Dies und das in Wuppertal

Da kommt sie ja, die unverzichtbare Schwebebahn. (Foto vom 27. März 2011: Bernd Berke)

Wuppertal denke ich mir immer etwas abseits, im Windschatten des Ruhrgebiets, meinetwegen auch im toten Winkel von Düsseldorf liegend. Das mag ungerecht sein. Es ist halt nur so ein Gefühl. Und so geht’s auch weiter, nämlich vorwiegend assoziativ.

„Zuckerpuppe“ und Blankenese

Wie es mir jetzt wieder in den Sinn kam, hat es mit der Stadt u. a. folgende, durchaus ulkige Bewandtnis: Sie kam in zwei sehr populären Stimmungs-Schlagern vor – 1961 als Schlussgag in Bill Ramseys „Zuckerpuppe (aus der Bauchtanzgruppe)“, wo jene „Suleika“ gar nicht so orientalisch ist, sondern Elfriede heißt und offenbar just aus Wuppertal kommt. Außerdem zählte die Stadt 1981 zum Zielgebiet in Gottlieb Wendehals‘ Brüller „Polonäse Blankenese“, deren frohsinnstrunkener Weg bekanntlich „von Blankenese bis hinter Wuppertaaaal“ führt, wobei der Erwin der Heidi… Aber lassen wir das.

Fast wie eine Metropole

Galt Wuppertal den Schlagertextern etwa als Inbegriff von Provinz, schon namentlich irgendwie zum Schreien komisch? Sah man in Wuppertal einen gewissen Gegensatz zu allen halbwegs weltläufigen oder frivolen Anwandlungen, sozusagen einen Antipoden von Paris? Oder war es ein nahezu nicht existenter Ort, quasi ein Bielefeld mit anderen Mitteln? Gern würden wir diese Fragen als Forschungsauftrag vergeben – in welchem Fachgebiet auch immer. Wer will es – nun ja – wuppen?

Meine persönlichen Wuppertal-Begegnungen waren nur sporadisch. Als Volontär-Frischling für ein paar Monate in einer Lokalredaktion des Ennepe-Ruhr-Kreises stationiert, durfte ich Tag für Tag die Info-Leiste „Wuppertal“ mit Meldungen füllen, also im Dienste der Leser Blicke in die benachbarte Großstadt werfen. Von Gevelsberg aus gesehen, wirkte es tatsächlich wie eine Metropole.

Imposante Arbeit von Tony Cragg in seinem Wuppertaler „Skulpturenpark Waldfrieden“. (Foto vom 19. Juli 2009: Bernd Berke)

Außenposten zur Bewährung

Jahre später, als Jungredakteur im Kulturressort, wurde ich wiederum zunächst vor allem mit Wuppertal betraut. Während der damalige Ressortleiter die Theater in Bochum und Dortmund aufsuchte, durfte ich anfangs die darstellenden Künste in Wuppertal würdigen, wo das Schauspiel nicht gerade zu den ersten Adressen des Landes zählte. Auch waren zumal die winterlichen Fahrten dorthin nicht immer erfreulich. Wuppertal war ein Außenposten, auf dem man sich erst einmal zu bewähren hatte. Nach und nach, eigentlich recht schnell,  weitete sich dann der Horizont. Noch später, als Pina Bausch mit ihrer Wuppertaler Tanztheater-Compagnie immer berühmter wurde, fuhr ich umso lieber dorthin.

Als sich „Tuffi“ aus der Schwebebahn stürzte

Was wäre noch zu erwähnen? Sicherlich die einzigartige, 1901 eröffnete Schwebebahn, aus der sich 1950 ein Zirkus-Elefantenweibchen namens Tuffi zehn Meter tief in die Wupper stürzte und wie durch ein Wunder praktisch unverletzt blieb. Tuffi hatte sich wohl über den Einfall aufgeregt, sie zu Reklamezwecken in die Bahn zu bugsieren. Das Ereignis taucht seither in jeglicher Stadtwerbung auf.

Bemerkenswert auch die Talstraßen, die einem manchmal doch etwas beengt, beklemmend und duster erscheinen mögen. Und dann fällt einem vielleicht noch ein, dass der Cartoonist und Comic-Zeichner Gerhard Seyfried (Klassiker: „Freakadellen und Bulletten“, 1979) Wuppertal auf seiner legendären Deutschlandkarte als „Schnupperqual“ verortete. Wie gemein! Doch andere traf es ebenfalls hart: Dortmund war demnach „Abortmund“, Bochum firmierte als „Malochum“ und Hagen schlichtweg als „Unbehagen“. Was man sich so alles merkt.

