NRW. (Foto: Andreas Endermann)

Prof. Susanne Gaensheimer, Direktorin der Kunstsammlung NRW. (Foto: Andreas Endermann)

In der Tat will Susanne Gaensheimer ein älteres sowie ein aktuelles Werk von Carmen Herrera für die Sammlung erwerben. Eines wie das klare „Grün der Nacht“ („Verde de Noche“) von 2011. Man wird sehen. Obwohl die Künstlerin erst mit über 80 Jahren nennenswerte Verkäufe erzielt hat, sind die Preise jetzt bereits über die Millionengrenze gestiegen. Am Ende wird es Carmen Herrera noch schaffen, neben den Boys zur Klassikerin der Moderne zu werden. Passt doch zu K20.

„Carmen Herrera – Lines of Sight“. Bis 8. April in der Kunstsammlung NRW, K20, Düsseldorf, Grabbeplatz. Geöffnet Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr, Sa./So. 11 bis 18 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Katalog 36 Euro. www.kunstsammlung.de

Parallel zeigt die Choreographin Maria Hassabi vom 9. Dezember bis 21. Januar in der Grabbehalle die Performance „Staging: Solo #2“. Wechselnde Tänzer werden sich dabei minimal bewegen und „skulpturale Körperlichkeit“ präsentieren. Der Eintritt zu der Performance ist frei.




Natur zwischen Zeit und Idee: Ausstellung im Museum Kunstpalast Düsseldorf

Foto: Museum Kunstpalast, Düsseldorf – Horst Kolberg – Artothek

Carl Wilhelm Kolbe d. Ä., Die Kuh im Schilf, um 1801, Radierung mit Kaltnadel, 38,3 x 48,8 cm, Museum Kunstpalast, Düsseldorf
Foto: Museum Kunstpalast, Düsseldorf – Horst Kolberg – Artothek

Wie gehen Künstler mit der Natur um? Ihre Abbildung dürfte unmöglich sein, denn selbst genaueste Zeichnungen, wie sie für botanische oder zoologische Werke entstanden sind, geben nicht „Natur“, sondern ein Idealbild wieder, dem die Dimension der Zeitlichkeit fehlt. Daher geht es stets um eine Idee von Natur, wie sie auch immer begrifflich gefasst sei.

Vier künstlerische Positionen zur Natur verknüpft Kuratorin Gunda Luyken in einer Ausstellung im Museum Kunstpalast in Düsseldorf.

Ausgehend von Radierungen von Carl Wilhelm Kolbe d.Ä. aus der eigenen Sammlung des Museums will die Schau „Magische Natur“ im Cary-und Dan-Georg-Bronner-Saal dem Blick auf die Natur und seinen Wandlungen auf die Spur kommen. Der Ausgangspunkt sind die sogenannten Kräuterblätter Kolbes. An der Wende zum 19. Jahrhundert in der Zeit früher Romantik entstanden, wirkt dieser Bildtypus surreal, manchmal sogar unheimlich.

Anders als in klassischen Landschaftsdarstellungen kennt Kolbe keine Gliederung des Raumes in drei Ebenen und keinen Ausblick in die Ferne. In seinen Radierungen und Zeichnungen wuchern riesige Pflanzen den Vordergrund zu, sind durch manchmal auf den ersten Blick kaum erkennbare Figurengruppen noch monumental gesteigert. Die Natur, inspiriert durch die wasserreiche Umgebung seiner Wirkungsstätte Dessau, wächst ins Fantastische.

Franz Gertsch, Pestwurz „Ausblick“, 2005, Holzschnitt, 276 x 380 cm, kobaltblau, 2 Platten, je 268 x 183 cm, Handabzug auf Kumohadamashi-Japanpapier von Heizaburo Iwano, Museum Kurhaus Kleve – Ewald Mataré Sammlung, Freundeskreis Museum Kurhaus und Koekkoek Haus Kleve e.V., Kleve, © Franz Gertsch

Franz Gertsch, Pestwurz „Ausblick“, 2005, Holzschnitt, 276 x 380 cm, kobaltblau, 2 Platten, je 268 x 183 cm, Handabzug auf Kumohadamashi-Japanpapier von Heizaburo Iwano, Museum Kurhaus Kleve – Ewald Mataré Sammlung, Freundeskreis Museum Kurhaus und Koekkoek Haus Kleve e.V., Kleve, © Franz Gertsch

Kolbes in seiner Zeit einzigartige Blätter, die unter anderem Max Ernst inspiriert haben, gelten als „Geheimtipp“, wie Felix Krämer, Generaldirektor des Museums Kunstpalast, schreibt. Ihnen gegenüber stehen in der Ausstellung Holzschnitte von Franz Gertsch. In seinen Pestwurz-Bildern führen die starke Vergrößerung und die monochrome Ausführung dazu, dass Natur auf der einen Seite übergenau dargestellt, andererseits aber abstrahiert erscheint.

Natascha Borowsky, o. T. 422 201214, aus der Serie Transition, 2012/2014, Pigment Print, 40,5 x 59,4 cm, Natascha Borowsky © VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Natascha Borowsky, o. T. 422 201214, aus der Serie Transition, 2012/2014, Pigment Print, 40,5 x 59,4 cm, Natascha Borowsky © VG Bild-Kunst, Bonn 2017

Die Fotografinnen Simone Nieweg und Natascha Borowsky, beide aus der Schule von Bernd und Hilla Becher, setzen auf ihre Weise das Spiel zwischen Realität und Abstraktion in der Gegenwart fort. In ihren Bildern ist die Spannung zwischen dem Moment der Aufnahme und dem unvermeidlichen Vergehen des Augenblicks erfahrbar.

Perspektiven, Licht und Komposition heben die „Natur“ über sich selbst hinaus und stellen sie in Zusammenhänge, in denen der Betrachter der Magie des künstlerischen Augenblicks erliegt.

„Magische Natur. Carl Wilhelm Kolbe d. Ä., Franz Gertsch, Simone Nieweg, Natascha Borowsky“. Bis 7. Januar 2018 im Cary- und Dan-Georg-Bronner-Saal des Museums Kunstpalast in Düsseldorf. Di. bis So. 11 bis 18 Uhr, Do. 11 bis 21 Uhr. Eintritt fünf, ermäßigt vier Euro. Katalog 19,80 Euro.

 




Fotokunst von Axel Hütte: Die Welt als geistiger Raum

Hey, Sie da mit dem hochgereckten Smartphone! Ist die Fotografie überhaupt noch eine Kunst? Eine heikle Frage. Die allgegenwärtige Technik, diese Domina des 21. Jahrhunderts, ermöglicht jedem Laien gelungene Bilder. Es wird gepostet, bis es uns vor den Augen flimmert.

Axel Hütte Lemaire Channel-1, Antarctic, 2017 C-Print, 135 x 165 cm © Axel Hütte

Axel Hütte
Lemaire Channel-1, Antarctic, 2017
C-Print, 135 x 165 cm
© Axel Hütte

Und doch behauptet sich das besondere Werk – durch Konzept, Konsequenz, Reduktion und das gute alte Gespür für Motiv und Augenblick. Fotografie kann immer noch eine hohe Kunst sein, der Malerei ebenbürtig. Das beweist Axel Hütte in der wunderbaren Ausstellung „Night and Day“ im Düsseldorfer Museum am Ehrenhof.

Der 1951 in Essen geborene Künstler missachtet alles Spektakuläre. Er missachtet das sich anbietende Motiv. Mit einer altmodischen, bleischweren Plattenkamera reist er durch die Welt und lässt die Attraktionen und Panoramen links liegen.

In den kanadischen Bergen wartet er im Mondschein, bis der Nebel aufsteigt über den Wäldern, nur ein paar Konturen preisgebend. Das, wagt man zu bemerken, könnte auch der Schwarzwald sein, wozu die weiten Reisen? „Es geht hier nicht um ein paar Tannenbäume“, murrt der Künstler – er mag die blöden Fragen von Journalisten nicht.

Das Geheimnis bleibt unantastbar

Immer wollen sie das Geheimnis mit Fakten und Erklärungen durchbohren. Axel Hütte hingegen zelebriert das Verschleierte. Nicht ohne Grund hing sein Schweizer Bild vom total vernebelten „Furkablick“ in Beat Wismers großer Verhüllungs-Ausstellung „Hinter dem Vorhang“. An der rechten Seite des Bildes erscheint gestochen scharf die Fassade des historischen Pass-Hotels mit seinen Schnörkelbalkonen, die der Aussicht dienen. Doch nur die Vorstellungskraft vermag in die Ferne vorzudringen. Ein Bild wie aus einem sonderbaren Traum.

„Ich suche den Ort nicht, ich finde ihn“, bemerkt Axel Hütte. Das kann in Griethausen sein, wo ihn 1999 das gekreuzte Eisengitter einer Brücke faszinierte, oder in der Antarktis, wohin er erst in diesem Jahr reiste, um den graublauen Himmel über im Meer treibenden Eisstücken aufzunehmen.

Zwischen weißen und dunkelblauen Wänden geht es in dieser Ausstellung um etwas, was Kurator Ralph Goertz „geistigen Raum“ nennt. Der Blick darf endlich einmal ruhen – sogar auf Bildern, die sich sanft bewegen wie Axel Hüttes Video der Lichter von Detroit. Tatsächlich hatte der junge Mann in den 1970er-Jahren zwei Semester in der Filmklasse der Düsseldorfer Akademie studiert, bevor er zur Fotografie wechselte und einer der frühen Schüler der berühmten Düsseldorfer Becher-Klasse wurde.

Die Kunst in der Natur entdecken

Aber bei einem reifen Künstler ist der obligatorische Rückblick auf die Ausbildung eigentlich absurd. Als ob das eine Rolle spielte. Was zählt, ist das Werk in seiner Stille und Schönheit.

Wir sehen, wie wuchernde Zweige sich spiegeln in den dunklen Wassern des Rio Negro, während der Dschungel im Hintergrund undurchdringlich bleibt. Wir sehen, wie blaue Fensterlichter funkeln an einem Hochhaus in Kuala Lumpur. Wir erkennen die konstruktivistischen Strukturen von ganz gewöhnlichen Brücken-Stahlträgern in Japan oder Australien. Wir wandern in den Dunst eines italienischen Waldes mit kahlen und abgebrochenen Bäumen.

In schwarzer Nacht liegt der Hügel von Bourg St. Maurice in Frankreich, nur ein Schimmer deutet auf menschliche Behausungen. Irgendwo bei Ingelheim scheinen Büsche zwischen Fluss und weißem Himmel zu schweben, und ein wirres „Geäst“ erinnert an die Strukturen des Abstrakten Expressionismus.

Axel Hütte ist auch ein Entdecker der Kunst in der Natur und im profanen Bauwerk. Seine Bilder zeigen Phänomene, verbreiten Atmosphäre, sie erzählen keine Geschichten. Man müsste gar nicht wissen, wo er sie aufgespürt hat. Aber die Namen der Orte, die uns bereitwillig genannt werden, setzen bei jedem Betrachter eine eigene Fantasie frei. Und auch das ist ein Teil von Kunst.

Information:

„Axel Hütte: Night and Day“: bis 14. Januar 2018 im Düsseldorfer Museum Kunstpalast, Ehrenhof. Di.-So. 11 bis 18 Uhr, Do. bis 21 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Katalog 39,90 Euro. www.smkp.de

Parallel wird in Bottrop das Frühwerk (1978-95) von Axel Hütte gezeigt. Neben Porträts von Kollegen interessierten Hütte damals insbesondere architektonische Formationen, wie Treppenhäuser und Flure in Mietshäusern der Nachkriegszeit, U-Bahnhöfe in Berlin, Gebäude und Plätze in London, Venedig und Paris. Di-Sa. 11 bis 17 Uhr, So. 10 bis 17 Uhr. Eintritt: 6 Euro. Katalog: 38 Euro. www.bottrop.de/mq




Nominierungen zum Theaterpreis „Der Faust“: Auszeichnungen für Oberhausen, Essen, Dortmund und Düsseldorf

DER FAUST - so sieht die Auszeichnung aus. Foto: Natalie Bothur

„Der Faust“ – so sieht die Auszeichnung aus. Foto: Natalie Bothur

Alle Achtung! Da kommt soeben die Pressemeldung des Deutschen Bühnenvereins zum Theaterpreis „Der Faust“ 2017 herein – und wir entdecken gleich mehrfach Nominierungen für Bühnen in Nordrhein-Westfalen.

Waren die Theater in NRW nicht sonst eher so ein Geschwader hässlicher Entlein, die schüchtern im Kielwasser der glanzvollen Schwäne aus Berlin, Hamburg etcetera mitpaddeln durften? Diesmal könnte es anders sein. Und dass ein nicht gerade auf Rosen gebettetes Theater wie Oberhausen in der Kategorie „Regie Schauspiel“ nach 2014 erneut für einen Preis infrage kommt, darf durchaus mit Stolz zur Kenntnis genommen werden. Neben Oberhausen stehen Düsseldorf, Essen und Dortmund in der Liste der „Faust“-Nominierungen.

„Látszatélet / Imitation of Life“ des unbequemen ungarischen Regisseurs Kornél Mundruczó soll einen „Faust“ für die beste Schauspiel-Regie erhalten. „Dieser Abend wühlt auf und wühlt im Zuschauer“, schreibt der Kritiker Sascha Krieger über die Oberhausener Premiere im Juni 2016. In der Kooperation des ungarischen Proton Theaters – eines der kritischen Ensembles, die keine staatliche Unterstützung mehr bekommen –, der Wiener Festwochen und weiterer Partner geht es um Alltagsrassismus und Ausgrenzung am Beispiel einer Roma-Familie. Krieger: „Es ist der Kreislauf von Hass und Ausgrenzung, den Mundruczó an diesem Abend zeichnet. Ein intensiver, stiller Abend, an dem man zuweilen kaum hinsehen will.“

Einen Regie-Faust hat für NRW auch Johanna Pramls „Sommernachtstraum“ am Schauspielhaus Düsseldorf in Aussicht. Auf der neu gegründeten Bürgerbühne entwickelte die 1980 in Offenbach geborene, mehrfach ausgezeichnete Regisseurin ihr Projekt gemeinsam mit Laien und Schauspielern. Am Freitag, 6., und Sonntag, 8. Oktober ist das Ergebnis noch einmal zu sehen. Der Kritiker Stefan Keim sagt dazu, das Verwirrspiel frei nach Shakespeare sei „wunderbar sympathisch, selbstironisch und auch mutig, denn die Darsteller erzählen von ihren eigenen Träumen, von ihren Ängsten und dann wird es auch richtig magisch.“

Das Wunder wird sinnlich erfahrbar: Der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Szene aus Tatjana Gürbacas „Lohengrin“-Inszenierung in Essen, nominiert für den Theaterpreis „Der Faust“: der Schwan (Aron Gergely) und Lohengrin (Daniel Johansson). Foto: Forster

Im Musiktheater steht neben Paul-Georg Dittrichs Berlioz-Deutung in „La Damnation de Faust“ am Theater Bremen und Christoph Marthalers „Lulu“ in Hamburg die Essener „Lohengrin“-Inszenierung Tatjana Gürbacas auf der „Faust“-Liste. In einem beziehungsreichen Bühnenbild Marc Weegers hat Gürbaca im Aalto-Theater Wagners häufig interpretiertes Werk in einer klugen, komplexen Regie an die Gegenwart angenähert, ohne die Deutungswege der letzten Jahre weiter auszutreten, aber auch ohne in die Extreme verstiegenen Überbaus zu flüchten oder das Heil in der Rückkehr zu Opulenz und Konvention zu suchen. Sie inszenierte weder ein „Künstlerdrama“ noch eine bloß politische Parabel, sondern gab der Offenheit des Dramas, dem „Wunder“ einen sinnlich und sinnhaft ausgedeuteten Raum. Ab 18. April 2018 ist Gürbacas Inszenierung in der Wiederaufnahme in Essen wieder zu erleben.

