Durch Apps die Welt beherrschen – Dave Eggers konstruiert mit seinem Roman „Every“ eine digitale Dystopie

Sie heißen „TellTale“ und „TruVoice“, „OwnSelf“ und „HappyNow“, „Should I“ und „Friendy“: nur einige von unzähligen kostenlosen Apps, die demnächst jeder Mensch auf seinem Smartphone hat. Sie machen aus dem Leben ein Rundum-Sorglos-Paket. Helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen und uns ständig selbst zu optimieren.

Viel mehr noch: Sie beraten uns beim Einkauf, reduzieren das Überangebot und verbannen umweltschädliche Produkte. Sorgen dafür, dass unser CO2-Fußabdruck kleiner wird und wir durch bewussten Verzicht und Ressourcen schonendes Handeln das Klima retten. Verraten uns, ob wir glücklich sind und vermeintliche Freunde uns nur etwas vorflunkern. Sie hören mit und sprechen mit uns, sie wissen, was wir denken und fühlen und geben uns Ratschläge, welche Wörter diskriminierend und tunlichst zu vermeiden sind. Eine App („WereThey?“) kann ermitteln, ob unsere Eltern immer gut zu uns waren, eine andere („FictFix“) ist behilflich, unsympathische Figuren aus Romanen zu entfernen. Mit „EndDis“ können Archivare unangemessene Bilder und Texte für immer löschen.

So sieht sie aus, die schöne neue Welt, die da draußen wartet, nur ein paar Monate oder Jahre entfernt. Oder ist sie vielleicht schon da? Gibt es überhaupt noch ein „Draußen“? Wozu sollten die Menschen noch vor die Tür gehen, wenn ihnen alles ins Haus geliefert wird, wenn sie Urlaubsreisen nur noch per Video-Guide mit dem Smartphone machen, sie auf der Straße oder in der U-Bahn jeden Unbekannten mit einer App taxieren können, ob er ein Vergewaltiger oder Mörder ist?

Alle Konkurrenten geschluckt

„StayStil“ heißt eine zig-millionenfach benutzte App, die von „Every“ entwickelt wurde, dem digitalen Mega-Monopol: größte Suchmaschine, größter Social-Media-Anbieter, größter Software-Entwickler, größtes Onlineversandhaus der Welt. „Every“ hat alle Konkurrenten geschluckt und kauft jede Woche unzählige Start-Ups dazu. Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft: alles Schnee von gestern. „Every“ kontrolliert die Gedanken und die Wünsche. Natürlich auch die Politik. Wer Kritik an „Every“ übt, digitale Regulierungsmaßnahme fordert und die Freiheit des Individuums anmahnt, wird über die sozialen Netzwerke sofort in die Hölle des Vergessens verbannt.

Gegen die gefährliche Machtfülle von „Every“ war die Zukunftsvision von „Circle“ nur ein ein harmloses Vorspiel: der sektenartige „Circle“ ist, so will es Autor Dave Eggers, von „Every“ einverleibt und ausgespuckt worden worden. Weil auch in der realen Welt alles noch viel schlimmer gekommen ist, als er es in seiner (allein im deutschsprachigen Raum über 600.000 Mal verkauften) „Circle“-Science-Fiction prophezeite, hat er jetzt seinen futuristischen Horror weitergedacht, das lockere Fäden-Logo von „Circle“ zum kompakten „Wollknäuel“ verdichtet, aus dessen Zentrum uns ein Auge anstarrt. Es registriert und bewertet alles. Wahrscheinlich auch die Lektüre des Romans.

Nur ein Abklatsch von Orwell und Huxley

Dass wir von Seite zu Seite genervter und gelangweilter sind, wird dem alles sehenden Wollknäuel nicht gefallen. Aber was sollen wir machen: Ein Ziegelstein-dicker Roman, der sich anschickt, Orwells analoge Alpträume ins digitale Zeitalter zu verlegen und uns vor dem endgültigen Sieg von Huxleys furchterregend schöner neuer Welt warnt, kann nur ein matter Abklatsch werden. Vor allem, weil Eggers keine Figuren aus Fleisch und Blut erfindet, die einen mitleiden lassen, keine Handlung, die einen emotionalen Schock entfacht oder einen intellektuellen Denkraum aufschließt, keine Sprache, die einen fasziniert und betört und zum Durchhalten animiert. Stattdessen nur Digital-Talk, endloses Gequassel über neue Apps und weitere Möglichkeiten, den Terror der Transparenz auf die Spitze zu treiben und den gläsernen Menschen zu kreieren, der sich in einer chaotischen, von der Klimakatastrophe Welt bedrohten Welt nach Ordnung und Sicherheit sehnt und bereit ist, seine Freiheit aufzugeben und an „Every“ abzutreten.

