Von der Primzahlenforschung bis zur Kanaldeckel-Kunde: Enzensbergers kurzweilige „Experten-Revue in 89 Nummern“

Erst durch die immer mehr verfeinerte Arbeitsteilung habe sich die Gattung Mensch zur Weltbeherrschung aufschwingen können. Diese Hypothese ist der Ausgangspunkt von Hans Magnus Enzensbergers „Experten-Revue in 89 Nummern“. Ob es im Verlauf dieser Entwicklung auch Verlierer gegeben hat? Das wäre ein anderes Thema. Insgesamt habe Arbeitsteilung die Menschheit stetig vorangebracht, befindet der Schriftsteller.

Schritt für Schritt erfahren wir hier, in welche Bereiche, Nischen, Höhen oder Abgründe sich menschliche Leidenschaften und Fähigkeiten verzweigt oder auch verstiegen haben. In diesem durchaus kurzweiligen, weil denkbar abwechslungsreichen Buch des inzwischen 89-jährigen (!) Enzensberger geht es nach und nach so ziemlich um alles. Um nur ein paar Beispiele fürs allfällige Spezialistentum zu nennen:

Da wird das „Wettrüsten“ zwischen Tresor-Produzenten und Panzerknackern geschildert. Sodann geht’s um die Erfindung des Fahrrad-Vorläufers durch Drais und um den erstaunlichen Hintergrund. Stichwortartig: Verdunkelung auch des europäischen Himmels durch indonesischen Vulkanausbruch, daher Mangel an Pferdefutter mit entsprechenden Folgen, deshalb neue Transport- und Fortbewegungsmittel nötig…

Wissenswertes über Taschendiebe und Henker

Ferner lässt Enzensberger – stets im angenehm unaufgeregten Duktus – den Blick z. B. über folgende Gebiete und die jeweiligen profunden Kenner der Materien schweifen: Pigment-Spezialisten, Schaben-Experten, mathematische Unendlichkeit(en), Geheimnisse der Primzahlenforschung und der Eulerschen Zahl (Enzensberger kann und mag sein Faible für Mathematik nicht leugnen). Außerdem spürt er dem Fachwissen der Wachszieher und Feuerwehrleute, der Vogel-Präparatoren und der Falkner nach, er berichtet von der immensen Vielfalt der Hobel, der Schrauben und der Mausoleen, der Parfüme, Äpfel (rund 1500 Sorten), Kaleidoskope, Helme, Matratzen, Fahnen und Flaggen.

Auch unternimmt der Autor kurze Streifzüge etwa durch die Lebenswelten der Taschendiebe, der Müßiggänger, der Hochstapler oder der Henker. Letztere brauchten – gleichsam ex negativo – gehörige medizinische Kenntnisse und mussten oftmals von den Hinterbliebenen der Hingerichteten entlohnt werden. Auf gewisse Weise ebenso bizarr: Wer hat schon mal von Dolologie gehört? Nun, das ist die von manchen Leuten mit flammendem Eifer betriebene Kanaldeckel-Kunde. Man glaubt ja nicht, was es da auf Erden so gibt!

Offenkundige Tatsache ist, dass jedes, aber auch wirklich jedes Fachgebiet nicht nur skurrile Formen annehmen kann, sondern vor allem auch weitaus komplizierter, vielfältiger und spannender ist, als es zunächst den Anschein hat. Überall haben sich besondere, hie und da bis ins Groteske reichende Fachvokabulare herausgebildet. Enzensberger dazu: „Mit den Worten der Spezialisten tut sich eine Welt auf, von deren Reichtum der Laie keine Ahnung hat.“

Der Mann, der unbedingt Busfahrer werden wollte

Überdies hält das Buch ungemein viel Erzählstoff bereit. Die meisten Kapitel handeln von besonderen Passionen, so etwa die Geschichte vom Hochbegabten, der alle Gymnasial-Empfehlungen in den Wind schlug und partout Busfahrer werden wollte. Als das nach vielen Berufsjahren nicht mehr so weiter ging, heuerte er bei einer Modellbaufirma an und entwarf originalgetreue Busse, mit denen er sich so gut auskannte wie sonst niemand. Man muss sich diesen Mann wohl als glücklichen Menschen vorstellen.

