Gemüse an die Macht: Hannover läutet das Offenbach-Jahr 2019 mit einer köstlichen Polit-Satire ein

Die Macht wächst empor aus den tiefen Schlünden, wo es kalt, finster und feucht ist und man die Sohlen von unten sieht. Sie schraubt sich mit Hilfe magischer Kraft ans Licht und wankt als bedrohliche Schar in den Dunst, wie er in düsteren Krimis wabert. Das ist der Moment, in dem Jacques Offenbachs „König Karotte“ unheimlich wird.

Jacques Offenbach auf einem historischen Foto von Nadar

Jacques Offenbach auf einem historischen Foto von Nadar

Den Rest ihrer vier Akte und drei Stunden bleibt die köstliche Polit-Satire von 1872 in der Regie-Handschrift von Matthias Davids an der Staatsoper Hannover ein buntes Spektakel. Der Klamauk wuchert, wenn das Gemüse die Macht ergreift, denn der Herrscher des sagenhaften Reiches Krokodyne, ein Prinz namens Fridolin XXIV., hat alles Geld auf den Kopf gehauen und feiert mit Band, Mütze und blauer Pekesche mit einer fröhlichen Studentenschar: „Wir sind hier, gib uns Bier, wir haben Durst“ – Jean Abels Übersetzung trifft punktgenau.

Bei so viel Vernachlässigung der Staatsgeschäfte hat die Hexe Kalebasse – Daniel Drewes gibt sie als maliziöse Transe – leichtes Spiel. Knollen, Rüben und Wurzeln im königlichen Garten werden ans Licht gezaubert und erstürmen den Palast – nicht ohne sich zuvor als Radieschen, Lauch oder Schwarzwurzel durch das Publikum zu zwängen, wohl um zu zeigen: Hier kömmt das Volk! Und mittendrin, hoch aufgerichtet, die Gelbe Rübe, ein „fremder Herr mit einem Riesenapparat“: Das sind die Stellen, derentwegen Offenbach-Operetten früher frommen Pennälern verboten waren.

Victorien Sardou, der heute nur noch als „Tosca“-Verfasser bekannte Dramatiker, hat sein Handwerk verstanden: Sein Text, ohne weit hergeholte Aktualisierung verdeutscht, sitzt nicht nur, wenn es schlüpfrig, sondern auch, wenn es politisch wird. Denn diese „Opéra-bouffe-féerie“ ist heute noch unmittelbar und deutlich als Kritik an herrschenden Klassen verständlich – und zwar nicht nur an der Verkommenheit des „Ancien Régime“, das Fridolin verkörpert, sondern auch an der ungeschliffenen Willkür des Gemüseregiments, das eine Konterrevolution hervorruft: „Zerschlagt ihn zu Brei, dann ist vorbei die Tyrannei“ schleudert der Chor dem welkenden Karottenkönig entgegen, während sein Kabinett rechtzeitig die Seiten wechselt und sich „dem Volke“ andient.

150 Jahre ungespielt

Es wundert nicht, dass diese vegetabile Abrechnung mit dem Polit-Betrieb 150 Jahre lang nicht gespielt und erst 2015 in Lyon in der von Jean-Christophe Keck betreuten kritischen Edition wiederentdeckt wurde. Der Aufwand für diese gewaltige, einst sechs Stunden dauernde Ausstattungsorgie mit Zeitreise ins antike Pompeji, Vulkanausbruch daselbst, Ameisenreich und Affeninsel kann nicht Grund allein gewesen sein. Der Verdacht liegt nahe, dass Offenbach und Sardou einfach ein zu freches, politisch in den Verwerfungen des 20. Jahrhundert höchst unwillkommenes Team gewesen sind. „Orphée aux Enfers“ lässt sich leichter verharmlosen.

Wie die französische Bezeichnung sagt, hat das Stück drei Elemente, die untereinander ausbalanciert werden müssen: Die „opéra“ meint den musikalischen Anspruch, der sich in ausgedehnten Finali und abwechslungsreichen Formen zeigt. Offenbach greift in sein musikalisch-handwerkliches Repertoire und streut wie eine Fortuna ihr Füllhorn aus. Galopp, Walzer, Charaktertänze, schwärmerische, mit lichtem Ostinato-Puls unterfütterte Melodie, Couplet, Arioso und Romanze: alles klingt nach Offenbach, alles meint man schon gehört zu haben, und dennoch ist alles neu. Der unmittelbar eingängige Mitsing-Schlager ist nicht dabei, aber die eine oder andere melodische Formulierung windet sich ins Ohr und würde sich, ein paar Mal gehört, sicher zum Wurme wandeln.

