Aufbruch zu einer Landpartie führt in die Schrecken des Ersten Weltkrieges – Jean Cocteaus Roman „Thomas der Schwindler“

Wenn eine Reisegruppe Kekse, Orangen und Likör einpackt, dann wird es sich wohl um Proviant für eine Landpartie handeln, möchte man meinen. Doch die edel gekleideten Frauen und Männer, die da im Paris des Jahres 1914 die Kisten entsprechend gefüllt haben und sich auf den Weg machen, verfolgen ganz andere Absichten.

Ihr Ziel ist die Stadt Reims oder anders gesagt: die französische Front. Sie wollen den verwundeten Soldaten helfen und (wenn möglich) die Kämpfe aus nächster Nähe verfolgen. In den Lazaretten angekommen, treffen sie aber auf eine Welt, mit der sie nun überhaupt nicht gerechnet haben und die ihr Vorstellungsvermögen übersteigt. Verstörende Szenen wie diese prägen den Roman „Thomas der Schwindler“, den der Regisseur, Maler und Schriftsteller Jean Cocteau (1889-1963) im Jahr 1923 verfasst hat.

Der Manesse-Verlag hat das Werk in einer ansprechenden Edition als Neuübersetzung herausgegeben und bietet mit einem Nachwort von Iris Radisch, einem Anmerkungsapparat und einer editorischen Notiz einige Verständnishilfen. Das Buch weist eine ganze Reihe biographischer Züge des Autors auf. Für Iris Radisch war Cocteau ein Dichter, der in der Zeit des noch jungen 20. Jahrhunderts dem „Typ des Künstler-Dandy zu neuem Glanz“ verholfen habe.

Cocteaus Roman beruht auf realen Begebenheiten. Historisch belegt sind seine Besuche zusammen mit weiteren Mitgliedern der feinen Gesellschaft an der Front. Er verarbeitet seine eigenen Erlebnisse mit dem Krieg, wobei er selbst überhaupt kein Soldat war, sondern für untauglich befunden wurde. Er hatte sich freiwillig zum Dienst gemeldet.

Und so erzählt Cocteau von einem jungen Mann, der schon bei der Angabe seines Alters und seiner Herkunft schwindelt, um besser dazustehen. Als Neffe eines bekannten Generals gibt er sich aus. Denn nur so, davon ist er überzeugt, wird es ihm gelingen, zur Front und zu den Verletzten durchzukommen.

Aber spätestens, als der junge Thomas die Schützengräben besuchen darf, werden ihm die Schrecken des Krieges überdeutlich vor Augen geführt. Dem jungen Mann erscheint es ähnlich zu ergehen wie seinem literarischen Vater, der zu Beginn des Krieges zunächst einen Waffengang ungleich spannender fand als Langeweile und Tristesse des Alltags. Daran konnten auch die Aussichten auf amouröse Abenteuer und Liebeleien, die der Kontakt zu adeligen Frauen versprach, nicht wirklich etwas ändern.

Jean Cocteau, der unter anderem mit Pablo Picasso, Charlie Chaplin, Edith Piaf und Marcel Proust befreundet war, führt mit dem Buch keine laute Klage gegen den Krieg, allein die Beschreibungen der Realität reichen aus, um die Unmenschlichkeit und die Brutalität zum Ausdruck zu bringen. Denn was Krieg eigentlich bedeutet, das wusste die kleine Reisegruppe wahrlich nicht, als sie meinte, mit einigen Lebensmitteln die Not lindern zu können.

Jean Cocteau: „Thomas der Schwindler“. Roman. Aus dem Französischen neu übersetzt von Claudia Kalscheuer. Manesse Verlag, 192 Seiten, 20 Euro.




Gedenktag von großem Gewicht: Im nächsten Jahr werden wir an die 1918 ausgerufene Weimarer Republik erinnert

Gedenktage gibt es ja mittlerweile in Unmengen, und dank Wikipedia kann man sich für jeden Tag des Jahres ein Gedenken aussuchen. Allerdings sind diese Anlässe nicht alle in ihrer Bedeutung gleichwertig, und deshalb ist ihre historische und faktische Einordnung auch die Aufgabe guten Journalismus‘.

Grabmal der beiden 1920 im Kapp-Putsch erschossenen Männer aus Ennepetal. (Foto Pöpsel)

In diesem Jahr sind besonders drei historische Ereignisse hervorzuheben, weil sie nachhaltige Auswirkungen hatten. Das ist zum einen Martin Luthers Anti-Papst-Handlung vor 500 Jahren, die inzwischen fast bis zum Überdruss erörtert wurde.

Das Zweite Ereignis von Bedeutung war vor hundert Jahren, im Sommer 1917, der Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in den Ersten Weltkrieg und damit die Wende zur endgültigen Niederlage der deutschen Reichswehr.

Als Drittes muss man die Oktoberrevolution 1917 in Russland nennen, die letztlich in der mörderischen Stalin-Diktatur endete und in deren Folge später die DDR entstand – ein erst 1989 überwundener undemokratischer Polizeistaat.