„Stütze“ für Karl Marx

Sodann aber die berühmten Töchter und Söhne der Gegend: Ex-Bundespräsident Johannes Rau, der in Wuppertal Geburtsort und Heimstatt hatte. Vor allem aber die Dichterin Else Lasker-Schüler (1869 im späteren Wuppertaler Ortsteil Elberfeld geboren) und der Sozialist Friedrich Engels (1820 im anderen größeren Ortsteil Barmen geboren), ohne den Karl Marx finanziell hätte einpacken können. Von Wuppertal ging also welthistorischer Einfluss aus. Ganz nebenbei: Auch Horst Tappert („Derrick“) und Alice Schwarzer wurden in Wuppertal geboren. Noch nebenbeier: ein gewisser Christian Lindner ebenfalls.

Und ferner? Das oftmals besuchte, mit zahlreichen Meisterwerken gesegnete Von der Heydt-Museum. Der famose Skulpturenpark Waldfrieden. Der Zoo. Gar der Wuppertaler SV, der von 1972 bis 1975 wahrhaftig in der Ersten Bundesliga gespielt hat. Noch erstaunlicher: die rund 4500 (!) Baudenkmäler in Wuppertal, speziell eine enorme Vielzahl an Gründerzeit-Villen. Laut Wikipedia hat Wuppertal zudem die meisten öffentlichen Treppen Deutschlands (469 an der Zahl, mit insgesamt 12383 Stufen).

Verblüffend auch die nicht allgemein bekannte Tatsache, dass Fassbinder „Acht Stunden sind kein Tag“ ebenso in Wuppertal gedreht hat wie Wim Wenders Teile seines Roadmovies „Alice in den Städten“. Dessen eingedenk, tun weniger schmeichelhafte Redewendungen wie „Über die Wupper gehen“ (nahezu bruchlos ersetzbar durch „Über den Jordan gehen“) nicht mehr so weh.

Lassen wir’s gut sein. Eine solche Orts-Skizzierung aus der Distanz setzt sich aus lauter Klischees und Zufallseindrücken zusammen. Wie es sich anfühlt, dort zu leben, sei dahingestellt. Es soll aber auch nicht erprobt werden. Es sei denn, unter Euch wären Freiwillige…




„Die Wupper“: Roberto Ciulli inszeniert und spielt Else Lasker-Schüler in Düsseldorf

v.l.n.r. Luce Hoeltzener, Roberto Ciulli, Manon Charrier. Foto: Sebastian Hpppe/Düsseldorfer Schauspielhaus/Theater an der Ruhr

Luce Hoeltzener (li.), Roberto Ciulli, Manon Charrier.
Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus/Theater an der Ruhr

Roberto Ciulli wohnt auf der Bühne. Wenn das Licht ausgeht, wird er sich irgendwo dort schlafen legen, stelle ich mir vor. Bestimmt trinkt er auch morgens hier seinen Espresso. Auf jeden Fall sitzt er schon da, wenn die Zuschauer bei der Premiere „Die Wupper“ den Zuschauerraum des Düsseldorfer Central betreten, der Ausweichspielstätte des renovierungsbedürftigen Schauspielhauses.

Zwei junge Mädchen sitzen zu seinen Füßen. Ciulli erzählt wie ein Märchenonkel aus dem Leben von Else Lasker-Schüler. Aus ihrem Schauspiel von 1909 haben Ciulli und sein Dramaturg Helmut Schäfer vom Theater an der Ruhr in Mülheim eine biographische Collage entwickelt, die jetzt in Koproduktion mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus herauskam.

