10 Jahre Festival NOW! für neue Musik: Aufbruch in andere Klangwelten – jäh durch Corona gebremst

Ab Montag, 2. November 2020, fallen – wegen der aktuellen Corona-Lage –sämtliche Veranstaltungen des Festivals NOW! aus. Der folgende Vorbericht kann leider nur noch den vorherigen Stand der Planungen wiedergeben.

Ausgerechnet in diesem Jahr, in dem die Corona-Pandemie das Reisen so gut wie unmöglich macht, hatte sich das Festival NOW! in Essen vorgenommen, musikalisch „von fremden Ländern und Menschen“ zu erzählen.

Wird beim Festival NOW! in einigen Konzerten gewürdigt: Komponistin Unsuk Chin. Foto: Eric Richmond/ArenaPAL

Hein Mulders, Intendant der Philharmonie mit seiner rechten Hand Marie Babette Nierenz und Folkwang-Professor Günter Steinke planten um, luden Künstler ein, die nicht in ihren fernen Heimatländern festsitzen, aber dennoch Klänge ihrer Herkunfts- oder ihrer Sehnsuchtsländer mitbringen. Das Ergebnis laut Planung: 16 Veranstaltungen zwischen 29. Oktober und 8. November, 22 Uraufführungen und ein Programm, so bunt wie die Farbschnipsel auf dem Cover des Begleithefts. Alles unter der Voraussetzung, dass der Kulturbereich nicht wieder einem Lockdown unterworfen werden würde. Dies ist aber jetzt der Fall.

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Hein Mulders. Foto: Sven Lorenz

Hein Mulders zeigte sich zuvor „überglücklich“, das Fest neuer Klänge in einem so verflixten Jahr feiern zu können, auch wenn im Saal der Philharmonie – Stand vor ein paar Tagen – nur 250 Zuhörer zugelassen sind. Nur durch viele Partner ist es möglich, ein derart vielgestaltiges Ereignis auf die Beine zu stellen: Die Folkwang Universität der Künste und der Landesmusikrat NRW waren schon bei den ab 2007 laufenden Reihe „Entdeckungen“ dabei; seit der Überführung ins Festival NOW! vor nunmehr zehn Jahren sind einige andere dazugekommen, etwa von Anfang an die Kunststiftung NRW, die Stiftung Zollverein, PACT Zollverein und seit 2019 die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung.

Das NOW!-Programm lässt ahnen, wie unbeschwert die „neue“ Musik in den letzten Jahrzehnten stilistische Limits und geografische Grenzen übersprungen hat. Längst sind es nicht mehr die Europäer, die sich an „exotischen“ Importen erfreuen, die sie wie weiland Gluck oder Mozart als fröhlich lärmende Janitscharenmusik in den europäischen Kontext zwängten. Längst sind es auch nicht mehr die bildungsbeflissenen Musiker aus dem fernen Osten, die ihre Begeisterung für europäische Kunstmusik in ihre Heimatländer brachten und dort im schlechten Fall imitierten, im besten Fall zu einer Symbiose mit eigenen Traditionen verschmolzen.

Passé sind auch die Zeiten, in denen es genügte, ein Sinfonieorchester mit etwas tempelhaftem Bling-Bling zu garnieren, um „Fremdes“ zu integrieren. Der Wandel, von dem NOW! auch zeugt, reicht tiefer: Menschen bewegen sich in vielfältigen kulturellen Kontexten, in denen sie nicht aufgewachsen sind. Andere sind in zwei Kulturen tief verwurzelt, wieder andere verlassen – manchmal auch unfreiwillig – ihre Heimat und suchen in der Fremde eine neue. Die Lebenssituationen sind so unterschiedlich wie die Herkünfte, Traditionen und Interessen. Und daraus erwächst zur Zeit unglaublich viel Spannendes, ereignen sich Aufbrüche, die das befürchtete „Ende der Musik“ doch ein gutes Stück hinausschieben.