Im Bereich Bühne/Kostüm konnte sich Dortmund – nach Pia Maria Mackerts Bühne zu „Das goldene Zeitalter – 100 Wege dem Schicksal die Show zu stehlen“ 2014 – wieder eine „Faust“-Nominierung sichern: Michael Sieberock-Serafimowitsch (Bühne) und Mona Ulrich (Kostüm) erhielten sie für ihre Ausstattung von „Die Borderline Prozession“ am Schauspiel Dortmund. Im Megastore erarbeiteten Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin ein aufwendiges Gesamtkunstwerk: eine detailreich ausgestattete Villa, bewohnt von Schauspielern und umzogen von einer Prozession. Eine „verstörende Lebens-Geisterbahn“ nennt Rezensentin Dorothea Marcus die Produktion; eine „philosophische Welt-Installation über das Draußen und das Drinnen, Arm und Reich, Grenzen und Übergänge. Darüber, wie Bilder und Worte den Blick auf das Echte verstellen können.“ Die „Borderline Prozession“ war zum Berliner Theatertreffen 2017 eingeladen und wird bis 14. Oktober noch fünf Mal im Dortmunder Megastore gezeigt.

Einen „Faust“ für Choreografie kann Dewey Dells „Sleep Technique – Eine Antwort an die Höhle“ erhalten; eine Performance, die in der Berliner Tanzfabrik und im März 2017 in PACT Zollverein ihre Uraufführung feierte. Die 2007 gegründete Kompanie Dewey Dell hat als Team – als Choreographin wird Teodora Castellucci genannt – eine „poetische Reise zu den Tiefen des Ursprungs europäischer Kultur“ entwickelt. Auch diese Arbeit versteht sich als ein Gesamtkunstwerk aus Choreographie, Musik, Bühnenbild und Licht.

Der Deutsche Theaterpreis „Der Faust“ wird am Freitag, 3. November 2017 im Schauspiel Leipzig zum zwölften Mal verliehen. Der undotierte Preis umfasst Auszeichnungen in acht Kategorien sowie den Preis für das Lebenswerk, den in diesem Jahr die österreichische Schriftstellerin Elfriede Jelinek erhält. In der Begründung heißt es: „Als eine der prominentesten Mitgestalterinnen der Umbrüche im deutschsprachigen Theater nach 1968 hat sie mit ihrer Absage an traditionelle dramatische Strukturen und mit ihren wortgewaltigen, sprachlich verdichteten Textflächen eine neue Richtung vorgegeben.“ – Zum ersten Mal wurde der Theaterpreis 2006 im Aalto-Theater Essen vergeben. Damals ging je eine „Faust“-Nominierung nach Düsseldorf, Essen und Moers.




Das Flimmern der Gefühle in der Videokunst: Zehn Jahre Düsseldorfer Stoschek Collection

Wer in der Kunst nach Seelenruhe sucht, der sollte vielleicht lieber seinen Zier-Buddha im Garten betrachten. In der Düsseldorfer Stoschek Collection braucht der Mensch eine Bereitschaft, die Aufmerksamkeit strapazieren zu lassen. Videokunst, diese subjektive Verwendung der Filmtechnik ohne cineastische Absicht, ist nichts für schwache Nerven.

Installationsansicht - Links: Charles Atlas "Hail the New Puritan" (1985/86), 16-mm-Film, transferiert auf Video. Rechts: Wolfgang Tillmanns "Heartbeat / Armpit" (2003), Video 2'27. (Foto: Simon Vogel, Köln - © Julia Stoschek Foundation e. V.)

Installationsansicht – Vorn links: Charles Atlas „Hail the New Puritan“ (1985/86), 16-mm-Film, transferiert auf Video. Vorn rechts: Wolfgang Tillmanns „Heartbeat / Armpit“ (2003), Video 2’27. (Foto: Simon Vogel, Köln – © Julia Stoschek Foundation e. V.)

Besonders herausfordernd wirkt eine Ansammlung von Videokunst ohne den üblichen Ausgleich durch Bilder oder Skulpturen. Für Julia Stoschek, die Sammlerin, Sponsorin und Stifterin eines europaweit einmaligen Ausstellungshauses für nichts als flimmernde, immaterielle Werke, gibt es nichts Spannenderes.

Pressekonferenz an der Düsseldorfer Schanzenstraße 54, dem kühlen Tempel der unfassbaren Kunstform, wo zum zehnjährigen Bestehen eine Schau unter dem „Generation Loss“ (Generationsverlust) arrangiert wurde. „Wir warten noch auf Frau Stoschek“, heißt es. Und dann schwebt sie die graue, raue Treppe herab zu uns – das mondäne Schneewittchen unter den Big Spendern: eine bleiche, perfekt geschminkte Schönheit mit pechschwarzem langem Haar, elfenhaft schlank auf atemberaubenden rosa Stöckelstiefeln: „Guten Morgen“, lächelt sie.

Die Schöne und ihre Geheimnisse

Dass man Julia Stoscheks Erscheinung nicht beachtet, ist unmöglich, auch wenn sie sich mit betont intellektueller Attitüde von der Welt des Luxus und der Modegeschöpfe distanziert. Sie spricht viel und unbeirrt über die Relevanz von „time-based media“, die zeitbezogene Medienkunst. Über ihr Leben und ihre lang geheime Liebe zu Springer-Chef Mathias Döpfner äußert sich die Mutter eines 2016 geborenen Sohnes nicht. Das überlässt sie dem Klatsch der Magazine.

Aber gerade das Geheimnis, das sie umgibt, macht die 42-jährige Milliardärin und Gesellschafterin der Brose Fahrzeugteile GmbH zu einer der viel beachteten Figuren in der internationalen Kunstszene. Sie ist unsere Peggy Guggenheim der Gegenwart und bringt Glamour ins bürgerliche Einerlei. Zu ihren Vernissagen treffen internationale Künstler und Galeristen auf geschmeichelte Vertreter der regionalen Society.

Die Unterstützung durch die eher biedere Düsseldorfer Kulturpolitik lässt hingegen zu wünschen übrig. Die Sammlung Stoschek profitiert nicht von vorhandenen musealen Strukturen, und es dauerte zehn Jahre, bis auch nur ein Wegweiserschild aufgestellt wurde. Dass Stoschek im letzten Jahr eine Filiale ihrer Collection in der offenherzigen Hauptstadt Berlin eröffnete, scheint hier niemanden zu beunruhigen.

Die Ausstellung ist selbst eine Kunst

Immerhin steht fest, dass Julia Stoschek ihre Düsseldorfer Zentrale, eine von den Berliner Architekten Kuehn Malvezzi umgebaute Rahmenfabrik am Rand von Oberkassel, mehr schätzt als die weniger idealen Berliner Räumlichkeiten: „Ich liebe das Haus!“ Ohne Zögern hat sie für die Jubiläumsausstellung gläserne Lärmschutzwände einbauen lassen. Was die Zukunft bringt, weiß niemand, aber in den nächsten zwölf Monaten kann man hier in Düsseldorf eine faszinierende Ausstellung zur Geschichte der Videokunst sehen: 48 Werke, die keineswegs alle erst gestern, sondern in den letzten 50 Jahren entstanden sind.

Und das Besondere: Die Präsentation ist eine Art übergeordneter Rauminstallation. Denn da war kein Kurator am Werke, sondern ein junger Videokünstler ohne falsche Scheu. Ed Atkins, 1982 in Oxford geborener Wahl-Berliner, nutzt digitale Kopien älterer Schmalfilme und Videos, um sie gleichrangig und gleichformatig mit neueren Arbeiten zu konfrontieren. Der „Generation Loss“ aus dem Titel bezieht sich auf den Verlust des Originals ebenso wie auf die Ablösung der Künstlergeneration und überhaupt auf das Entschwinden aller Dinge und Gewissheiten. Der Gedanke der Vergänglichkeit treibt die heutigen Technik-Freaks genauso um wie einst die Maler des Barock.

Was entsteht und verschwindet

Mit einer stummen Live-Projektion der aktuellen Sky-News zeigt Atkins, was er meint. Kaum gesehen, schon zerronnen sind die Bilder der Stunde, die Aufregung über Anschläge, Katastrophen, Wetterberichte. Der Amerikaner Ian Cheng bezieht sich nicht auf die Realität. Er entwickelt kunstvoll stilisierte Figuren, die nach Art eines Videospiels in Echtzeit agieren, wobei immer neue Szenarien entstehen.

Im nächsten Raum, abgetrennt durch eine gläserne Wand, hat Atkins wild geschnittene Punkclub-Szenen aus den 1980er-Jahren von Charles Atlas mit einem kurzen Video-Loop von Wolfgang Tillmanns kombiniert, der 2003 nichts als die Achselhöhle eines jungen Mannes zeigt, in der man den Herzschlag pochen sieht.

Installationsansicht - Links: Bruce Nauman "Walking in an exaggerated manner around the perimeter of a square" (1967/68), 16-mm-Film, transferiert auf Video. Rechts: Klara Lidén "Paralyzed" (2003, Video 3' (Foto: Simon Vodel, Köln / © Julia Stoschek Foundatiob e. V.)

Installationsansicht – Links: Bruce Nauman „Walking in an exaggerated manner around the perimeter of a square“ (1967/68), 16-mm-Film, transferiert auf Video. Rechts: Klara Lidén „Paralyzed“ (2003, Video 3′ (Foto: Simon Vogel, Köln / © Julia Stoschek Foundation e. V.)

So kommt es zu den seltsamsten Begegnungen. Während Paul McCarthy 1974 auf die Kameralinse spuckt („Spitting on Camera Lens“), lässt Douglas Gordon 2003 eine Männer- und eine Frauenhand miteinander kämpfen. Das berühmte Performance-Paar Ulay und Marina Abramovic knallt 1976 im Laufen mit den nackten Körpern gegeneinander, bis es auch dem Betrachter weh tut. Dann bemerkt man auf der linken Seite, wie Konzept-Altmeister Bruce Nauman als junger Mann in einem Schwarzweiß-Film der 1960er-Jahre um die auf den Boden gezeichneten Umrisse eines Quadrats spaziert („Walking in an exaggerated manner around the perimeter of a square“), und rechts verausgabt sich Patty Chang 2003 beim „Fan Dance“ in einem Strudel aus Dreck und Farbe.

Das Innere nach außen gekehrt

Immer wieder geht es in der Videokunst um die Enthüllung neurotischer Strukturen und Zwangshandlungen, das Innere wird nach außen gekehrt. Ein bisschen Witz kann auch mal dabei sein, zum Beispiel, wenn die Abramovic sich mit einem Vollbart in einen Mann verwandelt. Schwindelerregende Effekte kann es geben wie in Dara Friedmans „Revolution“, wo ein Mann wie eine Fliege an der Wand und der Decke läuft, weil sich die Perspektive dreht. Und manchmal wird man ganz andächtig wie vor dem „Sanctus“ von Barbara Hammer, die 1990 zu Bachmusik eine Art Totentanz aus experimentellen Röntgenfilmen der 1950er-Jahre schuf.

Atkins zeigt diese beeindruckende Arbeit in einem Einzelraum. Wenn er Filme kombiniert, so achtet er auf die Abstimmung von Bild und Ton. Um mit Shakespeare zu sprechen: Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode. Und eine strenge Ordnung. Durch die gläsernen Akustikwände vermeidet Atkins die sinnlose Kakofonie, die so oft durch die räumliche Nähe verschiedener Videos entsteht. Die allzeit sich verändernden Bilder aber und ihre Spiegelungen sind weithin zu sehen – und vom Künstler bewusst arrangiert.

Der Besucher begegnet sich selbst als Spiegelbild oder Schattenriss inmitten der Gesamtkonstellation. Da flimmern die Gefühle wie die Projektionen. Ja, Videokunst ist nicht nett wie die Katzenfilmchen auf Facebook. Sie ist manchmal sogar eine Qual. Aber man kann sich ihr nicht entziehen. Ihre nervöse Flüchtigkeit ist nur eine treffliche Metapher für die Vanitas, in der wir alle leben. Daran ändert auch der Buddha im Garten nichts.

„Generation Loss: 10 Years of the Julia Stoschek Collection“: Bis 10. Juni 2018 an der Schanzenstraße 54 in Düsseldorf-Oberkassel. Geöffnet bei freiem Eintritt jeweils Samstag und Sonntag, 11 bis 18 Uhr. Öffentliche Führungen (Gebühr 10 Euro) gibt es seit dem 11. Juni alle 14 Tage sonntags, jeweils 12 und 15 Uhr. Anmeldung unter www.julia-stoschek-collection.net




Mythos Tour de France: Ja, wo radeln sie denn?

Die Düsseldorfer meckern gerne bei einem schönen Gläschen Crémant über den Grand Départ, den großen Start der Tour de France 2017 in unserem Möchte-gern-Klein-Paris. Ein einziger Reklamerummel sei das, viel Geld, Gedöns und blöde Dekoration für ein paar Momente, die nur Radsport-Fans interessieren.

Aber halt, die Chose hat auch kulturelle Aspekte, ja, da staunen Sie, Mesdames et Messieurs! Im NRW-Forum, dieser Forschungsstation für eine Philosophie der westlichen Lebensart, wurde soeben eine Ausstellung über den „Mythos Tour de France“ eröffnet, die auch Sportschau-Verächtern gefallen wird.

Dabei geht es nicht um eine kritische Betrachtung des Radzirkus mit seinen obskuren Geschäften und Skandalen. Man will ja die Stimmung und das Sponsoring nicht verderben. Lediglich ein kleines Wandobjekt mit Beutelchen Eigenblut des jungen Künstlers Martin Höfer weist diskret auf das Doping-Problem hin. Ansonsten freut man sich an Menschen, Rädern, Emotionen – und einer zum Teil überwältigenden Ästhetik. Düsseldorfs Kulturdezernent Hans-Georg Lohe hat nicht Unrecht, wenn er feststellt, Sport und Kunst seien sich näher als gedacht.

Legenden der Landstraße

So edel sah man die Helden des belgischen Radsports gewiss nie wie auf den Schwarz-Weiß-Porträts des Fotografen Stephan Vanfleteren: Eddy Merckx, Briek Schotte, Johan Museeuw – Legenden der kurvenreichen Landstraße. Aber selbst, wenn man die Namen der Sportstars überhaupt nicht kennt und kein Fachgespräch über sie führen könnte, wird man die markanten Visagen zu schätzen wissen.

Gleich davor kann man seinen kindlichen Spaß haben. Der Franzose Pascal Rivet hat Radsportler der 1990er-Jahre in hölzerne Aufstellfiguren verwandelt – lebensgroß und kopflos wie auf einem altmodischen Jahrmarkt. Besucher dürfen damit posieren und das Smartphone für ein Selfie zücken.