Bemühte Übertreibung

Die „bouffe“, das Komische, ist nicht leichter umzusetzen als die „féerie“, das Fantastische. Das zeigt sich an der Inszenierung Davids‘: So gekonnt und flott viele Szenen konzipiert sind – und dank der Darsteller zünden sie auch auf dem Punkt –, so bemüht sind Übertreibungen: Das beginnt beim orangefarbenen König, den Sung-Keun Park als haute-contre in quäkende höchste Tenortöne führt und damit die Herrscherfiguren der alten französischen Oper parodiert. Aber als Darsteller strapaziert er ein überzeichnetes Gesten- und Bewegungsrepertoire. Diese Rübe ist weder komisch noch – und das ist ein echtes Manko – gefährlich. Die Doppeldeutigkeit der Figuren löst sich in quirligem Divertissement auf.

Auch bei dem kräftig und klar intonierenden Eric Laporte als Konkurrenz-Tenor Fridolin wird der springende Punkt, die Entwicklung zu einem weiseren Herrscher, nicht recht deutlich. Er bleibt der fröhliche Leichtfuß, als der er vertrieben wurde. Seine fantastische Reise vom alten Römerreich über die Insekten-Unterwelt bis in exotische Fernen lässt ihn zu wenig reifen. Sein wundersamer Begleiter Robin (beweglich in Stimme und Erscheinung: Josy Santos) erinnert an die Muse, die zehn Jahre später Hoffmann begleiten und zu seiner Dichter-Berufung führen wird. Das prinzipielle Problem bei Offenbach-Inszenierungen wird auch in Hannover nicht gelöst: Wie wirkt eine Figur komisch und gefährlich zugleich?

Anders die „féerie“: Mathias Fischer-Dieskaus Bühne verfällt nicht dem Illusionismus und markiert deutlich, wo die Illusion wirkt. Soffitten und Schenkel verhängen die Bühne mit dem französischen Rokoko des alten Regimes, düstere Wolkenbilder schaffen Atmosphäre, die Ameisenbrigade ist in einem Wirrwarr von Lichtstäben nur schemenhaft sichtbar. Susanne Hubrich schafft komisch-fantastische Kostüme, ob ein skurril verzerrtes Rokoko oder das kraftvoll modellierte Gemüse (Maske: Stefan Jankov); ob die langsam einschrumpelnde Karotte oder die wetterwendische Kunigunde (super überdreht: Anke Briegel) mit ihrer rübenassimilierten Hochfrisur. Der Schaulust wird Futter gegeben – ganz so, wie es die märchenhaften Ausstattungsstücke Offenbachs im Sinne gehabt haben.

Kalkuliertes Sentiment

Was Davids nicht übersieht: Offenbach hat auch eine sentimentale Seite. Wohl kalkuliert, spielt sie in „Le Roi Carotte“ ihre Rolle. Die Romanzen von Fridolin oder der gutherzigen, von der bösen Hexe gefangen gehaltenen Rosée-du-Soir (Athanasia Zöhrer) sind Momente des Innehaltens im Trubel, kleine Juwelen des Herzensgesangs, die andere Regisseure – Laurent Pelly 2015 in Lyon etwa – zu wenig beachten. Aber gerade sie zeigen die tief humane Seite der Kunst Offenbachs und geben den Figuren auf der Bühne eine berührende menschliche Dimension.

Was den Kenner beglückt, sind die zahllosen Anspielungen, die versteckten Persiflagen: Sprachlich sind sie in Hannover, weil ein gut artikuliertes Deutsch gesprochen wird, nur in gelingenden Übersetzungen erahnbar. Literarisch ist der Bezug zu E.T.A. Hoffmanns „Klein Zaches, genannt Zinnober“ offensichtlich, wenn der Hof dank des Hexenspuks das unmögliche Verhalten der vermenschlichten Rübe dem verwirrten Fridolin in die Schuhe schiebt. Musikalisch entzücken die Vorahnungen von „Hoffmanns Erzählungen“ schon in der prächtigen Ouvertüre.