„Eine Performance“ heißt der Abend im Untertitel und er ist raffiniert gebaut. Denn wir hören das Stück als Hörspiel vom Band (Regie der Hörspielfassung: Jörg Schlüter) während die Schauspieler eine Art Pantomime dazu geben. Diese ist aber in vielen Szenen bewusst statisch gehalten, so als blickte man auf alte Familienfotos aus der Zeit um die Jahrhundertwende: Wie die Industriellenfamilie Sonntag beim Tee sitzt, im Stuhlkreis wie in einer Therapiegruppe. Einzelne Ausbrüche sind wohlkalkuliert eingesetzt, zum Beispiel die Kopulation im Kontor, die der Zuschauer aber nur als orgiastisches Gebrüll von Dr. von Simon (Peter Kapusta) wahrnehmen kann: Die berühmte Szene aus dem Film „Harry&Sally“, nur mit umgekehrten Vorzeichen, lässt grüßen.

Nur die drei Narren des Stücks, der Pendelfrederech (Steffen Reuber), die Lange Anna (Klaus Herzog) und der gläserne Amadeus (Simone Thoma), also Exhibitionisten, Transvestiten und Krüppel dürfen sein, wie sie wollen: Irre lachen, Unsinn reden, auf dem Vogelkäfig Geige spielen. Wie ein Chor kommentieren sie das Geschehen in der Fabrikanten-Familie. Heinrich (Achim Buch/Thiemo Schwarz), der Älteste, kann die Finger nicht von kleinen Mädchen lassen – das treibt ihn später in den Selbstmord. Eduard (Albert Bork) hat Tuberkulose, seine Schwester Marta (Katrin Hauptmann) liebt den Arbeitersohn Carl mit Hang zur Theologie (Fabio Menéndez), heiratet aber den Geschäftsführer der Fabrik, der eigentlich hinter dem Dienstmädchen Berta (Bettina Kerl) her ist. Das wird von Madame Sonntag (Rosemarie Brücher) verprügelt, die so den Frust über missratene Söhne und die nichtsnutzige Tochter abreagiert. Und währenddessen hört man das melodische Klappern der Webstühle wie fernes Grillenzirpen.

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus/Theater an der Ruhr

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus/Theater an der Ruhr

Roberto Ciulli spaziert indes als Else Lasker-Schüler (ELS) im Glitzer-Abendkleid mit Hütchen und altmodischem Kinderwagen durch die Szenerie. ELS erinnert das Schicksal der Familie Sonntag wie ihre eigene Kindheit in Wuppertal; denn hier wuchs die Bankierstochter auf, hier beobachtete sie Bürger und Proleten. Vor dem Faschismus floh die Lyrikerin in die Schweiz, dann nach Israel. Ihre Bücher wurden in Nazi-Deutschland verbrannt, sie starb verarmt am Ende des Krieges in Jerusalem. Ciulli flötet und zwitschert, spricht mit den Vögeln und streut Körner für sie auf die Bühne. In ihren letzten Jahren soll die Dichterin auf der Straße in Phantasiesprachen geredet haben, darauf spielt die Szene an.

Überhaupt ist die Inszenierung sehr poetisch; sie setzt Längen gezielt ein, verlangsamt manches Mal den Rhythmus, um Emotionen, Sehnsucht, aber auch Schmerz schweben und wirken zu lassen. Das hält nicht jeder Zuschauer aus; in unserer kommunikationsbeschleunigten Zeit ist man diese Art dramatische Achtsamkeit kaum mehr gewohnt. Zugleich lässt sich der unverwechselbare Stil des Theaters an der Ruhr, der immer avantgardistische Sprengkraft besaß und leider von zahlreichen Moden überholt wurde, hier nochmals erleben. Fast ein Anachronismus, aber ein sehr charmanter.

Weitere Vorstellungen 29. Februar, 2. März und 20. März (jeweils 19.30 Uhr). Infos:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




Flammende Botschaften aus dem Märchenreich – Ausstellung zu Leben und Werk der Else Lasker-Schüler

Von Bernd Berke

Wuppertal. Als Lyrikerin ist Else‘ Lasker-Schüler (1869-1945) weithin bekannt. Aber als Zeichnerin? Man glaubte, höchstens 40-50 Beispiele für diese Zweitbegabung finden zu können, als man vor zwei Jahren mit den Recherchen begann. Doch nun sind es annähernd 150 Kunst-Blätter von Hand der Dichterin, die man in einer großen Wuppertaler Ausstellung sieht.