Und wo bleibt das Positive? Das kommt bestimmt im nächsten Jahr, denn dann können wir den Beginn der ersten echten Demokratie auf deutschem Boden vor einhundert Jahren feiern, die von den Sozialdemokraten am 9. November 1918 ausgerufene Republik, die später wegen des Tagungsortes des Parlaments „Weimarer Republik“ genannt wurde.

Die SPD bereitet sich auf Bundesebene bereits auf das Jubiläum vor – schließlich spielte sie damals die Hauptrolle, und ihr Vertreter Friedrich Ebert wurde der erste Reichspräsident.

Auch auf regionaler Ebene gibt es historische Forschungen, zum Beispiel über das Wirken der Arbeiter- und Soldatenräte, die sich im Laufe der Novemberrevolution bildeten und die Anfang 1919 gewaltsam ausgeschaltet wurden.

In Großstädten wie Dortmund bestimmten die Räte wochenlang das öffentliche Wirken, in Kleingemeinden findet man nur Randnotizen über ihre Arbeit. Im Protokollbuch der Gemeindevertretung Milspe zum Beispiel, heute Teil der Stadt Ennepetal, gibt es nur einmal eine Eintragung vom 18. November 1918, als neben den Gemeindevertretern auch der spätere Reichstagsabgeordnete Walter Öttinghaus „als Arbeiter- und Soldatenrat“ das Sitzungsprotokoll mit unterschrieb.

Die neue demokratische Republik war natürlich gefährdet, und als im März 1920 mit dem Kapp-Putsch der Angriff von rechts begann, gab es auch im Ruhrgebiet zahlreiche Tote. Zwei junge Männer aus Milspe, Max Fuchs und Artur Klee, wurden bei Kämpfen mit den Putschisten am Bahnhof in Remscheid erschossen. Die Gemeindevertretung ließ sie in einem Ehrengrab bestatten, und als Rechtsnachfolgerin hat sich auch die Stadt Ennepetal zur weiteren Grabpflege verpflichtet – als sichtbares Zeichen für eine Demokratie, die mit der Ausrufung der Republik in Berlin vor beinahe 100 Jahren begann und die mit der NS-Diktatur schon 1933 ihr Ende fand.




Kunst statt Krieg – großartiger Auftritt der Sopranistin Anna Prohaska in Dortmund

Prohaska 2_2014(c)Holger Hage_DGIm Trailer der „Junge Wilde“-Reihe des Dortmunder Konzerthauses reißt sich Anna Prohaska wutschnaubend die Perlenkette vom Hals. Als wolle sie, sagen wir, in der Gestalt der Donna Elvira dem so geliebten wie verhassten Don Giovanni den Schmuck vor die Füße werfen. Eine Episode, die voller Symbolkraft steckt: Da ist eine Sängerin der unkonventionellen Art, jung und wild eben, die sich in musikalischen Gefilden auch auf abseitigen Pfaden bewegt.

„Das Ende der klassischen Klassik“ propagiert das Konzerthaus damit, und nichts scheint dem besser zu entsprechen, als Anna Prohaskas jüngster Auftritt, ein Liederabend. Denn die Sängerin bricht mit manchen Gesetzen der Aufführungspraxis, findet den Weg heraus aus kammermusikalischer Intimität oder nach innen gerichteter Emotionalität. Sie und ihr großartiger Klavierpartner Eric Schneider beherrschen das Podium gewissermaßen mit offenem Visier und fechten einen Kampf wider den Wahnsinn des Krieges, mit den Mitteln der Kunst.

„Behind the Lines“ ist dieses Konzeptkonzert zum Jahresgedenken an den Ersten Weltkrieg überschrieben, mit ausgewählten Liedern des Barock, der Klassik, Romantik und Moderne. Dabei wird indes nicht nur das Leben und Fühlen abseits der Front (Hinter den Linien) beleuchtet, besser gesagt messerscharf analysiert, vielmehr fällt der Blick oft genug aufs Schlachtfeld selbst. Es wird jubelnd in den Kampf gezogen, herrschen Stolz und Freude wie Schmerz und allertiefster Jammer. Aus Helden werden Gefangene, Vermisste, Begrabene. Der Tod ist immer und überall.

Schneider(c)Peter Adamik

Der Pianist Eric Schneider, Anna Prohaskas fulminanter Mitstreiter. Foto: Peter Adamik

Und Anna Prohaska, deren Stimme stets als Koloratursopran geführt wird, schafft es, jede Nuance wirkungsvoll zu artikulieren, seien es fahle Töne in tiefer Lage, sei es leuchtend hohes Jubeln. Und wenn sie in Hanns Eislers bitterbösem Spottlied „Meine Mutter wird Soldat“ ins glasklirrende Spitzentonregister wechselt, dürfte sich mancher Gänsehauteffekt unmittelbar einstellen. Auf der anderen Seite der Ausdrucksskala steht etwa Gustav Mahlers „Wo die schönen Trompeten blasen“: komponierte Leere, ein sanfter Balladenton, der in weltverlorene Lyrik mündet. Prohaska singt mit weitem Atem und wirkt in diesem Moment wie die personifizierte Einsamkeit.