Doch wer ist „Every“, was will der neue digitale Welt-Herrscher? Wie könnte man seine Macht brechen und das Monstrum zerstören? Delaney Wells, ehemalige Försterin und unerschütterliche Technikfeindin, will das herausfinden, den Konzern unterwandern und vernichten. Sie schleust sich ins System ein, wird Mitarbeiterin bei „Every“, dessen Zentrale auf einer Insel in der Bucht von San Francisco liegt. Sie füttert die Firma mit Ideen, regt neue Apps an, von denen sie hofft, sie würden die User zum Widerstand anregen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Den Menschen gefällt es, von „Every“ in jeder Lebenslage beraten und bespielt, beschützt und beglückt zu werden: „Geheimnisse sind Lügen“ lautet eine der „Every“-Parolen. Weg also mit allen Geheimnissen, Unsicherheiten und Unwägbarkeiten.

Bevölkert von seelenlosen Mutanten

Glauben Delaney und ihr verträumter Computer-Freund, der zottelige Späthippie Wes Kavakian, wirklich, „Every“ von innen heraus zerstören zu können? Dass es bei „Every“ eine „Widerstandsgruppe“ geben könnte, die nicht schon längst erkannt und infiltriert wurde? Wo Apps herrschen, brauchen keine Bücher und Menschen bei einer Temperatur von Fahrenheit 451 verbrannt werden. Aber natürlich platzen in diesem literarisch völlig substanzlosen Roman alle Träume von einer besseren Welt und enden in der digitalen Dystopie.

Hätte der vom technischen Firlefanz zugleich faszinierte wie erschrockene Autor nicht über unzählige Seiten Dutzende Apps erfunden und beschrieben, wäre ihm vielleicht ein spannender, aufrüttelnder Roman gelungen, bevölkert nicht von digitalen Mutanten, sondern von richtigen Menschen. Keiner, sagt einmal ein „Everyone“, die für das Kürzen und Aktualisieren von Literatur zuständig sind, will einen Roman lesen, der länger ist als 577 Seiten. Hätte fast gepasst. Mit Dank, Inhalt, Hinweis zum Autor und auf den von ihm gegründeten Verlag McSweeey´s sind es denn doch leider ein paar Seiten mehr geworden.

Dave Eggers: „Every“. Roman. Aus dem Englischen von Klaus Zimmermann und Ulrike Wasel. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021, 583 S., 25 Euro.

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Dave Eggers und seine Vetriebskanäle

Die Bücher von Dave Eggers, geboren 1970, werden viel und kontrovers diskutiert. Sein Roman „Der Circle“ war weltweit ein Bestseller. Der Roman „Hologramm für den König“ war für den National Book Award nominiert, für „Zeitoun“ wurde ihm der American Book Award verliehen. Die Originalausgabe von „Every“ erscheint in den USA nur in dem von Eggers gegründeten unabhängigen Verlag „McSweeney´s“. Bei Amazon und anderen Handelsketten ist er zunächst nicht verfügbar. Taschenbuch, E-Book und Hörbuch erscheinen einige Wochen später im amerikanischen Verlag Vintage und werden dann auf allen Kanälen verkauft. Da die britische Ausgabe schon jetzt im deutschsprachigen Raum verfügbar ist, kann auch Kiepenheuer & Witsch den Roman vertreiben. (FD)

 




Dauerempörung und blasse Endzeitvision: Karen Duves Roman „Macht“

DuveMachtFrauen regieren die Welt und haben alle Schaltstellen der Macht besetzt. Nur Olaf Scholz hat es wie durch ein Wunder geschafft, Bundeskanzlerin zu werden. Die Wunderpille Ephebo sorgt für ewig jugendliches Aussehen, Nebenwirkungen wie Krebs spielen keine Rolle mehr, da der Menschheit aller Voraussicht nach – dem Klimawandel sei Dank – eh kein ganzes Jahrtausend mehr zum Überleben bleibt.

Und weiter: Religiöse Fanatiker freuen sich über massenhaften Zulauf und wer von den Männern es gar nicht mehr ertragen kann, der kettet seine Gattin einfach im Keller an, gibt sie als vermisst aus und hat wenigstens für die letzten Jahre auf Erden eine Sklavin, die ihm seine Lieblingskekse backt und auch sonst zu Diensten ist…

So ungefähr sieht es mit den „Macht“-Verhältnissen im Jahre 2031 aus, wenn es nach dem neuen Roman der Streitschrift-freudigen Autorin Karen Duve geht.

Die Männer sind an allem schuld

Während der Arbeit an diesem Roman erschienen der Autorin die herrschenden Machtverhältnisse der Gegenwart wohl so schrecklich, dass sie die Arbeit an „Macht“ für das ihr dringend gebotenes, als Essay gedachtes Werk „Warum die Sache schiefgeht – Wie Egoisten, Hohlköpfe und Psychopathen uns um die Zukunft bringen“ unterbrach. Der Zusammenbruch der Zivilisation war ihr Thema, sekundär infolge der Klima-, Energie- und Flüchtlingskrisen, primär verursacht durch die „jahrtausendealten Schimpansenregeln schamloser aggressiver und gemeiner“ – na klar – Männer.