Man goutiert den temperamentvollen Galopp wie in den Meisteroperetten, meint aber auch, im Pompeji-Finale des zweiten Akts die Schippe zu spüren, auf die Offenbach das Finale von Daniel François Esprit Aubers „La Muette de Portici“ mit seinem feuerspeienden Vesuv nimmt. Und die feine Ironie einer Liedchens wie „Blümelein fein“ scheint die „naiven“ Rouladen von Giacomo Meyerbeers „Dinorah“ und die angekränkelten Koloraturen der Ophélie aus Ambroise Thomas‘ vier Jahre zuvor uraufgeführtem „Hamlet“ ins Lächerliche zu ziehen.

Gestenreiche Theatermusik

Für all diese Finessen ist der frühere Gelsenkirchener Kapellmeister Valtteri Rauhalammi ein aufmerksamer Sachwalter: Er versucht nicht, durch überzogene Tempi Eindruck zu schinden, sondern nimmt Offenbachs gestenreiche Theatermusik genau so schnell, dass sich die Noten flott aneinanderreihen, ohne die sorgsame Artikulation zu verhasten. Er kennt die Wärme der Romanzen und die schwärmerische Aufbegehren der Melodie. Aber er gibt dem Rhythmen Pfeffer und Energie, er treibt das Niedersächsische Staatsorchester aus einer gewissen Schwere der Artikulation zu federnden und federleichten Klängen, weiß aber auch, wo er ironisch Aplomb einsetzen muss.

Alles in allem ist in Hannover eine kurzweilige Wiederbelebung eines Stücks zu genießen, dem man eine Karriere über das anbrechende Offenbach-Jahr 2019 hinaus nur dringend wünschen kann. Das Wiener Publikum kommt 2019/20 in den Genuss des Gemüsegerichts, wenn die Produktion an der Volksoper gezeigt wird. Und die nächste Polit-Satire winkt bereits: „Barkouf“ heißt die 1860 uraufgeführte, ebenso vergessene Opéra-bouffe, in der am 7. Dezember in Strasbourg ein Hund die Macht übernimmt. So kann das Offenbach-Jahr getrost beginnen!

Vorstellungen von Offenbachs „König Karotte“ gibt es in Hannover bis zum 21. Juni 2019, in der Spielzeit 2019/20 dann an der Volksoper Wien. Info: https://oper-hannover.de/index.php?m=244&f=03_werkdetail&ID_Vorstellungsart=7&ID_Stueck=545




Schöner Skandal: Dortmunds Schauspielchef Voges mischt mit „Freischütz“ Hannover auf

Ein "Freischütz" sorgt für Wirbel in Hannover. Inszeniert hat die umstrittene Produktion der Dortmunder Schauspielintendant Kay Voges. Foto: Werner Häußner

Ein „Freischütz“ sorgt für Wirbel in Hannover. Inszeniert hat die umstrittene Produktion der Dortmunder Schauspielintendant Kay Voges. Foto: Werner Häußner

Das ist doch schön! In stumpf gewordenen Zeiten, in denen all die vaginal-anal-erektionale Blut-Sperma-Fäkalmetaphorik des postzeitgenössischen Theaters nur noch Augenrollen oder Schulterzucken hervorruft, schafft die Oper einen Skandal. Richtig befreiend, dass sich sogar die Politik wieder einmal mahnend zu Wort meldet. Wunderbar, dass die CDU-Ratsfraktion in Hannover die Schätze, die uns Dichter und Komponisten hinterlassen haben, „ins Niveaulose und Beliebige“ gezerrt sieht. Inzwischen gibt es sogar eine Anfrage der Landtags-CDU ans niedersächsische Kultusministerium. Und in der Kulturszene Hannovers hält die Debatte an.

Besser hätte es nicht laufen können: Wenn, wie maliziös orakelt, mit einem kleinen Skandal kalkuliert wurde, ist die Rechnung aufgegangen: Mit Carl Maria von Webers „Der Freischütz“ in der Form, wie sie der Regisseur übriggelassen hat, hat’s die Niedersächsische Staatsoper Hannover wieder einmal übers Feuilleton hinaus auf den Presse-Boulevard geschafft.

