Meistens streng – auch zu sich selbst: Briefe von Elias Canetti

Man kann es im Register nachschlagen: Die hier versammelten, rund 600 Briefe von Elias Canetti („Die Blendung“, „Masse und Macht“) richten sich mitunter an illustre Adressaten. Gleich zu Beginn des voluminösen Briefbandes, der 1932 einsetzt und bis zu Canettis Todesjahr 1994 reicht, sind beispielsweise Schreiben an Thomas Mann, Alban Berg, Hermann Broch und Hermann Kesten zu lesen. Um nur wenige Namen anzuführen. Und dabei hat sich Canetti selbst einen schlechten Briefschreiber genannt.

Nun muss aber ein weiterer Teil der Wahrheit heraus: Elias Canetti hat zahllose Briefe offenbar vor allem dann geschrieben, wenn es um Nutz‘ und Frommen fürs eigene Werk ging. Nicht so sehr (literatur)theoretische Reflexionen hat er im Sinn, sondern häufig strategische oder taktische Winkelzüge, um sich Leute gewogen zu machen – Schmeicheleien inbegriffen. Der Titel des Buches („Ich erwarte von Ihnen viel“) bezeichnet hingegen eher die offensivere Variante.

Die Mühen der Ebenen

Schier endlos kommen einem etwa die Episteln an Lektoren und Zeitschriften-Herausgeber vor, die heute allenfalls noch Fachleuten namentlich bekannt sind. Gar vieles dreht sich zudem um die alltäglichen Mühen der Ebenen und dabei wiederum nicht selten um finanzielle Bedrängnisse.

Zunächst vor allem aus dem Londoner Exil (seit 1938), viel später dann vorwiegend aus Zürich kommen seine Briefe. Die jeweiligen Antworten der Briefpartner(innen) enthält der auch so schon sehr umfangreiche Band nicht, so dass das Ganze über weite, weite Strecken wie ein Monolog ohne Echo wirkt, wie ein ständiges, zuweilen fruchtloses Anschreiben gegen allerlei Widrigkeiten.

Canetti hat, zumal nach dem Zweiten Weltkrieg, ziemlich genaue und manchmal rigide Vorstellungen davon, wann, wie und wo seine Schriften herauskommen sollen. Das ist – auf Länge gesehen – eine Lektüre, die uns Heutigen nicht immer allzu spannend vorkommen mag, sofern man sich nicht auf Canetti spezialisiert hat.

Zorn auf Enzensberger und Reich-Ranicki

Natürlich zeigen sich, allerdings vielfach eher nebenher und gleichsam in gedämpfter Form, auch zeitgeschichtliche Zusammenhänge und Debatten früherer Tage. Allerdings scheint Canetti sich beispielsweise nicht allzu viel aus „1968 in Paris“ gemacht zu haben, obwohl er im legendären Mai/Juni dort gewesen ist. In den Briefen spiegelt es sich jedenfalls kaum wider. Gorbatschows „Glasnost“ weckte mit allen Folgeerscheinungen gegen Ende seines Lebens Canettis Hoffnung auf eine friedlichere Welt. Aber auch das handelt er eher en passant ab.

Ist man für Literaturbetriebs-Tratsch empfänglich, erhält man stellenweise Nahrung. Canetti regt sich geradezu königlich über negative Rezensionen auf, die ihn betreffen. Prominentes Beispiel, bezogen auf Kritiken über den 1963 erneut publizierten Canetti-Roman „Die Blendung“: „Enzensberger fand ich armselig, ich hab mich für ihn geschämt. Es ist offenkundig, dass er das Buch nicht wirklich gelesen hat, er hat nur, ein Schmetterling, da und dort genascht.“ Anno 1968 über den einflussreichen Großkritiker: „Über den Reich-Ranicki lohnt es kaum, ein Wort zu verlieren. Ich habe es nicht besser erwartet.“ Und in einem weiteren Brief desselben Jahres: „…denn das ist schon geistig ein schwer erträglicher Mensch, ein ahnungsloser Schulmeister…“

