Cra Cra, Bum Bum, Din Din! Gioachino Rossinis „Italiana in Algeri“, historisch informiert aufgeführt in Berlin

Quicklebendiger Belcanto im nackten Mauerwerk der Kino-Bühne im Berliner Theater im Delphi. Auf dem Bild von links: Miloš Bulajić (Lindoro), David Oštrek (Mustafa Bey), Polly Ott (Elvira), Hannah Ludwig (Isabella), Manuel Walser (Taddeo). (Foto: Anna Tiessen)

Historisch informiert – das kannte man bis vor wenigen Jahrzehnten nur im Bezug auf alte Musik. Pioniere wie Gustav Leonhardt und Nikolaus Harnoncourt erweiterten das Wissen um historische Spielweisen und Aufführungspraktiken enorm. Inzwischen ist auch die Zeit der Romantik bis hin zu Johannes Brahms und Richard Wagner ins Blickfeld gerückt.

Nur bei einem der bedeutendsten Komponisten des 19. Jahrhunderts, Gioachino Rossini, und im romantischen Belcanto von Bellini bis Verdi hat diese Bewegung bisher kaum Resonanz erzielt. Eine Produktion in Berlin will das ändern: Im Theater im Delphi – sonst nicht gerade für Opernaufführungen bekannt – präsentierte ein ambitioniertes Ensemble Rossinis „L’Italiana in Algeri“, unterstützt von der Deutschen Rossini Gesellschaft, die in Berlin auch ein halbtägiges Seminar zur historischen Aufführungspraxis bei Rossini abhielt.

Bei den vom Ensemble Eroica Berlin unter dem mit Rossini wohlvertrauten Dirigenten Jakob Lehmann organisierten drei Vorstellungen ist es die spezielle Praxis des Musizierens, die einen spannenden Abend garantiert. Regisseur und Bühnenausstatter Dennis Krauß lässt in einer auf drei rote Kisten vor nacktem Mauerwerk reduzierten Szenerie spielen; die Kostüme von Pauline Heitmann enthalten sich jeglicher Anspielung an den früher üblichen klischeehaften Orientalismus. Rossinis ebenfalls auf exotische Effekte verzichtende Musik erweist sich als theaterwirksam genug, um die drei Stunden nicht zäh werden zu lassen.

Gespielt wird im Delphi, an der Grenze von Weißensee zum Prenzlauer Berg, einem 1929 erbauten Stummfilm-Kino, das 1959 geschlossen und u.a. als Lager genutzt wurde, bis es 2012 von dem Künstler-Duo Brina Stinehelfer und Nikolaus Schneider aus dem Dornröschenschlaf geweckt und zu einem neuen Kunst- und Kulturort entwickelt wurde. Im unrestaurierten Jugendstil-Tonnengewölbe des Kinosaals mit einer Bar auf der Rückseite sitzt das Publikum unter verblassten Farben und Wasserflecken an der Decke an alten Tischen und kann wie in einem Varieté der Vorstellung folgen.

Frische, detailreiche Musik

Die Musik spielt im Raum vor der Bühne und klingt präsent und transparent – ungetrübter Genuss der fein ziselierten Details von Rossinis Partitur ist garantiert. Deutlich hört man die Verzierungen und liebevoll ausgearbeiteten Phrasierungs- und Dynamik-Finessen, denen sich die jungen Musikerinnen und Musiker des Orchesters widmen. Das sorgt in der Tat für ein frisches, detailreiches, im Vergleich zu üblichen Darbietungen kühleres, brillantes, aber auch luftiges Klangbild.

Mit wenig Vibrato gespielte Darmsaiten, jeweils ein an den beiden Flanken und im Zentrum des Orchesters platzierter Kontrabass, etwas schwerer ansprechende, aber warmtönige Hörner und eine aus Hammerklavier, Cello und Kontrabass bestehende Continuogruppe versuchen, den Klang der Rossini-Zeit in unsere Gegenwart zu holen. Die beiden Schlagzeuger nutzen herrlich blechernes Metallzeug „alla turca“, darunter einen selbst gebauten Schellenbaum, und sorgen damit für zugespitzte Akzente – wie überhaupt die Tutti scharf und kurz gefasst sind und damit einen „lärmigen“ Eindruck von Rossinis Musik nicht aufkommen lassen.

