Kulturhauptstadt: Keine Atempause – Rund 200 Projekte stehen schon auf den Listen, täglich kommen neue hinzu

Von Bernd Berke

Dortmund. Schon länger nichts mehr gehört zum Thema „Kulturhauptstadt Ruhrgebiet 2010″. Seit dem europäischen Jury-Entscheid vom 11. April sind einige Wochen ins Land gegangen. Doch der Schein der Ruhe trügt: Die Organisatoren hatten kaum eine Atempause. Im Gegenteil.

Kulturhauptstadt-Moderator Oliver Scheytt gestern beim Pressetermin im Dortmunder Konzerthaus: „Dass es nach dem Jury-Votum mit der Arbeit erst richtig losgeht, habe ich ja geahnt. Aber so massiv hätte ich es nicht erwartet. Wir sind voll im Geschäft.“

Die Finanzierung „steht“ weitgehend, das Gesamtvolumen soll von 2007 bis 2010 rund 78 Mio. Euro betragen. Wenn der Europäische Rat im November das Jury-Votum bestätigt (womit fest zu rechnen ist), kann noch in diesem Jahr eine Kulturhauptstadt GmbH gegründet werden, für die man dann eine künstlerische Leitung sucht. Scheytt: „Das muss jemand sein, der auch schon mal Nein sagt und Projekte ablehnt.“

Ideen gibt es wohl genug, sie müssen gewichtet und sortiert werden. Rund 200 Projekte stehen bereits auf den Listen, täglich kommen rund fünf bis zehn Vorschläge hinzu. Sie stammen zu 84 Prozent aus der Region selbst. Doch auch ein ehemaliger Zahnarzt und Hobbysegler aus Husum offerierte seine Dienste. Auf dem Bootsweg vom hohen Norden nach Istanbul (gleichfalls Kulturhauptstadt 2010) wollte er kulturelle Botschaften aus dem Revier mit an den Bosporus nehmen.

Eine ganze Garde von Kulturdezernenten und Amtsleitern des Reviers war gestern dabei, als Scheytt den Stand der Dinge erläuterte. Es wurde deutlich, dass die Städte ihre vielfältigen Aktivitäten schon jetzt eng miteinander abstimmen. Da wächst wohl zusammen, was zusammen gehört.

Auch in den Randzonen des Reviers regt sich etwas

Es gibt übergreifende Schwerpunkte (z.B. Lichtkunst, Aktionen an Wasserwegen), doch jede Kommune betont auch eigene Stärken. Beispiel: Dortmunds Dezernent Jörg Stüdemann setzt vor allem auf „Musik als verändernde Kraft“. Die Projekte sollen sich ums Brückstraßen-Viertel mit Konzerthaus, Jazzclub domicil, Chorakademie und Orchesterzentrum ranken. Zudem dürfte bildende Kunst in den Vordergrund rücken, das Spektrum soll von digitalen Arbeiten (Medienkunst in der Phoenixhalle) bis zum großen Bilder-Auftritt (Wunschprojekt „Dortmunder U“) reichen.

Regt sich auch etwas in den Randzonen des Reviers? Offenkundig schon. Unnas Kulturamtsleiter Axel Sedlack (Schwerpunkte: Lichtkunst, Krimifestival „Mord am Hellweg“, das Schaffen von Komponistinnen) versicherte, in seiner Stadt diskutiere man bereits seit zwei Jahren das Thema Kulturhauptstadt, nun beteilige sich auch gesamte Kreis Unna verstärkt.

Mehrere Kulturdezernenten (vor allem aus kleineren Gemeinden) ließen durchblicken, dass sie sich von der Kulturhauptstadt keine grandiosen neuen „Leuchttürme“, sondern eher eine Stärkung und Festigung der vorhandenen Kultur erhoffen. Und ein dichteres Netzwerk mit den anderen Städten.

Wie sieht’s mit der vielfach befürchteten Dominanz von Essen aus? Oliver Scheytt, hauptamtlich Essens Kulturdezernent, beteuert: „Ich ärgere mich immer, wenn ich die Bezeichnung ,Kulturhauptstadt Essen‘ lese.Es geht ums ganze Ruhrgebiet.“ Auswärtige können diese Gegend allerdings oft kaum verorten. So wurde gestern der Mülheimer Komiker Helge Schneider zitiert. Wenn man ihn draußen fragt, wo das Ruhrgebiet liege, sage er nur noch: „Bei Frankfurt“.

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HINTERGRUND

Markenrechte gesichert

  • Die Organisatoren der Kulturhauptstadt haben sich die Markenrechte an ihrem Ruhrgebiets-Logo gesichert. Wer es verwendet, soll möglichst zahlen. Die FIFA hat’s bei der Fußball-WM im großen Stile vorgemacht.
  • Die bisher rund 200 Projektvorschläge stammen zu 35 Prozent von Kulturschaffenden.
  • Den Löwenanteil machen Vorschläge zur „Stadt der Künste“ aus, hier rangiert die Bildende Kunst (25 Prozent) ganz vorn. Abgeschlagen: Theater mit lediglich 3 Prozent.