Wie sich bei dieser Sängerin sowieso alle Emotion in ihrem Gesicht und Habitus wiederfindet. Die Haare hochgesteckt, in eine Art Uniformjacke gekleidet, setzt sie gleichsam das optische Signal, wie sehr ihr diese Dinge am Herzen liegen. Es geht nicht nur um schönen Gesang, sondern um eine Botschaft. Dass sie dabei eine gewisse Androgynität ausstrahlt, changierend etwa zwischen Soldat und daheim gebliebener Geliebter, ist eine weitere, wohl bewusst gesetzte Note. Das hat, nicht zuletzt, auch etwas mit Authentizität zu tun.

Prohaska hütet sich vor Überzeichnung und findet instinktiv in die jeweils geforderte Stilistik. Von sanfter Schönheit ist etwa das Lamento „Ich irre umher wie in der Wildnis“ von Michael Cavendish, im Tonfall eines Madrigals gehalten. Franz Schuberts „Ellens Gesang I“  interpretiert die Sopranistin mit feinem Legato, in höchster Sensibilität, mit aufbrausender Kraft und zuletzt mit fahler Stimme, langsamer werdend, ersterbend. Wolfgang Rihms „Untergang“ wiederum macht deutlich, über welche Vielfalt betörender Farben die Künstlerin verfügt.

Eric Schneider ist ihr in allem ein kongenialer Klavierpartner. Einer, der mit jedem Marschrhythmus, jeder dissonanten Wendung, mit jedem Klagegesang und jeder Modulation als treuer Verbündeter Anna Prohaskas gelten kann. So wird dieses Konzert zu einem der spannendsten Beiträge des Weltkriegsgedenkens, weil hier in uns Kunstempfinden und Intellekt geweckt werden. „Das Ende der klassischen Klassik“ heißt im übrigen auch: keine Zugabe. Weil mit diesem Liederabend in dieser Form alles gesagt ist.




Der Irrsinn, die Stadt und der Krieg: Zur Ausstellung „Weltenbrand – Hagen 1914“

Um das Jahr 1900 war das westfälische Hagen – ganz anders als heute – eine prosperierende, aufstrebende Stadt. Mochten auch Nachbarorte wie Dortmund (Freie Reichsstadt im Mittelalter, Hansestadt) eine weitaus längere Geschichte haben, so entwickelte sich doch jetzt auch in Hagen ein bürgerliches Selbstbewusstsein.

Hier wirkte damals der umtriebige Mäzen Karl Ernst Osthaus (1874-1921) mit seinem später so genannten „Hagener Impuls“, der 1902 zum seinerzeit weltweit ersten Museum der Gegenwartskunst führte. Die Blüte zeigte sich auch im Stadtbild: Damals entstanden in Hagen ein neues Rathaus (1903) und ein neuer, repräsentativer Bahnhof (1910), beide in historisierenden Stilformen, dazu das schmucke Stadttheater (1911). Auch eine machtvolle Stadthalle war beinahe fertiggestellt, als im August 1914 der Erste Weltkrieg begann. Damit endete auch Hagens Aufstieg jäh – mit ungemein weit reichenden Folgen, deren Ausläufer teilweise noch heute nachwirken.

"Wir müssen siegen!" (Bildpostkarte, um 1915 - Stadtarchiv Hagen)

„Wir müssen siegen!“ (Bildpostkarte, um 1915 – Stadtarchiv Hagen)

In diesem vielfach tragischen Spannungsfeld bewegt sich nun die Ausstellung „Weltenbrand – Hagen 1914“ im Osthaus Museum, die vorwiegend die Perspektive der „Heimatfront“ einnimmt. 100 Jahre nach der „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts sind an der Bilanz auch das Stadtmuseum und das Stadtarchiv beteiligt. Mit dermaßen vereinten Kräften hat man es geschafft, dass rund 90 Prozent der Exponate in dieser kulturhistorischen Schau aus eigenen Hagener Beständen stammen.

Rund 120 Kunstwerke sowie zahllose Archivalien und Abschauungsobjekte lassen in den besten Sequenzen der Ausstellung einen (lokal und regional zentrierten) Dialog zwischen Kunst und Alltagszeugnissen entstehen.