An der Wand hängen, in weiß gerahmten Kästen, die Trikots diverser Tour-Teilnehmer, getränkt mit dem Schweiß der Helden: Reliquien der besonderen Art aus der Privatsammlung des britischen Modedesigners Paul Smith. Aufschlussreicher ist allerdings eine Serie der Fotografin und Bloggerin Nicola Mesken, die seit zwölf Jahren mit einer analogen Kleinbildkamera und liebevollem Blick die Fans entlang der Strecke fotografiert – und vor allem eins entdeckt hat: Begeisterung.

Harry Gruyaert (75), einer der großen Bildreporter der Agentur Magnum, hielt in den 1980er-Jahren mehr Abstand und fotografierte die stillen Landschaften, durch die Radler sausen wie ein Schwarm aggressiver Insekten. Am Rand grasen die Schafe, Brünnlein fließen, Kinder spielen, Familien machen Picknick, als wäre nichts geschehen.

Euphorie und Elend

Dazu spielt die Musette-Musik, und man hört Männerstimmen aus einem Dokumentarfilm, den der Regisseur Louis Malle 1962 gedreht hat: „Vive le Tour“. Zur großen Euphorie, zeigt Malle, gehören auch Schmerz, einsamer Kampf, Verletzung, Zusammenbruch.

Die Tour ist, jenseits der Tabellen und der üblichen Sportberichte, ein Ereignis, das verschiedene Aspekte des irdischen Lebens auf eigentümliche Art verdichtet. Man sieht beklommen auf die von Robert Capa fotografierten Fähnleinschwenker von 1939, die kurz vor Ausbruch des katastrophalen Krieges noch einmal nur ans Radfahren dachten. Man sieht den Hippie und die Mutti nebeneinander 1978 in Paris. Man sieht in wandhoher Vergrößerung die zerschundenen und verpflasterten Beine von Radsportlern, die Tim Kölln nach dem Zieleinlauf fotografiert hat: Säulen aus Muskeln.

Olaf Unverzagt, selbst begeisterter Radler, fotografierte nur die Schauplätze vor dem Sturm – die menschenleeren Kurven zwischen Häusern oder Gipfeln. Die Erwartung ist spürbar – und zugleich ein Wissen um die Flüchtigkeit des Ereignisses. Auf der berühmten Fotografie „Tour de France“, die Andreas Gursky 2007 machte, wirken Sportler, Fans, Begleiter wie winzige Ameisen in der gewaltigen Kulisse einer aus der Ferne betrachteten Serpentinenstraße irgendwo im Gebirge.

Das große Rauschen

Gursky ist nicht der einzige Düsseldorfer Kultur-Star, der sich für das Thema Tour engagiert. Kraftwerk, die Band, die 1970 den Elektropop erfand („Wir sind die Roboter“), wird zum Start der Tour de France am 1. Juli im Ehrenhof spielen und hat für die Mythos-Schau eine Filmcollage mit typischer Kraftwerk-Musik produziert. Konzeptkünstler Reinhard Mucha präsentiert im dunklen Hinterzimmer einige Bilder und Papiere, deren Sinn sich nur dem geduldigen Betrachter erschließt.

Bestechender sind da die Bilder des Fotografen Philipp Hympendahl, der mit einer altmodischen Rollfilm-Kamera nicht nur unwirklich schöne Panoramen von der Wegstrecke schuf. 2001 gelang ihm an der Route auf der Alpe d’Huez eine verblüffende Fotografie, auf der alles Umgebende überdeutlich zu sehen ist: die Berge, Bäume, Zuschauer, sogar der Kirchturm des nahen Dorfs. Die Truppe der Radler aber erscheint nur wie eine abstrakte Woge aus vorbeirauschenden Farben. Es ist eben alles nur ein Spuk.

Info:
„Mythos Tour de France“. Bis 30 Juli im NRW-Forum Düsseldorf, Ehrenhof 2. Täglich 11 bis 18 Uhr, Fr. und Sa. bis 20 Uhr. www.nrw-forum.de




Cranach in Düsseldorf: Der Meister macht die Marke

Der Meister hat die Forschung ausgetrickst: Welcher Pinselstrich von ihm selbst ausgeführt wurde, lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen. Denn Lucas Cranach der Ältere (1472-1553), der begnadete Maler, war vor allem ein gewiefter Kunstunternehmer.

Lucas Cranach der Ältere: "Judith mit dem Haupt des Holofernes", um 1530. Malerei auf Holz. (The Metropolitan Museum of Art, Rogers Fund, 1911 / Foto: bpk / The Metropolitan Museum of Art)

Lucas Cranach der Ältere: „Judith mit dem Haupt des Holofernes“, um 1530. Malerei auf Holz. (© The Metropolitan Museum of Art, Rogers Fund, 1911 / Foto: bpk / The Metropolitan Museum of Art)

Mit seiner Wittenberger Werkstatt produzierte er Tausende von Gemälden und zigtausend Grafiken der Marke Cranach. Sein professionelles Team – ein Dutzend Gesellen, später auch die eigenen Söhne Hans und Lukas der Jüngere – musste seinen Stil so perfekt beherrschen, als wär’s ein Stück vom Chef persönlich. Die Kundschaft hatte nichts dagegen. Das Signet der Cranach-Werkstatt, eine Schlange mit Fledermausflügeln, galt als Garantie für Qualität und Prestige.

„Meister – Marke – Moderne“: Das sind denn auch die Stichwörter im Titel der großen Schau der Saison im Düsseldorfer Kunstpalast. Beat Wismer, der scheidende Generaldirektor, war als Student 1974 an einer Cranach-Ausstellung in Basel beteiligt – und krönt jetzt seine Düsseldorfer Laufbahn mit dem Namen des in Kronach geborenen Renaissance-Stars, der in Wien erstes Aufsehen erregte, bevor er 1505 vom sächsischen Kurfürsten Friedrich III. zum Hofkünstler ernannt wurde. Der Kurfürst, bekannt als Friedrich der Weise, hatte ausgerechnet das 2000-Einwohner-Kaff Wittenberg zur Residenzstadt auserkoren und baute es zu einem Zentrum der Kunst und Wissenschaft aus.

Luthers Medienstratege

Cranachs Geschäfte an der Elbe liefen glänzend, zumal der Maler im Rat saß, später sogar Bürgermeister wurde, ganz nebenbei eine Apotheke betrieb und auch noch an einer Druckerei beteiligt war, die etliche Schriften seines Freundes Martin Luther verbreitete. Die Werkstatt Cranach sorgte für die würdevollen Porträts des Reformators mit schwarzem Mantel, mal mit, mal ohne Kappe. Nach Ansicht der Kuratoren Daniel Görres und Gunnar Heydenreich war der Maler so etwas wie der Medienstratege der Reformation. Auf jeden Fall stützten seine Bildnisse den Ruhm Luthers.

Lucas Cranach der Ältere: "Bildnis Martin Luthers als Junker Jörg", 1521, Malerei auf Buchenholz. (Museum der bildenden Künste, Leipzig / © bpk / Museum der bildenden Künste, Leipzig)

Lucas Cranach der Ältere: „Bildnis Martin Luthers als Junker Jörg“, 1521, Malerei auf Buchenholz. (Museum der bildenden Künste, Leipzig / © bpk / Museum der bildenden Künste, Leipzig)

Bis heute stellen wir uns den naturgelockten Ex-Mönch genauso vor, wie ihn Cranach in den frühen 1540er-Jahren abbildete: leicht übergewichtig (er war schließlich ein Genussmensch), aber mit festem Blick und energischem Zug um den Mund. Das viel früher, 1521, entstandene „Bildnis Martin Luthers als Junker Jörg“ zeugt von der Zeit, als der Reformator, verfolgt von Rom, verurteilt vom Reichstag, vogelfrei war und sich einen Bart wachsen ließ, um nicht erkannt zu werden. Cranachs Porträt, in einer grafischen Kopie weit verbreitet, war ein Zeichen für Luthers Überleben und seine Entschlossenheit.

Aber es geht ja im Kunstpalast nicht um Luther, es geht um Cranach, der 1528 als zweitreichster Bürger nach dem kursächsischen Kanzler in der Steuerabrechnung der Stadt Wittenberg aufgeführt wurde. Und das lag nicht nur an seinen Porträts bedeutender oder gut zahlender Herren im vorteilhaften Dreiviertelprofil. Das lag auch und vor allem an seinen berückenden Frauenbildern.

Cranach der Ältere war der erste Maler nördlich der Alpen, der mit „Venus und Cupido“ von 1509 (entliehen aus der Petersburger Eremitage) einen unübersehbaren, weil lebensgroßen Akt produzierte. Kugelrunde Brüste, hüftlange Locken und eine Haut wie Marzipan hat Cranachs Göttin.

Lucas Cranach der Ältere: "Venus und Cupido", 1509, Malerei auf Holz, auf Leinwand übertragen. (© Staatliche Eremitage, St. Petersburg, 2017 / Foto: Gunnar Heydenreich, cda)

Lucas Cranach der Ältere: „Venus und Cupido“, 1509, Malerei auf Holz, auf Leinwand übertragen. (© Staatliche Eremitage, St. Petersburg, 2017 / Foto: Gunnar Heydenreich, cda)

Der hauchzarte Schleier vor der Scham offenbart mehr, als er verbirgt. Amor, der kleine Schlingel, lauert schon hinter der Mutter, bereit, seinen Liebespfeil auf den Betrachter zu richten. So etwas hatten bis dato nur die Italiener gewagt. Es muss unerhört gewesen sein – weshalb Cranach vorsichtshalber für eine mahnende lateinische Inschrift sorgte, zu Deutsch etwa: „Bezwinge mit ganzer Anstrengung deine Liebesgelüste, damit nicht Venus dein umnebeltes Herz besitzt“.

Der Schmelz der Frauen

Ganz sicher erregten diese Worte umso mehr Interesse an den Weibsbildern des Lukas Cranach. Auch bekleidet waren sie überaus attraktiv. Anders als die porträtierten Männer mit ihren Knubbelnasen und individuellen Gesichtszügen unterschieden sie sich nicht sehr stark voneinander. In reiferen Jahren verfeinerte Cranach den immer gleichen Frauentypus, gern in Rotblond. Ob Judith, Lucretia oder Prinzessin Sibylle von Cleve, sie hatten alle eine hohe Stirn, mandelförmige Augen, eine volle Unterlippe und ein spitzes Kinn. Prächtig führten die Gesellen die passenden Gewänder, Kopfbedeckungen, goldenen Halsbänder aus.

Auch Cranachs Madonnen haben diesen besonderen Schmelz – und auch die Ehebrecherin, die von Christus auf einem Bild vor dem hässlichen Lynch-Mob bewahrt wird. Was die Motive betraf, war die Werkstatt Cranach sehr flexibel. Neben zahlreichen frommen Szenen – „Christus segnet die Kinder“, „Der Abschied der Apostel“ – gab es auch Schlüpfrigkeiten im Angebot. Ein grinsender alter Mann wird da von bildhübschen Kurtisanen betört. Das Sujet des „Ungleichen Paares“ (zahnloser Buhler und junge Frau, seltener umgekehrt) war so beliebt, dass die Werkstatt es in Variationen immer wieder verkaufen konnte.

Lucas Cranach der Ältere: "Christus und die Ehebrecherin", 1532, Malerei auf Lindenholz. (© Szépmüvészeti Múzeum / Museum of Fine Arts, Budapest, 2016 / Foto: Dénes Jósza)

Lucas Cranach der Ältere: „Christus und die Ehebrecherin“, 1532, Malerei auf Lindenholz. (© Szépmüvészeti Múzeum / Museum of Fine Arts, Budapest, 2016 / Foto: Dénes Jósza)

Die große Inspiration

Es ist eine Lust, die auf Holz gemalten Werke Cranachs und der Seinen aus der Nähe und in Ruhe zu betrachten. Und es macht Spaß, in der letzten Abteilung zu sehen, wie die moderne Kunst von der Marke Cranach inspiriert wurde. Picasso malte seine ungestüme Version von „Venus und der Liebe“ 1968 mit 87 Jahren. „Wenn ich male, dann stehen die Künstler der Vergangenheit hinter mir“, bemerkte er und nahm sich doch jede Freiheit. Braver ging Andy Warhol 1984 mit Cranach um und verwendete die Konturen des „Bildnis einer jungen Frau“ mit kessem Hut von 1526 für eine seiner farbverliebten Acryl-Siebdruck-Serien.

Der Japaner Yasumasa Morimura verkleidete sich sehr sorgfältig mit Wurst und Gemüse als Cranachsche Judith und fotografierte die Szene unter dem aufschlussreichen Titel „Mother“ (Mutter, 1991). Die junge Konzeptkünstlerin Leila Pazooki, eine Iranerin aus Berlin, zeigt an einer hohen Wand 100 mehr oder minder gute Kopien von Cranachs „Justitia“, um die Wette produziert von chinesischen Dienstleistungs-Malern. Kunst am Fließband? Das hätte dem alten Meister und Geschäftsmann Cranach womöglich ganz gut gefallen.

„Cranach: Meister – Marke – Moderne“. 8. April bis 30. Juli im Museum Kunstpalast, Düsseldorf, Ehrenhof 4-5. Di.-So. und feiertags 11 bis 18 Uhr, Do. und Sa. bis 21 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Der Katalog ist im Hirmer Verlag erschienen: 340 Seiten, Museumsausgabe 39,90 Euro. Informationen, auch über Führungen und Begleitprogramm unter: www.cranach2017.de

Erweiterte Öffnungszeiten ab 1. Juli 2017 (bis 30.7.2017): Di, Mi, Fr, So 10-18 Uhr, Do und Sa 10-21 Uhr.




Was im Revier sonst noch so geschieht… – Es war wieder mal einer dieser Donnerstage mit lauter neuen Ausstellungen

Wir erinnern uns: Das seit jeher von Kirchturmpolitik geplagte Ruhrgebiet hatte sich für 2010 zusammengerauft, um einmal gemeinsam als „Kulturhauptstadt Europas“ zu firmieren. Um das Thema einige Nummern kleiner aufzugreifen: Schon oft hätte man sich gewünscht, dass es eine Koordinationsstelle gäbe, die beispielsweise regionale Pressetermine miteinander abgleicht – und sei’s für den Anfang auch nur (ganz bescheiden) auf musealem Gebiet.

In Hamm zu sehen: Siegward Sprotte "Hiddensee", 1944, Aquarell (© Siegward-Sprotte-Stiftung)

In Hamm zu sehen: Siegward Sprotte „Hiddensee“, 1944, Aquarell (© Siegward-Sprotte-Stiftung)

Doch nein! Immer und immer wieder kommt es vor, dass zum allseits beliebtesten Vorbesichtigungs-Tag, dem Donnerstag, vier, fünf, sechs oder noch mehr Termine in mehr oder weniger unmittelbarer Nachbarschaft gleichzeitig anberaumt werden. So beispielsweise auch gestern, am 2. Februar.

Man sollte ab 11 bzw. 11.30 Uhr beileibe nicht nur die neue Ausstellung über Emil Schumacher in Hagen („Orte der Geborgenheit“) geneigt zur Kenntnis nehmen, sondern etwa auch eine Auswahl von Reisebildern des Landschaftsmalers Siegward Sprotte im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm, die gleichfalls mit „Orten“ im Titel daherkommt („Reise doch – bleibe doch!“ – Orte der Inspiration). Hier hätte man sich also schon bei der Formulierung absprechen können. Zu spät…

Zwei weitere Termine liefen überdies praktisch parallel in derselben Stadt, nämlich in Dortmund: Das Künstlerhaus im Sunderweg präsentierte der Presse seine neue Schau „Ohne Netz und doppelten Boden – Über die Uneindeutigkeit von Bildern“, die DASA Arbeitswelt Ausstellung lud unterdessen zur „Alarmstufe Rot“ über Katastrophen und deren Bewältigung. Keine Kunst, aber ebenfalls ein museales Angebot.

