Lektüre der Zukunft kommt direkt aus der Steckdose – Buchmesse: Elektronische Technik immer bedeutender

Von Bernd Berke

Frankfurt. Es ist schon erstaunlich: Mögen andere Branchen auch klagen – der Buchhandel, so scheint’s, wächst und gedeiht. Und das, obwohl man doch allenthalben den Verfall der Lesekultur beschwört. Zur Eröffnung der 47. Frankfurter Buchmesse wurden gestern die neuesten Zahlen bekannt. Danach verzeichnete man bis zum Herbst ein Umsatzplus von zwei Prozent gegenüber 1994.

Signal für den Wohlstand: Auch die Messe selbst ist nochmals angeschwollen – auf 6497 Verlage an Einzelständen (plus 2392 kollektiv präsentierte) und auf 330 000 verschiedene Bücher (davon 93 000 Neuerscheinungen). Weltmeister in der Produktion neuer Titel sind übrigens die Briten vor Deutschland und den USA.

Gewiß: Ein Teil des Geldes wird mittlerweile mit elektronischen Medien (CD-Rom) verdient. Gerhard Kurtze, Vorsteher beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels, vermag aber nicht zu sagen, um welche Größenordnungen es dabei geht.

Der Computer gehört dazu

Immerhin: Rund neun Prozent der deutschen Haushalte verfügen bereits über Personalcomputer mit CD-Rom-Laufwerk, aber nur in Frankreich hat man schon exakte Statistiken zur Mediennutzung. Danach werden etwa 7,5 Prozent des Buchhandels-Umsatzes mit Multimedia-Produkten erzielt.

Doch kaum sind die silbernen Datenscheiben normaler Bestandteil der Buchmesse, da öffnet sich schon ein neues Einfallstor für die Computertechnik. Kurtze kündigte einen ersten Versuch der Verlage mit „Online“-Informationen an, der schon auf der Messe seine Premiere erlebt und Mitte 1996 zur breiteren Pilotphase ans Netz gehen soll. „German Publishing Infoline“ (GPL) heißt das Wortungetüm.

Volltexte von zu Hause aus abrufen

Dahinter verbirgt sich die Möglichkeit, per Computer von daheim oder irgendwo sonst zum Beispiel umfangreiche Buchkataloge abzurufen und elektronisch durchzublättern. Schon bald sollen sogenannte „Volltexte“ – also Inhalte ganzer Bände – durch die Leitung kommen. Solche Bücher aus der (Telefon)-Steckdose darf man dann natürlich nur gegen Nutzungsgebühr anzapfen.

Bei den herkömmlichen Büchern zwischen zwei Deckeln gibt es unterdessen ein Problem, das der Elektronik nicht droht: außerordentlich gestiegene Papierkosten, die – so bedauerten die Spitzenfunktionäre des Handels in Frankfurt – nicht mehr ohne weiteres auf die Preise aufgeschlagen werden könnten.

Bücher aus und über Österreich sind diesmal das Schwerpunktthema der Buchmesse. Erstmals wird damit ein deutschsprachiges Land besonders hervorgehoben. Doch die Autoren und Verlage aus der Alpenrepublik wollen zeigen, daß sie nicht als Sonder- und Spezialfall „deutscher“ Literaturen abgehandelt werden können, sondern einen höchst eigenständigen Beitrag zum Weltgeist leisten.

Warten auf die Preisvergabe

Festliche Krönung der Messe soll – wie in jedem Jahr – die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Paulskirche sein. Doch um die Preisträgerin, die Orientalistin Annemarie Schimmel, gibt es bekanntlich heftige Debatten, die auch jetzt nicht verstummen wollen. Der Börsenverein verteidigte auch gestern die Entscheidung seiner Jury.

Die Preisvergabe stehe für die Hoffnung, einen vernünftigen Dialog mit dem Islam in Gang zu setzen und so dem Fundamentalismus gerade Einhalt zu gebieten, hieß es sinngemäß. Von wem der ursprüngliche Vorschlag kam, Frau Schimmel zu ehren, wurde nicht verraten. Gerhard Kurtze vom Börsenverein wollte nur zwei Gerüchte vom Tisch haben: Die Anregung sei weder von Bundeskanzler Kohl noch von Bundespräsident Herzog gekommen.

Frankfurter Buchmesse, 11. bis 16. Oktober für Fachbesucher (fürs allgemeine Publikum nur Samstag/Sonntag, 13. und 14. Okt.), jeweils 9 bis 18.30 Uhr. Tageskarte: 12 DM.

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KOMMENTAR

Wird die CD-Rom bald schon altmodisch sein?

Denken wir mal ein wenig voraus: Es ist gut möglich, daß wir bald nicht nur Bücher mit nostalgischen Gefühlen betrachten, sondern daß wir in naher Zukunft auch von der „guten alten CD-Rom“ reden.

Diese Datenplatten, die das Buch nicht ablösen, aber ergänzen sollen, wären nämlich dann schon wieder veraltet. wenn auf breiter Front eintritt, was gestern zum Start der Frankfurter Buchmesse als Testprojekt angekündigt wurde: Die Verlage wollen Texte. Bilder und Töne kompletter Bände per Telefonnetz („online“) zur Verfügung stellen.