Hohenlimburger Kinder zur Zeit des Ersten Weltkriegs (1914/15) (Stadtarchiv Hagen)

Hohenlimburger Kinder zur Zeit des Ersten Weltkriegs (1914/15) (Stadtarchiv Hagen)

Wo Stücke wie etwa Mobilmachungsbefehle und Sterberegister, alte Schreibmaschinen, Ladenkassen, Soldatenhelme oder (kriegerisches) Spielzeug für sich genommen nicht beredt genug sein sollten, tritt die Kunst in ihr Recht. Bilder der Expressionisten (Schmidt-Rottluff, Kirchner, Heckel) oder von George Grosz, Otto Dix und Max Beckmann – um nur wenige zu nennen – geben so manche Ahnung von den Schrecken des Krieges, der Not, des Hungers und des Irrsinns, den der Weltenbrand mit sich brachte. Bewegend auch die Blätter eines Walther Bötticher, der 1916 im Weltkrieg gefallen ist. Und überhaupt einige Unscheinbarkeiten am Wegesrand des Rundgangs.

Christian Rohlfs: "Tod als Sargträger" (um 1917), Holzschnitt. (Osthaus Museum, Hagen)

Christian Rohlfs: „Tod als Sargträger“ (um 1917), Holzschnitt. (Osthaus Museum, Hagen)

Neben Bildern mit verzweifelter Gebärde oder deutlich kritischem Sinn finden sich auch Beispiele für einen seelenlos oberflächlich registrierenden Zugriff oder gar nationalistisch und martialisch dröhnende Schöpfungen, wie beispielsweise das 1915 am Hagener Rathaus aufgestellte Standbild „Der Eiserne Schmied“ des „völkisch“ gesinnten Dortmunder Bildhauers Friedrich Bagdons.

Natürlich sieht man hier nicht das Original, sondern eine Dokumentation zur Entstehung. Der Schmied selbst ist – annähernd so groß wie die echte Statue – nur als „Pappkamerad“ gegenwärtig. Karl Ernst Osthaus wollte damals übrigens das Schlimmste verhindern und ermunterte Ernst Ludwig Kirchner zu einem Gegenentwurf, welcher jedoch keine Chance bei den kriegsbegeisterten Stadträten hatte…

Ein aufschlussreiches Kapitel ist der Rüstungsproduktion in gewidmet. Hier tat sich besonders die Accumulatoren Fabrik AG (AFA, Vorläuferin von Varta) hervor, die u. a. damals neuartige Spezialbatterien für U-Boote fertigte.

Nicht wenige historische Fotografien zeigen die entsetzlich angefachte Kriegslust der Bevölkerung – bis hin zu Kindern beim Kriegsspiel. Am Ende der Ausstellung wird in einer Art Epilog deutlich, wie nach dem verlorenen Krieg schon die Drachensaat für den nächsten aufgegangen ist. Was aus Hagen noch hätte werden können ohne Kriege, diese Frage könnte einen in tiefe Depressionen stürzen. Doch das gilt ja für alle betroffenen Städte und Länder.

Einige Exponate vermitteln hingegen bloßes Kolorit und reichen in ihrer Harmlosigkeit nicht so recht an das Thema heran. Nicht sehr schlüssig, wenn nicht gar überflüssig erscheint es, in einem Saal Kriegsrelikte beiderseits eines angedeuteten „Schützengrabens“ anzuordnen.

Gleichsam das größte Exponat: der Altbau des Hagener  Osthaus Museums. (Foto: Bernd Berke)

Gleichsam das größte Exponat: der Altbau des Hagener Osthaus Museums. (Foto: Bernd Berke)

Wenn man so will, ist das größte „Ausstellungsstück“ der Altbau des Osthaus Museums (also das frühere Folkwang-Museum von 1902), in den die Schau schließlich überleitet. Sigrid Sigurdssons stetig anwachsendes und mäanderndes Archivwerk „Architektur der Erinnerung“ gibt auch einige Dokumente aus dem Umkreis des Jahres 1914 her. Und das Junge Museum steuert noch Fotos, Materialien und Installationen aus pazifistischem Geiste bei. Möge es fruchten.

„Weltenbrand – Hagen 1914“. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 20. Mai bis 10. August 2014 (Eröffnung So., 18. Mai, 15 Uhr). Geöffnet Di, Mi, Fr 10-17, Do 13-20, Sa/So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt 9 Euro, diverse Ermäßigungen. Tel.: 02331/207-2740. Internet: www.osthausmuseum.de

P.S.: Wenn man schon einmal in Hagen ist, sollte man einen Abstecher ins benachbarte Wuppertal machen, wo noch bis zum 27. Juli im Von der Heydt-Museum die Ausstellung „Menschenschlachthaus“ deutsche und französische Kunst zum Ersten Weltkrieg versammelt. Siehe auch hier: http://www.revierpassagen.de/24161/24161/20140404_1647




„Menschenschlachthaus“: Wie die Kunst den Ersten Weltkrieg nicht fassen konnte

Gert Heinrich Wollheim: "Der Verwundete" (1919), Öl auf Holz (Privatbesitz Berlin / © Nachlass Gert Wollheim)

Gert Heinrich Wollheim: „Der Verwundete“ (1919), Öl auf Holz (Privatbesitz Berlin / © Nachlass Gert Wollheim)

Als auch die Künstler in den Ersten Weltkrieg geraten, ist ihre anfängliche Kampfes-Euphorie sehr bald vorüber. Die Bilder vom Kriege, zwischen 1914 und 1918 entstanden, enthalten hin und wieder patriotische Appelle, doch kaum noch triumphale Gesten.

