Die Macht der Musik: Ivor Bolton beginnt seine Residenz in der Philharmonie Essen mit Vokalwerken Georg Friedrich Händels

Ivor Bolton hat sich schon in den Achtzigern einen Namen gemacht, als er an der Bayerischen Staatsoper München zeitgeistig luxuriöse Händel-Opernproduktionen dirigierte. Seither hat er die polierte Oberfläche verlassen und ist in die Tiefe vorgedrungen. Davon zeugte zuletzt eine vorzügliche „Agrippina“ bei den Münchner Opernfestspielen 2019 in der Regie von Barrie Kosky.

Ivor Bolton, in der Spielzeit 2019/20 Artist in Residence der Philharmonie Essen. Foto: Nancy Horowitz

Ivor Bolton, in der Spielzeit 2019/20 Artist in Residence der Philharmonie Essen. Foto: Nancy Horowitz

Was liegt für Bolton also näher, als seine Residenz an der Philharmonie Essen mit Georg Friedrich Händel zu beginnen? Für seinen Einstand wählte er zwei bedeutende oratorische Werke: Die „Ode for St. Cecilia’s Day“ eröffnet passend das novemberliche Konzert, kombiniert mit „Alexander’s Feast“ – genauso wie bei der Uraufführung der ausgedehnte Hymne an die Schutzheilige der Musik am 22. November 1739 im Lincoln’s Inn Fields Theatre in London.

Große Emotionen in Musik gefasst

Das „Alexanderfest“ ist ein merkwürdiger Zwitter, weder Oratorium noch Ode, aber ein Hauch großer Oper. Kaum Handlung, dafür eher ein philosophisches Nachdenken über die „Macht der Musik“ mit den Mitteln der Musik: Alexander der Große sitzt „beim königlichen Fest nach Persiens Fall“. Die Lieder eines Sängers rufen unterschiedliche Emotionen hervor. Unabhängig von einer Handlung ermöglicht der Text, erhabene Freude, Wut und Rachegefühle, Heiterkeit, Liebe und Mitgefühl in Musik zu fassen – eine Chance, die Händel mit allem farbigen Reichtum nutzt.

Vom herrschaftlichen Gestus der Ouvertüre bis zum instrumental kühn illustrierten Todesschmerz folgt das Concerto Köln den Ausdrucks-Absichten Boltons mit gewohnter Souveränität. Kein überzogenes Tempo stört die expressive Formung von Tönen und den Fluss der Phrasierung, kein technisches Hindernis beeinträchtigt den Wohlklang der Fagotte, der virtuos beherrschten Hörner oder der Blockflöten. Das Chorwerk Ruhr, einstudiert von John Lidfors, brilliert – auch in der „Ode for St. Cecilia’s Day“ – mit faserlosem Klang, rhythmischer Präsenz und präziser Artikulation.

Vorboten des Weingottes

Unter den Solisten hat der Bass Andreas Wolf mit einem fabelhaften Lob des Bacchus den unterhaltsamsten Auftritt, unterstützt von ausgezeichneten Bläsersolisten, wenn der „Schalmeienklang“ den ewig schönen, jungen (und trinkfreudigen) Weingott ankündigt. Den Kontrast bildet eine Arie des Soprans wenig später, in der Emőke Baráth das traurige Schicksal des sterbenden Perserkönigs Darius schildert. Es ist eine der bewegenden Szenen, in denen sich Händel als expressiver Gestalter von Emotionen erweist. Auch wenn die Sängerin mit ihrem kopfig angesetzten Sopran ein „barockes“ Ideal pflegt, bei dem man fragen darf, wieviel es mit dem Belcanto der Händel-Zeit zu tun hat, gestaltet sie mit ihren Mitteln, ihrer sensiblen lyrischen Wärme und einem kultivierten Timbre die Wirkung des Liedes auf Alexander, der ob des Leids seines Gegners zu Tränen gerührt wird.

Dritter im Bunde der versierten Gesangssolisten ist Allan Clayton, einer der typischen Tenöre mit weißgetöntem Timbre, wie sie für Musik des 18. Jahrhunderts eingesetzt werden. Ein Belcanto-Experte wie Rodolfo Celletti hat für diesen Gesangsstil wenig schmeichelnde Urteile übrig; Clayton gestaltet die Accompagnati des zweiten Teils mit dem Willen, dem Sinn der Worte nachzuspüren, doch er muss sich geschlagen geben, weil Händel in diesem Fall dem Bass den Joker zugeschoben hat: Die Szene der aus der Gruft steigenden Furien und eines Geisterzugs im Schein von Fackeln ist in ihren unheimlich fahlen Farben so plastisch geschildert, dass es Andreas Wolf leicht fällt, daraus einen Thriller des 18. Jahrhunderts zu machen.