Die Streicher sitzen einander gegenüber, wie es auf alten Stichen zu sehen ist,und haben so – zumindest in den ersten Violinen – unmittelbaren Kontakt zu Bühne. In der Ouvertüre macht die Oboistin Katharina Haritonov aus ihrem ersten Solo ein verziertes Bonmot, das gleich deutlich macht: Hier wird so musiziert, wie wir es aus Quellen des frühen 19. Jahrhunderts erfahren. Auch die Agogik und die genüsslichen Ritardandi, die Portamenti und die kurzen, trockenen Staccati zeigen, dass sich die Musiker eingehend mit früheren Praktiken beschäftigt haben. Das geht bis zum „battuto“, wenn die Geiger mit ihren Bögen auf die Saiten schlagen und einen geräuschhaften Effekt erzeugen.

Die Frage nach dem Belcanto

Ob das alles so war und so sein muss, sei dahingestellt – aber eine Diskussion darüber ist allemal spannend und fruchtbar. Und Rossinis Musik bekommt dieser Zugang so gut – man höre nur, wie vielgestaltig und harmonisch interessant auf einmal die einleitenden Pizzicati des Preludio wirken –, dass man sich fragt, warum so etwas nicht wenigstens bei spezialisierten Festivals wie Rossini in Wildbad oder in Pesaro zur Diskussion gestellt wird.

Ärger im Hause Mustafa (von links): Laura Murphy (Zulma), Polly Ott (Elvira), David Oštrek (Mustafa Bey). (Foto: Anna Tiessen)

Zur Debatte sollte auch der spezifische Belcanto stehen, denn in der Technik des Singens stehen Fragen an, die über bloßen Geschmack hinausgehen. Lockerheit und Modulationsfähigkeit der Stimme, ein entspannter Ton über alle Register, klare Artikulation, ein gut gestütztes, frei gebildetes Piano, ein unangestrengt in den Raum projizierter Klang und die Fähigkeit, die vielfältigen Formen musikalischer Verzierung einwandfrei auszuführen, gehören dazu. In Italien neigt man derzeit dazu, Stimmen auf harte Strahlkraft hin auszubilden, im östlichen Europa besetzt man italienische Oper, gleich ob von 1810 oder 1910, mit einander ähnlich klingenden, auf Kraft, üppigen Ton und nicht selten ausladendes Vibrato hin geformten Stimmen. Adäquater Rossini-Gesang, der einlöst, was stilistisch gefordert wird, ist also trotz vieler Fortschritte in den letzten Jahrzehnten immer noch rar.

Eine erfreuliche Ausnahme ist in Berlin mit Hannah Ludwig zu erleben. Sie bringt viele der Vorzüge mit, die eine virtuose Rossini-Stimme ausmachen, prunkt als Isabella mit leuchtendem, auch im tiefen Register nicht extrem eingebrustetem und gut verblendetem Ton, verfügt über Beweglichkeit, aber auch den nötigen dramatischen Impetus. Eine Sängerin, die Freude macht. Auch die feine Stimme von Laura Murphy als Zulma lässt viel Potenzial entdecken, während Polly Ott als unglückliche Ehefrau des Mustafa Bey den Ton eher kopfig und mit forcierter Brillanz bildet – was eigentlich nicht nötig wäre.