Bedauerlicherweise scheinen der Kraftakt dieses Essays und die folgende Talkshow-Tour einen Teil ihrer Kräfte verbraucht zu haben, denn die Beschreibung der dystopischen Welt, in der sie „Macht“ ansiedelt, erschöpft sich in Effekthascherei. Im Wesentlichen begnügt sie sich mit der Fortschreibung schon heute existenter Zustände: Hitzewellen, Gletscherschmelze, Wirbelstürme. Garniert mit alles überwucherndem gentechnisch manipuliertem Raps und Killerfliegen, das Ganze eingezwängt in ein Korsett aus Staatsfeminismus und Veganismus, verziert mit besagten Wunderpillen. Für ein als Endzeitroman beworbenes Werk eine ausgesprochen dürftige blasse Vision, in der die Ausgestaltung künftiger Namensgebung noch die meiste Aufmerksamkeit bekommen zu haben scheint.

Weltuntergang? – Halb so schlimm

Ein guter Endzeitroman vermag durch realistisch erscheinende, bedrohliche Visionen Betroffenheit und vielleicht sogar Bereitschaft zum Umdenken zu erzeugen. Karen Duve hingegen erzeugt nur Überdruss und Langeweile, davon allerdings eine Menge. Noch dazu ist die in der Vision angesiedelte Handlung derart unausgegoren, dass es genug Leser geben dürfte, die das Buch mit dem Gedanken beenden: naja, gut, die Welt geht unter, aber so schlimm wird es schon nicht. Die Gestalten in dem Buch arrrangieren sich ja auch alle irgendwie damit. Auch davon, was Gefangenschaft in einem engen Raum mit Menschen macht, hat man schon wesentlich aufwühlender gelesen – sei es in der Fiktion als auch in der Berichterstattung über real existierende Verhältnisse.

Die überschaubare Handlung wird erzählt aus der Sicht von Sebastian, genannt Bassi, der eine Sklavin hält. Doch auch dieser Ansatz, die Gedankenwelt eines Psychopathen zu erkunden, verliert sich im Ungefähren. Schon alleine deshalb, weil „Bassi“ unglaublich eindimensional daherkommt und man kaum glauben mag, dass ein so simpel gestrickter Mensch eine ruhmreichere Vergangenheit als Aufrüstungsgegner in seiner Biographie zu verzeichnen hat.

Der Weltuntergang an sich ist Bassi relativ egal, das größte Problem des armen Tropfes ist mangelnde Bewunderung. Ein klassischer Langeweiler, der sich in Allmachtsphantasien steigert und diese letzten Endes noch auslebt. Leider ziemlich phantasielos: Man erinnere sich, die Kekse! Immerhin bringt ihn das zu der nicht gerade neuen Erkenntnis, dass „Macht nie so gut ist wie in den Momenten, wo man sie mißbraucht“.

Wut allein schreibt keine Bücher

Man fragt sich nach der Lektüre ernsthaft, was Karen Duve mit diesem Buch erreichen wollte. Alleine an der so enttäuschend mager ausgestatteten Utopie lässt sich ablesen, dass es ihr wohl nur vordergründig um eine gesellschaftskritische Mahnung ging. Analyse geht anders, ja, es sind letzten Endes nicht einmal Thesen, die sie aufstellt. Es sei denn, man akzeptiert als Kernbotschaft die übrig bleibende Aussage, dass alle Männer böse sind und unfassbar blöde.

Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, dass die Autorin ihr Werk dazu genutzt hat, selbst einmal ein ungeniertes Machogehabe ausleben zu können. Alles zusammengenommen wirkt „Macht“ wie eine dauerempörte Hetzschrift gegen Männer, nur notdürftig getarnt als Gesellschaftskritik und feministische Streitschrift. Beiden Anliegen hat Karen Duve damit keinen Gefallen getan. Vor allem der Sache der Frauen stünde etwas mehr Differenzierung und weniger ermüdendes Lamento gut zu Gesicht. Mit aufgewärmtem Tante-Emma-Feminismus holt man heute keinen und keine mehr hinter dem Ofen hervor, schon gar nicht die „Aufschrei“-Feministinnen im zwitschernden Neuland.

Das alles ist umso bedauerlicher, als Karen Duve im Grunde eine wirklich begabte Erzählerin ist. Sie kann mit Sprache umgehen, sie erzählt flüssig und eigentlich kann sie auch Figuren gut zeichnen. Doch in „Macht“ siegt das Lamento. Selbst die obligatorische Danksagung am Ende entfällt zugunsten nickeliger Kritteleien, die einmal mehr erahnen lassen, wie schwer Frau Duve an der Ungerechtigkeit leidet. Auch als Parodie auf Menschen, die die Ungerechtigkeit der Welt beklagen und die Schuld grundsätzlich nur bei anderen suchen, taugt der Roman eher weniger, denn selten hat es ein humorbefreiteres Werk gegeben. Nur Wut allein schreibt keine Bücher.

Karen Duve: „Macht“. Verlag Galiani Berlin. 416 Seiten, € 21,99.