Wer genügend Muße mitbringt, kann sich in der Barmer Kunsthalle tief ins Leben und Werk der deutsch-jüdischen Autorin versenken. Eine Fülle von Briefen, Tagebüchern, Manuskripten, Fotos und AmtsDokumenten belegt einen unbehausten Weg durch die Zeitläufte – von der Kindheit im Geburtsort Elberfeld (heute Wuppertal) über die wechselhaften Berliner Bohème-Jahre, die Vertreibung aus NS-Deutschland, das Schweizer Exil und schließlich ins einsame Dasein zu Jerusalem, wo sie vor 50 Jahren (22. Januar 1945) völlig verarmt gestorben ist.

Ein fortlaufender Bilder-Fries mit historischen Fotos ruft den geschichtlichen Zusammenhang wach; zudem zieht sich eine Leiste mit knappen lyrischen Lasker-Zitaten durch die Räume – lichterloh flammende Botschaften aus einem Märchenreich, Reaktionen einer äußerst empfindsamen Frau auf die Zumutungen der Welt. Auswahl und Präsentation lassen Emphase spüren. Man will uns gar vieles zeigen. Um so bedauerlicher, daß kein Katalog die Eindrücke bündig bewahrt.

Edler Giselher und Prinz von Theben

In den Zeichnungen und druckgraphischen Arbeiten der Else Lasker-Schüler tut sich eine phantastische kleine Sonderwelt auf. Da firmiert etwa der angehimmelte Gottfried Benn als edler „Giselhe(e)r“, die Dichterin selbst sieht sich in den Rollen „Jussuf“ oder „Prinz von Theben“. Oft ist das erschütternd in seiner Verletzlichkeit: Jussuf, inständig um Weltfrieden bittend. Jussuf, der sich aus Verzweiflung erhängt hat.

Die persönliche Mythologie speist sich aus vielen Quellen: Biblische Themen und Figuren treten hervor, exotische Szenarien und Requisiten indianischen oder orientalischen Ursprungs, auch aus Tibet und Afrika – Motive, die gleichfalls in ihren Gedichten anklingen. Einmal schreibt sie in ihr Tagebuch: „Die kleinen Spatzen sind meine einzige Freude seit sechs Jahren.“ Gedichte und Bilder sind, bei aller kunstvollen Formung, Ausdruck einer bitterlich einsamen Seele, die sich aus realer Bedrängnis ins Sternenweite ergießen will. Wir schauen da in ein Geisterland, bevölkert von traumnahen Wesen, die einander gut sein sollen, jedoch auch von Angst-Gestalten.

Es gab – neben der Ehe mit Herwarth Walden – freundschaftliche Kontakte zu Franz Marc, Karl Schmidt-Rottluff und zum Hagener Christian Rohlfs, von dem ein wundervolles Dichterinnen-Bildnis gezeigt wird. Ihre eigenen Blätter sind denn auch ersichtlich im Umkreis des deutschen Expressionismus entstanden. Manchmal hat sie auch (ähnlich wie der Wiener Gustav Klimt) ihre Bilder mit kleinen Goldauflagen durchwirkt. Sie nahm dazu freilich glitzerndes Bonbon-Papier.

Naive Hoffnung auf Stalin und Mussolini

Kaum minder bewegend sind einige Dokumente: Beispielsweise die um 1919 angefertigten Berichte der schweizerischen Spitzel, die ihr einen Kommunismus-Verdacht anhängen wollten. Sodann ihr (vielleicht nie abgeschicktes) Telegramm an Josef Stalin: „Marschall, ihr seid der gütigste und liebste Mensch der Welt.“ An jeden hat sie halt ihr bißchen Hoffnung geheftet, von dem sie meinte, daß er den deutschen Nazis Einhalt gebieten könnte – sogar an Benito Mussolini.

Traurige Sensation: Erstmals finden sich in dieser Ausstellung Belege für einen bislang bezweifelten Briefwechsel, den sie mit dem italienischen Faschistenführer beginnen wollte. Else Lasker-Schülers naive Hoffnung, nicht von dieser Welt und doch damals von etlichen Juden geteilt: Mussolini sollte Hitler den Antisemitismus ausreden. Statt einer Antwort ließ der „Duce“ über sein Büro der Dichterin am 17.3.1938 „saluti fascisti““ ausrichten – „faschistische Grüße“. Und das zu jenen Zeiten einer Jüdin im Exil…

Else Lasker-Schüler. Ihr Leben, ihr Werk, ihre Zeit. Ab Sonntag (9. April) bis 28. Mai. Kunsthalle Wuppertal-Barmen, Geschwister-Scholl-Platz (Tel. 0202/563 6630). täglich 11-19 Uhr. Eintritt 10 DM. Familienkarte 20 DM, jeweils inklusive Begleitheft. Kein Katalog.