Beispiele aus dem NOW!-Programm: Unsuk Chin, in Korea geboren, dort und bei György Ligeti in Hamburg ausgebildet, lehnt es strikt ab, ihre Musik einem bestimmten Kulturkreis zuzuordnen. Sie beschäftigt sich mit europäischer Moderne und mit Gamelanmusik aus Bali, mit koreanischen Instrumenten und mit mittelalterlichen Kompositionstechniken. „Cosmigimmicks“, ein Stück für Ensemble, 2013 bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik uraufgeführt, spielt im Titel mit diesem universalen Interesse, ironisiert den eigenen Anspruch zu „gimmicks“ und erinnert in seinen fragilen Klängen nach Aussage der Komponistin an Schattentheater, Pantomime oder Puppenspiel. Das Ensemble Musikfabrik bringt das Stück am 30. Oktober um 20 Uhr in der Philharmonie Essen, zusammen mit der Uraufführung von „fragments inside“ der persischen Komponistin Elnaz Seyedi, die ab 2020/21 Composer in Residence für die Bürger:innenOper der Oper Dortmund ist. Maliko Kishinos „Ochres II“ nimmt japanische Traditionen auf; die in Kyoto geborene Komponistin wuchs in einem Tempel auf.

Önder Baloglu. (Foto: Ulrike von Loeper)

Ganz aktuell auf die Corona-Pandemie gehen 24 Miniaturen ein, die am 31. Oktober, 17 Uhr in einem Konzert in der Neuen Aula der Folkwang Universität in Essen-Werden uraufgeführt werden: „Unvoiced Diaries“ des im türkischen Adana geborenen Konzertmeisters der Duisburger Philharmoniker, Önder Baloğlu, sind kaum eine Minute dauernde Stücke für Violine solo von 24 Komponisten, entstanden während der erzwungenen Untätigkeit ab März dieses Jahres. Uraufgeführt werden auch „Khronos“ des Brasilianers Celso Machado, ein Stück für das afrikanisch-brasilianische Berimbau, Gitarre und Elektronik; außerdem Werke von Levin Zimmermann und Po Chien Liu.

Der Komponist Mithatcan Öcal. (Foto: privat)

Für sein Konzert am 31. Oktober, 20 Uhr, in der Philharmonie Essen bringt das WDR Sinfonieorchester Köln eine „Klassikerin“ der Neuen Musik mit: Younghi Pagh-Paan und ihr Stück „Lebensbaum III“ von 2015. Die Koreanerin steht für die kreative Verbindung koreanischer Volksmusik mit europäischen kompositorischen Parametern. Außerdem erklingen „Yet“ des 1981 geborenen und 2010 tragisch verstorbenen Franzosen Christophe Bertrand, „Zipangu“ des 1983 in Paris ermordeten Kanadiers und Stockhausen-Schülers Claude Vivier, der asiatische und iranische Musik studiert hatte, und die Mini-Oper „Belt of Sympathies“ des 2019 von der Ernst von Siemens Musikstiftung ausgezeichneten türkischen Komponisten Mithatcan Öcal.

Klang und Bewegung auf PACT Zollverein

Aus Syrien stammt die Komponistin Dima Orsho. (Foto: Martina Novak)

PACT Zollverein beteiligt sich am NOW!-Festival am 1. November mit dem Tanzprojekt „The Waves“ des Choreografen Noé Soulier. Sechs Tänzerinnen und Tänzer und die beiden Perkussionisten des Ictus Ensembles, Tom de Cock und Gerrit Nulens, untersuchen das Beziehungsgeflecht von Geste, Bewegung und Klang. In der Philharmonie Essen geht es am 1. November in den Nahen Osten: Hasti Molavian (Gesang) aus dem Iran und das E-MEX-Ensemble präsentieren unter anderem Werke der syrischen Komponisten Zaid Jabri und Dima Orsho. „Khorovod“, das Stück, das dem Konzert den Titel gibt, stammt von dem in London geborenen Julian Anderson und bezeichnet einen russischen Rundtanz.

Die Musik Afrikas vorzustellen, ist einer der diesmal nicht erfüllbaren Wünsche der Festival-Macher. Nicht nur, weil die Reisemöglichkeiten fehlen, sondern auch weil sich die Musik dieses Kontinents vornehmlich in Pop und Folk äußert. Das Ensemble Modern hätte am 7. November in der Philharmonie Essen seinen 40. Geburtstag mit einem Programm feiern sollen, zu dem ausschließlich Komponistinnen und Komponisten mit afrikanischem Background zu Klang gekommen wären: Daniel Kidane und Hannah Kendall (Großbritannien), Tania León (Kuba), Jessie Cox und Alvin Singleton (USA) sowie Andile Kumalo aus Südafrika.