Gelegentlich scharfe, aber meist treffliche Urteile

Überdies erfährt man nach und nach etwas über Canettis Meinungen zu gleichaltrigen oder jüngeren Zeitgenossen wie z. B. Theodor W. Adorno, Jean Améry, Günter Grass, Uwe Johnson, Arno Schmidt, Thomas Bernhard (von dem er zusehends abrückte), Wolfgang Koeppen, Lars Gustafsson („der seltene Fall eines Dichters, der einen als Person nicht enttäuscht“) oder Paul Nizon. Nehmt alles nur in allem, so sind seine Urteile gelegentlich scharf, aber zu allermeist trefflich.

Und die großen Vorläufer? Man findet Lichtenberg, Büchner und Kafka gepriesen als Gipfel deutschsprachigen Schrifttums, als weitere Fixsterne werden Stifter, Hebbel, Robert Musil und Karl Kraus benannt. Und man findet immer wieder Sätze, die man sogleich unterschreiben möchte: „Ich kann von Svevo nie genug bekommen.“ Bedenkenswert auch diese Charakterisierung der Prosa Franz Kafkas: „Die deutsche Sprache, deren Reichtum und Überschwang man immer gekannt hat, ist hier von einer Enthaltsamkeit und Strenge, die man ihr kaum zugetraut hätte.“

Hofmannsthal hingegen ist nach Canettis Auffassung bei weitem überschätzt, und ein fremde Schöpfungen anzapfender Spaßvogel wie der heute weitgehend vergessene Parodist Robert Neumann findet erst recht keine Gnade.

„Das Recht, in Ruhe davonzugehen“

Ganz entschieden grenzt sich Canetti gegen die grassierende Bestselleritis ab. Also muss sein Verdikt über das in Dortmund erscheinende Branchen-Magazin „Buch-Report“ im Jahr 1977 auch besonders harsch ausfallen. Zitat aus einem Brief an Fritz Arnold (nach Herbert Göpfert neuer Lektor Canettis beim Hanser Verlag): „Ich kann nicht glauben, dass Sie von mir ernsthaft erwartet haben, dass ich für diese erbärmliche Bestseller-Retorte etwas schreibe. Das würde ich unter gar keinen Umständen tun.“

Was sein Lebenswerk angeht, legt Canetti bei sich selbst strengste Maßstäbe an. Er findet, dass man erst dann „in Ruhe davongehen“ (also in Frieden sterben) dürfe, wenn man das persönlich Zugedachte und Aufgetragene erfüllt habe. Er sieht sich 1971 noch lange nicht am Ziel: „Schon ich z. B. hätte nicht das Recht, in Ruhe davonzugehen, denn wie wenig habe ich geleistet, gemessen an dem, was ich leisten sollte. Es gibt kein Erbarmen für den, der sich sehr ernste Ziele gesteckt hat.“ Wohlgemerkt: Das schreibt einer, der kurz darauf den Büchnerpreis (1972) und später den Literaturnobelpreis (1981) erhalten hat.

Passagen über seine erste Frau Veza und seine zweite Frau Hera, die er beide durch frühen Tod verloren hat, sind in der vorliegenden Auswahl relativ spärlich und angenehm diskret gehalten. Anrührend sodann die spürbare Begeisterung des „späten Vaters“ Canetti (Jahrgang 1905) über das Aufwachsen seiner 1972 geborenen Tochter Johanna. Hier wird der oft zu sich und anderen so strenge Mann als sanftmütiger Mensch sichtbar, der er wahrlich auch gewesen sein muss.

Elias Canetti: „Ich erwarte von Ihnen viel. Briefe“. Carl Hanser Verlag, 864 Seiten, 42 €.

 

 

 




„Jeder soll leben, für immer“ – „Das Buch gegen den Tod“ aus dem Nachlass von Elias Canetti

Es ist kein erzählendes Werk, auch keine Lyrik, kein Tagebuch und keine philosophische Abhandlung. Was aber ist Elias Canettis „Buch gegen den Tod“?