Ja, die Kunst macht sich geradezu klein vor der schrecklich übermächtigen Wirklichkeit, wie man jetzt in einer bemerkenswerten Wuppertaler Ausstellung sehen kann. So manche Skizze ist im Schützengraben oder an der Frontlinie entstanden. Dorthin konnte man keine Staffeleien und Leinwände mitnehmen. Doch auch die im Atelier gemalten Ölbilder haben meist bescheidene Ausmaße.

„Menschenschlachthaus“ heißt die Ausstellung mit drastischer Deutlichkeit, der Untertitel lautet „Der Erste Weltkrieg in der französischen und deutschen Kunst“. Das Partnermuseum (Musée des Beaux-Arts) in Reims, das rund die Hälfte der rund 350 Exponate beigesteuert hat und die Schau ab 14. September übernehmen wird, will einen dezenteren Titel wählen, denn jenseits des Rheins wird der Erste Weltkrieg bis heute anders gesehen. Dort verknüpfen sich – über das Leidensgedächtnis hinaus – ungleich mehr nationale Gefühle damit, auch solche der Genugtuung und des Stolzes.

Reims hat wegen der im Ersten Weltkrieg zerstörten und später wieder aufgebauten Kathedrale (Krönungsort französischer Könige) eine herausragende Bedeutung für Frankreichs Selbstbild. So kommt es, dass im September vermutlich Frankreichs Präsident Hollande und Bundeskanzlerin Merkel die Ausstellung in Reims eröffnen werden.

Gustave Fraipont: "Brand der Kathedrale von Reims". Lavierte Gouache und schwarze Tinte, Feder und Tusche (Reims, Musée des Beaux-Arts)

Gustave Fraipont: „Brand der Kathedrale von Reims“. Lavierte Gouache und schwarze Tinte, Feder und Tusche (Reims, Musée des Beaux-Arts)

Die Ausstellung konzentriert sich ganz auf die beiden Nachbarländer und blendet alles weitere Kriegsgeschehen aus. Sie berührt freilich auch so einen weiten Themenkreis, setzt sie doch schon bei unguten Vorahnungen, kriegsträchtigen Stimmungen und beim Zustand der Kunst vor 1914 ein und verfolgt die Linie bis zu Tendenzen der 1920er Jahre, als in Deutschland die Neue Sachlichkeit aufkam und französische Künstler sich im weiten Feld zwischen Neoklassizismus und Kubismus bewegten. Der Kernbestand aber widmet sich der eigentlichen Kriegszeit, ob nun an oder hinter der Front.

Jüngst hat eine andere, thematisch verwandte große Ausstellung in der Bonner Bundeskunsthalle („Die Avantgarden im Kampf“) die These verfechten und illustrieren wollen, der Erste Weltkrieg habe die Künste beflügelt. Gerhard Finckh, Direktor des Wuppertaler Von der Heydt-Museums, mag diesem Ansatz nicht folgen. Im Gegenteil. Alle damals wesentliche Richtungen hätten sich unabhängig vom Krieg gebildet und seien bereits vorher zur Blüte gelangt. Zudem hätten die allermeisten Künstler dann den Krieg bildnerisch gar nicht zu fassen bekommen.

Pierre Bonnard: "Zerstörtes Dorf an der Somme" (um 1917), Öl auf Leinwand (Centre national des arts plastiques, Inv. FNAC 5891 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Pierre Bonnard: „Zerstörtes Dorf an der Somme“ (um 1917), Öl auf Leinwand (Centre national des arts plastiques, Inv. FNAC 5891 / © VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Darf man da von einem Versagen sprechen? Wie will man denn auch mit den überlieferten Mitteln der Zeichnung, der Tafelmalerei oder Skulptur die wirklichen Gräuel „angemessen“ darstellen? So wird die bildende Kunst in keiner Hinsicht „fertig“ mit dem Krieg.

In Wuppertal ruft man demzufolge Fotografie, Film und Literatur (mit längeren Textpassagen in der Ausstellung) zur Hilfe, um dem Thema gleichsam mehrdimensional beizukommen. So entfaltet die Schau, die ohnehin zwischen Kunstgeschichte und politischer Geschichte oszillieren muss, eine anfangs geradezu irritierende Vielfalt der Perspektiven.

Selbst ein Max Beckmann hat zunächst den Krieg begrüsst, der seiner Kunst „zu fressen“ gebe, also starke Themen liefere. Sogar ein Otto Dix wirkt auf einem Selbstporträt noch gewaltbereit, wenngleich Brüche und Verstörungen zu spüren sind. Ähnliche Phänomene der Begeisterung gibt es auch auf französischer Seite.