Weitere Informationen: www.theater-essen.de

 




Unter Schafen: Die Ruhrtriennale 2014 beginnt mit „De Materie“ von Louis Andriessen

Schafe unterm Zeppelin: Szene aus der Deutschen Erstaufführung von Louis Andriessens "De Materie" (Copyright: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Schafe unter dem Zeppelin (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Sie muss wirklich gute Augen haben, die Dame in der Reihe hinter uns. Während wir noch rätseln, was für seltsame Gestalten weit hinten aus dem Dunkel auftauchen, aus der Tiefe der 160 Meter langen Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg-Nord, beginnt sie zu kichern, den Kopf zu schütteln und sich halblaut zu mokieren. Dann entfleucht der wogenden Masse ein verräterischer Laut. „Möööh!“ Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale, treibt als Regisseur der Deutschen Erstaufführung von Louis Andriessens Oper „De Materie“ tatsächlich eine Schafherde über die Bühne.

Eine gefühlte Ewigkeit, in Wahrheit sind es etwa 20 Minuten, sehen wir 100 Schafen aus dem Raum Düsseldorf dabei zu, wie sie durch die monumentale Weite des Raums trappeln. Sie halten sich dicht aneinander, scheinen nach Futter zu suchen, bewegen sich im sanften Schein eines ferngesteuerten Modell-Zeppelins, der über ihren Köpfen schwebt. Allmählich rücken sie vor bis zum Orchestergraben, wo das renommierte „Ensemble Modern“ unter der Leitung von Peter Rundel zwei immergleiche Akkorde wiederholt wie ein narkotisierendes Mantra. Ist dies ein Traum? Oder ein Albtraum? Ob die Schafe in diesem Moment wohl sehr viel weniger verstehen als wir?

Nichts weniger als das Verhältnis von Geist und Materie wollte der 1939 in Utrecht geborene Komponist Louis Andriessen in seinem vierteiligen, fast zwei Stunden langen Werk thematisieren. Angesichts des theoretischen Sujets bleiben Sänger, Chor und Statisten bei ihm Schattenfiguren, die keine Identifikation erlauben. Sie sind vielmehr Text-Vehikel, Transporteure eines Librettos, das Andriessen aus höchst unterschiedlichen historischen Fragmenten geschaffen hat. Verhandelt werden die niederländische Unabhängigkeitserklärung von 1581, eine Anleitung zum Schiffsbau von 1690, ein philosophisch-naturwissenschaftlicher Essay von 1651, die religiös-erotische Vision einer Nonne aus dem 13. Jahrhundert, ein kunsthistorisches Manifest, eine private Notiz zu Piet Mondrian, ein Gedicht über den Tod, eine Tagebuchaufzeichnung und eine öffentliche Rede von Marie Curie.

Einem historischen Foto nachgestellt ist diese Szene mit Madame Curie (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Einem historischen Foto nachgestellt ist diese Szene mit Madame Curie (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Das ist zeitweilig ungefähr so aufregend wie gesungener Geometrieunterricht. Wir lernen ungewohntes Schiffsvokabular wie „Kraweelplanke“ und „Balkenweger“, fragen uns aber doch, ob der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Teilen letztlich mehr ist als eine stramme Behauptung. Denn eine Geschichte verweigert uns das Werk, das seit seiner Uraufführung 1989 in Amsterdam nicht wieder in Szene gesetzt wurde. Zweifel wachsen auch, weil sich der Komponist im Programmheft selbst widerspricht. Während er im Dialog mit Roland Diry vom „Ensemble Modern“ energisch behauptet, das Stück sei „sehr offensichtlich eine Oper“, zitiert ihn sein Landsmann Alcedo Coenen einige Seiten weiter mit den Worten, das Stück habe „mit einer Oper wirklich nichts zu tun.“