Das hört sich verführerisch bequem an, hätte man doch die Möglichkeit, gegen Gebühr praktisch immer und überall auf solche Angebote zurückzugreifen. Sprich: Es gäbe keine Ladenschlußzeiten für Leser. Wäre das nicht sogar ein Zugewinn an Kultur?

Doch zugleich taucht auch ein Menetekel am Horizont auf: Während die Buchhändler sich auf die CD-Rom-Technik noch einstellen konnten, indem sie – mehr oder weniger widerstrebend – die Platten einfach mit in ihr Angebot aufnahmen, so könnten sie mit der neuen Variante ausgespielt werden. Denn das Buch, das „aus der Steckdose“ quillt, hätte eigentlich keinen Zwischenhandel mehr nötig. Der Verbraucher könnte direkt mit dem Verlag in Verbindung treten. Und dann müßte der heutige Buchhändler entweder aufgeben oder selbst zum Anbieter, zum Verleger werden.

Da droht also auf mittlere Sicht eine ganze Branche „wegzubrechen“. Die Frage ist, ob man diese Entwicklung ganz dem freien Spiel der Kräfte überlassen sollte.

Bernd Berke




Grass: Das Geschenk der Einheit vergeudet – Kritische Töne auf der Frankfurter Buchmesse

Von Bernd Berke

Frankfurt. Ein Hauptgeschäft bei der Buchmesse ist der Verkauf internationaler Nachdruck-Lizenzen. Wenn dieser Handel getan ist, beginnt ein womöglich noch schwierigeres „Geschäft“, das der Übersetzung.

Nicht jeder Autor kann sich gleich mit einem ganzen Kranz renommierter Dolmetscher umgeben wie Günter Grass, der sich gestern in Frankfurt mit einem Dutzend beinahe anonymer Sprachkünstler aufs Podium begab, die just seinen umstrittenen Bestseller „Unkenrufe“ in alle möglichen Idiome übertragen haben — von Katalanisch bis Türkisch, von Dänisch bis Polnisch. Welche Untiefen sich dabei auftun können, machte der polnische Übersetzer deutlich, der die Aufgabe hatte, gebrochenes Deutsch redende Polen sprachlich ins Polnische „hinüberzuretten“.

„Auschwitz immer mitdenken“

Einmütig stellten die Übersetzer fest, daß Grass‘ Roman mit seiner Kritik an deutschen Zuständen allerorts auf größere Zustimmung rechnen könne als eben in Deutschland. Damit war man bei einem Thema der Messe. Die ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Rostock und anderswo lassen manche schon um die internationale Attraktivität des Buchmesseplatzes Frankfurt bangen. Nicht von ungefähr hatte zur Eröffnung Außenminister Kinkel seinen Redetext spontan geändert und Abbitte geleistet.

Und Günter Grass, seinerzeit einer der lautesten Mahner vor der deutschen Einheit, bei der man „Auschwitz immer mitdenken“ müsse, fühlt sich jetzt natürlich bestätigt: „Aber ich bin alles andere als froh darüber.“ Seine schlimmsten Befürchtungen seien übertroffen worden, meinte Grass: .„Was wir mit dem Geschenk der Einheit gemacht haben, ist nur noch beschämend.“ Grass verteidigte das Asylrecht als „Kronjuwel unserer Verfassung“ und nannte gar den heutigen Verteidigungsminister Rühe einen „Skinhead mit Scheitel“, weil er das Thema Asyl unnötig „heiß geredet“ habe.

Noch mehr Elektronik in den Hallen

Beim Rundgang durch die Messehalle 6 (deutschsprachige Verlage) fällt sofort auf, daß erneut mehr Elektronik Einzug gehalten hat als im Vorjahr. Da ist es wirklich nur noch Vollzug, wenn – wie berichtet – dieser Art von „Literatur“ 1993 eine Halle eingeräumt wird. Den Reiseführer von morgen etwa tastet man mit der Computer-Maus ab. Dann zeigt er einem Landkarten und Fotos und erzählt einem mit Schrift, Ton und vielen bunten Bildern, was Y-Dorf und X-Stadt alles zu bieten haben. Wozu dann noch reisen, möchte man fast fragen.

Noch schlimmer kommt es dann in der sogenannten „Rationalisierungs-Schau“ des Buchhandels, die man glatt für einen Ableger der Computermesse „Cebit“ halten könnte. Der Elektronik-Konzern Philips hat dort eine regelrechte „Spielhölle“ eingerichtet, übrigens einer der bestbesuchten Stände der Messe.

Auf der Suche nach einem oder gar dem Trend wird man bei rund 101.000 Neuerscheinungen kaum fündig werden. Natürlich gibt es Saisonware wie etwa die Olympiabücher, doch im Grunde zeigt sich immer deutlicher, daß man schlichtweg alles zwischen zwei Buchdeckel bringen und es dann verkaufen kann, wenn nur das Marketing bis hin zur „Außenhaut“ (sprich Umschlag) des Buches stimmt. Gestaltung wird immer wichtiger, Inhalte kommen erst lange danach.