Max Beckmann: "Selbstbildnis als Krankenpfleger" (1915), Öl auf Leinwand (Kunst- und Museumsverein Wuppertal / VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Max Beckmann: „Selbstbildnis als Krankenpfleger“ (1915), Öl auf Leinwand (Kunst- und Museumsverein Wuppertal / VG Bild-Kunst, Bonn 2014)

Im Folgenden findet man etliche Schattierungen der Kunst im Kriege. Wenn Maurice Denis ein preußisches Schwein darstellt, das ein unschuldiges Kind brutal niedertrampelt, so ist dies natürlich Propaganda. Man sieht hie und da patriotische Posen und Heroisierungen, Stilisierungen, Überhöhungen oder auch naive Betrachtungsweisen.

Dabei kommt es der Ausstellung zugute, dass in ihrer Fülle nicht nur berühmte Künstler vertreten sind, sondern auch einige Unbekannte, zuweilen ersichtlich weniger Talentierte. So wird deutlicher, wie und warum die herkömmliche Malerei vielfach am Thema scheitert und scheitern muss.

Doch einige wenige Künstler lassen die rohe Wahrheit der Materialschlachten und der massenhaft zerfetzten Körper aufblitzen. So zeigt Otto Dix’ (hier komplett präsentierte) Mappe „Der Krieg“ in bizarrer Zuspitzung denn doch einiges vom innersten Zerstörungswesen des Krieges. Das Totentanz-Konvolut, zu dem 50 Radierungen gehören, ist freilich erst 1924 entstanden. Auch Conrad Felixmüllers „Soldat im Irrenhaus“ (1919) ist ein solcher Aufschrei, bis ins Mark erschütternd.

Neben dem grotesken Zugriff, für den beispielsweise auch George Grosz steht, scheint äußerste lakonische Zurückhaltung eine weitere Möglichkeit zu sein, sich der schlimmen Wahrheit zu stellen. Anders herum gesagt: Wo immer sich die künstlerischen Mittel zu sehr aufdrängen (oder eben auch nicht genügen), geht die Anstrengung fehl. Traditionelle Regeln gelten hier ohnehin nicht mehr. Allseits zerfallende Strukturen müssen auch im Bild ihre Entsprechung finden. Sonst ist es von vornherein Verharmlosung.

Félix Vallotton: "Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne (1917, Öl auf Leinwand (Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine - BDIC)

Félix Vallotton: „Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne (1917, Öl auf Leinwand (Bibliothèque de Documentation Internationale Contemporaine – BDIC)

Eines der großartigsten Bilder der Ausstellung offenbart wohl auch einen Zwiespalt. Félix Vallottons „Soldatenfriedhof von Châlons-sur-Marne“ (1917) ist mit seinen Tausenden von Grabkreuzen ein grandioses Monument stiller Trauer, doch könnte man auch argwöhnen, dies sei eine nahezu abstrakte Ansammlung von Ornamenten. Es ist ein schwankender Gang auf dem Grat – wie alle Kunst vom Kriege.

„Menschenschlachthaus. Der Erste Weltkrieg in der französischen und deutschen Kunst.“ Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Vom 8. April bis 27. Juli 2014. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Mo geschlossen. Karfreitag und Ostersonntag 11-18 Uhr, Ostermontag und Maifeiertag geschlossen. Eintritt 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Katalog 25 Euro. Umfangreiches Begleitprogramm. Informations-Hotline: 0202/563-26 26. www.von-der-heydt-museum.de




Tod an der Front: Kunsthalle Bielefeld erinnert an Weltkriegsopfer Hermann Stenner

Hermann Stenner: Skizze zu einem Selbstbildnis, 1912. Sammlung Bunte. Foto: Kunsthalle Bielefeld

Hermann Stenner: Skizze zu einem Selbstbildnis, 1912. Sammlung Bunte. Foto: Kunsthalle Bielefeld

Er wurde gerade einmal 23 Jahre alt: Der gebürtige Bielefelder Hermann Stenner starb im Dezember 1914 an der Ostfront. Ein Opfer des Ersten Weltkriegs wie andere Künstler auch, etwa August Macke oder Franz Marc. Die Bielefelder Kunsthalle zeichnet nun in einer großen Ausstellung zum ersten Mal die nur fünfjährige Schaffenszeit Stenners nach. „Er wäre einer der besten Maler Deutschlands geworden“, schrieb sein Studienfreund Willi Baumeister noch 1950 rückblickend an die Familie.

Über 250 Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Grafiken stellen Stenners Arbeiten in den Kontext seiner Zeitgenossen. 47 Künstler, von Max Ackermann bis Josef Alfons Wirth, der ebenfalls 1916 dem Krieg zu Opfer fiel, umfasst die Ausstellungsliste. Darunter sind prominente Namen wie Max Liebermann, Emil Nolde, Christian Rohlfs oder Oskar Schlemmer, aber auch Stenners Schicksalsgefährten August Macke, Franz Nölken oder Hermann Stemmler.