Damit längst nicht genug: Zur gleichen Zeit bat „nebenan“, in der Landeshauptstadt Düsseldorf, die Kunstsammlung NRW/K 21 zur umfangreichen Retrospektive über den belgischen Künstler Marcel Broodthaers. Gewiss, Düsseldorf zählt nicht zum Ruhrgebiet, doch sollte man vor allem im Raum Duisburg und Essen ein Auge darauf haben, wann dort was geschieht. Sonst fahren die meisten Kulturschreiber dorthin und nicht in die Ruhr-„Provinz“.

Im Künstlerhaus Dortmund ausgestellt: Katharina Maderthaner "Zick Zack" (2016), Acry auf Holz.

Im Künstlerhaus Dortmund ausgestellt: Katharina Maderthaner „Zick Zack“ (2016), Acryl auf Holz.

Und damit habe ich noch nicht einmal alle Gelegenheiten aufgezählt, die sich gestern ergeben haben.

Klar, wenn ich jetzt für Ruhrgebietswerbung zuständig wäre, würde ich entgegnen, dass wir hier eben sooooo viele Kulturstätten haben, dass gelegentlich ein zeitliches Zusammentreffen kaum zu vermeiden ist. Das Argument lassen wir jetzt mal auf uns wirken.

Immerhin gibt es ja inzwischen den beachtlichen Kooperations-Verbund der Ruhrkunstmuseen, mit dem 20 Häuser in 15 Städten ihre Kräfte bündeln wollen. Hier erfolgen Absprachen mittlerweile auf kürzeren Dienstwegen als ehedem. Es möge weiterhin nützen. Und die Idee möge niemals auf bloße Einsparmöglichkeiten reduziert werden.

Es war zu hören, dass gestern auch bei personell halbwegs potenten Medien ob der Termin-Überschneidungen gestöhnt wurde. Nun aber wollen wir, die wir als Kulturblog erst recht kein halbes Dutzend kunstsinniger Journalistinnen und Journalisten gleichzeitig aufbieten können, wenigstens noch zu den Internet-Auftritten der oben genannten Häuser verlinken. Here we go:

Emil Schumacher Museum, Hagen: www.esmh.de
Gustav-Lübcke-Museum, Hamm: www.museum-hamm.de
Künstlerhaus Sunderweg, Dortmund: www.kh-do.de
DASA, Dortmund: www.dasa-dortmund.de
K21 in Düsseldorf: www.kunstsammlung.de




Das Leben ohne Verdünnung: Otto Dix in Düsseldorf

Otto Dix: "Bildnis der Tänzerin Anita Berber", 1925. (Sammlung Landesbank Baden-Württemberg im Kunstmuseum Stuttgart / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016)

Otto Dix: „Bildnis der Tänzerin Anita Berber“, 1925. (Sammlung Landesbank Baden-Württemberg im Kunstmuseum Stuttgart / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016)

Er hatte was, dieser junge Mann aus dem Osten. Eine Frechheit, einen Charme, ein markantes Gesicht. Er trug schicke Anzüge, aber er sah darin nicht aus wie ein Bürger, eher wie ein Gangster aus dem Kintopp. Und malen konnte der Kerl, zum Fürchten!

Die Gesellschaft im Düsseldorf der locker-leichten 1920er-Jahre war irritiert, amüsiert, fasziniert. Otto Dix (1881-1969), im thüringischen Kaff Untermhaus geborener Sohn eines Eisengießers, machte 1922-25 sein Glück am Rhein, hier startete er seine Karriere. „Der böse Blick“, so der Titel einer grandios sortierten und arrangierten Schau im K20, führte den Meister der sogenannten Neuen Sachlichkeit geradewegs in den Olymp der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Am liebsten möchte man sofort die fatalen Weiber sehen, für die Dix berühmt wurde. Seine „Tänzerin Anita Berber“ von 1925, dieses kaputte Luder aus der Berliner Szene, lockt und leuchtet weit und breit an der Fassade der Düsseldorfer Landesgalerie: kreidebleich, mit rotem Haar, roten Lippen und rotem Kleid im roten Licht wie eine Teufelsbraut. Und da drinnen sind noch viele andere – „Mieze“ mit den Krallenhänden, „abends im Café“, die lauernde „Liegende auf Leopardenfell“ oder „Ellis“, die hinter einem koketten Schleier die gelben Augen und das bissige Grinsen einer bösen Katze zeigt. Sie sind alle Teil der Vorstellung, die wir uns – auch durch Dix – von den wilden 20er-Jahren machen.

Der Künstler Otto Dix im Jahr 1919, Fotograf unbekannt (Otto Dix Stiftung / Foto Kunstsammlung NRW)

Der Künstler Otto Dix im Jahr 1919, Fotograf unbekannt (Otto Dix Stiftung / Foto Kunstsammlung NRW)

Der Mensch im entfesselten Zustand

Aber man sollte erst einmal nach links gehen, in den Ausstellungssaal, der konzentriert von dem Ereignis handelt, das den Optimismus des frühen 20. Jahrhunderts zerschmetterte. Der Weltkrieg 1914-18 veränderte alles. Wie viele Künstlerkollegen war auch der talentierte junge Dix freiwillig an die Front gezogen, um, wie er sagte, „etwas Gewaltiges“ zu erleben, „den Menschen in diesem entfesselten Zustand“.

Soldat Dix schoss unbekannte Gegner nieder, wurde selbst verwundet. Er sah Panik, Verwüstung – und er zeichnete, hielt alles fest. Zehn Jahre später entstand seine legendäre Grafikfolge „Der Krieg“. Drastischer als Dix kann man das Entsetzen nicht zeigen: die Grimassen der Toten, die Kadaver der Pferde, die aufgerissenen Augen, die zerbombte Erde.

Otto Dix: "Sturmtruppe geht unter Gas vor" (Detail), 1924. Aus: "Der Krieg", Zyklen aus 50 Radierungen, 2. Mappe (Otto Dix Archiv, Bevaix / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Otto Dix: „Sturmtruppe geht unter Gas vor“ (Detail), 1924. Aus: „Der Krieg“, Zyklen aus 50 Radierungen, 2. Mappe (Otto Dix Archiv, Bevaix / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Der Veteran, zuletzt Vizefeldwebel, will nichts mehr beschönigen. In Dresden, wo er die Akademie besucht, propagiert Dix Wahrhaftigkeit: „Ich brauche die Verbindung zur sinnlichen Welt, den Mut zur Hässlichkeit, das Leben ohne Verdünnung.“ Das kommt bei den bürgerlichen Kunstfreunden nicht so gut an. „Ich kumm uff keinen grienen Zweich“, soll er 1920 gesächselt haben, „meine Malereien sind unverkäuflich.“ Doch der Kollege Conrad Felixmüller vermittelt ihm den Kontakt mit der Düsseldorfer Avantgarde-Gruppe Junges Rheinland – und empfiehlt ihn bei Johanna Ey, einer Bäckersfrau, die seit 1916 ein Galerie-Café in der Nähe der Düsseldorfer Akademie betreibt, mit Otto Pankok und Gert Wollheim arbeitet und schon viele Künstler durchgefüttert hat. „Großes Ey, wir loben dich …“, dichtet „Dada“-Max Ernst für sie.

Otto Dix: "Dienstmädchen am Sonntag", 1923. (Otto Dix Stiftung / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016)

Otto Dix: „Dienstmädchen am Sonntag“, 1923. (Otto Dix Stiftung / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Beim Tanzen verliebt sich der Künstler

Mutter Ey lädt Dix im Herbst 1921 nach Düsseldorf ein, lässt ihn im Hinterstübchen übernachten und knüpft für ihn wichtige Kontakte. Durch sie lernt er den Arzt und Sammler Dr. Hans Koch kennen, der mit seiner mondänen, aber unzufriedenen Ehefrau Martha ein Graphisches Kabinett betreibt. Koch lässt sich von Dix porträtieren – und Dix tanzt Charleston mit der 26-jährigen Martha. Er ist betört von ihren Mandelaugen, dem vollen Mund, der kess geschnittenen Pagenfriseur und dem mondänen Stil. Und er tanzt verdammt gut. Die beiden verlieben sich schnell, und tatsächlich hat der Ehemann nichts dagegen, weil er seinerseits schon länger die Schwägerin Maria bevorzugt. Man ist nicht spießig im Düsseldorf der 20er-Jahre.

Martha, von Dix „Mutzli“ genannt, lässt sich flott scheiden und heiratet ihren schnieken Maler im Februar 1923. Er porträtiert sie stolz in Öl mit ihrem breitkrempigen roten Hut und dem schwarzen Pelz, das Bild ist eine dunkle Pracht. Im Juni kommt ihr erstes gemeinsames Kind zur Welt: Nelly. Papa Dix malt berückende Porträts von der molligen Kleinen. Auch den später geborenen Söhnen Ursus und Jan huldigt er künstlerisch und zeichnet Bilderbücher für sie.

Otto Dix: "Herren und Damen", 1922 (Aquarell und Bleistift - Private Collection, Courtesy Richard Nagy Ltd., London / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto: Kunstsammlung NRW)

Otto Dix: „Herren und Damen“, 1922 (Private Collection, Courtesy Richard Nagy Ltd., London / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto: Kunstsammlung NRW)

Schmeicheleien gibt es nicht

Man findet ihn in dieser Ausstellung also durchaus, den liebevollen Maler und Familienmenschen Dix. Kuratorin Susanne Meyer-Büser hat der weichen Seite einen Raum gegeben. Aber seine große Stärke zeigt sich, wenn er ohne innere Rücksicht arbeitet. „Wir wollten die Dinge ganz nackt, klar sehen, beinahe ohne Kunst“, erklärt er 1965 im Rückblick. Das akzeptierte auch seine Förderin Mutter Ey, von der er 1924 ein großes, repräsentatives Öl-Bildnis malt, auf dem sie in ihrem lila Seidenkleid und mit dem geliebten spanischen Kamm im schwarz gefärbten Haar vor einem roten Vorhang erscheint. Sie posiert wie eine barocke Königin. Aber die 60-jährige Frau Ey sieht eben aus, wie sie aussieht: fett, Doppelkinn, Falten um den Mund, starre Augen hinter runden Brillengläsern. Eins ist allerdings klar: Da steht eine unumstößliche Persönlichkeit.

Otto Dix: "Mieze, abends im Café", 1923 (Buchheim Museum der Phantasie, Bernried / Starnberger See / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Otto Dix: „Mieze, abends im Café“, 1923 (Buchheim Museum der Phantasie, Bernried / Starnberger See / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Lobhudelei gibt’s nicht von dem aufstrebenden Malerstar, der die abgetakelten Nutten und gierigen Freier, die Berliner Puffmütter und die Hamburger Matrosen mit gnadenloser Deutlichkeit festhält. Die subtile Farbigkeit seiner Aquarelle steht in krassem Kontrast zur Schärfe der Aussage. Und auch Freunde und Kunden werden nicht geschont. Wie ein insektenhaftes Männlein, bläulich und mager, gestikuliert Adolf Uzarski, Gründungsmitglied des Jungen Rheinlands. Der große Schauspieler Heinrich George hockt da wie ein wütender Ochsenfrosch. Paul Ferdinand Schmidt, der Direktor der Kunstsammlungen Dresden, erscheint klapprig und verknittert, während der (sicher sehr gut zahlende) Düsseldorfer Farbenfabrikant Julius Hesse im nüchternen Dreiviertelprofil zumindest einen lebendigen Teint haben darf.

Symphonie einer Großstadt

In zwei Ecken der raffiniert gebauten und farbig unterteilten Ausstellung flimmern Ausschnitte des Stummfilms „Berlin – Symphonie einer Großstadt“ von 1927. Unterlegt von Geräuschen und Musik wimmeln da die Bilder einer Zeit. Man sieht die Autos und Trambahnen, die Revuegirls auf den Bühnen, die Damen mit den kurzen Haaren und Kapotthüten. Die Welt war modern und chaotisch geworden – und Dix war ihr leidenschaftlicher Maler. 1925 zieht er in die Hauptstadt, 1927 wird er Professor in Dresden, die Welt beachtet ihn. Dann kommen die Nazis, entlassen Dix sofort aus seinem Amt und stellen ihn kalt. Mit der Familie zieht er sich zurück an den Bodensee, wo er versucht, nicht weiter aufzufallen. Es entstehen altmeisterliche Idyllen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Information:

„Otto Dix – Der böse Blick“: bis 14. Mai in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K20, Düsseldorf, Grabbeplatz. Geöffnet Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr, Sa./So. 11 bis 18 Uhr. Jeden ersten Mi. im Monat bis 20 Uhr. Katalog 34 Euro. Die Schau wird anschließend von Juni bis Oktober in der Tate Liverpool in Großbritannien gezeigt: „Portraying a Nation: Germany 1919-1933“. www.kunstsammlung.de




Prächtige Schau im Kunstpalast: Hinter dem Vorhang offenbart sich das Geheimnis

Er hat’s. Dieses Gespür für das Publikum. Beat Wismer, der im nächsten Jahr – leider, leider – scheidende Generaldirektor des Düsseldorfer Museums Kunstpalast, möchte nicht nur in der Fachwelt reüssieren. Der gewitzte Schweizer will, dass alle hinsehen.

Das wird ihm, nach dem grandiosen Tschingderassabum der Tinguely-Maschinen, mit seiner letzten selbst kuratierten Schau wieder gelingen. „Hinter dem Vorhang“ präsentieren Wismer und seine Kollegin Claudia Blümle rund 200 Werke, die mit Verhüllung und Enthüllung zu tun haben – von der Renaissance bis heute. Um es unverhüllt zu sagen: Diese Ausstellung ist eine Pracht, und sie inspiriert den Betrachter auch ohne große Erklärungen.

Tizian: "Bildnis des Filippo Archinto" (© Philadelphia Museum of Art: John G. Johnson Collection - Foto: Philadelphia Museum of Art)

Tizian: „Bildnis des Filippo Archinto“ (© Philadelphia Museum of Art: John G. Johnson Collection – Foto: Philadelphia Museum of Art)

Dabei gibt es genug der Worte. Der raffiniert gestaltete Katalog vereint gelehrte Texte von zehn international renommierten Kunsthistorikern, aber – pardon! – die muss man nicht lesen, um gebannt zu sein von der Idee dieses Projekts. „Wir wollen alle hinter den Vorhang gucken“, bemerkt Direktor Wismer zu Recht. Und in der Tat geht es ja beim Verhängen von Räumen, Menschen und Dingen einerseits um das Kaschieren, andererseits aber auch um die Möglichkeit der Offenbarung. Vorhänge sind keine Mauern. Sie lassen sich durch einen Handgriff beiseite schieben und steigern von jeher die Spannung auf den Bühnen der Welt.