Nochmals zugenommen haben die langen Reihen der Verlage mit esoterischem Programm, die uns alle möglichen Ersatzgötter und Lebenshilfen andienen. Dagegen wirkt der Bezirk der „linken“ Verlage schon wie ein kleines Reservat.




Buchmesse: „Reden wir die Krise nicht herbei!“ – Zahl der Aussteller in Frankfurt geschrumpft

Von Bernd Berke

Frankfurt. „Reden wir die Krise doch bitte nicht herbei!“ Beinahe flehentlich klang gestern Dorothee Hess-Maier, Vorsteherin beim Börsenverein des deutschen Buchhandels. Was sie zur gestern Abend eröffneten 44. Frankfurter Buchmesse zu sagen hatte, erinnerte ein wenig an das Pfeifen im dunklen Wald. Natürlich, so Frau Hess-Maier, beginne sich auch der Buchhandel um die allgemeine Rezession Sorgen zu machen, doch gehe es der Branche immer noch besser als manch anderem Einzelhandelsbereich.

Obwohl das Buch also offenbar noch kein Notfallpatient ist, griff Frau Hess-Maier doch zu einem medizinischen Vergleich: „Wenn der Buchhandel einen Schnupfen hat, muß man ihm nicht gleich die Schwindsucht andichten.“ Also doch ein leichtes Unwohlsein? Nicht doch! Das neueste Krisengerede entspringe wohl mal wieder der „Untergangsfreude“ der deutschen Intellektuellen.

Auch Klaus G. Saur sah sich gestern bemüßigt, die Wogen zu glätten. Der Vorsitzende des Verleger-Ausschusses im Börsenverein formulierte, keine Krise sei eingetreten, lediglich „eine Beruhigung der Zuwachsraten“. Er und Messedirektor Peter Weidhaas mußten freilich einräumen, daß die Buchmesse erstmals seit 1954 einen Rückgang der Ausstellerzahl (um immerhin 113 ausländische und 68 deutsche Verläge) verzeichnet. Vor allem zahlreiche Häuser aus Frankreich und Italien mochten  oder konnten sich eine Teilnahme nicht mehr leisten. Daß man mît 103 beteiligten Ländern dennoch einen Rekord melden kann, liegt nur an der Aufspaltung der ehemaligen UdSSR und des früheren Jugoslawien.

Osteuropa fällt als Markt für deutsche Bücher fast komplett aus

Ein Alarmzeichen ist ferner das praktisch komplette Wegbrechen der osteuropäischen Märkte für deutsche Bücher. Wurden einst jährlich bis zu 15 Millionen Stück (vorwiegend aus der Ex-DDR) dorthin geliefert, sind es jetzt gerade mal 30.000 Exemplare. Hier will man, unterstützt von Sponsoren und Bundesregierung, heftig gegensteuern.

Fast beiläufig verkündeten Saur und Weidhaas eine grundlegende Neuerung für das Jahr 1993: Dann will man den elektronischen Medien (vom Video über die Info-Platte bis zur Computersoftware) auf der Buchmesse eine eigene Halle zur Verfügung stellen. Saur machte seinen Frieden mit jenen Medien, die früher als größte Bedrohung der Lesekultur galten: „Wir Verleger handeln doch nicht mit Papier, sondern mit Informationen.“

Wie in den Vorjahren, so ist die Messe auch diesmal nur an zwei Tagen fürs breite Publikum geöffnet – am Samstag und Sonntag (3./4. Oktober), jeweils von 9 bis 18.30 Uhr. Bis dahin bleibt das Fachpublikum unter sich.

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Roman auf Diskette?

In Frankfurt erlebt man in diesem Jahr die letzte reine Buchmesse. Im nächsten soll ein großer Bereich für elektronische Medien freigehalten werden. „Bücher“ auf Diskette oder CD, mit blitzschnell abrufbaren Informationen, zieren zwar die Wohnung nicht so wie ein herrlich volles Regal, sparen aber mächtig Platz.

Nicht nur deswegen haben sie Zukunft. Auch der Zugriff auf lexikalische Informationen erfolgt hier wesentlich rascher und effektiver als beim mühsamen Durchblättern herkömmlicher Papier-Lektüre. Die Japaner haben dies schon auf der Buchmesse 1990 eindrucksvoll demonstriert.

Ist es Feigheit und Kapitulation vor dem früher so heftig bekämpften „Feind der Lesekultur , wenn der Buchhandel die Elektronik in seine heiligen Hallen einläßt? Es ist eine wahrscheinlich (über-)lebensnotwendige Reaktion des gebeutelten Verlagsgewerbes auf verändertes Konsumverhalten. Die Kölner „photokina“ hat es ja gerade erst gezeigt: Vermutlich werden wir schon bald daheim ganze Zimmer für die Vielfalt der untereinander vernetzten audiovisuellen Medien brauchen.

Hoffentlich verderben wir uns dann nicht die langen Herbst- und Winterabende, indem wir den neuen Roman am Bildschirm lesen. Sondern im guten alten Lese-Eckchen.

Bernd Berke