Ähnlich brannte auch der Rotwelsch-Spezialist Siegmund Andreas Wolf für sein Wissensgebiet. Niemals mit einem Professorentitel dekoriert, wusste er mehr über diese frühere Gaunersprache als wohl alle anderen. Mit ungeheurem Fleiß hat er Wörterbücher und Lexika zusammengestellt, die noch heute von Belang sind. Doch er starb ohne sonderliche akademische Weihen – übrigens abseits der Metropolen in Lünen, nördlich von Dortmund. Auch von dem Augsburger Feuerkopf Johann Most wird man bislang noch nicht viel gehört haben. Er verdingte sich als Journalist, sozialistischer Politiker und schließlich zusehends radikaler Anarchist mit Neigung zum Bombenbau samt praktischer Anwendung. Kein System, mit dem er sich nicht angelegt hätte. Enzensberger sieht in ihm einen Ahnherren des Terrorismus.

Von manchen genial wahnwitzigen Leuten, die hier vorkommen, würde man gern noch mehr erfahren, doch es ist Enzensberger just um die vielfältige Fülle zu tun. Das und nicht das Beharren auf wenigen Aspekten kommt seinem immer noch höchst beweglichen Geist entgegen.

Rückblick auf einen bewegenden Briefwechsel

Wer auf die Zeiten der literarischen Anfänge Enzensbergers zurückkommen möchte, sollte sich einen vor wenigen Monaten gemeinsam von den Verlagen Suhrkamp und Piper herausgebrachten Band besorgen, der den Briefwechsel mit der gewiss nicht minder einflussreichen Ingeborg Bachmann enthält. Es ist eines jener Bücher, in denen die Anmerkungen und Kommentierungen aus gutem Grund mehr Raum einnehmen als die Primärtexte, gilt es doch, Zusammenhänge zu erschließen, die längst nicht mehr zum Allgemeingut gehören.

Aber welch ein Gewinn ist das, wenn man tiefer eintaucht! Im Vergleich zur häufig grübelnden Bachmann erscheint einem Enzensberger in seinen Briefen geradezu jungenhaft unbekümmert, aber natürlich auch schon geistig fundiert und intellektuell so wendig, wie man ihn kennt und schätzt. Eben diese Mischung mag für Ingeborg Bachmann aufmunternd und tröstlich gewesen sein. Ihre Briefe lesend, bangt man geradezu nachträglich noch um sie; so wie man seinerzeit atemlos ihren Briefwechsel mit Paul Celan verfolgen konnte, sich unentwegt fragend, ob sie seiner ungeheuren Verletztheit und Verletzlichkeit hat gerecht werden können. Aber wer, wenn nicht eine wie sie? Und wer wiederum hätte sie zuweilen beruhigen können, wenn nicht jemand wie Enzensberger?

Solche Briefbände sind jedenfalls inzwischen Denkmäler, wenn nicht Monumente der letzten (oder meinetwegen vorletzten) Generation, die sich überhaupt noch dermaßen der Mühsal des Briefeschreibens unterzogen hat. Wir gedenken dieser Zeiten mit großem Respekt, ja mit Ehrfurcht und Sehnsucht.

Hans Magnus Enzensberger: „Eine Experten-Revue in 89 Nummern“. Suhrkamp-Verlag, 336 Seiten, 24 €.

Ingeborg Bachmann / Hans Magnus Enzensberger: „Schreib alles was wahr ist auf“. Briefe. Suhrkamp-Verlag/Piper Verlag, 480 Seiten, 44 €.

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P. S.: Zwei Korrekturen am Experten-Buch erlaube ich mir noch: Auf Seite 326 wird der Universalgelehrte „Anastasius“ Kircher genannt. Er heißt aber Athanasius. Das weiß ich auch deswegen, weil ich im selben Dörfchen geboren wurde wie der ruhmreiche Mann.