Louis Andriessen, Schüler von Kees van Baren und Luciano Berio, schreibt eine Musik, die mit seinen einst verehrten Idolen wie Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez nicht viel gemein hat. „De Materie“ ist stark von Akkorden und Wiederholungen geprägt, dabei aber auch faszinierend vielgestaltig. Sie kann statisch klingen, ermüdend um sich selbst kreisen, aber auch hypnotisierende Klangflächen schaffen. Die Sängerin Evgeniya Sotnikova führt das lange Sopransolo im zweiten Teil in Höhen von ätherischer Schönheit. Wie putzige Stummfilm-Figuren tanzen Gauthier Dedieu und Niklas Taffner zu Boogie-Woogie-Zitaten, die ein unterhaltsames Element in die ansonsten oft recht zähe Materie bringen. Robin Tritschler sinniert mit kraftvollem Tenor über die Teile, aus denen alle Körper zusammengesetzt sind. Dem wie so oft exzellenten „ChorWerk Ruhr“ gelingt das Kunststück, die verschraubten Texte trotz komplexer Rhythmik und Harmonik auf den Punkt zu bringen (Einstudierung: Klaas Stok).

Surreale Schönheit: Evgeniya Sotnikova intoniert die Vision einer Nonne aus dem 13. Jahrhundert (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Surreale Schönheit: Evgeniya Sotnikova intoniert die Vision einer Nonne aus dem 13. Jahrhundert (Foto: Wonge Bergmann/Ruhrtriennale)

Neben dem exzellenten „Ensemble Modern“, das für Andriessens Musik seine ganze Kompetenz in die Waagschale wirft, ist es das vielköpfige Technik-Team, das an diesem Abend den stärksten Beifall erhält (Leitung: Harald Frings). Das kann kaum verwundern, denn Heiner Goebbels hat seiner Vorliebe für weitgehend menschenleere, von Apparaten und Maschinen belebte Bühnenräume freien Lauf gelassen. Er illustriert Andriessens musikalischen Essay mit traumgleichen, surrealen Bildern, deren Magie sich tief ins Gedächtnis brennt (Bühne und Licht: Klaus Grünberg). Lustvoll spielt er mit der monumentalen Größe des Raumes, lässt uns im geheimnisvollen Dunkel kosmische Dimensionen erahnen.

Wie eine Vision tauchen blau schimmernde Zelte auf, geordnet in einer Reihe, die sich im Nichts zu verlieren scheint. Sanft und kühl wie der Mond leuchten die durch den Raum schwebenden Zeppeline. Sternen aus fremden Galaxien gleich flammen die Lichter auf, die zur mittelalterlichen Vision der Nonne an einem künstlichen Himmel erstrahlen. Im Mondrian-Akt treiben monumentale Doppel- und Tripelpendel ihr Spiel. Bunte Quadrate formieren sich in fröhlichem Tanz zu immer neuen Mustern.

Ob die Produktion wirklich zum Nachdenken über die Dialektik von Materie und Spiritualität anregt oder vielmehr dazu einlädt, sich von Klängen und Bildern berauschen zu lassen, lässt sich nicht beantworten. Zweifelsohne aber werden es die mysteriös-gewaltigen Bilder sein, die sich gegen das Vergessen stemmen. Die Schafherde unter dem Zeppelin wird bleiben. Sie und mancher verstohlene Blick auf die Uhr.

(Informationen und Aufführungstermine: www.ruhrtriennale.de/de/programm/produktionen/louis-andriessen-de-materie)




Festival „Now!“ in Essen: Weg mit den Dogmen der „Neuen Musik“!

„Faschistoide Züge“ bescheinigt Günter Steinke dem „Serialismus“ der Nachkriegszeit. Dem Professor für Komposition an der Essener Folkwang Universität der Künste ist zuzustimmen: Was sich in den Fünfziger Jahren im Umkreis von Darmstadt und Donaueschingen entwickelt hatte, wirkte fast drei Jahrzehnte wie ein Dogma. Wer dem Fortschrittsbegriff und der strukturellen Denkweise dieser musikalischen Auffassung nicht folgte, wurde weggebissen. Damit ist Schluss. Und das Festival „Now!“, das zum zweiten Mal zeitgenössische Musik nach Essen bringt, will das in seinem Programm auch klingend belegen. In seinem – erstmals erscheinenden – Programmbuch zitiert es Peter Sloterdijk: „Was ästhetisch die Uhren geschlagen haben, sagen nicht mehr die avantgardistischen Geschichtsdoktrinen.“