Der Mann hinter der Aktion heißt Kay Voges und sorgt als Intendant des Schauspiels in Dortmund seit 2010 für erhöhte Aufmerksamkeitswerte. Nach fünf Jahren hat er es geschafft, seine Bühne in der Kritikerumfrage von „Theater heute“ auf Platz zwei hinter dem Burgtheater Wien zu platzieren und mit Bühnen wie der Berliner Schaubühne gleichzuziehen. Seine erste Opernregie, Wagners „Tannhäuser“ 2013 am Dortmunder Opernhaus, schwankte zwischen Bildkaskaden und Hintersinn.

Kay Voges. Foto: Birgit Hupfeld

Kay Voges. Foto: Birgit Hupfeld – Da die Staatsoper Hannover keine honorarfreien Fotos zum „Freischütz“ zur Verfügung stellt, verzichten wir aus finanziellen Gründen auf eine aktuelle Bebilderung der Rezension.

Die deutsche Romantik scheint den aufstrebenden Theatermann nicht loszulassen. Scharfsichtig hat er im „Freischütz“ das Potenzial erkannt, auf das sich virtuos die Stilmittel postdramatischen Theaters übertragen lassen: die offene Heterogenität des Librettos, der aus der französischen Opéra comique herkommende Wechsel zwischen gesprochenem Text und Gesang, der freie, kühne Einsatz der Formen. Und dazu die Reizwörter, die sich seit jeher mit Webers Oper verbinden: national, deutsch, Wald, Volk, Jagd. „Der Freischütz. Die deutsche Nationaloper“ prangt auch auf dem Vorhang, bevor jemand zaghaft um Hilfe ruft.

Das dünne Stimmchen gehört zu einem wunderlichen Gnom: „Okidoki“ sagt der Kleine, halb Gollum, halb Knetmännchen, mit Kartoffelnase, riesigen Segelohren und dicken Wurstfingern. Die Zentralgestalt des Werkganzen steht vor uns. Eine Comic-Figur, allein vor dem Vorhang. Während der Ouvertüre wird sie auf einem Video durch dunkle Gewölbe deutschen Wesens streifen, vorbei an schemenhaft beleuchteten Bildern: Bismarck, die Gebrüder Grimm, Wagner, Adenauer. Später entpuppt sie sich als das schöpferische Prinzip: „Samiel versucht sich an einer deutschen Nationaloper“ heißt es über der Inhaltsangabe im Programmheft.

Peinvolle Kreation einer „Nationalopaa“

Böse ist dieses Wesen nicht, wenn es aus unartikulierten Lauten stockend „national“ und „Nationalopaa“ formt, wenn es in einer der überbordend vielen Projektionen Leinwände bemalt und über Europakarten braune Brühe verschmiert, schwärmerisch Musik mitdirigiert, sich vor Pein am Boden windet, verzückt oder gequält die Augen verdreht oder die Zähnchen fletscht – alles in Großaufnahme und teils von der Live-Cam mitverfolgt. Lustig kann es sein, wenn es die Handlung anhält, mit den Darstellern schimpft und hadert – oder Kaspar aufklärt, er sei „der Selbstbezug des denkenden Subjekts als Möglichkeit einer Rückkehr vom Äußeren zum Eigenen“. Max schreit an dieser Stelle: „Mir reicht’s!“ In der Premiere, Berichten zufolge, tönte aus dem Publikum: „Uns auch.“

Der Schöpfer-Gnom, mit dem die Dortmunder Schauspielerin Eva Verena Müller eine Glanzleistung liefert, ist eine Figur, in der die Aspekte von Komponist, Librettist und Regisseur verschmelzen. Genau wie in der Form von Theater, die Voges im Kopf hat. In der Wolfsschlucht-Szene, deren Beginn mit dem Vollmond ein romantisches Symbol zitiert, trinkt das Wesen blutige Milch und mutiert mit kahlem Schädel und Pimmelchen unterm Hemd zum Samiel, der das Zaubergebräu mischt und am Ende eine braune Partitur gebiert: den „Freischütz“. Am Ende markiert es mit schwarz-rot-goldener Bommelmütze exakt die Bruchstellen, an denen das Finale ganz anders hätte weitergehen können, und führt den Eremiten in weißem Wallegewand mit silbernen Haaren und Bart auf die Bühne. Kein Problemlöser, sondern der Gott der Kitschbilder frommer Andacht. „Fest auf die Lenkung des Ewigen“ gebaut wird hier nicht. Die Vision sieht anders aus: Ein Dunkelhäutiger schwenkt die Deutschlandfahne.

