Eine Frau zwischen Sein und Nichtsein – Jacques Rivettes Film „Die Geschichte von Marie und Julien“

Von Bernd Berke

Jetzt bitte die Denkerstirn in Falten legen, denn im neuen Film von Jacques Rivette geht es schier um alles: Liebe, Tod, Zeitlichkeit und Erlösung; noch dazu jeweils um deren Gegensätze (also Hass, Leben, Ewigkeit, Verdammnis). Und um die Galaxien dazwischen. Man könnte ins Grübeln kommen über diesen reichen, brokatschweren Stoff.

Doch er wird ja gar nicht abstrakt verhandelt, sondern (auch im Sinne einer fast religiösen Inkarnation) wahrhaft fleischlich verkörpert. Über 150 Minuten erzählt Rivette ausgiebig „Die Geschichte von Marie und Julien“. Gelegentlich gibt er sich den Anschein eines kaltblütigen Beobachters. Doch es häufen sich Geheimnisse ohnegleichen, und am Ende steht man fast ehrfürchtig vor einem Mysterium der Liebe.

Marie und Julien begegnen einander anfangs gleich zweimal. Eine unterkühlte Szene bricht ab, die zweite zeigt ein Treffen mit wärmeren Gefühls-Valeurs. Aus derlei rätselhaften Perspektivenwechseln wird der Zuschauer nicht mehr entlassen.

Verschattetes Wesen aus einer anderen Sphäre

Julien (Jerzy Radziwilowicz) repariert, eingesponnen in seine einsame Wohnung, Teile von Turmuhren, deren Zahnräderwerke wie Folterinstrumente wirken. Vom Leben erwartet dieser traurige, etwas schwerfällige „Diener der Zeit“ nicht mehr viel. Seine Tage verrinnen bei tickenden Uhr-Geräuschen in verdunkelten Räumen. Nur eine Katze lebt bei ihm. Sie heißt „Nevermore“ – wie der Rabe in Poes berühmtem Gedicht und somit bereits Beschwörung düsterer Grenzwelten.

Erst die seltsam herkunfts- und berufslose Marie weckt Julien aus seiner Melancholie. Die ebenso animalische wie auratische Emmanuelle Béart (die mit Rivette schon „Die schöne Querulantin“ drehte) ist hier mal lockende Sirene, mal unbehaust Flüchtende, mal ganz Alltagsweib oder kapriziöse Geliebte, dann wieder schutzbedürftige Kindfrau, die sich in embryonale Haltungen zurückzieht. Vor allem aber ist sie ein seltsam verschattetes Wesen wie aus einer anderen Sphäre.

Kein Blut nach Verletzungen

Warum wirkt sie zuweilen so abwesend? Warum baut sie, als sie bei Julien einzieht, eine Dachkammer so penibel um? Weiß sie überhaupt selbst, was sie da tut? Oder ist alles nur ein Traum?

Weitere Handlungsebene, gleichfalls mit Rätseln angefüllt: Ohne sonderliche Lust oder kriminelle Energie erpresst Julien eine Frau, die als „Madame X“ (Anne Brochet) firmiert und der er mit Dokumenten schaden kann. Denn sie verkauft vermeintlich „antike“ Seide mit gefälschten Zertifikaten und soll überdies ihre Schwester in den Tod getrieben haben. Letztere geistert fortan als bleiche Wiedergängerin durch die Handlung. Diese junge Frau wiederum scheint in der selben gespenstischen Zwischenzone zu wandeln wie Marie, die (wie Julien herausfindet) sich einst aus Liebeskummer erhängt haben soll und nun nach Verletzungen nicht einmal blutet.

Zutiefst verwirrend, ja hirnzerstäubend: Julien hat vielleicht all die Zeit mit einer Untoten geschlafen, die durch seine Liebe „erlöst“ werden wollte. Die innigen Rituale des Eros mit all ihren VerIetzungs-Phantasien waren also womöglich Übergange zum Tode. Eine derart porös gewordene „Wirklichkeit“ könnte sich nun in eine endlose Warteschleife der Ungewissheit einfädeln. Doch den Schluss, der eine verrückte, geradezu jenseitige Hoffnung leuchten lässt, sollte man nicht verraten.