Verschleierter Erzbischof

Manchmal sind sie auch durchsichtig wie die unglaublich zart gemalte Gardine, womit Tiziano Vecellio, genannt Tizian, anno 1558 das Porträt des Kardinals Filippo Archinto zur Hälfte verdeckte. Mit Delikatesse machte der venezianische Meister das weißbärtige Antlitz des Kirchenfürsten hinter dem schleierartigen Stoff sichtbar. Der Vorhang hatte eine symbolische Bedeutung, weil der Kardinal zwar zum Erzbischof von Mailand ernannt wurde, aber das Amt wegen politischer Querelen nie ausüben konnte. Beat Wismer entdeckte das geheimnisvolle Bildnis vor Jahren im Philadelphia Museum of Art. Inzwischen hat es sicher jeder Düsseldorfer gesehen – auf den Plakaten zur Ausstellung. Auf ebenso subtile wie zielsichere Art wird da die Neugier geweckt.

Arnold Böcklin: "Trauer der Maria Magdalena an der Leiche Christi", 1867 (© Kunstmuseum Basel / Martin P. Bühler)

Arnold Böcklin: „Trauer der Maria Magdalena an der Leiche Christi“, 1867 (© Kunstmuseum Basel / Martin P. Bühler)

Der Vorhang als malerisches Sujet war keineswegs neu in Tizians Zeit. Schon im Hochmittelalter wiesen die Maler der Christenheit damit auf das göttliche Geheimnis hin, auf die Trennung zwischen Himmel und Erde, die letztendlich überwunden werden kann. Die Renaissance war ganz verliebt in diesen Gedanken. Sowohl Hans Holbein als auch Lucas Cranach der Ältere ließen um 1520 hinter ihren Madonnen die Englein schweben und einen grünen Vorhang halten, der die Mutter Gottes würdevoll umrahmt.

Göttliche Schöne beim Bade

Ein Jahrhundert später, im Barock, war es nicht nur der Glauben, sondern auch die Erotik, die mit drapierten Stoffen in Szene gesetzt wurde. Bei Anthonis van Dyck greift „Jupiter als Satyr bei Antiope“ lüstern nach der roten Decke, die den Schoß der Schlafenden verhüllt. Rubens betont die schwellenden Formen seiner Diana beim Bade um 1635-40 mit Tüchern, die von Dienerinnen gereicht werden. Der Blick der Göttin trifft den Betrachter, als habe sie ihn ertappt: ein delikater Moment.

Das 17. und 18. Jahrhundert, langes Zeitalter der Sinnenfreude, kokettierte auf vielfache Weise mit dem Vorhang. Etliche Barockmeister werteten ihre Selbstbildnisse mit Vorhängen auf und zeigten dabei nebenher ihre Fähigkeiten, einen perfekten Faltenwurf zu schaffen. Man perfektionierte das Spiel mit dem Vorhang – nicht nur malerisch. Kunstsammler pflegten ihre besten Bilder hinter echten Stoffen zu verstecken, um sie im gegebenen Augenblick effektvoll zu enthüllen.

Eine ungeheure Bilderfülle aus der Geschichte der Kunst hat die Ausstellung zu bieten. So manche Schönheit kommt da zum Vorschein wie Franz von Stucks „Susanna im Bade“ (1904), die dem Betrachter ihren herrlichen Leib von hinten zeigt, während sie sich mit einem hochgehaltenen Tuch vor den Blicken der Ältesten schützt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts verschwinden derlei Kompositionen. Die Tabus fallen, das Verborgene verliert seinen Reiz. „In der Moderne wird die Verhüllung selbst zum Thema“, sagt Co-Kuratorin Claudia Blümle.

Gerhard Richter: "Schwestern", 1967 (© Kunstmuseum Bonn, Dauerleihgabe Jürgen Hall)

Gerhard Richter: „Schwestern“, 1967 (© Kunstmuseum Bonn, Dauerleihgabe Jürgen Hall)

Das kann man wörtlich nehmen wie bei dem Düsseldorfer Kunstphilosophen Hans-Peter Feldmann, der einen „Vorhang Rot“ an einer Messingstange aufhängt – und das zum Objekt erklärt. Evelina Cajacob platziert einen weißen Vorhang aus gewachsten Papierstreifen mitten in den Saal. Wolfgang Kliege ließ aus rotweißen Stoffen die leere „Skulptur eines Zimmers“ nähen. Wie bitte? Verbirgt sich etwa das blanke Nichts hinter der Fassade der Gegenwart, die doch so stolz ist auf ihre brisanten Enthüllungen?

Rätsel für die Gegenwart

Ehe wir darüber in Verunsicherung geraten, tröstet uns eine monumentale „Vorhang“-Szene des neuen deutschen Romantikers unter der Surrealisten, Neo Rauch. In einem traumverlorenen Theater, das auch ein Museum ist, treiben da einige Krieger und Könige, Soldaten und Denker, was wir nicht verstehen müssen. Aber wir dürfen uns nach Herzenslust in das Bild hinein fantasieren. Denn es werden auch in der modernen Malerei durchaus Geschichten erzählt und Rätsel aufgegeben.

Christo: "Wrapped Beetle", 1963 (Objekt 2014). (© Christo 2014 - Im Besitz des Künstlers, Foto Wolfgang Volz)

Christo: „Wrapped Beetle“, 1963 (Objekt 2014). (© Christo 2014 – Objekt im Besitz des Künstlers, Foto Wolfgang Volz)

Und wir haben natürlich Christo, den großen Zauberer der Verhüllungskunst. 1963, als er noch nicht ganze Landschaften und Seen mit seinen Stoffen markierte, packte er vor der Düsseldorfer Galerie Schmela einen VW Käfer in gelben Stoff ein.

Der „Wrapped Beetle“ wurde, im Gegensatz zum Reichstag 1995, nie wieder ausgepackt und befindet sich noch heute, gut verschnürt, im Besitz des Künstlers. Christo wurde jetzt nicht nur zum Leihgeber der Ausstellung, er kommt auch wieder höchstpersönlich nach Düsseldorf und hält am Abend des 3. November einen enthüllenden Vortrag, der leider bereits ausverkauft ist. Aber auch ohne den Auftritt des Meisters sind die Verhüllungen im Kunstpalast eine Offenbarung. Vorhang auf!

„Hinter dem Vorhang: Verhüllung und Enthüllung seit der Renaissance – von Tizian bis Christo“. Bis 22. Januar 2017 im Museum Kunstpalast, Düsseldorf, Ehrenhof 4-5. Di.-So. 11 bis 18 Uhr, Do. bis 21 Uhr. Katalog (Hirmer Verlag) 39,90 Euro.




Das Konzept ist die Kunst: Die Sammlung Fischer in Düsseldorf

Ach, Verklärung tut ja so gut! Einhellig schwärmen selbst konservative Bürger, Politiker und Lobbyisten für die späten 1960er-Jahre, als der leicht verkrachte Künstler Konrad Fischer in einem Torbogen an der Neubrückstr. 12, mitten in der Düsseldorfer Altstadt, diese winzige Avantgarde-Galerie aufmachte.

Mag sein, dass damals kaum einer hinguckte. Mag sein, dass spätere Kunst-Superstars wie Gerhard Richter und Bruce Nauman bei einer Vernissage mit dem Galeristen allein dastanden und resigniert ein Bier trinken gingen. Heute will jeder, der alt genug ist, dabei gewesen sein. Und die Jungen erschauern vor Ehrfurcht.

Die Kunstsammlung, neu gemischt: "25 Blocks and Stones" von Carl André aus der Sammlung Fischer vor Jackson Pollocks monumentalem Bild "Number 32" von 1950. (© Kunstsammlung NRW / Foto: Birgit Kölgen)

Die Kunstsammlung, neu gemischt: „25 Blocks and Stones“ von Carl André aus der Sammlung Fischer vor Jackson Pollocks monumentalem Bild „Number 32“ von 1950. (© Kunstsammlung NRW / Foto: Birgit Kölgen)

Wie eine Offenbarung wird die wilde Zeit gefeiert. Und wie ein Zeichen dieser Offenbarung leuchtet ein pinkfarbenes Neonröhren-Denkmal von Dan Flavin am Eingang der Ausstellung „Wolke & Kristall“ in der Kunstsammlung NRW. Auf 2000 Quadratmetern beschwören über 200 Werke der Sammlung Fischer die Öffnung der Kunst hin zum Konzept. Die Idee ist dabei wichtiger als das Werk selbst, dessen Bestandteile unter Umständen sogar austauschbar sein können.

Aus den einstigen Versuchen ist ein Schatz geworden

Nicht gerade ein populäres Feld, aber das Publikum der Landesgalerie sollte sich daran gewöhnen. Denn das renommierte Museum hat den größten Teil der Sammlung und des Archivs von Konrad Fischer (1939-1996) und seiner 2015 mit 78 Jahren verstorbenen Frau Dorothee erworben. Kaufpreis: eine diskret verschwiegene Summe im, wie es heißt, „niedrigen zweistelligen Millionenbereich“. 7,7 Millionen zahlte jedenfalls das Land, das übrige Geld wurde von Stiftungen und Sponsoren aufgebracht.

Marion Ackermann, die scheidende Direktorin, führte schon vor über sechs Jahren die ersten Gespräche mit Dorothee Fischer, schloss den Deal jetzt mit den Kindern Berta und Kasper Fischer ab und betont die „unglaublich faire Verabredung“. Lediglich die Hälfte des unteren Schätzwertes für die gesamte Sammlung musste gezahlt werden, die andere Hälfte ist ein Geschenk der Fischers an die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, die dadurch zum Museum auch der spröderen Moderne wird. In der von 1962 bis 1990 dauernden Ära des Gründungsdirektors Werner Schmalenbach wäre das nicht passiert. Er verachtete neue Trends, kaufte nur die abgesegneten Meisterwerke der klassischen Moderne und bescherte den Düsseldorfern einige der berühmtesten Bilder von Paul Klee, Max Ernst, Picasso oder Modigliani.

Das Format und das Feeling der Original-Galerie

Deren betörende Wirkung hat die Sammlung Fischer nicht. Aber sie öffnet den Blick für die Entwicklung der Kunst und der Gesellschaft in der zweiten, freieren Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es lohnt sich, genauer hinzusehen, zumal Kuratorin Anette Kruszynski für eine originelle Inszenierung sorgte. Etliche der 16 Ausstellungsräume haben das Format und damit das Feeling der Original-Galerie: drei mal elf Meter. Auf dieser bescheidenen Fläche legte der New Yorker Carl André zur Eröffnung im Herbst 1967 hundert gleich große, industriell gefertigte Stahlplatten aus. Das war die begehbare Bodenskulptur „5×20 Altstadt Rectangle“. So mancher lief über die Kunst und erkannte sie nicht. Derlei spitzbübische Effekte waren durchaus im Sinn des Galeristen, der selbst künstlerische Ambitionen hatte und sich als serieller Maler Konrad Lueg nannte.

Nach Carl Andrés Boden-Installation "Wolke und Kristall" wurde die Ausstellung benannt. Der Spruch an der Wand stammt von Lawrence Weiner. (© Kunstsammlung NRW / Foto: Birgit Kölgen)

Nach Carl Andrés Boden-Installation „Wolke und Kristall“ wurde die Ausstellung benannt. Der Spruch an der Wand stammt von Lawrence Weiner. (© Kunstsammlung NRW / Foto: Birgit Kölgen)

Aber sein wahres Lebenswerk war die Entwicklung der Galerie, die zunächst, in Ermangelung wirtschaftlicher Erfolge, vom Lehrerinnengehalt seiner Frau Dorothee finanziert wurde. Konsequent präsentierte Fischer, was vom bürgerlichen Publikum als Spinnerei abgetan wurde. „He made things possible“, er machte Dinge möglich, sagt der heute als Videokünstler weltbekannte Amerikaner Bruce Nauman, dessen Installation „Six Sound Problems for Konrad Fischer“ von 1968 man jetzt in der Kunstsammlung betrachten – und vor allem hören kann. Mit einem Tonband, aufgespannt zwischen einem Stuhl und einem authentischen Wiedergabegerät, wird da ein jaulendes Geräusch erzeugt, während sich eine leere Spule dreht.

Mit Fantasie, Konsequenz und Spürsinn

Sinnlos? Gewiss. Aber schon damals erzeugte Nauman durch penetrante Wiederholung eine Aufmerksamkeit, die ihn schließlich berühmt machte. Und er weckte das Empfinden für unsere eigenen verrückten Wiederholungen und Zwangshandlungen. Ganz anders ging der britische Land-Art-Neuling Richard Long zu Werke, als er die kleine Galerie Fischer mit Streifen aus fein beschnittenen Weidenstöckchen auslegte. Lothar Baumgarten fantasierte mit einer poetischen Diashow „Ein Reise mit der MS Remscheid auf dem Amazonas“. Von April bis Juli 1969 schickte der japanische Konzeptkünstler On Kawara täglich eine Postkarte aus New York mit der Mitteilung: „I got up“, ich bin aufgestanden. Die vergilbenden Karten werden zum zarten Hinweis auf die vergehende Zeit – wie sechs Telegramme, die On Kawara 1970 schickte: „I am still alive“, ich lebe noch. Man liest es – und spürt die Vergänglichkeit.

Langsam, aber sicher, erreichte Konrad Fischer die Beachtung der Zeitgenossen und konnte 1974 mit der Galerie in bis heute existierende Räume an der Platanenstraße ziehen. Auch die Sammlung wurde repräsentativer. Viele Stücke passen ausgezeichnet in den Zusammenhang des Museums – geradezu magisch wirkt das schwarze Tier („Black Animal“) das Mario Merz, der italienische Meister der Arte Povera, in den 1990er-Jahren aus Papier und Leuchtzahlen konstruierte. „25 Blocks & Stones“, 25 Betonklötze mit aufgelegten kleinen Natursteinen, die Carl André 1973 erstmalig arrangierte, liegen wie selbstverständlich unter einem monumentalen Werk des Abstrakten Expressionismus aus den 1950er-Jahren: Jackson Pollocks 1964 von Schmalenbach erworbenes Bild „Number 32“. Mit knarrenden grauen Dielen, einer verschlossenen Tür, einem verhangenen Fenster und einer rätselhaft gruseligen Atmosphäre öffnet sich unvermittelt der „Raum für einen Tag“, den Gregor Schneider erst 1999 für die Galerie Fischer konzipierte.

Da war Konrad Fischer schon nicht mehr auf der Welt. Sein Tod 1996 hatte die Künstler erschüttert und zu besonderen Werken inspiriert. Thomas Schütte malte zwölf berückend schöne „Blumen für Konrad“ und schuf einen Keramikkopf nach Zeichnungen, die am Totenbett des Freundes entstanden waren. Carl André, der Partner der ersten Stunde, konzipierte aus zwei mal 144 Bleiblöcken, die er auf dem Boden auslegte, ein stummes Requiem für den Galeristen: „Wolke & Kristall. Blei Leib Leid Lied“. Die dunklen Klötze, nach Andrés Plan im Raum verteilt und angeordnet, zeigen, wie eindringlich Konzeptkunst wirken kann. Sie fordert das Denken und die Empfindung heraus.

„Wolke & Kristall – Die Sammlung Dorothee und Konrad Fischer“: ab 24. September bis zum 8. Januar 2017 in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, K20, Düsseldorf, Grabbeplatz. Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr. Sa./So. 11 bis 18 Uhr. Der Katalog kostet 48 Euro.
www.kunstsammlung.de

Extra:

„Ich habe große Dinge vor“

„Lieber Kasper König“, schrieb Konrad Fischer im Juli 1967, an seinen in New York arbeitenden Freund: „ich habe große Dinge vor … Ich mache eine Galerie auf.“ König sorgte für erste Kontakte, und im Herbst 1967 eröffnete Fischer mit einer Bodenskulptur des New Yorkers Carl André seine Mini-Galerie an der Neubrückstr. 12, gleich neben dem legendären Künstlerlokal Creamcheese.