Dazwischen überzieht Voges den „Freischütz“ mit einer Bilderflut, gegen die Christoph Schlingensiefs „Parsifal“ minimalistisches Zeichentheater war. Voxi Bärenklau, 2004 in Bayreuth dabei, liefert Wogen bewegter Bilder, darunter in irrwitzigem Staccato geschnittene Fetzen aus der aktuellen Berichterstattung von den Pariser Anschlägen bis zu Politikerreden, Nazi-Transen oder Capri-Sonne zullenden Zwergen. Was das Repertoire an „deutschen“ Zerrbildern hergibt, flimmert über einen Gazevorhang oder die Projektionsflächen des Bühnenbaus von Daniel Roskamp, der unverkennbar an Aleksandar Denićs Tankstelle aus dem Bayreuther Castorf-Ring erinnert. Live-Kameras (Jan Voges, Vlad Margulis) kehren das Innere des traurigen „Okidoki“-Vergnügungsetablissements nach außen: Die Gleichzeitigkeit der Szenen als Metapher medial überfluteter Wahrnehmung.

Kastrationsangst und Potenzprobleme

Damit’s auch richtig sitzt, verzichtet Voges nicht auf erläuternde Schriftprojektion. Deutsche Freiheit, ist zu lesen, wird am Hindukusch verteidigt. Der Sternschuss zu Beginn ist ein Brandanschlag: Im Hintergrund laufen die entsprechenden Daten über einen Bildschirm, während Max, ein dicklicher Stubenhocker, von Neonazigestalten mit Baseballschlägern bedrängt wird. Kilian, in Fußballtrikot, reißt ihm die Hose runter – am Schirm ist „Kastrationsängste und Potenzprobleme“ zu lesen.

Und dann folgt das Video, das die Staatsoper veranlasst hat, das Besucher-Mindestalter auf 16 festzulegen: Max liegt auf einem Seziertisch und nachdem drei Nazis zu „Wir lassen die Hörner erschallen“ lustvoll steife Glieder bearbeitet hatten, wird der Penis des unglücklichen Jägers Opfer einer Schere. Wie in einer schlecht gemachten Retusche eines Fünfziger-Jahre-Films strömt das Blut – am Ende der Szene wankt dem Sänger sein Double mit blutiger Boxershorts entgegen.

Ohne Zweifel: Kay Voges inszeniert in Hannover seinen „Freischütz“ auf der Höhe des aktuellen Theaters. Er ist freilich nicht der erste. Zu erinnern ist an die Berliner Arbeit Calixto Bieitos, vor allem aber an den „Freischütz“ Sebastian Baumgartens 2013 in Bremen. Der hat bei der Ausleuchtung düsterer Abgründe der deutschen Seele Faschismus und Kolonialismus aufzudecken versucht. Das führte zu fesselnden, beklemmende Bildern, zeigte aber auch, dass Webers Werk nur begrenzt und ziemlich zurechtgebogen dazu taugt, mit der deutschen Geschichte ins Gericht zu gehen.

Vordergründige Eindruckswerte

Ähnliches muss gegen Voges‘ Gegenwartsbefragung auf Hannovers Bühne eingewandt werden. Sicher, wenn die Jäger von ihrem Vergnügen singen, das die Glieder erstarket, wenn sie männlich‘ Verlangen und volle Pokale besingen, dann gibt dieser Hit der Opernmusik, unterlegt mit einem Video von einer Pegida-Demo mit lauter mürrischen Gesichtern – Linksautonome dürften allerdings auch nicht fröhlicher dreinblicken, wenn sie gegen „Faschisten“ marschieren –, ein wirkungsvolles Bild gefährlicher politischer Dumpfheit. Doch über die Ebene eines scheinbar unmittelbaren Einleuchtens kommen solche Regiemittel nicht hinaus.