Auf derselben Seite ist dem Lektorat noch ein kleiner Lapsus durchgegangen. Die Zeile aus dem Beatles-Song „Lucy in the sky with diamonds“ ist geringfügig falsch zitiert. Ein „the“ ist überflüssig: „A girl with kaleidoscope eyes“ wäre richtig gewesen.




Enzensberger rät: „Nur keine Panik!“

Er ist der Tausendsassa unter den deutschen Schriftstellern. Er ist Lyriker und Herausgeber, Erzähler und Zeitschriftengründer: Wenn man Hans Magnus Enzensberger auf eine Position festnageln will, hat er sie garantiert schon wieder verlassen und ist aufgebrochen zu neuen intellektuellen Ufern.

Den Marxismus benutzt er als Baukasten, die Mathematik als Denkmodell. Jetzt beruft sich der inzwischen 82-jährige Autor, der immer schon ein Faible für Diderot und die französischen Aufklärer hatte, auf Michel de Montaigne. Schon der Ahnherr des Essays wusste, dass man große Themen auch auf wenigen Zeilen abhandeln kann.

„Gründlichkeit ist nicht meine Stärke“, witzelt Enzensberger und entwirft ein Panoptikum kultureller Kuriositäten und politischer Abnormitäten. In seinen „Zwanzig Zehn-Minuten-Essays“ geht es mal um die „Tücken der Transparenz“, mal um das „köstliche Unbehagen an der Kultur“. Alexander von Humboldt wird als Kronzeuge im „Stammeskrieg zwischen Macht und Intelligenz“ herbeizitiert, und selbst die Frage „Muss Sex sein sein, und wenn ja, wie?“ wird vom ironischen Flaneur augenzwinkernd umkreist.

Ob Geheimdienste, ob Rentenangst: Enzensberger hat auf alles einen unkonventionellen Zugriff. Weil er weiß, dass kein System ohne Chaos und keine Diktatur ohne Nischen denkbar ist, nimmt er uns auch die Angst vor der digitalen Überwachung: „Nur keine Panik! Auch in Zukunft wird jeder, der es nicht lassen kann, relativ unbeachtet, sorglos und analog essen und trinken, lieben und hassen, schlafen und lesen können.“

H. M. Enzensberger: „Enzensbergers Panoptikum. Zehn Zwanzig-Minuten-Essays.“ Suhrkamp, Berlin, 141 S., 14 Euro.




Enzensberger und die Luxusuhren

Hans Magnus Enzensberger ist allzeit ein federführender Intellektueller gewesen, der uns allen meist zwei bis fünf Drehungen voraus war. So einen, der auch im leuchtenden Jahr 1968 zur schreibenden Avantgarde gezählt hat, wünscht man sich gleichsam rein, möglichst ohne Fehl und Tadel. Ach, wie naiv!

So kommt es einer gelinden Irritation gleich, wenn man jetzt auf jene mit goldenem Krönchen verzierte Anzeige stößt: HME gibt sich dafür her, die Uhrenmarke Rolex im Gespräch zu halten.

Nein, ich möchte nicht all die Goldkettchen-Typen kennen, die sich ein Produkt dieser Firma ums Handgelenk winden.

Gedichtband von und Anzeige mit Enzensberger (Foto: Bernd Berke)

Gedichtband von und Anzeige mit Enzensberger (Foto: Bernd Berke)

Rolex gibt sich die Ehre, jeweils einen Mentor und einen Meisterschüler miteinander zu koppeln und zum fruchtbaren Dialog anzuregen. So jedenfalls die krampfhaft dezent plakatierte Idee. Ein paar mäzenatische Euro- oder Dollar-Scheinchen werden sicherlich auch noch dransitzen. Hat Enzensberger das auf seine älteren Tage noch nötig?

Enzensberger also unterhält sich, ausweislich des Annoncen-Fotos, mit der ihm zugeordneten Dichterin Tracy K. Smith. Man reibt sich mehr oder weniger verwundert die Augen, wenn man sieht, wer noch teilnimmt an dieser nicht allzu transparenten, wohl aber durchsichtigen Aktion. Auszug aus der illustren Namensliste:

Tahar Ben Jelloun, Brian Eno, Stephen Frears, David Hockney, Rebecca Horn, Toni Morrison, Martin Scorsese, Wole Soyinka, Mario Vargas Llosa, Robert Wilson.