Verzierungen und dünne Stimmfäden

Miloš Bulajić zeigt in „Languir per una bella“ respektable Verzierungskünste, aber die Stimme ist angespannt und bisweilen druckvoll gebildet, der Einsatz der voix mixte tendiert zum Falsett – insgesamt aber verdient sich der Tenor, der viel an der Lindenoper gesungen hat, Hochachtung für seinen Einsatz in dieser anspruchsvollen Rolle. Bassbariton David Oštrek verfügt über eine ansprechend gebildete, zu Tönen mit genauer Kontur, doch nicht zu lockerer Fülle neigende Stimme. Seine Artikulation ist untadelig, das ornamentale Gestalten bringt ihn ebenfalls nicht aus dem Konzept. Ein viriler Patriarch, machtbewusst, von Empathie kaum angefochten, empfänglich für die „Pappataci“-Finte, doch zu eitel, einzugestehen, dass er nicht weiß, worum es geht – Oštrek macht aus seiner Rolle einen lebensvollen Charakter.

Das versucht auch Manuel Walser als Taddeo, den er weniger als Trottel, eher als Opportunist anlegt und damit auf dem richtigen Weg ist. Adam Kutny als Hajek ist ein Beispiel einer mächtig-klangvollen, aber ungeschliffenen Stimme. Während der Neue Männerchor Berlin eher dünne Stimmfäden spannt, vereinen sich die Solisten in den genialen Ensembles in crescendierendem Entsetzen, das ihnen Hirn und Verstand zu rauben droht, und unter den feurigen Steigerungen des Orchesters und dem Krachen des Schlagzeugs bleiben nur noch cra cra, bum bum und din din. Da zeigt sich Rossini als Meister eines Humors, der in seiner überdrehten Absurdität wie kaum ein zweiter einfängt, wie brüchig unsere armselige menschliche Erkenntnis daherkommt und wir vielleicht gut daran tun, wie der gütig von den Stahlstichen lächelnde Maestro das Dasein mit heiterer Ironie und wissender Menschlichkeit zu nehmen.




Träume, Ahnungen und Heldentum – das 1. Sinfoniekonzert der Essener Philharmoniker

Tomás Netopil ist seit einem Jahr Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Tomáš Netopil ist seit einem Jahr Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Die neue Saison beginnt mit Tomáš Netopil und den Essener Philharmonikern. Dirigent und Orchester markieren den konzertanten Auftakt der Spielzeit 2014/15, geben sich dabei, nicht zuletzt, dem Zauber des Anfangs hin. Claude Debussys „Prélude à l’après-midi d’un faun“ ist nämlich ein so sanfter, fragiler, berauschender wie eben zauberhafter Einstieg. Der Kontrast wiederum könnte kaum größer sein: sowohl zu Bohuslav Martinůs Doppelkonzert für zwei Streichorchester, Klavier und Pauken, als auch zu Beethovens „Eroica“-Sinfonie.

Netopil ist nun seit einem Jahr neuer Chef des Essener Orchesters, und mehr und mehr scheint es ihm zu gelingen, aus dem Schatten seines Vorgängers, Stefan Soltesz, herauszutreten. Es ist ja nicht leicht für einen Neuling, in die großen Fußstapfen eines Dirigenten zu treten, der den Philharmonikern einen allseits bewunderten Qualitätsschub gebracht hat. Soltesz galt (und gilt) zudem als Fachmann für die Musik Wagners und besonders Richard Strauss’, manche Opernaufführung im Aalto-Theater wurde entsprechend zum großen Ereignis.

Netopil indessen fühlt sich dem tschechischen Repertoire verpflichtet – Dvořák und Janáček, Suk und eben Martinů sind seine „Hausgötter“. Hinzu kommt des Dirigenten stets bekundete Liebe zu Mozart. Solcherart Perspektivwechsel verlangt vom Opernfreund und Konzertgänger eine gewisse Bereitschaft, ja den Mut, sich auf Veränderungen einzulassen. Doch auf eines kann sich das geneigte Publikum verlassen, die Qualität des Orchesters. Erinnert sei nur an das tolle Dirigat Netopils der Janáček-Oper „Jenúfa“.