Schwer zu sagen. Man liest zahllose einzelne Sätze und Absätze, oft in Paradoxien zugespitzt, vielfach in aphoristisch vollendeter Form. Bruchstücke einer großen Konfession. Eine imponierende, sprachlich und gedanklich funkelnde Materialsammlung – wider den Tod. Ein „unmögliches“ Unterfangen also? Doch genau solche verzagten, schicksalsergebenen Gedanken hätte Canetti nicht gelten lassen. Obwohl auch er gelegentlich solche Anwandlungen hatte. So bezichtigt er seine eigenen Mühen einmal mit diesen Worten: „…nichts als ein Prahlen und von Anfang zu Ende so hilflos wie jeder andere.“

Zeitlebens hat Elias Canetti („Die Blendung“, „Masse und Macht“) Sätze und Gedanken aufgehoben, die sich dem Tod widersetzen, die ihn weder bejahen noch hinnehmen. Das stetig anwachsende Werk ist fragmentarisch geblieben. Canetti selbst hat vorgeschlagen, dass andere daraus ein Buch machen sollten. Ohne sein weiteres Zutun.

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Nun liegt ein solcher Versuch vor. Für den Hanser-Verlag haben Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger sich der Aufgabe gestellt, Canettis Aufzeichnungen über den Tod in einen Zusammenhang zu bringen. Sie haben sich vor allem an eine zeitliche Abfolge gehalten, was Canetti zu Lebzeiten selbst erwogen hat: „Vielleicht würde es genügen, alle noch unpublizierten Aufzeichnungen über den Tod in chronologischer Folge aneinanderzureihen.“ Einen systematischen Plan fürs große Ganze hatte der vom Thema Besessene offenbar nicht. Er stürzte sich immer wieder hinein und schreckte doch davor zurück.

Zwar ist manches schon andernorts erschienen, doch rund zwei Drittel der Texte liegen erstmals gedruckt vor – und das trotz strenger Auswahl aus dem Nachlass. Die wesentlichen Aufzeichnungen reichen von 1942 bis in Canettis Todesjahr 1994.

Die Anfänge liegen also mitten im Zweiten Weltkrieg, woraus sich schon ein Antrieb herleiten lässt: der Protest, der Aufschrei gegen das allgegenwärtige Töten und Sterben. Schon das Zählen der Toten im Kriege raubt Canetti zufolge dem Einzelnen alle Würde. Hinzu kommen traurige Anlässe wie der frühe Tod des Vaters und später der Mutter, die Canetti niemals verwinden kann. Dies drängt ihn gleichfalls zum Schreiben.

„Der Gedanke an einen einzigen Menschen, den man verloren hat, kann einem Liebe zu allen anderen geben.“ Und also soll niemand sterben. Notiz von 1993: „Nicht einer, nicht ein einziger darf verlorengehen, jeder soll leben, für immer.“ Ein ungeheuerlicher Anspruch.

Canetti postuliert „ein allmächtiges Gefühl von der Heiligkeit jedes, aber auch wirklich jedes Lebens“. Seine Schlussfolgerung: „Ich anerkenne k e i n e n Tod.“ Oder auch: „Der Tod soll – ohne billigen Betrug – sein Ansehen verlieren. Der Tod ist falsch. Es ist unser Sinn, ihn falsch zu finden.“ Und so fort, in Hunderten von Formulierungen, die den Tod umkreisen und geradezu belauern; mal zornig und mal fintenreich.

Natürlich weiß ein scharfsinniger, freilich oft genug ins Surreale ausgreifender Denker wie Canetti, dass man es sich mit der Ablehnung des Todes nicht leicht machen darf – im Gegenteil. Dem Tod zu widersagen, bleibt seine lebenslange, sozusagen heroische Aufgabe. Also sucht er den Tod von allen Seiten her zu stellen und zu fassen, wie in einem unaufhörlichen Kampfgetümmel.

Dabei verwirft er harsch die Haltung anderer Schriftsteller. T. S. Eliot, der tote Dichter abqualifiziert, wird ebenso gescholten wie Hemingway mit seinem Kult des Tötens. Auch Thomas Bernhard, den Canetti zunächst als seinen Schüler schätzt, gebe – ähnlich wie Samuel Beckett – dem Tod nach.