Nur Sprache war ihre Heimat – Vor 125 Jahren wurde die Dichterin Else Lasker-Schüler in Elberfeld geboren

Von Bernd Berke

Die Dichterin Else Lasker-Schüler. heute vor 125 Jahren im späteren Wuppertaler Ortsteil Elberfeld geboren, gehört zu den großen Gestalten in der neueren deutschen Literatur. Sie schuf sich Heimat in der Sprache. Im Leben fand sie keine dauerhafte Bleibe.

Sie war eine leidenschaftliche Namens-Geberin. Ihren zweiten Ehemann Georg Lewin (vorher führte sie eine unglückliche Ehe mit dem Arzt Berthold Lasker) versah sie mit dem Künstlerpseudonym Herwarth Walden. Das behielt er bei, als er die berühmte Expressionisten-Zeitschrift „Der Sturm“ herausgab. Auch dieser Titel stammte von ihr. Ihren späteren Schwarm, den Lyriker Gottfried Benn, nannte sie in glühenden Gedichten „Giselher, den Tiger“ oder den Barbaren, sich selbst „Prinz von Theben“. Und so fort.

Wirkliche Heimat hatte sie nur in den Worten. Ansonsten blieb die Tochter aus einem wohlhabenden jüdischen Elternhaus, das fest im Rheinisch-Westfälischen verwurzelt war, unbehaust. Sie hatte nach ihren beiden Ehen nie wieder eine feste eigene Wohnung, darbte zeitweise in einem Berliner Kellerloch. Manche halten das für Bohème, doch es war Elend. In dem Gedicht „Frühling“ schrieb sie bittersüß: „Den Fluch, der mich durchs Leben trieb, / Begann ich, da er bei mir blieb, / Wie einen treuen Freund zu lieben…“

Als sie im Exil von Jerusalem am 22. Januar 1945 starb, war sie völlig verarmt. Deutsche Schmach: 1932 hatte der bessere Teil der Nation sie noch mit dem angesehenen Kleist-Preis dekoriert, 1933 mußte sie vor den Nazis in die Schweiz flüchten. Beim Grenzübertritt wurde sie, ganz verwahrlost, zunächst von der Sittenpolizei aufgegriffen…

Sternenweites Reich aus Träumen und Phantasien

Ihre Dichtungen sind nur zum Schein autobiographisch. Else Lasker-Schüler hat sich in ihnen ein zweites Leben zurechtgelegt und ihr irdisches Dasein verhüllt. Ihre Lyrik, beginnend mit dem Band „Styx“ (1902), ist ebenso feingliedrig wie schwärmerisch, ebenso visionär wie sendungsbewußt; sie entwirft ein kosmisch-sternenweites Traumreich aus (alt)orientalisch inspirierten Phantasien. eine märchenhafte Welt, gewoben aus christlichen und jüdischen Mythen. Ihre Liebesgedichte sprechen kostbar von grenzenloser, fließender Hingabe. Doch auch der Tod ist allgegenwärtig.

Sie ist keine unumstrittene Größe unter den modernen Klassikern. Manche trieben geradezu Kult mit ihrem Werk, andere taten sie leichtfertig als „Spinnerin“ ab. Auch die Germanisten haben sich an ihre höchst subjektiven Texte lange nicht so recht herangetraut. Vielleicht fehlten nur die gewissen „Schubladen“, in die man ihren Stil hätte einsortieren können. Mit dem Ansatz einer vermeintlich spezifisch „weiblichen Ästhetik“ kam man hier nicht allzu weit. Und dem Expressionismus, mit dessen wichtigsten Vertretern sie befreundet war, ist sie gleichfalls nur sehr bedingt zuzurechnen. Doch inzwischen gibt es, u.a. bei Artemis & Winkler und dtv, sehr brauchbare Sammelausgaben.