Und so erklärt „Now!“ mit dem Motto „zurücknachvorn“, worum es bei der zweiten Ausgabe dieses Festivals für Neue Musik gehen soll: Um den Blick zurück, der neue Perspektiven eröffnet. Vom 26. Oktober bis 1. Dezember erklingen in zehn Konzerten in Essen Werke von 28 Komponisten, die sich ausdrücklich auf musikalische Traditionen beziehen. Mit von der Partie sind zum ersten Mal die Essener Philharmoniker – auf eigenen Wunsch. Die Liste der Gäste ist lang und luxuriös: Das Ensemble Modern kommt wieder, das Arditti Quartett, das WDR Sinfonieorchester Köln und Splash – Perkussion NRW, zuletzt in Orffs „Prometheus“ bei der Ruhrtriennale zu erleben. Im Großen Saal der Philharmonie sind Sängerinnen wie Angelika Luz oder Sarah Wegener zu hören. „Wir machen mit „Now!“ ein Projekt für die Region, aber wir wollen auch bundesweit wahrgenommen werden“, so Philharmonie-Intendant Johannes Bultmann.

Das Festival ist noch jung: Im letzten Jahr gegründet, stellte es am Beispiel von vier Komponisten die aktuellen Richtungen der amerikanischen klassischen Musik vor. In diesem Jahr verweist das Motto „zurücknachvorn“ auf das fruchtbare Spannungsfeld zwischen Alt und Neu. Das wird auch in der Theorie behandelt: Am Sonntag, 4. November, 15 Uhr, diskutieren im RWE-Pavillon der Philharmonie vier Komponisten über dieses Thema: Helmut Lachenmann, Georg Friedrich Haas, Brian Ferneyhough und Lars Petter Hagen – zwischen 1935 und 1975 geboren – vertreten eine Generation, die sich von den Vorgaben einer „Neuen“ Musik frei gemacht hat. „Ein Thema mit Zündstoff“, meint Steinke.

In den Konzerten sollen Struktur- und Klangvorstellungen heutiger Komponisten zu erleben sein. „Inwiefern ist es möglich, wieder an Melos zu denken, an Kontrapunkt oder Tonalität?“, umschreibt Steinke die neuen – aus dem Blick auf die Tradition gewonnenen – kompositorischen Möglichkeiten. Dabei geht es weder um einen Historismus, der Musik schüfe, die wie aus früheren Zeiten klänge. Auch nicht um ein rückwärts gerichtetes „Zitatewesen“. Sondern darum, wie eine junge Generation mit einem individuellen Blick auf Traditionen neue Musik hervorbringt.

Eröffnet wird „Now! – zurücknachvorn“ am Freitag, 26. Oktober, 19.30 Uhr, in der Philharmonie Essen: Das Ensemble Modern spielt Werke von Lars Petter Hagen, Anders Hillborg, Sven-Ingo Koch und Helmut Lachenmann, dessen Hauptwerk „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ (1997) im September an der Deutschen Oper Berlin – nach Hamburg, Stuttgart, Wien und Salzburg – seine fünfte Premiere erfuhr. Am Sonntag, 28. Oktober, 15 Uhr, spielt das Ensemble „Splash“ im Salzlager der Kokerei Zollverein. Die Namen der Komponisten reichen von dem Kölner Dietmar Bonnen (geboren 1958), einem wagemutig-witzigen Experimentator, bis zu einer Uraufführung der Chinesin Ying Wang, die u.a. in Köln bei York Höller, Michael Beil und Rebecca Saunders studiert hat.

Am 2. November gastiert das Ensemble musikFabrik in Essen. Foto: Klaus Rudolph

Am 2. November gastiert das Ensemble musikFabrik in Essen. Foto: Klaus Rudolph

Unter dem Titel „…wie stille brannte das Licht“ ist am 2. November, 19.30 Uhr, in der Philharmonie das Ensemble musikFabrik mit den Sängerinnen Sarah Wegener und Natalia Zagorinskaja zu hören; es erklingt Musik von Ligeti, Haas und György Kurtág. Am nächsten Tag um 19.30 Uhr spielen Michael Faust (Flöte) und das WDR Sinfonieorchester unter Brad Lubman Musik von Magnus Lindberg, Gérard Pesson, Salvatore Sciarrino und Jörg Widmann. Und am Sonntag, 4. November, 10.30 Uhr, bringt das Arditti Quartett prominente Streichquartett-Schöpfungen mit: „Fragmente – Stille. An Diotima“ von Luigi Nono, das Streichquartett Nr. 6 von Brian Ferneyhough und Helmut Lachenmanns Streichquartett Nr. 3 „Grido“.