Lodernd gegenwärtig muten die Äußerungen zum israelisch-arabischen Sechstagekrieg im Juni 1967 an. Canetti, der Mann jüdischer Herkunft, fühlt sich nach eigenem Bekunden vom Bild toter ägyptischer Soldaten so sehr verfolgt wie von Auschwitz: „Ich kann zwischen Toten keine Unterschiede machen.“ 1991 wird er dann vehement ein entschiedenes Einschreiten gegen Saddam Husseins Größenwahn fordern.

Rastlos sucht Canetti nach Mitteln der Gegenwehr (als wolle er eine neue Religion über alle Religionen hinaus stiften): ob nun in der Bibel (anfängliche Unsterblichkeit Adams, bis er vom Apfel aß), in den Mythen der Aborigines oder in Lehren von der Wiedergeburt, selbst in der am Horizont aufscheinenden technischen Möglichkeit, sich für kommende Zeiten einfrieren und eines Tages auftauen zu lassen. Auch Zeugungskräfte werden vom virilen Canetti, der noch mit 66 Jahren Vater einer Tochter geworden ist, als hoffnungsvolles Zeichen der Wiedergeburt aufgerufen.

Elias Canetti hat das Arsenal wider den Tod reichhaltig angefüllt, die Formulierungen liegen bereit. Was künftige Menschen daraus machen werden, können wir nicht wissen.

Und wer weiß, was uns von Canetti selbst noch erwartet. Er hat verfügt, dass seine Tagebücher und Briefe bis ins Jahr 2024 nicht publiziert werden dürfen. Ob sein Oeuvre danach noch einmal eine andere Dimension bekommt?

Elias Canetti: „Das Buch gegen den Tod“ (aus dem Nachlaß herausgegeben von Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger unter Mitarbeit von Laura Schütz). Mit einem Nachwort von Peter von Matt. Carl Hanser Verlag, München. 352 Seiten. 24,90 Euro.




Nur ein Ausruf statt eines vierfachen Nachrufs: Verfluchter Tod!

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Die Einschläge kommen näher? Nein, mit diesem billigen Schauder-Scherzchen kommen wir nicht davon, wenn – wie dieser Tage – kulturelle Vorbilder in rasend kurzer Abfolge sterben.

Man verzeihe die in der Summe beinahe lieblos wirkende Aufzählung, doch sie alle haben in den letzten Tagen die Welt verlassen: der Dirigent Lorin Maazel, der Schauspieler Gert Voss, die Schriftstellerin Nadine Gordimer und der Rockgitarrist Johnny Winter.

Ganz verschiedene Gestalten der Künste, fürwahr. Doch jede(r) eine große Schöpferkraft auf seinen Feldern. Menschen, die in beispielhafter Weise verwirklicht haben, was ihnen gegeben war.

Dies ist kein Nachruf. Erst recht kein vierfacher. Ich kann wahrlich nicht behaupten, dass ich von allen vier Werken gleich viel verstünde. Wer könnte das schon? Aber man ist – mehr oder weniger – von diesen immensen Lebensleistungen berührt worden.

Gewiss: Auch mit jeder armen, unscheinbaren Seele schwindet ein Stück Welt. Doch in den genannten Fällen gehen zudem ganze Welten dahin, die viele Menschen miteinander verbunden haben.

Man möchte stets wieder „Oh nein!“ ausrufen, wenn man solche Nachrichten hört. Man möchte dem elenden Tod noch und noch widerstehen. Erhellendes dazu lese man beim heroischen Todes-Widersacher Elias Canetti nach.

Man verliert auch etwas von sich, wenn solche Künstler gehen. Allein das Bewusstsein, dass von ihnen nichts Neues mehr kommen wird, lässt uns wieder ein wenig altern. Auch die Erwartung und die Ausrichtung auf Zukunft sterben stückweise. Wir werden es weiterhin erleben – und ersterben.