 




„Dortmund ist kein Vorort von Essen“ – Gespräch mit Jörg Stüdemann / Nach der Wahl des Reviers zur Europäischen Kulturhauptstadt

Von Bernd Berke

Dortmund. Gestern war „Tag eins“ nach der Wahl Essens und des Ruhrgebiets zu Europas Kulturhauptstadt 2010. Anlass genug, um mit dem Dortmunder Kulturdezernenten Jörg Stüdemann über die Lage in der Region zu sprechen.

Woran denken Sie beim Stichwort „Hauptstadt des Ruhrgebiets“?

Jörg Stüdemann: (lacht) Na, an Dortmund natürlich. Aber mal im Ernst: Eigentlich denke ich da an gar keine bestimmte Stadt. Ich habe früher in Bochum und Essen gearbeitet und habe nie eine Hauptstadt erblickt. Im Grunde gibt es hier kein Zentrum, sondern eine gesunde Rivalität zwischen den Städten,

Besteht nicht die Gefahr, dass Essen jetzt Dortmund kulturell „abhängt“?

Stüdemann: Überhaupt nicht. Gut, einige Sponsoren werden sich nun stärker in Essen engagieren. Aber das ist auch schon so ziemlich alles. Der Etat für die Kulturhauptstadt ist doch relativ bescheiden, verglichen mit unserem städtischen Kulturhaushalt.

Wohlweislich später eingestiegen

Ist Dortmund ins Thema Kulturhauptstadt nicht zu spät eingestiegen?

Stüdemann: Solange die Kulturhauptstadt mit der Idee einer auf Essen zentrierten „Ruhrstadt“ verbunden war, konnte sie in Dortmund oder Duisburg nicht viel Sympathie erzeugen. Dortmunds Größe und Tradition sprechen dagegen, sich degradieren zu lassen. Wir sind kein Vorort von Essen. Damals haben wir gedacht: Wir werden uns wohlweislich erst einmal davon distanzieren. Inzwischen verhält sich die Sache anders. Es gibt einen weiteren Grund für den späteren Einstieg. Im Gegensatz zu Essen sind wir Fußball-WM-Stadt. Das bedeutet enorm viel Arbeit und finanziellen Einsatz. Daneben war ein stärkeres Engagement für die Kulturhauptstadt nicht zu leisten.

Was trägt Dortmund zur Kulturhauptstadt bei?

Stüdemann: Es wäre unredlich zu behaupten, Dortmund werde das Zentrum des Geschehens sein. Bochum und Duisburg übrigens auch nicht. Das ist nun mal Essen. Doch wir machen eine Menge. Wir haben das multikulturelle „Melez“-Festival in Bochum organisiert und die Dortmunder „Twins“-Konferenz mit den europäischen Partnerstädten ausgerichtet.

Und in Zukunft?

Stüdemann: Es gibt drei Schwerpunkte. Erstens die Medienkunst, unter anderem in der Phoenixhalle. Zweitens das Brückstraßen-Viertel als künftige „Musik-Meile“: Konzerthaus, Orchesterzentrum, Chorakademie, das „domicil“ für Jazz und Weltmusik. Spätestens 2010 soll es außerdem ein großes Musikfest in Dortmund geben, und wir planen ein Zentrum für Musikwirtschaft – mit Tonstudios, Agenturen und dergleichen. Drittens bringen wir das Projekt „Dortmunder U“ ein.

Dieser frühere Brauereiturm steht als künftiges Museum in den Bewerbungsunterlagen zur Kulturhauptstadt, als wäre alles schon fertig. Aber es hakt doch weiter bei denLandeszuschüssen, oder?

Stüdemann: Wir gehen immer noch davon aus, dass wir dort 2010 ein großes Museum haben werden. Die Idee ist einfach toll, viele hochkarätige Fachleute aus anderen Städten sind davon angetan. Was die Landeszuschüsse betrifft: In Essen steht mit der Zeche Zollverein ein unglaublich teures Projekt, da fragt offenbar niemand nach Bau- und Folgekosten. Der dortige Umbau, der 1986 eingeleitet wurde, sollte anfangs 30 Millionen Mark kosten, inzwischen liegt man bei etwa 190 Millionen, mit steigender Tendenz. Trotzdem hat das Land dort stetig mitgefördert. Beim „Dortmunder U“ aber wird penibel nachgerechnet. Auch in Dortmund selbst werden von manchen Leuten immer nur die Schwierigkeiten aufgespürt. Jeder Krümel wird da langwierig ausgewalzt.

Das hieße also: Dortmund ist noch nicht genügend begeistert, um auch das Land für die Idee zu gewinnen?

Stüdemann: So ist es. Leider. Dabei geht es beim „Dortmunder U“ um vergleichsweise geringe 17 Millionen Euro Landesförderung. Mal so gefragt: Muss sich wirklich alles im Rheinland abspielen? Fast 80 Prozent der Landesmittel für Museumsbau sind in den letzten Jahrzehnten dorthin geflossen.