Nun aber, nach einem Jahr im Amt, vermag Netopil zunehmend, die Philharmoniker auch auf dem Konzertparkett mitzuziehen. Unter Soltesz nämlich gab es manches Raunen, dass das Orchester in erster Linie im Operngraben glänze. Doch inzwischen, das zeigt eben das erste Sinfoniekonzert der neuen Spielzeit, erobern sich die Musiker mehr und mehr das Terrain auf dem Podium. Und der doch stürmische Applaus der Abonnentenschar zum Ende der „Eroica“ macht deutlich, wie sehr dieser qualitative Zugewinn vom Publikum geschätzt wird.

Ludwig van Beethoven zu Zeiten der "Eroica". Gemälde von W.J. Mähler (1804).

Ludwig van Beethoven zu Zeiten der „Eroica“. Gemälde von Joseph W. Mähler (1805).

Nicht alles mag glänzen an diesem Abend in Essens Philharmonie, aber vieles strahlt, verzaubert, entwickelt Suggestivkraft. Debussys „Faun“, ein Fabelwesen, halb Mensch, halb Tier, träumt von der Verführung zweier Nymphen. Flirrende Hitze will die Musik ausstrahlen, erotisch aufgeladen ist sie, zugleich lasziv-schillernd. Auf- und abschwellende Klänge mäandern durch den Raum. Nur kleine rhythmische Episoden durchbrechen das stete Fließen, gewinnen aber kaum eigene Kontur. Dies alles dirigiert Netopil, musizieren die Essener Philharmoniker in größter Sorgfalt. Delikat klingen die Holzbläser (mit der Soloflöte als Leitinstrument), sinnlich die Streicher. Schöne Stellen en masse gelangen ans Ohr, und wenn es an etwas fehlt, dann an der einen großen Linie. Dirigent und Orchester scheinen hier zu sehr den Strukturen verhaftet.

In Martinůs Doppelkonzert liegen die Dinge anders. Bekenntnismusik statt Traumgespinst, treibendes Pulsieren statt Transzendenz. Das Werk fesselt mit seinen auf- und absteigenden Erregungskurven, der Schichtung von Streicherstimmen, nicht zuletzt mit der formalen Strenge, die dem barocken Concerto-grosso-Prinzip entlehnt ist. Bartóks Divertimento für Streicher diente hier offenbar als Vorbild. Gleichwohl ist das Stück kein Konzert im klassischen Sinne – hier Solo, dort Tutti. Vielmehr ist das Klavier als Saiteninstrument lediglich eine Klangfarbe inmitten der Streicherflut, die Pauken wiederum geben Akzente. Und der Pianist Ivo Kahánek darf erst im langsamen Satz, der düster und traurig wirkt, sein gestalterisches Können unter Beweis stellen.

Martinů schrieb das Werk 1938, er selbst hat es als eine Vorausahnung bezeichnet, mit Blick auf das Münchner Abkommen, das Teile seiner tschechischen Heimat dem Deutschen Reich zuschlug – mit all den schrecklichen Folgen. Die dunkel grundierte, aufgewühlte Musik interpretieren Orchester und Solist in aller Dringlichkeit. Mag manches plakativ klingen, so ist die Wirkung doch enorm.

Emotional jedenfalls ist dies der stärkste Moment während des Konzerts. Da kann selbst Netopils Deutung der „Eroica“ nur bedingt mithalten. Weil Dirigent und Orchester anfangs wiederum zu sehr der Form verhaftet sind. Das Heldische kommt zunächst etwas schmalbrüstig daher, manche dynamische Steigerung erstickt im mulmigen Klang. Schön auch hier wiederum die Holzbläserlinien, sicher und markant das Spiel der Hörner.

Erst im Scherzo und im groß angelegten Variationen-Finalsatz gewinnt die Musik an Stringenz, baut sich Spannung auf, setzt Netopil gewissermaßen Beethovensche Energien frei. Sodass, wie gesagt, in der voll besetzten Philharmonie der Beifall üppig ist.