Die rund 400 Exponate der Ausstellung mit dem Titel „Das Glück in der Kunst. Expressionismus und Abstraktion um 1914“ stammen aus der Sammlung des Bielefelders Hermann-Josef Bunte. Sie wird erstmals in großem Umfang öffentlich gezeigt. Der bis zur Emeritierung an der Universität der Bundeswehr Hamburg lehrende Rechtswissenschaftler hat seit 1974 mit dem Schwerpunkt auf dem Œuvre Stenners gesammelt. Buntes Sammlung ist inzwischen die größte im Privatbesitz zum Werk des früh verstorbenen Bielefelder Künstlers, der mehr als 1.700 Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen geschaffen hat.

Hermann Stenner: Kaffeegarten am Ammersee, 1911. Sammlung Bunte. Foto: Kunsthalle Bielefeld

Hermann Stenner: Kaffeegarten am Ammersee, 1911. Sammlung Bunte. Foto: Kunsthalle Bielefeld

Die Ausstellung „Das Glück in der Kunst. Expressionismus und Abstraktion um 1914“ ist in der Bielefelder Kunsthalle bis 3. August zu sehen. Ein umfangreicher Katalog enthält Texte von Herausgeberin Jutta Hülsewig-Johnen, Alexander Klee, Uwe M. Schneede und anderen Autoren. Die gebundene Ausgabe mit etwa 300 Seiten, angekündigt für April, erscheint im Kerber Verlag und kostet im Buchhandel 39,95 Euro.

Die Kunsthalle Bielefeld ist Dienstag bis Freitag und Sonntag von 11 bis 18 Uhr, Mittwoch von 11 bis 21 Uhr und Samstag von 10 bis 18 Uhr geöffnet. Der Eintritt kostet 8, für Ermäßigungsberechtigte 4 Euro. Zur Ausstellung gibt es ein umfangreiches Rahmenprogramm, unter anderem einen Ausstellungsrundgang mit Hermann-Josef Bunte am 16. April, ein Kurzseminar über Hermann Stenner am 2. Mai, ein Konzert („BilderKlang“) am 5. Mai und eine Lesung aus Hermann Stenners Briefen am 11. Juni.

Info: www.kunsthalle-bielefeld.de




Nichts blieb, wie es war: Herfried Münklers umfassendes Werk über den Ersten Weltkrieg

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Es hätte ein deutsches Jahrhundert werden können – im positiven Sinn. Ob Wissenschaft, Technik, Medizin oder Industrie: Deutschland nahm 1914 in Europa durchaus eine Vorreiterrolle ein und erfuhr vielfältige Anerkennung.

Verheißungsvoll waren auch die Signale des südlichen Nachbarn, der k.u.k. Monarchie. Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand wollte den einzelnen Nationalitäten mehr Eigenständigkeit gewähren, um auf diese Weise den Vielvölkerstaat in eine sichere Zukunft zu führen. „Wo ist da also das Problem?“, drängt sich als Frage am Vorabend des 1. Weltkrieges auf. Wieso es dann doch zur „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ kam, um den amerikanischen Historiker George F. Kennan zu zitieren, analysiert der deutsche Politikwissenschaftler Herfried Münkler in seinem eindrucksvollen Werk „Der große Krieg“ und geht noch einige Schritte weiter.

Welche Folgen die Jahre 1914 bis 1918 für die Grenzen auf dem Globus hatten, wie die Menschen mit dem unsagbaren Leid umgegangen sind, was der Krieg für die politischen Systeme bedeutet hat und wie sich der Krieg auch als solcher maßgeblich verändert hat, sind Fragestellungen, die für den renommierten Professor an der Berliner Humboldt-Universität zwingend dazugehören, wenn er über den Ersten Weltkrieg schreibt. Schließlich sucht Münkler auch nach den Lehren, die aus dem Waffengang zu ziehen sind, und kommt gerade mit Blick auf die heutige Weltpolitik zu eher ernüchternden Erkenntnissen.

Aber der Reihe nach.

Wer und was hat den Krieg ausgelöst?

Hat nun der deutsche Militarismus, der Kriegsenthusiasmus der Bevölkerung, das Pulverfass Balkan oder die komplizierte Bündnispolitik auf dem europäischen Kontinent den Ersten Weltkrieg ausgelöst? Es spielten nach den Ausführungen von Münkler wohl alle aufgeführten Gründe eine maßgebliche Rolle – in Kombination mit einer Kette unglücklicher Umstände, so banal sich das auch anhören mag. Vor allem lässt sich das über das Attentat von Sarajewo sagen, bei dem der Erzherzog von dem serbischen Freiheitskämpfer Gavrilo Princip erschossen wurde. Zu den widrigen Zufällen gehört unter anderem, dass zunächst eine andere Fahrtroute geplant war, die dem Attentäter überhaupt nicht die Chance auf den Anschlag gegeben hätte.