Die weiteren Konzert der Spielzeit mit Ivor Bolton

Das Konzert erzeugte Lust auf den 23. November, wenn Ivor Bolton wiederkommt, dann mit einer Reise in die Romantik mit Mendelssohns Vierter Symphonie und Schumanns Klavierkonzert, gespielt von Martin Helmchen. Am 8. Dezember bringt Bolton „sein“ Orchester mit: Das Sinfonieorchester Basel, dessen Chefdirigent er seit 2016 ist, spielt dann Felix Mendelssohn Bartholdys Bühnenmusik zum „Sommernachtstraum“ und begleitet Daniel Hope in Ludwig van Beethovens Violinkonzert.

Weiter geht’s 2020 mit einem Konzert am 13. Februar in der Pro Arte Reihe, wieder mit dem Orchester aus Basel und einem reinen Beethoven-Programm, diesmal dem c-Moll-Klavierkonzert mit Alexander Melnikov und Ausschnitten aus der Ballettmusik „Die Geschöpfe des Prometheus“. Die Essener Philharmoniker dirigiert Ivor Bolton am 27. und 28. Februar. Dann zeigt er, dass er mit Anton Bruckner ebenso vertraut ist wie mit Händel, wenn die Vierte – die „Romantische“ – auf dem Programm steht. Eine weitere Bolton-Facette lässt sich am 5. März 2020 erkunden: Mit dem ebenfalls von ihm geleiteten Orchester des Teatro Real Madrid gibt er Musik von Gioachino Rossini zum Besten.

Den Abschluss der Residenz bildet ein Konzert am 29. Mai mit der vollständigen Schauspielmusik Beethovens zu Goethes „Egmont“ mit Ulrich Tukur als Sprecher und flankiert von Beethovens „Eroica“ und der Ouvertüre zu „Lodoȉska“ von Luigi Cherubini. Dabei spielt das Mozarteum Orchester Salzburg, das Bolton bis 2016 geleitet hat und dessen Ehrendirigent er ist.

Tickets für die Konzerte:
Tel.: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de/karten/




Von vier Liebhabern umworben: Händels seltene Oper „Partenope“ begeistert in Essen

„Partenope“ gehört zu jenen lang vergessenen Opern Georg Friedrich Händels, die erst in den letzten Jahren Bühne und Tonträger erobert haben. Fünf Mal ist sie inzwischen eingespielt worden. In der Essener Philharmonie war nun die lyrisch-heitere Oper mit der Besetzung der jüngsten CD, erschienen im November 2015, zu hören – mit zwei Ausnahmen: Philippe Jaroussky und der Dirigent Riccardo Minasi mussten absagen. Traurigerweise haben beide ihre Väter durch den Tod verloren.

Ein nobler Zug: Der französische Counter hat sich in einer persönlichen Botschaft beim Essener Publikum, verlesen vor dem Konzert von Intendant Hein Mulders, eigens entschuldigt. Mit seinen guten Erinnerungen an vergangene Auftritte in Essen verbindet er die Hoffnung, bald wiederzukommen. Lawrence Zazzo war für Jaroussky eingesprungen; das Orchester „Il Pomo d’Oro“ leitete der neue Chefdirigent, der 1988 geborene Maxim Emelyanychev.

Händels „Partenope“ ist ein ungewöhnliches Werk; keine der Seria-Opern mit problembeladenen Helden, tragisch Liebenden, verblendet Scheiternden. Sondern fast eine barocke Operette, heiter, mit lebensweisem Humor und lyrischen Empfindungen. Dabei aber nicht ohne Tiefe der Gefühle. Ein Werk, das eher mit feinem Stift gezeichnet als mit schwerem Pinsel gemalt erscheint.

Lawrence Zazzo hatte die Rolle des Arsace übernommen. Der amerikanische Sänger war zuletzt im Amsterdamer Concertgebouw in Händels "Semele" und "Giulio Cesare" zu hören. Bei den Schwetzinger Festspielen singt er im April in Francesco Cavallis Oper "Veremonda". Foto: Justin Hyer

Lawrence Zazzo hatte die Rolle des Arsace übernommen. Der amerikanische Sänger war zuletzt im Amsterdamer Concertgebouw in Händels „Semele“ und „Giulio Cesare“ zu hören. Bei den Schwetzinger Festspielen singt er im April in Francesco Cavallis Oper „Veremonda“. Foto: Justin Hyer

Partenope ist in einer beneidenswerten Lage: Von vier Männern wird die legendäre Gründerin von Neapel umworben. Da ist der schüchterne Armindo, der seine Liebe kaum zu gestehen wagt. Der selbstgefällige Arsace, der sich schon am Ziel aller Wünsche wähnt. Der Fürst des Nachbarvolks, Emilio, der mit seiner ganzen Armee anrückt, um Eindruck zu schinden. Und Eurimene, der als Schiffbrüchiger kommt, in Wirklichkeit aber die verlassene Ex von Arsace ist. Auf der Suche nach ihrem ungetreuen Liebhaber lässt sie sich auf das gewagte Travestie-Spiel ein.

Wen wird Partenope nehmen? Ihr Herz gehört Arsace, bis die entsetzte Königin vernehmen muss, es habe da ein Vorleben gegeben: Eine zyprische Prinzessin klagt ihn der Untreue an. Sie weiß allerdings nicht, dass der Überbringer der Duell-Forderung, Eurimene, niemand anders ist als die verlassene Rosmira. Das wird erst am Ende durch eine pikante Szene offenbar, die zeitgenössische Beobachter als Geschmacksverirrung getadelt haben.