Auch die deutschen Theater haben sie schon beinahe schmählich vernachlässigt. Erst 1979 wurde ihr (schwer zu spielendes) Stück „Ichundich“ uraufgeführt. Mit dem „Arthur Aronymus“ dauerte es, nach der Zürcher Uraufführung von 1936, bis 1968. Erst da erlebte das Werk (in Wuppertal) seine zweite Inszenierung. Ihr heute bekanntestes Drama, „Die Wupper“ (geschrieben 1909), kam auch erst nach zehn Jahren, also 1919 auf die Bühne. Diese „böse Arbeitermär“ (Lasker-Schüler) sorgte 1958 im erzkatholischen Köln für eine beschämende Debatte über angebliche sexuelle Ausschweifung. 1991 gewann Frank-Patrick Steckel in Bochum das Stück entschieden fürs Gegenwartstheater zurück.




„Die Wupper“: Düsternis am blutigen Fluß – Frank-Patrick Steckel inszeniert Else Lasker-Schülers Stück in Bochum

Von Bernd Berke

Bochums Schauspielchef Frank-Patrick Steckel streift als Regisseur lieber durchs Gebirge als durch die Ebenen. Meist setzt er Stücke in Szene, die erst mühsam erklommen werden müssen. Da gönnt er sich (und dem Publikum) keinen Ablaß.

Diesmal ist es Else LaskerSchülers 1909 verfaßtes Drama „Die Wupper“, das schon wegen seines raunenden Dialektes etliche Schwierigkeiten birgt. Vor allem aber folgt das Stück nur bedingt der „Logik“ des Theaters, es mischt und legiert seine Themen eher auf lyrische Weise. Das abwechselnd zwischen Fabrikanten- und Arbeitermilieu des Jahrhundertbeginns spielende Drama wurzelt in bodenständigem, ja derbem Naturalismus, hebt aber in Traumgesichte ab. Auch sonst führt es in Zwischen-Welten: Zwischen den Glaubensrichtungen und gesellschaftlichen Schichten verlieren sich die Figuren in unerfüllten Sehnsüchten, seltsam in sich versponnen.

Durch das anfangs äußerst sparsam beleuchtete Bochumer Bühnenbild (Johannes Schütz) windet sich die Wupper als glut- und blutroter Lavastrom. Man sieht im Dunkeln windschiefe Hausfassaden, dahinter eine Überlandleitung von irgendwo nach nirgendwo. Die Menschen, die sich in dieser Szenerie stockend und stammelnd bewegen, wirken verwischt und verhuscht, wie nicht von dieser Welt. Ihr Auftreten ist kein wirkliches Da-Sein, sondern flüchtige Erscheinung, ihre glücklosen Begegnungen gleichen gefährlichen Stromschlägen.

Klassengegensätze ja, Utopien nein

Steckel verschärft gegenüber dem Text, der es meistenteils auf Stimmungswerte anlegt, das bei Lasker-Schüler nur ganz unterschwellige Thema der Klassengegensätze. Da wischt sich das Fabrikantenfräulein angewidert die Hand am Kleid ab, nachdem sie sie einem Arbeitersohn gereicht hat. Auffällig sodann eine Szene, in der vom Streik der Färber die Rede ist. Dem so dahingesagten Vorschlag an die Proletarier. die Herrschaft in der Fabrik an sich zu reißen „wie in Rußland“, folgt langes, dröhnendes Gelächter. Derlei sozialistische Anwandlungen, so könnte man schließen, scheiden derzeit aus. Wir rechnen zusammen: Die Klassen sind noch da, die Utopien aber nicht – ein Grund für die Bochumer Düsternis?

Zutat Steckels auch, daß er familiäre Beziehungen des Stücks in ein inzestuöses Zwielicht setzt. Im mittleren Akt, einer Jahrmarkt-Szene, wird aus dem allseits explosiven Gemisch eine Kirmes der todtraurigen Art, ein grellbunter Reigen der Hinfälligkeit. Diese und einige andere Szenen haben eine Intensität, die freilich nicht durchweg erreicht wird. Auch ist das insgesamt sehenswerte Ensemble nicht völlig homogen besetzt. Herausragend jedenfalls: Ulrike Schloemer, die Tage zuvor beim Lasker-Schüler-Abend die Rolle der Dichterin spielte und die nun die „Mutter Pius“ so vieldeutig anlegt, wie es ihr zukommt.

Nun denn: Einige „Gipfel“ des Stückes wurden erstiegen. Doch man stand ein wenig ratlos droben.