Fischer, 1939 in Düsseldorf geboren, hatte selbst an der Kunstakademie studiert, mit den Kommilitonen Gerhard Richter und Sigmar Polke einige Experimente gemacht und sich unter dem Namen Konrad Lueg als Maler profiliert. Die Mission seines Lebens aber fand er mit der Galerie, die Konzeptkunst, Minimal Art und Arte Povera gesellschaftsfähig machte.

Nach dem Tod Fischers 1996 führte seine Witwe und Partnerin Dorothee Fischer die Galerie bis zu ihrem Tod 2015 weiter. Sie sorgte noch selbst für den Erwerb der Sammlung Fischer durch die Kunstsammlung NRW. Die Galerie Konrad Fischer wird inzwischen von seiner Tochter Berta geführt.




Alles fließt: Der Rhein im Strom der Zeit – eine gedankenreiche Ausstellung in Bonn

Warum ist es am Rhein so schön? Etwa, „weil die Mädel so lustig und die Burschen so durstig“? Nee, du gutes altes Stimmungslied, es gibt noch etwas Anderes als das nervige Partygetümmel an den Promenaden von Düsseldorf, Köln oder Rüdesheim.

Der "Vater Rhein" in seinem Bett, umgeben von Städten und Nebenflüssen - so malte es 1848 Moritz von Schwind. (Foto: Raczynski-Stiftung, Poznan)

Der „Vater Rhein“ in seinem Bett, umgeben von Städten und Nebenflüssen – so malte es 1848 Moritz von Schwind. (Foto: Raczynski-Stiftung, Poznan)

Abseits, auf den Uferwiesen, da fließen die Gedanken und Gefühle. An den windigen Stränden, wo die Kinder des Rheins lernen, flache Kiesel so über das Wasser zu werfen, dass sie hochhüpfen, ehe sie versinken. Dort, wo sich die Pänz nasse Füße holen und den Schiffen hinterherträumen, die aus Basel oder Rotterdam kommen und mit ihren langen Lasten und fremden Leuten so leicht und fast lautlos vorüberfahren.

Es kam zu allen Zeiten etwas Neues mit dem Strom, und etwas Altes wurde fortgespült, bis es weiter oben im Meer verschwand. Vielleicht sind die Menschen am Rhein deshalb tatsächlich etwas offener und toleranter und, ja, manchmal auch etwas weniger treu und beharrlich als ihre Mitbürger, die tief verwurzelten Westfalen. In Bonn, der (typisch Rhein) verflossenen Hauptstadt der Republik, präsentiert die Bundeskunsthalle in den nächsten Monaten das große Thema „Der Rhein“ und zwar, wie der Untertitel heißt, als „Eine europäische Flussbiografie“. Das klingt ein wenig anstrengend und ist es auch.

Krieg und Kirche, Macht und Wacht

Zwischen leuchtend blauen Wellenwänden wird dem Betrachter einige Wissbegier abgefordert. Eine Fülle an Fakten und neuerer Forschung muss durchgearbeitet werden. Zahlreiche Bücher, Dokumente und historische Exponate erfordern mehr als beiläufiges Interesse für flussrelevante Themen wie Hochwasserregulierung, Kriegs-, Kirchen- und Industriegeschichte, die Macht und die Wacht am Rhein. Der Gesamteindruck ist irgendwie halbtrocken wie der Wein vom Drachenfels, den Kalauer konnten wir uns jetzt nicht verkneifen.

Nüchtern betrachtet: "Der Rhein I", Fotografie von Andreas Gursky. (Foto: Gursky / VG Bild-Kunst)

Nüchtern betrachtet: „Der Rhein I“, Fotografie von Andreas Gursky. (Foto: Gursky / VG Bild-Kunst)

Aber es lohnt sich, artig hinzusehen, zumal Kuratorin Mare-Louise Gräfin von Plessen eine kunstvolle Idee zur Einstimmung hatte. Unter den Klängen von Schumanns „Rheinischer Symphonie“ werden da drei Rheinbilder zusammengeführt. Die nüchtern-rätselhafte Fotografie eines nicht identifizierbaren Uferstreifens aus dem Werk des Starfotografen Andreas Gursky (1996) hängt gegenüber Moritz von Schwinds schwärmerischer Darstellung von „Vater Rhein“, der anno 1848 in den grünblauen Fluten sitzt und seinen Töchtern, den Flüssen und Städten, ein rheinisches Liedchen fiedelt. Daneben bannt uns der alienhafte grüne Kopf, den Max Ernst, der Surrealist und Weltbürger, 1953 seinem „Vater Rhein“ gegeben hat.

Nach Jahren im Exil war der in Brühl geborene Künstler zurückgekehrt an den heimischen Fluss und besang ihn auf seine Weise: „Hier kreuzen sich die bedeutendsten europäischen Kulturströme, frühe mediterrane Einflüsse, westliche Regionalismen, östliche Neigung zum Okkulten, nördliche Mythologie, preußisch-kategorischer Imperativ, Ideale der französischen Revolution und noch manches mehr“, stellte er fest.

Der Flussgott trägt zwei Hörner

Und das belegt die Ausstellung mit Bildungsgut. Die Chronologie beginnt bei den alten Römern, die den Rhenus fluvius als Flussgott sahen, mit zwei Hörnern, bicornis, wegen der Gabelung an der Mündung. Der Fluss, nicht so leicht zu überqueren, galt als natürliche Grenze zwischen Gallien und Germanien. Hier spielten sich über Jahrhunderte, bis hin zum Zweiten Weltkrieg, die Konflikte zwischen Franzosen und Deutschen ab, der Machtkampf zwischen Marianne und Germania. In nicht allzu schlechter Erinnerung hat man die sogenannte Franzosenzeit zwischen 1794 und 1814, als die nachrevolutionären Truppen aus Paris auf ihrem Eroberungszug nicht nur ein geregeltes Rechtssystem (Code Napoléon), sondern auch ein gewisses savoir vivre an den Rhein brachten.

Aufwallung: der "Vater Rhein" von Max Ernst, 1953. (Foto: Kunstmuseum Basel / VG Bild-Kunst)

Aufwallung: der „Vater Rhein“ von Max Ernst, 1953. (Foto: Kunstmuseum Basel / VG Bild-Kunst)

Heute bemüht man sich im europäischen Geist, die friedliche Einigkeit der Nationen zu betonen. Die Verbundenheit mit den Rhein-Nachbarn Schweiz, Frankreich und den Niederlanden wird auch in der Bonner Ausstellung beschworen, aber, Hand aufs Herz, die westlichen Anwohner sind nie zu solchen Rheinromantikern geworden wie es die angereisten Engländer schon im 19. Jahrhundert waren, als sie die Romantik und die erbauliche Flussfahrt entdeckten. The river Rhine is so lovely, Ladies and Gentlemen!

Die Geschichte der fatalen Loreley

Doch halt! Da sind wir wieder mal zu schnell im Strom der Zeit vorausgetrieben. Zunächst einmal baute die christliche Kirche auf den Stätten der Antike ihre Kathedralen, und das Heilige Römische Reich breitete sich aus. Kaiser und Ritter residierten bevorzugt am Rhein, und es entstanden die Burgen, deren Ruinen sich noch heute so malerisch erheben, und es entstanden die Sagen und Märchen, die sogar disziplinierten japanischen Touristen die Tränen in die Augen treiben. Am Felsen der Loreley, die mit ihrem Gesang und ihren goldenen Haaren so manchen Schiffer ins Verderben lockte, da singen sie im Chor: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin …“.

Zum Fürchten: Lorenz Clasens "Germania als Wacht am Rhein", 1880. (Foto: Kunstmuseen Krefeld)

Zum Fürchten: Lorenz Clasens „Germania als Wacht am Rhein“, 1880. (Foto: Kunstmuseen Krefeld)

Heinrich Heine schrieb die berühmten Verse, denn selbst scharfsinnige Spötter werden sentimental, wenn sie nur lange genug auf die Fluten schauen. Und nicht nur Richard Wagner suchte mit ganz großem Pathos nach dem Rheingold. Über Kopfhörer kann man allerlei vom Rhein inspirierte Musik hören.

Ansonsten ist in der Ausstellung relativ wenig Platz für sinnliche Erlebnisse. Sie hat einfach zu viel zu erzählen: vom Strom der Händler, von den Waren und Menschen, die über den Rhein kamen, von wachsenden Städten und von glanzvollen Höfen wie dem des Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz, genannt Jan Wellem, der in Düsseldorf die erste Gemäldegalerie für das Volk eröffnete und von dessen ganzer Prachtentfaltung nur noch ein kleiner übriggebliebener Schlossturm zeugt. Das Türmchen ist heute Domizil eines hübschen kleinen Schifffahrtsmuseums und steht gleich vorn in der Altstadt an der Promenade der immerwährenden Party. Womit wir wieder beim Stimmungslied wären: „Warum ist es am Rhein so schön?“ Ich empfehle, einen kleinen Spaziergang zu machen, ein wenig abseits, und sich den Wind des freien Rheins um die Nase wehen zu lassen.

„Der Rhein. Eine europäische Flussbiografie“. Bis 22. Januar 2017 in der Bundeskunsthalle Bonn, Friedrich-Ebert-Str. 4, Museumsmeile. Di und Mi. 10 bis 21 Uhr, Do.-So. 10 bis 19 Uhr. Eintritt: 12 Euro (ermäßigt 8 Euro). Katalog (Hrsg. Marie-Louise von Plessen), Prestel-Verlag, 336 Seiten, 39,95 Euro. Es gibt ein umfangreiches Begleitprogramm. www.bundeskunsthalle.de




Über die Wirtschaftswelt hinaus: Düsseldorfer Einblick in Gabriele Henkels Kunstsammlung

Foto: Achim Kukulies © Kunstsammlung NRW

Foto: Achim Kukulies © Kunstsammlung NRW

Wer kennt sie nicht noch von früher, die weiße Frau von Persil? Das Waschmittel ist vielleicht das berühmteste Produkt der Firma Henkel aus Düsseldorf. Gabriele Henkel, Kunstkennerin und Mäzenin, hat mit den Jahren eine eindrucksvolle Kunst-Sammlung aufgebaut, mit Werken von berühmten Düsseldorfer aber auch internationalen Künstlern des 20. Jahrhunderts und der Nachkriegsmoderne.

Die Bilder aus der Firmenzentrale sind nun erstmals öffentlich im Museum zu sehen, kuratiert von Gabriele Henkel selbst. Die weiße Frau ist natürlich nicht dabei, dafür eine interessante Auswahl von Gerhard Richter über Günther Uecker bis hin zu Heinz Mack, Frank Stella und Imi Knoebel.

Tatsächlich ist es nicht ganz leicht, den Saal mit der Henkel-Ausstellung in der Kunstsammlung NRW am Grabbeplatz in Düsseldorf überhaupt zu finden. Nach ein paar Irrwegen durch die ständige Sammlung öffnet sich aber der Blick in den großen rechteckigen Saal. In der Mitte sind zum Kontrast zu den Bildern und Objekten an den Wänden Podeste mit kostbaren außereuropäischen Teppichen und Wandbehängen ausgestellt. So exquisit und kunstvoll diese Stücke sind, erschließt sich nicht ganz der inhaltliche Zusammenhang zu den anderen Werken. Außer, dass sie auch Henkel gehören.

Die 40 ausgestellten Werke aber beweisen den untrüglichen Instinkt der Sammlerin Gabriele Henkel: Viele wichtige Künstler der klassischen Moderne sowie abstrakte Werke der Nachkriegszeit sind zu sehen. Farbenfroh ragen die bunten Blechobjekte von Frank Stella in den Raum; auch Imi Knoebel liebt knallige Farben und geometrische Formen.

Tatsächlich spiegelt sich sogar das Thema Arbeitswelt in einigen Werken wieder: So zeigt Jean Metzingers Gemälde „Relais“ von 1920 eine Fabrik, ironisch greift Konrad Klapheck das Verhältnis von Mensch und Maschine in seinem Werk „Die Diva“ von 1973 auf – die mondäne Dame ist eigentlich eine Dusche, die ihren „Kopf“ ziemlich hoch trägt.

Gabriele Henkel war es immer wichtig, diese Kunstwerke allen Mitarbeitern zugänglich zu machen, so hingen sie in Fluren, Konferenzräumen, Treppenhäusern oder Büros. Sie reflektierten und erweiterten dabei den Horizont der Arbeitswelt. Im Museum dagegen ergeben sie eine kompakte Schau und zeigen bisher Unbekanntes von bekannten Namen. Nach Umrundung des Saales stößt man links neben der Tür auf ein aktuelles Werk von Horst Münch („Der große Blonde“ von 2015) und ist mit diesem witzigen Abschluss direkt in der Gegenwart angekommen.

Den Ausgang aus dem Museum zu finden war dann wieder etwas schwieriger: Ich verirrte mich noch kurz in Joseph Beuys goldenem „Palazzo Regale“ (starke Sache, immer einen Kurzbesuch wert), bis ich wieder in der Düsseldorfer Altstadt landete. In der Dämmerung trat langsam die rote Leuchtschrift auf dem Wilhelm-Marx-Haus hervor: Sie wirbt für Persil.

Die Ausstellung „Henkel – Die Kunstsammlung“ ist bis zum 14. August 2016 zu sehen. Internet: www.kunstsammlung.de

 




Guy Joosten verschenkt Verdis „Don Carlo“ an der Düsseldorfer Rheinoper

Kampf der Mächte: König Philipp (Adrian Sampetrean, rechts) legt sich mit dem Großinquisitor (Sami Luttinen) an. Foto: Hans Jörg Michel

Kampf der Mächte: König Philipp (Adrian Sampetrean, rechts) legt sich mit dem Großinquisitor (Sami Luttinen) an. Foto: Hans Jörg Michel

Die Oper in Bonn erschließt mit „Jérusalem“ neue Verdi-Dimensionen. Frankfurt erarbeitet mit „Stiffelio“ einen ungewöhnlichen, spannenden Stoff aus entlegenen Regionen der Verdi-Rezeption und holt mit „Oberto“ dessen erste Oper ins Licht einer validen musikalischen Wiedergabe. In Düsseldorf, an der Deutschen Oper am Rhein, die vor Generationen für avancierte Spielpläne bekannt war, bleibt Intendant Christoph Meyer seiner Linie treu. Mit „Don Carlo“ füttert man das übliche Vierzig-Werke-Repertoire auf. Statt perspektivischer Blicke ein Rückzug aufs massen- und kassenkompatible Allerwelts-Einerlei.

Und genau dazu passend kommt die Inszenierung von Guy Joosten daher. Die Bühne von Alfons Flores mag in ihrer goldenen Geometrie – wozu eigentlich? – an den „Palazzo dei Diamanti“ in Ferrara erinnern, wirkt aber in ihrer belanglosen Ästhetik wie ein modisches Tagungshaus-Foyer der siebziger Jahre. Dazu gibt es mal brillantes, mal gedämpftes Licht von Manfred Voss, dann drohen feuerfarbene Schattierungen, und zwei Mal schaltet sich für kurze Momente blaues Licht ein – sich dem Verständnis entziehendes subtiles Interpretationsmoment oder einfach nur der falsche Schalter in der Lichtbude? Hänger fahren rauf und runter, der Raum wird vergrößert oder reduziert. Zum Autodafé gibt es ein bisschen züngelnde Flammen als Projektion. So hat man vor vierzig Jahren die Oper modernisiert.