Heute hat Händel die Lacher auf seiner Seite – mehr noch, die Musikliebhaber auch. Denn er nutzt diese ein wenig romantische, ein wenig komische Handlung für feinsinnige Musik. Zieht alle Register seiner Erfindungsgabe und seiner Formbeherrschung. Ermöglicht mit Traversflöte, Oboen, Hörnern und einer Trompete vielfältige musikalische Farben. Und schreibt schwermütige Melodien und virtuos überdrehte Koloratur-Ketten. Die wären 1730 in London gut angekommen, hätte Händel seinen Kastraten-Star Senesino einsetzen können. Der Ersatz Antonio Maria Bernacchi war in Tonumfang und Beweglichkeit der Partie offenbar nicht gewachsen. Erst nach der Rückkehr Senesinos stellte sich ein gewisser Erfolg ein.

Kate Aldrich begeisterte in der Travestierolle der Rosmira. Foto: Olivier Allard

Kate Aldrich begeisterte in der Travestierolle der Rosmira. Foto: Olivier Allard

Die benötigten erstklassigen Sänger waren in der Essener Aufführung – Teil einer Tournee mit Aufführungen in Paris, Amsterdam und Pamplona – präsent: Der Altus Lawrence Zazzo, für Philippe Jaroussky eingesprungen, bietet als Arsace männlich markantes Auftreten und zärtliche Zwischentöne. Zazzos Stimme ist steigerungsfähig, klanglich ausgewogen und fähig zu differenzierter Expression. Das zeigt sich im klug durchgestalteten Duett mit Rosmira und der Arie „Sento amor“ im ersten Akt – und bei den souveränen Verzierungen der mit Recht bejubelten Finalarie des zweiten Aktes, „Furibondo spira il vento“.

Karina Gauvin, anfangs noch ein wenig beengt, krönt als Partenope den Glanz ihrer Erscheinung in Blond und Rosa mit flüssiggoldenem Timbre. Sie gehört zum Glück nicht zu jenen weißlich-flachen Stimmchen, die so gerne für historisch korrekt gehalten werden. Die Kanadierin projiziert einen substanzvollen Ton in den Raum, ist in lyrischen Gefilden ebenso zu Hause wie in den anspruchsvollen Verzierungen und der höhensicheren Dramatik von „Io ti levo l’impero dell’armi“.

Der Tenor John Mark Ainsley lässt sich als Emilio von den Kaskaden von Tönen, die ihm Händel zumutet, nicht beeindrucken. Auch nicht von der freundlich abweisenden Partenope: Er wisse zu kämpfen, gibt er ihr kund – und beglaubigt seine Haltung in einer glanzvollen Arie wie „Anch’io pugnar saprò“. Im zweiten Akt, als das barbarische Schicksal seine Hoffnungen durch eine Niederlage im Kampf verraten hat, lagert Ainsley die erregten Koloraturketten auf einem schier endlosen Atem.

Maxim Emelyanychev, der neue Chefdirigent, leitete sein Orchester "Il Pomo d'Oro". Foto: Emil Matveev

Maxim Emelyanychev, der neue Chefdirigent, leitete sein Orchester „Il Pomo d’Oro“. Foto: Emil Matveev

Die junge ungarische Sopranistin Emöke Barath ist als Armindo ein Wunder an Empfindsamkeit und Schönheit des Tons. Ihre erste Arie „Voglio dire al mio tesoro“ hat einen Hauch mozartischer, leuchtender Schwermut. Dieser stille Schmerzenston prägt auch die Arie der (verkleideten) Rosmira „Arsace, o Dio“ im dritten Akt. Darin entzückt Kate Aldrich mit der Wärme und Geläufigkeit ihrer Stimme, wie sie im ersten Akt in der mit Hörnern und Oboen reich instrumentierten Arie „Io seguo sol fiero“ mit entschiedenem Ton, tragender Tiefe und entspannter Phrasierung ein Paradebeispiel entwickelter Gesangskunst gibt. Victor Sicard schließlich macht aus der zweitrangigen Partie des Ormonte mit seinem streng fokussierten Bariton ein erstrangiges Gesangserlebnis.

Das Orchester Il Pomo d’Oro überzeugt weniger durch seinen manchmal dünn-flachen Streicherklang, eher durch flexibles Agieren und feine Balance. Maxim Emelyanychev, universal begabte Dirigierhoffnung aus Russland, befeuert das Ensemble mit entschiedener Geste. Am Ende baden Händels Figuren in Liebe und Freundschaft, das Publikum in Wohlgefallen, die Musiker im Beifall.

Wer sich für „Partenope“ interessiert: Das Goethe-Theater in Bad Lauchstädt zeigt zwei Aufführungen einer eigenen Produktion am 20. und 21. Mai 2016. Tickets: (0 34 635) 7 82 16.