Mich würde interessieren, wen die Rolex-Werbestrategen sonst noch gefragt haben und wer also abgesagt hat. All denen möchte ich meinen Dank aussprechen.




Martin Walsers Tagebücher 1974-1978: Wachsende Verbitterung

Also schreibt Martin Walser: „Ich schlug Günter vor, in ein Pornokino am Ku’damm zu gehen. Günter wollte nicht. Ich habe Phantasie, ich geh doch in keinen Porno.“

Richtig geraten. Jener Günter ist Günter Grass. Nach einem langen Diskussionstag in der Berliner Akademie der Künste mochte er sich offenbar nicht „unter Niveau“ entspannen. Oder war es die unverhoffte Gelegenheit, dem Marktkonkurrenten Walser „Phantasielosigkeit“ zu unterstellen? Egal.

Die läppische Episode begab sich im Mai 1976 und ist in Martin Walsers Tagebüchern verzeichnet. Er hätte die Passage, in der Grass vermeintlich „besser wegkommt“ als er selbst, gewiss nicht in den neuen Band aufnehmen müssen. Doch er hat es getan. Auch sonst ging er in den jetzt erschienenen Tagebüchern der Jahre 1974-1978 nicht gerade schonend mit sich um. Seine Wahrheit muss heraus. Mit anderen Worten: Dies ist ein notwendiges Buch.

Man kann hier noch einmal tief in den Kultur- und Literaturbetrieb der 70er Jahre eintauchen, als Autoren wie Grass und Walser, Max Frisch, Heinrich Böll, Uwe Johnson und Hans Magnus Enzensberger die hiesigen Debatten prägten. Als dominanter Präzeptor des Betriebs, ja als geradezu mythische Gestalt – jedoch mit manchen menschlichen Schwächen – erscheint der offenbar allzeit virile Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, der sich außerehelich gern mit ausgesprochen jungen Gespielinnen schmückte wie nur je ein „Pate“. Auf ähnlichen Anhöhen thronte Max Frisch, den Walser als eitlen Altvorderen schildert. Und Enzensberger? War demzufolge ein Hallodri. Das durfte man erwarten.

Doch hier geht es weder um Tratsch noch um bloßes name dropping. Das hat Walser wahrlich nicht nötig. Er hat die meisten Kulturschaffenden (und Politiker), die er erwähnt, sehr gut gekannt und weiß Treffliches über sie mitzuteilen. Dabei werden Strukturen und Mechanismen des Betriebs bloßgelegt. So erfährt man einiges über Mauscheleien im Vorfeld wichtiger Literaturpreise, über bezeichnende Interna des Leitfossils Suhrkamp-Verlag oder über die teilweise gehässige Konkurrenz zwischen Schriftstellern.

Auch Walser ist natürlich nicht gänzlich frei von Anwandlungen der Missgunst. Mehrfach lässt er Futterneid just auf Grass durchblicken, der für Lesungen deutlich höhere Honorare kassierte und zudem höhere Prozentanteile an Buchverkäufen einstrich. Im Zuge der damaligen Tendenzwende (Zurückdrängung linker Positionen während des deutschen RAF-Terrorherbstes) fallen auch bissige Bemerkungen etwa über Peter Handke, der sich auf „wahre Empfindung“ kapriziert, während Walser seinerzeit immer noch im Umfeld der DKP (deren Mitglied er nie war) angesiedelt wird. Dabei ist auch er längst in andere Richtungen unterwegs.

Allerdings plagt sich Walser mit einer typischen 70er Jahre-Befürchtung, nämlich der, dass er als Hauseigentümer zu den verhassten Besitzenden gezählt werden könne.

Andererseits treiben den doch einigermaßen arrivierten Autor ständige, kleinmütig (und kleinbürgerlich) anmutende Geldsorgen um. Zitat: „Böll und Grass haben ihre enormen Geldreserven. Ich habe nichts.“ Jeder selbst bezahlte Hotelaufenthalt und erst recht ein Autokauf bereiten ihm Kopfzerbrechen. Will sich etwa jemand darüber mokieren? Wer steht schon für alle Zeit auf sicherem Grund?