Das ist das Problem: Voges‘ bilderreiches politisches Statement gegen das „Nationale“ kommt nicht über vordergründige Eindruckswerte hinaus und trägt außer hochemotionalisierter Clips nichts zur Analyse des Phänomens bei. Es kann auch Webers oder Kinds Begriff des „Nationalen“ nicht adäquat einholen oder in die Gegenwart übersetzen. Denn damals ging es – mit der französischen Kriegswalze im Hintergrund – um eine freie deutsche Nation, gegen die Willkürherrschaft der Fürsten in Kleinstaaten, gegen Zensur und Unfreiheit, für die Mitbestimmung des Volkes. Alles andere als eine „allzu simple Heilsbotschaft“, wie sie Voges in einem Interview im Programmheft dem Eremiten unterstellt. Das Werk wird auch derzeit von niemandem als „Zeugnis eines dumpf-aggressiven Nationalgefühls“ missbraucht, wie Voges argwöhnt. Der Schuss geht daneben – und der Eindruck bleibt, hier werde Webers Werk als Vehikel für ein arg durchsichtiges politisches Statement benutzt.

Das „Nationale“ ist einer der Diskurspunkte in einer Regiearbeit, die sich ansonsten der Hermeneutik verweigert. Bewusst – und darin wieder auf der Höhe der Zeit, wie etwa in der bildenden Kunst schon lange – bleibt der Weg offen, den sich der Zuschauer durch den Dschungel der Impressionen bahnt. Wo die Grenze zu Beliebigkeit liegt, ist schwer auszumachen, denn Voges ist, so anfechtbar sein Ansatz auch sein mag, in der Setzung seiner Bildwelten präzis. Ein anderes Thema, das sich unschwer festmachen lässt, ist der Sex: Dazu fällt Voges noch weniger Substanzielles ein. Dass „Leid oder Wonne“ in Maxens „Rohr“ ruhen, darüber feixten die Achtklässler schon lange, die jetzt aus dem Hannoveraner „Freischütz“ ausgeschlossen sind. Und die „Kastrationsangst“ mit den unsichtbar grollenden Mächten zu assoziieren, die Max im ersten Akt fürchtet, hat mit Sigmund Freud oder Jacques Lacan wohl wenig zu tun.

Musik gibt’s dann auch noch

Ach so – Musik gibt’s ja auch noch! Karen Kamensek müht sich mit dem Niedersächsischen Staatsorchester redlich, die Marginalisierung zu vermeiden; von einer gleichwertigen Rolle der Musik zu sprechen, wäre in Anbetracht der Bildfluten vermessen. Sie wird vom Träger des Ausdrucks zur effektsteigernden Untermalung gewandelt. Mehr als eine ordentliche Wiedergabe mit kühlen, spröden Farben war nicht drin. Die Sänger sind zu bewundern: Die Komplettbespielung der Bühne nimmt wenig Rücksicht auf die Stimmen. Häufige Close-ups fordern die Präzision des Minenspiels heraus, lassen – etwa im Falle Eva Verena Müllers – detaillierte dentalmedizinische Studien zu. Eric Laporte bewältigt als Max den Wandel von der Strickweste zur Uniformjacke bewundernswert, kämpft in den Soloszenen mit der leichten Formung der Töne und einem breit schwingenden Vibrato.

Dorothea Maria Marx muss als Agathe profilarm bleiben und singt kühl brillant, Ania Vegry steht als Ännchen am Ende für einen Dreier mit Max bereitwillig zur Verfügung und zeigt lichte, herzige Töne. Tobias Schabel, mit roter Zwergen-, Jakobiner- oder Zipfelmütze, haust in einem Kabuff mit einem Bild Beate Zschäpes an der Wand, singt mit ausgezeichnet positioniertem, lockerem Bassbariton einen Kaspar, der szenisch beinah alle Konturen verloren hat. Byung Kweon Yun übt sich als Kilian in vulgärem Auftreten; Stefan Adam ist als Ottokar ein schmieriger General wie aus einem Südamerika-Krimi, Michael Dries ein glatter Kuno, Shavleg Armasi der harmlose Eremit mit schöner Stimme. Der Chor (Leitung: Dan Ratiu) schmettert mit martialischem Ton das Jägergegröle, dass es nur so schallt: Trefflich bedient!

Weitere Vorstellungen: 31. Januar, 13. Februar, 11., 16. und 19. März 2016. Info: http://www.staatstheater-hannover.de/oper/index.php?m=244&f=03_werkdetail&ID_Vorstellungsart=7&ID_Stueck=395