Bettkantengeflüster

Joosten stellt – wie originell – ein Bett ins Zentrum. Darin wälzt sich der König auf die aus politischer Räson geheiratete Braut seines Sohnes Carlos, während der, ein geistig beschädigter Neurotiker, von Posa zum Werkzeug seiner Pläne gemacht wird und zum final gebrüllten „Libertá“ des Duetts hinausstürmt. Als Bettkantengeflüster nimmt Joosten auch das hochbrisante Gespräch des Königs mit dem unabhängig denkenden Marquis, der sich erst mal entspannt auf die Federn lümmelt. So läppisch will Joosten offenbar eine offene Gesprächsatmosphäre signalisieren, während der anklagende Aufschrei Posas, der König habe Spanien den „Frieden der Gräber“ bereitet, ziemlich eindruckslos an dem Monarchen abperlt. Auch der weibliche Hofstaat um die ehrgeizige Eboli gruppiert sich in putzigen Rüschchenkostümen Eva Krämers auf dem Bett, in das wenige, psychologisch unbeleuchtete Momente später, der Infant seine ehemalige Verlobte zieht.

Geistig beschädigter Neurotiker: Don Carlo (Gianluca Terranova) provoziert seinen Vater im Ketzergewand. Links Ramona Zaharia als Eboli, rechts Olesya Golovneva als Elisabetta. Foto: Hans Jörg Michel

Geistig beschädigter Neurotiker: Don Carlo (Gianluca Terranova) provoziert seinen Vater im Ketzergewand. Links Ramona Zaharia als Eboli, rechts Olesya Golovneva als Elisabetta. Foto: Hans Jörg Michel

Verschenkt ist das Autodafé, jene zentrale Scharnierstelle in der Oper, in der Verdi das Meyerbeer’sche Politdrama mit den intimen seelischen Tragödien verschmilzt. Da leistet sich Düsseldorf einen brutalen Strich und führt damit längst überwunden geglaubte Traditionen geringschätzender Eingriffe in Verdis Partituren weiter – man stelle sich so etwas in Wagners „Lohengrin“ vor! Dass die flandrischen Gesandten mit Eselsohren auftreten, angeführt von Carlos im Ketzerkostüm, ist eigentlich nicht mehr wichtig – die Inszenierung hat zu diesem Zeitpunkt schon längst ihre Chancen verspielt.

Ohne Tiefenblick

Und die hätte es gegeben: Aus dem schwachen, mit Komplexen und Ticks belasteten Carlos, der sich vor Konflikten unter der Bettdecke verkriecht, hätte eine konsequent beleuchteter Charakter werden können. In Elisabetta sieht Joosten offenbar eine selbstbewusste junge Frau, die dem König offen ins Angesicht widerstehen kann, aber die Schemen einer Personenkontur schärfen sich nicht. Der Moment im Autodafé, in dem sie ihm ihre Hand verweigert und er sie sich gewaltsam nimmt, war eines der wenigen Signale einer Deutungsidee. Aber sie verpuffen im goldenen Rahmen und der lahmenden Fadesse einer Personenführung ohne Tiefenblick.

Hätte es nun wenigstens sängerische Lichtblicke gegeben. Aber die Deutsche Oper am Rhein wird auch da ihrem früheren Ruf nicht mehr gerecht. Zwar wird Gianluca Terranova applaudierend gefeiert, aber das täuscht nicht darüber hinweg, dass er ein finessenlos, bisweilen grob singender neo-italienischer Lautstärke-Tenor ist. Mit seiner festgesessenen Stimme bemüht er sich spürbar um den lyrischen Bogen, um den fein schmelzenden Ton. Da er aber ständig Druck anwenden muss, fehlt ihm die geschmeidige Entfaltung des Klangs, die technisch abgesicherte dynamische Flexibilität, die leicht ansprechende Höhe. Die Misere heutigen Verdi-Gesangs könnte Terranova trefflich exemplifizieren. Ähnlich der diesmal enttäuschende Laimonas Pautienius mit einem galligen, zu weit hinten sitzenden Bariton. Die chevaleresken Töne in der Szene mit Eboli fehlen ihm ebenso wie der idealistische Ton des Freiheitsstrebens oder die verklärten Momente der Todesszene.

Sami Luttinen hat nicht, was Verdi mit „tinta“ bezeichnet, jene untergründige Farbe des Bedrohlichen in der Stimme. Sein Bass erklimmt die Höhe mit Kraft, bleibt im Zentrum unverbindlich. Das Duett mit dem König verharrt im Rahmen einer jovialen Unterhaltung. Für Adrian Sâmpetrean eine Herausforderung, die er – wie das klagende Bekenntnis seiner existenziellen Einsamkeit in seiner Arie – mit Anstand bewältigt, auch wenn ihm die Reife der Gestaltung noch abgeht.

Olesya Golovneva ist eine anrührende Elisabetta mit Momenten der Zerbrechlichkeit wie der inneren Stärke, die sich stimmlich beglaubigen kann, so lange keine Tiefe gefordert ist. Aber sie hat das wehmütige Legato, mit dem sie ihrer vom König gedemütigten Freundin ihr Herz mit zurück nach Frankreich gibt; sie hat auch den abgeklärten Blick auf die „Vanitas“ des Lebens, deren Erkenntnis den alten Karl V. ins Kloster gehen ließ.

Jeder erledigt nur sein Ding

Ramona Zaharia bringt für die Prinzessin Eboli glanzvolle Substanz, ansprechende Höhe und eine gut fundierte Tiefe mit, offenbart aber auch, dass ihr für ein entspanntes Singen der Verzierungen des Schleierlieds die Länge des Atems fehlt. Torben Jürgens erklärt mit respektablem Bass den tiefen Irrtum des ehrgeizigen, zu Staub zerfallenen Kaisers Karl V., Anna Tsartsidzes leichter Sopran veredelt die wenigen Sätzchen des Pagen Tebaldo, Natali Dzemailova kleidet als Contessa Aremberg ihren Schock über den brutalen König in Eleganz. Ibrahim Yeşilay (Lerma) und Sylvia Hamvasi (Stimme vom Himmel) bleiben ihren Partien nichts schuldig. Gerhard Michalskis Chor, in seiner zentralen Szene in den Hintergrund verbannt, singt sich routiniert durch die Oper.

Das Orchester leitet der Ukrainer Andriy Yurkevych, GMD der Polnischen Nationaloper Warschau. Er tut sein Bestes, um dem Abend musikalisch Belang zu geben, wählt aber schwankende Tempi, deren Sinn nicht aufgeht, zumal er gegen Ende hin die Sänger mit zäher Langsamkeit strapaziert. Der Eindruck drängt sich auf, dass auf der Bühne und im Graben jeder sein Ding erledigt, ohne den Kontakt über ein Minimum hinaus zu pflegen oder gar in den Dienst einer gemeinsamen musikalischen Aussage zu stellen. Und das Ding im Graben kommt, wie bei den Düsseldorfer Symphonikern leider öfter, nicht über solide Routine hinaus, gewürzt hier und da durch sorgfältig modellierte solistische Momente. Alles in allem ein verzichtbarer Opernabend. Schade um die Zeit.

Weitere Vorstellungen am 27. Februar, 3., 6., 13., 19., 28. März, 2. April. Karten: (0211).89 25 211, www.operamrhein.de




Verstörender Mystery-Thriller: Prokofjews „Der feurige Engel“ an der Rheinoper Düsseldorf

Ruprecht (Boris Statsenko) kniet vor Renata (Svetlana Sozdateleva. Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Ruprecht (Boris Statsenko) kniet vor Renata (Svetlana Sozdateleva. Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Die Begegnung mit Renata wird sich als fatal erweisen. Aber davon ahnt Ruprecht nichts, als er die rätselhafte Frau zufällig kennen lernt. Fasziniert von ihrer Mischung aus mädchenhafter Schwärmerei und leidenschaftlichem Verlangen, hilft er ihr auf der Suche nach dem feurigen Engel: Einer von Licht umstrahlten Erscheinung, die ihr vom achten bis zum 16. Lebensjahr schützender Begleiter und zärtlicher Seelenpartner war, so Renata.

Später glaubte sie eine Inkarnation des Engels in der Person des Grafen Heinrich wieder zu erkennen. Doch auch dieser ließ sie nach einem gemeinsam verbrachten Jahr allein.

Interessiert lauscht Ruprecht dieser Geschichte. Bald schon wird der eigentlich bodenständige Mann vollkommen den Halt verlieren. Wir, die Besucher der Rheinoper Düsseldorf, erleben in Sergej Prokofjews Fünfakter „Der feurige Engel“ den erschreckenden Identitätsverlust eines Mannes, der sich zum devoten Gefährten einer Besessenen macht. Im Gefolge von Renata, die seinen Wunsch nach Liebe zurück weist, verstrickt sich Ruprecht in einem Netz aus Wahn, schwarzer Magie, Aberglauben und Okkultismus.

Regisseur Immo Karaman macht aus diesem expressionistischen Psychodrama einen Mystery-Thriller, der in einer von Äbtissinnen geleiteten Nervenheilanstalt beginnt. Von dort schreiten Renata und Rupprecht in die Welt hinaus. In Köln kommt es zu Begegnungen mit Doktor Agrippa, dem Grafen Heinrich, schließlich sogar mit Faust und Mephisto. Aber sind diese Episoden Wirklichkeit? Oder haben Ruprecht und Renata das Irrenhaus nie verlassen?

Dr. Agrippa (Sergej Khomov, l.) operiert am offenen Gehirn (Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Dr. Agrippa (Sergej Khomov, l.) operiert am offenen Gehirn (Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Der geniale Kniff von Karaman besteht darin, uns immer stärker an unserem Unterscheidungsvermögen zweifeln zu lassen. Was ist Realität? Was Vision? Immer wieder zieht die Regie Trennwände in den Bühnenraum ein, als wolle sie die Sphäre der Irren und der geistig Gesunden voneinander scheiden. Dabei ist das Gegenteil der Fall: Karaman zieht uns den Boden unter den Füßen weg, schickt uns mit Ruprecht in den finsteren Strudel. Alle Grenzen verwischen, unsere Sinne verwirren sich.

Wo eben noch ein Ballsaal war, elegant gekleidete Paare sich im Tanz drehten, verwandelt sich die Szene innerhalb einer Sekunde zurück in den tristen Saal der Heilanstalt. So rasch und gleitend geschieht diese Verwandlung, dass wir uns die Augen reiben, ja am liebsten Einspruch erheben möchten. Irgendwann hämmert Ruprecht verzweifelt gegen eine vergitterte Tür in der Wand. Das Bild wird plötzlich erschreckend doppeldeutig. Begehrt der Verzweifelte Einlass zu Renata? Oder ist er womöglich selbst Insasse und will hinaus?

Menschliche Schreie dringen durch die Wand. Wir können nicht sehen, was vor sich geht, aber gerade deshalb spielt unsere Phantasie verrückt. Wenn Renata von den Ärzten Elektroschocks bekommt, wenn eine unsichtbare Macht Möbel verrückt und an Wände klopft, wenn der Arzt wie eine Ausgeburt aus einem Frankenstein-Film wirkt, jagt das manchen Schauder über das Rückgrat. So gekonnt auf der Klaviatur des Horrors spielend, gelingt Immo Karaman mit dieser dichten und detailgenauen Inszenierung ein atemberaubender Wurf.

Renata (Svetlana Sozdateleva) gerät in die Fänge eines Exorzisten (Jens Larsen. (Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Renata (Svetlana Sozdateleva) gerät in die Fänge eines Exorzisten (Jens Larsen. (Foto: Hans Jörg Michel, Deutsche Oper am Rhein)

Prokofjews geniale Musik lädt die thematischen Spannungsfelder mächtig auf. Glaube und Aberglaube, Religion und Wissenschaft, keusche Unschuld und sexuelle Triebkraft tönen aus dieser aufwühlend expressionistischen Partitur.

Unter der umsichtigen Leitung von Kapellmeister Wen-Pin Chien geizen die Düsseldorfer Symphoniker nicht mit magischen Klängen. Immer wieder schaffen die Musiker eine doppeldeutige, mystische, zwielichte Atmosphäre. Aber sie entwickeln auch brachiale Wucht: zum Beispiel in der Agrippa-Szene, die so stark gleißt und wummert, dass sich der Klang förmlich in die Brust bohrt. Dämonisch sausen die Glissandi in der Klopfgeist-Szene, und Renata steigert sich in wahnsinnige Erregung, weil sie denkt, die Rückkehr des feurigen Engels stehe kurz bevor.

Svetlana Sozdateleva singt die Partie der Renata mit viel Wärme. Wahnhafte Ausbrüche, in denen Prokofjew die Anforderungen an die Sängerin auf die Spitze treibt, gestaltet sie mit einer Leidenschaft, die zuweilen in Wildheit und Trotz umschlägt. Die Sängerin verleiht Renata den irrlichternden Charme eines längst zur Frau gereiften Mädchens, das mit dem Aufbrechen seiner Sexualität nie fertig wurde. Boris Statsenko legt Ruprecht zunächst auch stimmlich als Gentleman an, gibt ihm die Statur eines ritterlichen Beschützers. Dabei wirkt er zuweilen ein wenig steif, aber es bleibt doch mehr als deutlich, wie Ruprechts Persönlichkeit immer mehr zusammenbricht.

In Verbindung mit dem gut aufgelegten Sängerensemble und einer starken Leistung des Rheinopern-Chors wird der Abend zu einem jener beglückenden Opernerlebnisse, die an Intensität ohne Vergleich dastehen. Da müsste man schon Hitchcock, Edgar Allen Poe und Stephen King zusammen bemühen.

(Folgetermine nur noch bis 15. November 2015. Informationen: http://operamrhein.de/de_DE/repertoire/der-feurige-engel.1045093)




„Malerei als Poesie“: Miró-Ausstellung in Düsseldorf

Frau, Vogel, Stern: Diese Motive bilden die Konstanten im Werk des spanischen Malers Joan Miró. Im Laufe seines Künstlerlebens (1893-1983) sind sie in seinen Gemälden immer wieder zu finden.

Doch zeigt die aktuelle Ausstellung in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf (zu sehen bis zum 27. September), wie Miró sich in seinen verschiedenen Schaffensperioden immer wieder neu erfand: Seien es seine Themen, seine Materialien oder seine Farbgebung. Die Zeit spiegelt sich in seinem Werk, mag es vordergründig auch so kindlich daherkommen. Denn es waren beileibe keine friedlichen Zeiten in diesem 20. Jahrhundert, das von zwei Weltkriegen und der spanischen Diktatur unter Franco geprägt war.

Außerdem legt die Ausstellung den Schwerpunkt auf Mirós Beziehung zur Poesie. Denn eigentlich malte er Gedichte. So spielt die Schrift als poetische Zeile oder als grafisches Zeichensystem eine entscheidende Rolle in seinem Werk. In der „Schlange des Aberglaubens“ beispielsweise: Schon vom Format her ist das Bild ein Spruchband, das sich an der Wand entlang schlängelt. Wie eine steinzeitliche Bilderschrift wirken die bunten Hieroglyphen, die nicht ohne Hintersinn auf die Ängste des modernen Menschen anspielen.