Den bleiernen Schwerpunkt des Bandes bildet denn auch ein existenzgefährdender Vorgang, bei dem Walser übel mitgespielt worden ist, und zwar vom damaligen FAZ-Literaturchef Marcel Reich-Ranicki. Der hat am 27. März 1976 Walsers Roman „Jenseits der Liebe“ total verrissen, ja geradewegs verbal zerfetzt und dabei die literarische Eignung Walsers grundsätzlich in Zweifel gezogen.

Walser protokolliert in jenen Tagen, Wochen und Monaten seine nachhaltige Verbitterung. In der Rezension Reich-Ranickis glaubt er einen veritablen Vernichtungswillen zu spüren. Der Kritiker wolle ihn, Walser, „heraus haben“ aus der Literatur. Daran arbeitet sich Walser mühsam ab – zwischen Selbstzweifeln, Selbstzerfleischung und Selbstbehauptung, zwischen Rachedurst, Verfolgungswahn und aufblitzenden Selbstmordgedanken. Seine nächste Begegnung mit Reich-Ranicki stellt er sich im Tagebuch so vor: „Ich sage Ihnen also, dass ich Ihnen, wenn Sie in meine Reichweite kommen, ins Gesicht schlagen werde.“

Martin Walser erhielt damals etliche Solidaritätsbekundungen, so auch vom Freund Jürgen Habermas. Doch so gut wie niemand von medialem Belang wagte es, Reich-Ranicki öffentlich zu widersprechen. Besonders enttäuscht ist Walser über sozusagen schulterklopfende Großkritiker wie Joachim Kaiser („Süddeutsche Zeitung“) und Rolf Michaelis („Die Zeit“), die ihre Ablehnung in fadenscheinige Komplimente kleiden.

Walser kommt immer wieder auf seine notorischen Bauchschmerzen zu sprechen. Psychosomatische Symptome? Wer weiß. Jedenfalls vernimmt man einen Grundton des Verzagens, wechselnd mit trotzigen Wallungen und nur gelegentlichem Übermut, der auf verschüttete Lebenslust schließen lässt. Erst ein mehrmonatiger Arbeitsaufenthalt in West Virginia/USA bringt Linderung durch Distanz.

Das Ganze ist kein geringes Lehrbeispiel für Rezensenten aller Kunstgattungen, denn hieran lässt sich ermessen, was eine rücksichtslose Kritik mit einem Autor machen kann. Sie kann ihm schlimmstenfalls an die Lebensgeister gehen. Diese Feststellung ist beileibe kein Plädoyer für lediglich ergriffen nachzeichnende „Kunstbetrachtung“, wohl aber eine Mahnung zum Anstand. Auch entschiedenste Kritik sollte ihre Grenzen kennen.

Das rastlose Leben auf Lesetourneen (deprimierende Hotels, Provokateure im Publikum usw.) hält nur selten Trost bereit. Walsers auffällige Marotte: Wie ein akribischer Kursbuchhalter nennt er all die An- und Abfahrtzeiten der Züge, die er benutzt. Seine nervösen Zettel-Kritzeleien, deren Faksimiles den ganzen Band durchziehen, zeugen in kryptischer Form von seelischen Aufregungen (mit einem damals entstehenden Walser-Romantitel gesagt: von „Seelenarbeit“), sie geben dem Leser zudem das Gefühl einer großen Nähe zum Entstehungsmoment der Notizen. Ein sinnreicher Kunstgriff dieser Edition, die im Anhang aufschlussreiche Erläuterungen zum zeitgeschichtlichen Kontext enthält. Der vielleicht einzige Schwachpunkt des Primärtextes sind pseudo-lyrische Einsprengsel. Walser war und ist kein Lyriker. Er hat gut daran getan, sich anders zu orientieren.