Indem Münkler aber nicht nur auf die Kausalitäten des Kriegsausbruchs eingeht, sondern auch den Begriff des Militarismus und das Bild eines kriegsbegeisterten Volkes einer kritischen Würdigung unterzieht, entsteht ein sehr differenzierte Betrachtung der politischen Verhältnisse in Deutschland und in Europa. Denn militaristisch waren die Nachbarstaaten auch aufgestellt, macht der Autor deutlich, zum Teil sogar noch stärker.

Sicherlich gab es Strömungen, die einen Krieg herbeisehnten, aber war das die Mehrheit des Volkes? Wenn man aber nun schon in einen Krieg hineingeraten ist, sich dann aber nach wenigen Monaten abzeichnet, dass er nicht zu gewinnen ist, warum hat niemand der Kriegstreiberei ein Ende bereitet, überlegt Münkler. Es war vor allem – nach seinen Forschungsergebnissen – eine sehr eigenartige Personen- und Machtkonstellation, die verhinderte, dass ein Kaiser, dessen Kriegswille bis heute umstritten ist, und ein Kanzler, der bis zuletzt auf Frieden setzte, sich nicht gegen einen Generalstab durchsetzen konnte, der auch nicht in Gänze als kriegslüstern zu charakterisieren ist. Das Verhalten aller Beteiligten, so wie es Münkler beschreibt, erinnert an einen Satz von Karl Valentin, den man wie folgt abwandeln könnte: „Mögen hätten wir schon wollen, aber dürfen habe wir uns nicht getraut“.

Eigentlich gab es nur Verlierer

Am Ende des Krieges gab es zwar offiziell Gewinner, doch nach Ausführungen des Politikwissenschaftlers eigentlich nur Verlierer. Frankreich hatte in Relation betrachtet die meisten Verluste an Soldaten zu beklagen, Großbritannien sein Kolonialreich verloren und Italien das Ziel verfehlt, eine bedeutsame Stellung zu erringen. Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn gab es nicht mehr, ebenso wenig das Osmanische Reich, und die neuen Staaten in Südosteuropa entpuppten sich als eher fragliche Gebilde. Deutschland war ein Schatten seiner selbst geworden – mit der Bürde, für den Krieg verantwortlich zu sein.

Der Begriff der Urkatastrophe meint aber noch mehr als eine Verschiebung der Machtverhältnisse und eine neue Landkarte für weite Teile der Welt. Mit den Stellungskriegen, dem Einsatz von Giftgas, Stacheldrahtverhauen, Panzern und Flugzeugen erreichte der Krieg bislang ungeahnte Dimensionen an Brutalität, schreibt Münkler. Überdies musste auch die Zivilbevölkerung in einem Ausmaß Not und Hunger leiden, das man bislang nicht gekannt hatte. Authentizität verleiht Münkler er seinen Schilderungen auch dadurch, dass er unter anderem Schriftsteller wie Ernst Jünger, Thomas Mann oder Arnold und Stefan Zweig zu Wort kommen lässt, die ihre Erlebnisse in Büchern verarbeitet haben.

Waffengänge ohne wirkliches Ziel

Apropos Literatur: Der Politikwissenschaftler befasst sich eingehend damit, wie Schriftsteller der damaligen Zeit den Krieg bewerten und ihm neue Deutungen gegeben haben. Denn ein Kriegsziel sei schon sehr schnell abhanden gekommen, wenn es überhaupt je ein solches gegeben habe, erklärt der Autor. Nach seinen Ausführungen war das die Geburtsstunde der Helden, die in der Schlacht kämpften und an denen sich die Bevölkerung ein Beispiel nehmen sollte.

Eine Zäsur bildete der Erste Weltkrieg schließlich auch, weil die USA sich schon sehr bald als eine Weltmacht gerierten und in Russland ein ganz neues Herrschaftssystem entstand, nicht zuletzt durch deutsche Hilfe. Die Regierung ließ bekanntlich Revolutionär Lenin durchs Land gen Osten reisen, um den Kriegsgegner Russland zu schwächen.

Angesichts der Tragweite, die dem Weltkrieg und seinen Folgen zukommt, ist es mehr als unverständlich, dass in Deutschland die Jahre 1914 bis 1918 nur noch ein Fall für Historiker sind und politikwissenschaftlich keine Relevanz mehr besitzen, wie es Münkler ausführt. Es bietet sich zum Beispiel an, darüber zu reflektieren, ob wirtschaftliche Verflechtungen Kriege verhindern, wie es in aktuellen politischen Debatten häufig zu hören ist. Der Politikwissenschaftler stellt heraus: Auch vor dem Ersten Weltkrieg gab es zwischen den späteren Gegnern intensive ökonomische Beziehungen Und: Der Adel in den Monarchien bestand aus nahen Verwandten.

Herfried Münkler: „Der große Krieg. Die Welt 1914-1918“. Rowohlt-Verlag, 924 Seiten, 29,95 Euro.