Foto: Gabriel Ramon © Kunstsammlung NRW

Foto: Gabriel Ramon
© Kunstsammlung NRW

Nicht zuletzt zeigt die Schau verschiedene Künstlerbücher, die Miró gemeinsam mit seinen Dichterfreunden wie Paul Éluard, André Breton u.a. geschaffen hat. Joan Miró war ein passionierter Leser: So hat die Kunstsammlung in die Mitte des ersten Saals sozusagen seine Bibliothek nachgebaut und mit Titeln ausgestattet, die Miró selbst besaß. Wer möchte, kann sich in einem Ledersessel niederlassen und ein wenig schmökern.

Auch als Hörprobe spielt die Dichtung in der Ausstellung eine Rolle. Wie Trockenhauben beim Friseur hängen Lautsprecher vor bestimmten Bildern von der Decke, darunter hört man Poesie, auf Französisch rezitiert. „Une étoile caresse le sein d’une négresse“, so der Titel eines Bild-Gedichts von 1938. Die Textzeile ist in weißer Schrift in die schwarze Leinwand hineingeschrieben. Das Bild ist aber nicht als Illustration eines Gedichts zu verstehen, sondern es ist das Gedicht selbst, ein gemaltes Gedicht.

Surrealismus, Kubismus, Fauvismus – an all diesen Strömungen hatte Miró Anteil und man kann sie in seinem Werk entdecken. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts kam er als junger Mann aus Barcelona nach Paris und taucht tief in die Kunstszene ein. Am liebsten traf er sich mit Literaten aber auch Picasso bewunderte er. Im spanischen Pavillon der Weltausstellung 1937 in Paris stellte Miró neben Picassos „Guernica“ sein Gemälde „Der Schnitter“ aus, das später leider verloren gegangen ist.

Foto: Jaume Blassi © Kunstsammlung NRW

Foto: Jaume Blassi
© Kunstsammlung NRW

Der zweite Saal zeigt Mirós Aufbruch ins Großformat, inspiriert von der 68er Bewegung: Sein Stil wird bewegter, wilder, man spürt den Furor in den Bildern. Die kindliche Schreibschrift weicht einer zeittypischen Druckschrift, auf einem Gemälde lässt sich „Mao“ entziffern. Am Ende des Rundgangs leuchten die Bilder in knalligem Orange; Frau, Vogel, Stern – diese Motive kann der Besucher hier wieder entdecken. So bleibt Miró sich treu, auch in der Veränderung.

Weitere Informationen:
www.kunstsammlung.de




Acht Städte zwischen Rhein und Ruhr zeigen zeitgenössische Kunst aus China

Warum, beginnen wir den Aufsatz ruhig ein bißchen ketzerisch, gibt der Bundeswirtschaftsminister wohl den Schirmherrn für diese Ausstellung? Ein Grund könnte sein, die Chinesen zu erfreuen und so die Wirtschaftsbeziehungen zu ihnen zu verbessern.

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„Big Woman and Little Man“ (2012) von Zhang-Xiaogang hängt jetzt in der Küppersmühle (Foto: Zhang Xiaogang/china8)

Das Interesse der Wirtschaft an diesem Ausstellungsprojekt ist jedenfalls erheblich, unter anderem sponsern Duisburger Hafen und Düsseldorfer Flughafen, Evonik Industries und Deutsche Bahn und last not least, qua Stiftungsauftrag dazu veranlaßt, die Brost-Stiftung.

Veranstalter der Mammutausstellung ist die Stiftung für Kunst und Kultur e.V. in Bonn, der Walter Smerling vorsteht, der in Personalunion auch die Duisburger Küppersmühle leitet. Der Eigenanteil der beteiligten Städte am Ausstellungsprojekt hingegen ist übersichtlich. „Das Projekt haben wir privat gehoben“, gibt Smerling selbstbewußt zu Protokoll.

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„The Night of Time Vivarium“ (2015) von Sun Xun ist im Hagener Osthaus-Museum zu sehen. (Foto: Sun Xun/china8)

Rund 500 Werke von 120 Künstlern

Nun ist es keineswegs verwerflich, wenn die Wirtschaft die Kunst fördert, und sei es die chinesische. Zu sehen also gibt es – viel. Rund 500 Werke von rund 120 Künstlerinnen und Künstlern in neun Museen in acht Städten. Küppersmühle und Lehmbruck in Duisburg, NRW-Forum in Düsseldorf, Folkwang in Essen, Kunsthalle Recklinghausen, Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr, Osthaus Museum Hagen und Kunstmuseum Gelsenkirchen.

Düsseldorf zeigt einen üppigen Querschnitt, die anderen Häuser haben sich spezialisiert. So widmet Essen sich der Fotografie, Recklinghausen setzt einen Schwerpunkt bei besonders jungen Positionen, die Küppersmühle bietet exklusive Vergleichsmöglichkeiten und präsentiert zu den zehn chinesischen Künstlern, „deren Entwicklung wir seit 20 Jahren intensiv verfolgen“, in etwa zeitgleich entstandene Werke der Herren Baselitz, Beuys, Götz, Kiefer, Lüpertz, Richter, Schultze und so fort. Sie entstammen der Sammlung Ströher, die Küppersmühle hat da einiges zu bieten.

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„Sidewalk“ (2014) – ein Tintenstrahlausdruck von Alfred Ko, jetzt in Essen zu bewundern. (Foto: Alfred Ko/china8)

Pioniertaten in Duisburg

Seit er das Haus im Duisburger Innenhafen leitet, hat Walter Smerling sich in Bezug auf chinesische Kunst zahlreiche Verdienste erworben. Lange Zeit war er der einzige, der in einem Museum (Galeristen waren da häufig schon weiter) chinesische Zeitgenossen breit präsentierte.

Wie es scheint, war Smerling unter den Museumsleuten auch die treibende Kraft für „China 8“, doch beansprucht er den Lorbeer nicht für sich allein. Dankbar erinnert er sich an einen Besuch bei Ferdinand Ullrich in der Recklinghäuser Kunsthalle vor etwa zwei Jahren, wo dieser „Kunst aus Beijing“ aus der Sammlung eines niederländischen Industriellen präsentierte, der ungenannt bleiben wollte. Viele der Werke hatte auch Smerling schon gezeigt, als sie noch nicht Teil jener niederländischen Sammlung waren. Da wurde gleiches Interesse spürbar; und so reiften erste Pläne für die China-Schau.

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„Appearance of Crosses“ (2007-10) von Ding Yi – jetzt in der Duisburger Küppersmühle. (Foto: Ding Yi/china8)

Warum kommt Ai Wei Wei nicht?

Kenner der Materie mögen mich geißeln, aber ich kann nicht behaupten, auch nur einen der präsentierten Künstler zu kennen – sicherlich eine Mißlichkeit, die durch ausgiebigen Ausstellungsbesuch behoben werden könnte.

Der einzige wirklich weltberühmte chinesische Künstler wäre wohl Ai Wei Wei, doch der wollte nicht teilnehmen. Man hatte ihn, beteuert Smerling, angefragt, und für diese Anfrage hatte es von den chinesischen Behörden grünes Licht gegeben.

Ai Wei Wei kommt angeblich also aufgrund einer persönlichen Entscheidung nicht. Was ihn so entscheiden ließ und ob Repression im Spiel war, unterliegt der Spekulation. Allerdings, so Smerling, sei ja auch bekannt, daß der regimekritische Künstler Gruppenausstellungen nicht liebe.

Was nun aber gibt es zu sehen? Viel Öl auf Leinwand, viel Acryl auf Leinwand, einige Videos, einige Installationen, gut plazierbares Skulpturales. Von den Formaten her fühlt man sich oft an die Art Cologne erinnert, wo (ganz anders als im zeitgenössischen deutschen Ausstellungsbetrieb mit seinen immer komplizierteren konzeptionellen Verschwurbelungen) solide Flachware dominiert, gut ins Wohnzimmer zu hängen. Gleiches gilt sinngemäß für die prominent präsentierbaren Skulpturen und Blumenvasen. Keine Experimente – allerdings sollten die Wohnzimmerwände eine gewisse Größe haben, um die ausladende Chinakunst aufzunehmen.

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Die Skulptur „Bang!“ (2002) von Xiang Jing ist 162 cm hoch und steht jetzt im Duisburger Lehmbruck-Museum. (Foto: Xiang Jing/china8)

China-Pop adé

Und inhaltlich? Verglichen mit den poppig bunten, oft auf sehr eindringliche Art gesellschaftskritischen Werken, die in den vergangenen Jahrzehnten bei uns zu sehen waren, ist die „China 8“-Kunst bedenklicher, bedeckter, kontemplativer, in gewisser Weise europäischer. Die Farbigkeit wirkt häufig zurückgenommen, gesellschaftskritische Botschaften sind zwar wahrzunehmen, dominieren aber nicht. Doch selbstverständlich sind Globalbewertungen wie diese immer schwierig. Das Schaffen von 120 Künstlerpersönlichkeiten läßt sich nicht seriös auf einen Punkt bringen.

Die Karte des Reviers, die die teilnehmenden Museen verzeichnet, weist im Raum Dortmund lediglich eine weiße Fläche auf. Wollten die nicht, konnten die nicht? Ferdinand Ullrich, der nicht nur die Recklinghäuser Kunsthalle leitet, sondern auch den Ruhr-Kunstmuseen vorsteht, in deren Kontext das China-Projekt entstand, kann es nicht erklären, findet den Umstand aber auch nicht sehr bedeutsam. Für ihn wurde andersherum ein Schuh daraus. Immerhin nehmen acht Häuser teil, das bewertet er als großen Erfolg.

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Das „New China Series Car No. 1“ (2009) von Ma Jun steht im Hagener Osthaus-Museum und ist aus Porzellan (Foto: Ma Jun/china8)

Daß die Dortmunder nicht mitgezogen haben, mag der personellen Situation geschuldet sein, dem Machtvakuum auf der Leitungsebene im Dortmunder „U“. Bekanntlich sucht man einen „Intendanten“ für das kompliziert strukturierte Haus, der wohl auch den derzeitigen Museumschef Kurt Wettengl beerben wird. Doch sind das einstweilen noch Spekulationen.

Weil aber Spekulieren so viel Freude bereitet, spekuliere ich noch etwas weiter und wage die nicht allzu mutige Prognose, daß die Menge der chinesischen Kunst auf dem Kunstmarkt in den nächsten Jahren enorm wachsen wird. Es gibt viel gelangweiltes Geld, das man im Austausch mit den Kunstwerken einsammeln kann. Zur Freude der Chinesen und ihrer deutschen Partner.

 

  • „China8“
  • 15. Mai bis 13. September 2015.
  • Neun Ausstellungen in acht Häusern
  • Duisburg: Küppersmühle und Lehmbruck-Museum
  • Düsseldorf: NRW-Forum in Düsseldorf
  • Essen: Folkwang-Museum
  • Recklinghausen: Kunsthalle
  • Marl: Skulpturenmuseum Glaskasten
  • Mülheim/Ruhr: Kunstmuseum
  • Hagen: Osthaus-Museum
  • Gelsenkirchen: Kunstmuseum
  • Öffnungszeiten und Eintrittspreise sind unterschiedlich.
  • An den Wochenenden verkehren kostenlose Bus-Shuttles zwischen den Museen.
  • Für die ganze Schau wird auch ein Kombi-Ticket zum Preis von 18 Euro (erm. 10 Euro) angeboten, mit dem in der gesamten Laufzeit des Projekts jede Ausstellung einmal besichtigt werden kann.



„In Pittsburgh roch es wie in Oberhausen“ – Wim Wenders‘ Fotografien in Düsseldorf

Foto: Wim Wenders/Courtesy Blain Southern

„Dust Road in West Australia“ (1988) (Foto: Wim Wenders/Courtesy Blain Southern)

Weit sind diese Landschaften, leer und von einem überdimensionalen Himmel überspannt: Die Handschrift des Filmemachers Wim Wenders drückt sich kongenial auch in seinen großformatigen Fotografien aus. Noch bis Mitte August ist die Ausstellung „4 REAL & TRUE 2“ des gebürtigen Düsseldorfers Wenders im Museum Kunstpalast in der NRW-Landeshauptstadt zu sehen.

Interessanterweise beobachtet Wenders „Menschenleere“ nicht nur in Weltgegenden wie dem Mittleren Westen der USA oder der australischen Wüste, die naturgemäß dünn oder gar nicht besiedelt sind. Er schafft diesen Eindruck auch in Fotos aus Japan oder Israel, in denen durchaus menschliche Ansiedlungen zu sehen sind, doch auch hier von Ferne, aus der Distanz.

Manchmal schlägt die Naturbetrachtung sogar ins Idyll um und nimmt Caspar David Friedrichsche Züge im Medium der Fotografie an. Die Landschaft selbst scheint zu sagen „Seht her, wie schön ich bin.“ Ganz ohne den Hinweis eines menschlichen Vermittlers, der dem Betrachter die Naturwunder erst erklären muss. Und so wirft man als Museumsbesucher einen ganz neuen und unverbrauchten Blick auf die Elblandschaft im Sommer oder die Morgendämmerung über dem See Genezareth.

Doch wohnt allen Bildern ebenso das narrative Element des Filmemachers inne, denn nahezu zu jedem gibt es eine Geschichte. „Der Weg nach Emmaus“ zeigt einen Pfad durch eine Gebirgslandschaft, sonst nichts. Trotzdem ist die Fotografie aufgeladen mit biblischer Geschichte, im Kopf des Betrachters laufen die Szenen der Begegnung von Jesus und seinen Jüngern ab, obwohl von ihnen auf dem Foto gar nichts zu sehen ist.

Ähnlich verhält es sich mit Wenders‘ Bildern von Ground Zero in New York: Die Sonne bricht durch die Wolken und beleuchtet zerstörte Hochhäuser und Krater im Boden; als Betrachter erinnert man sich sogleich an 9-11 und verknüpft die Ruinen unweigerlich mit der Tragödie der Terroranschläge. Absolut unheimlich sind Wenders‘ Bilder aus Fukushima nach der Reaktorkatastrophe, denn sie zeigen die unsichtbare radioaktive Strahlung als wellenförmige Linie auf der Fotografie. Wenders hat diese „Zerstörung“ der Fotos erst nach seiner Rückkehr aus Japan entdeckt.

In Armenien hat Wenders ein verlassenes und halb kaputtes Riesenrad fotografiert, das auf einem freien Feld steht. Hier erzählt erst der Gegenschuss die ganze Story: An der gegenüberliegenden Wand zeigt sein Foto eine verlassene russische Kaserne; mit den Soldaten ist auch ihr Vergnügungspark obsolet geworden.

Eine Entdeckung mit lokalem Bezug waren für mich die Wenders-Fotos aus einem Eisenbahntunnel in Wuppertal: Sie zeigen bunte Graffiti-Männchen – gemalt von den Zwillingen Os Gemeos aus Sao Paulo – deren leuchtende Gesichter in der Schwärze des Tunnel kontrastreich aufscheinen und irgendwie rührend wirken, als habe man die kleinen Gespenster bei ihrem geheimen Treiben im Dunkeln überrascht.

Und auch an das Ruhrgebiet denkt Wenders: In Schwarz-Weiß hat er eine (etwas trostlose) Straßenecke in Pennsylvania fotografiert, der Text dazu lautet: „In Pittsburgh roch es genauso wie in Oberhausen im Ruhrgebiet, wo ich aufgewachsen bin.“