Zauber der Nähe in vertrauter Region, heilsame Verwurzelung: Penibel hält der in literarischer Fron weltweit gereiste Walser fest, bis zu welchem Punkt er jeweils im heimischen Bodensee hinausgeschwommen ist. Und was der zuweilen arg besorgte Vater von vier Töchtern übers Familiäre äußert, ist auch nachträglich interessant. Franziska, Johanna, Alissa und Theresia Walser haben schließlich ihre je eigenständigen Wege als Autorinnen und beim Schauspiel (Franziska) beschritten. Es gibt bewegende Stellen in diesem Buch, die besagen, dass das Wachsen und Werden der Kinder Walser mindestens ebenso wichtig ist wie die eigenen Werke. Beispielsweise diese Aufzeichnung vom 31.8.1975:

„Die einzige Freude, die ich hatte, sind die Kinder. Wenn es zweien von diesen vieren gut ginge, könnte ich im Anschauen dieses Gutgehens meine restliche Zeit verbringen…“

Martin Walser: „Leben und Schreiben. Tagebücher 1974-1978“. Rowohlt Verlag. 591 Seiten, 24,95 Euro.




Enzensberger: Festlegen gilt nicht

Wenn man jemals gedacht haben sollte, jetzt wüsste man aber, worauf dieser Hans Magnus Enzensberger hinaus will, so war er meist schon wieder ein paar Schritte oder Windungen weiter.

Auch als älterer Mann ist er gedanklich noch wendiger als die allermeisten Jüngeren. Allein schon der Tonfall des mittlerweile 79-Jährigen klingt auch im neuen Gedichtband „Rebus“ freiweg – wie in seinen frühen und seinerzeit zornigen Aufbruchsjahren. Oder will man es etwa nur gerne so haben und hört es sich so zurecht?

Es schwingt da mittlerweile auch eine gereifte Gelassenheit mit, die die letzten Dinge längst ins Auge gefasst hat und den Tod kommen sieht. Revolte? Umsturz? Ach was! Obwohl es doch einst so schön war, die Utopie zu erträumen. Zitat aus dem abschließenden Gedicht „Coda“, das von fern her an Bert Brechts selbstkritisches Lebensfazit „An die Nachgeborenen“ gemahnt: „Daß nicht alles Mögliche möglich ist, / tut mir leid…“

Vielleicht noch ein leiser Anklang an Brecht, in diesem Falle an die „Fragen eines lesenden Arbeiters“. Enzensbergers Gedicht „Angewohnheiten“ hebt so an:

„Wie oft musste Plato sich schnäuzen, / der heilige Thomas von Aquin / seine Schuhe ausziehen, / Einstein sich die Zähne putzen, / Kafka das Licht ein- und ausschalten, / bevor sie zu dem kamen, / was ihnen aufgetragen war?“

Und was sagt uns das letztlich? Etwas sehr Bedenkenswertes: Dass nämlich der vermeintlich unbedeutende Alltagskram, den wir alle miteinander teilen („Kochen, Waschen, Treppensteigen“), in seiner ganz gewöhnlichen Friedlichkeit viel unentbehrlicher sei als all die großen Werke…

Das Titelwort „Rebus“ erinnert an jene kombinierten Buchstaben- und Bilderrätsel, die sich eben just „mit den Dingen“ (wörtliche Übersetzung aus dem Lateinischen) abgeben. Der Titelumschlag zeigt ein Lehrbuch-Bild aus der Hirnzellenforschung. Enzensberger hat oft Klage geführt gegen unsere grundsätzlich gespaltene Kultur: hie Geistes-, dort Naturwissenschaften, fast immer getrennt von einem Graben gegenseitigen Nichtverstehens. Seinen Gedichten ist gelegentlich zu entnehmen, dass er über solche Gräben hinwegsetzen will. Würde das Wort „ganzheitlich“ nicht so inflationär entwertet klingen, so wäre es hier angebracht.