Der nächste Konzertblock bringt am 9. November, 20 Uhr, in der Neuen Aula der Folkwang Universität der Künste in Werden ein „transmediales Konzert“ unter dem Titel „Fembot/Attractor“. Geleitet wird es vom Komponisten und Medienkünstler Dietrich Hahne. Zwei Uraufführungen multimedialer Werke stehen auf dem Programm: Magnus Lindbergs „Corrente II/Fembot“ und Ludger Brümmers „Dele/Attractor“, jeweils in einer VideoKontrafaktur Hahnes. Der Künstler hat 2011 das „NOW!“-Festival mit aus der Taufe gehoben, hat aber schon seit 2007 die Räumlichkeiten des Weltkulturerbes Zollverein mit diversen medialen Performances bespielt.

Am 10. November, 19.30 Uhr, geht es in der Philharmonie wieder etwas „konventioneller“ zu. Die Essener Philharmoniker eröffnen ihre Zusammenarbeit mit dem Festival mit einem Konzert unter Jonathan Stockhammer und Werken des 1976 geborenen Dänen Simon-Steen Andersen, Wolfgang Rihm („Verwandlung 2. Musik für Orchester“), der finnischen Komponistin Kaija Saariaho, Schülerin von Brian Ferneyhough und Klaus Huber, sowie der in London geborenen und in Berlin lebenden Rihm-Schülerin Rebecca Saunders.

Mit den klanglichen Möglichkeiten präparierter Klaviere hat der Musiker und Komponist Hauschka seit seiner CD „The prepaired piano“ (2005) Erfolg in einer Szene, die sich unvoreingenommen zwischen Rock, Hip-Hop und Klassik bewegt. Der in Düsseldorf lebende Musiker kommt am 15. November, 20 Uhr, in die Halle 12 auf Zeche Zollverein/Schacht XII. Die Folkwang Symphony krönt das Festival am 22. November, 19.30 Uhr, im Alfried Krupp Saal der Philharmonie. Johannes Kalitzke dirigiert, Angelika Luz singt. Ein neues Werk der koreanischen Kompositionsstudentin an der Folkwang Hochschule, Yagyeong Ryu, mit dem Titel „Fadenlicht“ wird flankiert von zwei „Klassikern“ der Moderne: Bernd Alois Zimmermanns Konzert für Violoncello und Orchester (Solist: Jan-Filip Tupa) und Luigi Nonos „Como una ola de fuerza y luz“.

Zu Ende ist „Now!“ dann noch nicht: Am 1. Dezember stellen um 16 Uhr Komponisten, Studierende der Folkwang Universität und Schülerinnen und Schüler die Ergebnisse einer „Expedition“ in die Bereiche neuer klassischer Musik vor: Im RWE-Pavillon wird hörbar, wie die Schülerinnen und Schüler auf der Basis des Orchesterwerks „Double up“ von Simon-Steen Andersen eigene Kompositionsversuche unternehmen. Ein Ergebnis eines mehrwöchigen Projekts und ein sehr konkreter Bezug auf das Motto des Festivals: Gehörtes und Erlebtes wird zur Basis für Neues!

Mit der Philharmonie agieren als Veranstalter die Folkwang Universität der Künste, der Landesmusikrat NRW und die Stiftung Zollverein. Gefördert wird das Projekt von der Kunststiftung NRW. Bultmann kündigte an, „Now!“ werde auch von seinem Nachfolger Hein Mulders weitergeführt. Langfristig solle das Festival als Marke etabliert werden, um Publikum und Fachleute über die Region hinaus anzulocken. Das Echo jedenfalls ist positiv: Von den 130 aufgelegten „Festival Cards“, die zum günstigen Preis von 28 Euro Zugang zu allen Konzerten gewährt, sind nur noch wenige übrig.

Info: www.philharmonie-essen.de; Karten: (0201) 81 22 200.