Ein ungemein vielschichtiger, irrlichternder Film zwisehen Sein und Nichtsein.




Lauter Damen und eine Leiche im Haus – François Ozons grandioser Film „8 Frauen“

Von Bernd Berke

Das Familienoberhaupt Marcel liegt tot im Bett, der Mann ist offenbar hinterrücks erstochen worden. Welch eine Symbolik zur potenziell vater- und männerlosen Gesellschaft: Denn in François Ozons gleichnamigem Film haben nur jene „8 Frauen“ ihre fulminanten Auftritte, die allesamt der Tat verdächtig sind.

Jede enthüllt fortan die möglichen Motive und Abgründe der anderen, jede hat etwas zu verbergen, keine bleibt ungeschoren. Ein geradezu teuflischer Reigen, der dem Kinozuschauer freilich göttlich vorkommen mag. Denn Ozon bietet eine unvergleichliche Riege französischer Schauspielerinnen auf. Schon angesichts der Namen schmilzt das Herz des Connaisseurs, wobei das Alter der Damen keine Rolle spielt: Emmanuelle Béart, Isabelle Huppert, Fanny Ardant, Cathérine Deneuve, Virginie Ledoyen, Danielle Darrieux.

Die Hure, die Furie, das Lämmchen, die Madonna

Das Mord-Haus ist vorweihnachtlich tief eingeschneit, das weibliche Oktett bleibt daher zwangsläufig unter sich. Es ist eine konzentrierte Situation wie in einem Agatha-Christie-Krimi, eine dichte psychologische Versuchsanordnung. Furios, offensiv und ohne Scheu vor melodramatischen Aufgipfelungen jongliert der Film mit derlei Prägeformen, vor allem aber mit Essenzen der Fraulichkeit: die Hure, die Furie, das Lämmchen, die Madonna – solche Klischeemuster nicht nur der 1950er Jahre (in denen die Handlung spielt) werden zugleich mit großer theatralischer Geste bedient und federleicht ironisch aufgehoben. Es ist eine Komödie im Gewand der Tragödie – und umgekehrt: Erstaunlich genug: Die punktgenau durchgehaltene Stilisierung nimmt dem Geschehen kein Tüpfelchen von seiner Lebendigkeit. Fast schon Nebensache, dass sich der Kriminalfall am Ende ganz überraschend löst.

Gar manches kommt in diesem atemberaubend wechselvollen Enthüllungsdrama zum Vorschein, wir lernen sämtliche Schau- und Kehrseiten der erotischen Reize kennen: Hass, Eifersucht, inzestuöse Wünsche, sexuelle Abweichungen. Ein Gebräu zwischen Skandal und Hysterie, aus dem die Mordgelüste nur so zu strömen scheinen.

Jede Darstellerin hat ihr großes Solo

Und wem soll man nur die Krone der Schauspielkunst geben? Etwa Cathérine Deneuve, die die großbürgerlich, kühle Hausherrin Gaby mit plötzlichen Bruchlinien verkörpert? Oder Isabelle Huppert als deren Schwester Augustine mit ihren Furcht erregend famosen Ausbrüchen eines missgünstigen Biestes und ihrer gloriosen Verwandlung zur glänzenden Dame? Oder doch Emmanuelle Béart als zunächst dienstbares, doch zutiefst zwielichtiges Hausmädchen, das sich in einer grandiosen Sequenz als erotischer Vamp zu erkennen gibt? Nun, man mag sich gar nicht entscheiden. Jegliche Diva hat eben ihre eigene Strahlkraft, ihre eigene Unwiderstehlichkeit.

Obgleich jede Darstellerin ihre großen Soli (zudem mit wunderbar prägnanten Gesangs- und Tanzeinlagen) bekommt, ist dies im besten Sinne ein Ensemblefilm mit ausgewogen komponierten Duetten, Duellen und Gruppenszenen. Wenn in der Schluss-Szene alle Beteiligten auf die Kamera zuschreiten wie nach dem Ende einer Theater-Vorstellung, so ist dies eine wahre Apotheose, eine feierliche Verklärung.

Und noch eine selten erreichte Qualität muss man erwähnen: die ausgeklügelte Farbgebung. Jeder Figur ist ein ganz bestimmtes Spektrum im penibel rekonstruierten Stile von Technicolor zugedacht. Kunstvoll glamourös wird das Geschehen überformt, doch zugleich dient das Mittel der Charakterisierung. So sehen eben Kino-Klassiker aus.