Die Überschriften der Zyklen lauten wie knappe Befunde: „Gleichgewichtsstörung“, „Es gibt Probleme“, „Schwere Koffer“ (lastendes Gepäck der Erinnerung bis zurück in die Weltkriegszeit) und „Erste Person Plural“ (kollektive Erfahrungen in einer zwangsläufig diffusen „Wir“-Form). All diese durchaus noch unentschiedenen Bilanzen werden ausgesprochen lakonisch aufgesetzt. Unaufgeregt. Oft unterschwellig ironisch. Doch im Bewusstsein, dass da einiges ins krisenhafte Schlingern geraten ist – und dass der Mensch dem Verfall zu keiner Zeit entkommt. Das alte, natürlich nie erledigte Thema der Vergänglichkeit.

„Als ich zwanzig war, lange her / kam ich mir vor wie ein Toter, der keine Zukunft hat“, heißt es einmal weit rückblickend. Kaum ein prinzipieller Unterschied: Damals wie heute reicht, wenn man’s recht bedenkt, die halbwegs gesicherte Lebensperspektive im Grunde nur bis zum nächsten Tag. Man übersteht und überlebt, bis auf weiteres. Allem westlichen Luxus und allen momentanen Glücksgefühlen zum Trotz: „Auch das blühende Leben ist rutschig.“ Und selbstverständlich hat dieser Autor den Vorwurf des Jammerns auf hohem Niveau („Der hat gut reden“) stets schon klug mitbedacht.

Hinter jeder Zeilenbiegung kann hier eine kleine oder größere Überraschung lauern, hier gilt keine Festlegung, hier herrschen allemal schwer lösliche Widersprüche. Enzensberger ist eben nie so recht zu fassen. Nur ganz selten stört ein wenig seine Marotte des Aufzählens, diesmal z. B. auf Seite 85, im Gedicht „Bringschulden“. Da erfährt man nahezu komplett, was der Mensch „bringen“ kann – vom Opfer bis zum Ständchen…

Doch ein solcher Einwand ist läppisch im Vergleich zum reichlichen Gewinn, den man sich hier erlesen kann. Weitläufig sind die Felder, die in den kurzen Gedichten (gleichwohl ohne Eile) durchmessen werden, groß ist die Zeiten- und Themenfülle dieser Inventur zwischen Physis, Psyche und Gesellschaft. Nur zum Beispiel die Feier der vitalen Vielfalt, über alles nicht zu leugnende Elend hinaus: Diese immer noch wirksame Sinnlichkeit unserer wechselnden Jahreszeiten (ach, auch in dieser Hinsicht verwöhntes Europa!), sogar die wundersame Lebendigkeit der babylonischen Sprachverwirrung: „…sagen am Ende nicht / fünftausend Sprachen mehr als die eine?“

Und weiter, weiter, angetrieben von Ungewissheit (nur Scheitern und Niederlage seien gewiss): Der lebenslängliche Konflikt zwischen der Chemie in grauer Hirnmasse und dem widerspenstigem „Ich“, welches doch so schwammig zu sein scheint: „Je mehr du herumbohrst / in diesem Sumpf, / desto sinnloser.“ Das bedrohliche, womöglich aber auch beruhigende Nichts. Der flüchtige, jedoch erregende Augenblick: „Alles, was du spürst, ist gleich gültig. Das bloße Leben, bis in den kleinen Zeh.“ – Man beachte: „Gleich gültig“ statt „gleichgültig“, welch ein fundamentaler Unterschied!

Das Leben pulst und zittert also Tag für Tag fort und fort. Hingegen werden die großen, abstrakten Systeme und Behauptungen mit der Zeit relativiert. Vermeintlich felsenfester Glaube und Unglaube, Staatswesen („Leviathan“), angeblich weltbedeutende Werke. Ganz zu schweigen von den Torheiten neuester technischer Moden und der grassierenden, sinnleeren Betriebsamkeit…

Am besten, man begibt sich nicht in die Hauptströmung, sondern ergeht sich „dazwischen“ als jemand, der ruhig in eigenem Fahrwasser paddelt und aus der Distanz etwa dies amüsiert und befremdet wahrnimmt: „Alles, was wichtig ist, / zieht am Ufer vorbei – / Oberlandesgerichte, Tankstellen, / Mehrzweckhallen.“

Hans Magnus Enzensberger: „Rebus“. Gedichte. Suhrkamp Verlag. 120 Seiten, 19,80 €.