Gegen die Herrschaft des Todes schreiben – Elias Canetti wird 85

Einer der letzten Schriftsteller mit universalem Gepräge: EIias Canetti überzeugt als Romancier ebenso wie als Essayist („Das Gewissen der Worte“), als Dramatiker („Die Hochzeit“) ebenso wie als Theoretiker – und das nicht nur im geisteswissenschaftlichen Bezirk: „Man kann heute nicht mehr schreiben, ohne etwas von Naturwissenschaften und Technik zu verstehen“. Heute wird der Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1981, der 1975 auch den Dortmunder Nelly-Sachs-Preis erhielt, 85 Jahre alt.

Aufklärer im umfassenden Sinn, gehört er zu den Autoren, zu denen man schon nach wenigen Seiten Vertrauen fassen kann, so daß man geneigt ist, ihm auch durch gewagte Gedankengänge zu folgen. Ein höchst empfehlenswerter „Einstieg“ in sein Werk ist das 1987 erschienene Buch „Das Geheimherz der Uhr“ – genauer als in dieser aphoristischen Sammlung kann man mit Sprache schwerlich umgehen.

Ein Hauptwerk ist die Studie „Masse und Macht“ (1960), an der Canetti 35 Jahre lang gearbeitet hat und die bis heute Standardwerk zum Thema Massenwahn ist. Beispiel für seine provozierenden Thesen: Canetti bringt hier die notorische Vorliebe der Deutschen für den Wald (ein Stamm stramm neben dem anderen) mit dem Hang zum „Soldatischen“ in Verbindung.

Unglaublich spät, erst in den 60er Jahren, wurde Canetti von einer breiteren Leserschaft wahrgenommen. Dabei hatte er bereits 1936 mit dem Roman „Die Blendung“ ein geradezu bestürzend eigenständiges Schreckenspanorama entworfen. Das Buch nötigte sogar Thomas Mann Achtung ab und kann in einem Atemzug mit Franz Kafkas Romanen genannt werden. Kafka, Karl Kraus, Robert Musil und Hermann Broch sind Canettis literarische „Wahlverwandte“; seine ins Satirisch-Groteske ausgreifende Montage-Technik („präzise Übertreibung“) hat aber auch Entsprechungen in der bildenden Kunst, etwa bei George Grosz.

Steter Widerstand gegen die Zeit und Revolte gegen die Herrschaft des Todes sind zentrale Themen bei Canetti, er selbst sprach vom „Gegentraum gegen die Zerstörung“. Eben jene Zeitumstände zwangen ihn zu einem ruhelosen Leben in halb Europa: Er wurde 1905 in Rustschuk (Bulgarien) als Sohn spanisch-jüdischer Eltern geboren. 1911 übersiedelte die Familie nach Manchester. Nach dem Tod des Vaters ging er mit Mutter und Bruder 1913 nach Wien, lebte von 1916 bis 1921 in Zürich, ging dann bis 1924 in Frankfurt zur Schule, studierte in Wien Chemie. Er promovierte zum Doktor der Philosophie und emigrierte 1938 über Paris nach London. Dort und in Zürich wohnt er seitdem als freier Autor. Seit Entgegennahme des Nobelpreises lebt er völlig zurückgezogen.

Eine Lebensbilanz, die zugleich eine Bilanz des Jahrhunderts ist, zog Canetti in seiner Trilogie „Die gerettete Zunge“ (1977), „Die Fackel im Ohr“ (1980) und „Das Augenspiel“ (1985). Am vierten Band der Autobiographie arbeitet er ebenso wie an einer Fortsetzung von „Masse und Macht“.

Trotz seiner schlimmen Erfahrungen mit dem „Dritten Reich“ verfaßt Canetti seine Bücher in deutscher Sprache, die er mit acht Jahren unter strenger Anleitung seiner Mutter lernte: „Es war eine spät und unter wahrhaftigen Schmerzen eingepflanzte Mutter-Sprache“, bekannte er später. Und 1944 (!) schrieb er aus dem Londoner Exil: „Die Sprache meines Geistes wird die deutsche bleiben, und zwar, weil ich Jude bin“.

                                                                                                                    Bernd Berke