Diese besondere Art der Zuneigung – „Nelly & Monsieur Arnaud“ von Claude Sautet

Von Bernd Berke

In den neueren Filmen von Claude Sautet geht es um das knappe Scheitern der Liebe. Das Augenmerk gilt dem Prozeß, in dessen Verlauf Mann und Frau einander um Haaresbreite verfehlen. Unerbittlich ist dabei die Zeit: Eben wäre es vielleicht noch die Liebe gewesen, jetzt ist es ein anderes, ganz eng verwandtes (aber eben verwandeltes) Gefühl. So ging es in „Ein Herz im Winter“, so geht es in „Nelly & Monsieur Arnaud“.

Die beiden Hauptpersonen sind eine junge Frau, die sich gerade von ihrem Mann getrennt hat, und ein älterer Herr, vormals Richter in den französischen Kolonien, der seit längerem allein wohnt und nun biographische Bilanz ziehen, aufs Wesentliche zusteuern will: Er möchte seine Memoiren als Buch herausbringen.

Arnaud ist also drauf und dran, sich an die Welt zu wenden, während Nelly gerade in sich geht und ihr Seelenleben zu ordnen sucht. Zwei Lebensmomente mit Schnitt- und Kreuzungspunkten. Das folgende Spiel aus Näherung und Distanz ist hier schon im Keim angelegt. Nelly (die berückend schöne Emmanuelle Béart) hat Schulden und sucht einen Job, Arnaud (Michel Serrault) ist vermögend und braucht eine Schreibkraft, die seine Erinnerungen tippt. Wie passend! Also gibt er ihr schon mal 30 000 Francs extra und engagiert sie gegen weitere Bezahlung. Ein leiser Hauch von Prostitution umweht diesen Tauschakt im Café, jenem beliebten Ort der Balance zwischen Öffentlichkeit und Intimät.

Zunächst sind es Arbeitstreffen, nachmittags in Arnauds gediegener Wohnung. Aber wer könnte einer Nelly lange widerstehen? Schon ihr Augenaufschlag, wenn sie an Arnauds Computer sitzt – auch Maler wie Vermeer oder Renoir hätten sich wohl in diesen Anblick verliebt.

Nach und nach rinnt also in die tägliche Gewohnheit ein beiderseits anschwellendes Interesse aneinander, untergründige Erotik Inbegriffen. Auch als Zuschauer empfindet man es bald als grob und störend, wenn die anderen Menschen in diese sich mehr und mehr verwebende Zweisamkeit hereinplatzen – ob nun besuchsweise oder am Telefon.

Der noble Herr wird plötzlich richtig eifersüchtig

Als Nelly gar vom Verleger, der Arnauds Erinnerungen herausbringen soll, recht irdisch umworben wird, ziehen Wolken auf: Arnaud mag sich zwar keine Eifersucht eingestehen, er strengt sich an, eine lebenslang eingeübte noble Haltung zu bewahren. Doch dann bricht es – für einige Augenblicke – umso heftiger aus ihm hervor.

Die Beziehung, so mag es scheinen, bleibt ungelebte Möglichkeit. Oder sollte sie sich doch schon kostbar erfüllt haben, auch und gerade ohne sexuelle Vollbringung? Es bleibt in der Schwebe. Am Ende jedenfalls begibt sich Arnaud mit seiner wieder aufgetauchten Frau auf eine jahrelange Weltreise.

Wir sehen noch, wie Nelly und er erstmals wieder verschiedene Wege gehen. Sie tragen ihre „ganze Geschichte“ noch sichtbar als töricht-schöne Verwirrung in den Köpfen, halten noch einmal inne und sind schon bleibender Erinnerung gewiß. Dann schreiten sie zögernd ins „Leben danach“.

Sautet läßt sich völlig auf die Gesichter und Gesten seiner Schauspieler ein, die Kamera erfaßt jede zuckenden Mundwinkel in Großaufnahme. Dabei entsteht ein psychologisch feinstens gesponnener, geradezu zärtlicher Film, der allen Nuancen einer besonderen Zuneigung innig nachspürt.