Der Dortmunder Krimi-Verleger Rutger Booß (Grafit-Verlag, d. Red.) sagt: Spätestens Jetzt, im Rahmen der Kulturhauptstadt, braucht das Revier ein Literaturhaus. Eine Option für Dortmund?

Stüdemann: Von der Tradition her schon. Dortmund wäre dafür prädestiniert. Und die Region kann ein solches Haus bestens verkraften. Aber wir haben schon zahlreiche andere „Baustellen“…

Wie wird sich die Kulturhauptstadt im Umland auswirken? Haben auch die Sauerländer etwas davon?

Stüdemann: Unbedingt! Das ist doch klar. Bei einer so großen Kampagne für die Kultur will sich keine beteiligte Stadt blamieren. Das werden die Besucher aus dem Umland merken. Nicht nur kulturell, sondern auch baulich wird sich einiges verbessern. Davon haben alle etwas. Und Nachbarstädte wie Unna mit seinem wunderbaren Lichtkunstzentrum sind ohnehin fest eingebunden.

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ZUR PERSON

Mann mit „Szene“-Erfahrung

  • Jörg Stüdemann (Jahrgang 1956) ist Dortmunds städtischer Dezernent für die Bereiche Kultur, Sport und Freizeit. Sein Werdegang:
  • Von 1984 bis 1987 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ruhr-Universität Bochum.
  • Von 1987 bist 1992 Mitarbeiter im soziokulturellen Zentrum „Zeche Carl e. V.“ in Essen. Diese Einrichtung der „Alternativ“-Szene genießt einen guten Ruf im gesamten Ruhrgebiet.
  • Ab 1992 Leiter des „Pentacon“ (Zentrum für Medienkultur) in Dresden.
  • Von 1994 bis 2000 Dezernent für Kultur, Jugend und Sport in Dresden. Aus der sächsischen Landeshauptstadt wechselte Jörg Stüdemann nach Dortmund.

 




Gemeinsam geht’s – Kommentar zur Kulturhauptstadt-Entscheidung für Revier

Von Bernd Berke

Da kann man sich sonst noch so kühl und skeptisch geben: Als Bewohner dieser Region darf man seit gestern wirklich ein wenig stolz sein. Das Ruhrgebiet“ ist Europas Kulturhauptstadt 2010. Wunderbar!

Wer hätte vor zehn Jahren so etwas zu denken gewagt? Höchstens einige phantasievolle Kulturschaffende. Die spüren Veränderungen oft lange vor den Politikern. Und sie haben auch den grundlegenden Wandel dieser Gegend früh bemerkt. Mehr noch: Die Kulturszene ist seit einiger Zeit eine große Triebkraft dieses Wandels.

Haben wir jetzt im Revier das Paradies, in dem das Geld für Kultur nur so strömen wird? Wohl kaum. Die hiesigen Städte ächzen vielfach unter Finanzlasten. Ohne Sponsoren sowie Zuwendungen von Bund und Land wird sich die Kulturhauptstadt nicht vollends entfalten können. Der frisch errungene Titel ist jedenfalls ein bärenstarkes Argument gegen mancherorts drohende Kürzungen im Kulturbereich.

Nicht wenige fürchten jetzt, dass Essen sich zur alleinigen Ruhrgebiets-Metropole aufschwingen könnte und sich die ganz großen Stücke vom leckeren Kuchen abschneidet. In dieser Hinsicht wird man, etwa in Dortmund, in Hagen und im Kreis Unna, tatsächlich wachsam sein müssen. Doch in Essen werden sie bestimmt klug sein und wissen, dass sie das anstehende Mammut-Programm gar nicht allein stemmen können. Nur gemeinsam geht’s.

Essens Kulturdezernent Oliver Scheytt dürfte denn auch nicht zu Alleingängen neigen. Er ist schon jetzt so etwas wie der „Mann des Jahres“ in der Region. Schier unermüdlich hat er die Bewerbung vorangetrieben. Er und sein kleines Team sind dabei bis an die Grenzen der menschlichen Belastbarkeit gegangen. Deshalb ist es gut, dass ihm bald eine künstlerische Leitung zur Seite stehen soll. Der Mann (oder die Frau) für diese immense Aufgabe wird noch gesucht. Eine wahrhaft spannende Personalie.

Vorgestern gab’s die bunten Werbeprospekte fürs Revier. Gestern haben wir gefeiert. Heute beginnt die wirkliche Arbeit.

 




„Eine riesige Chance für die Region“ – Reaktionen auf Brüsseler Kulturhauptstadt-Entscheidung fürs Revier / WR fragte in der Kulturszene nach

Von Rolf Pfeiffer und Bernd Berke

Dortmund. Die Entscheidung für die Europäische Kulturhauptstadt Essen/Ruhrgebiet hat in der Region große Freude ausgelöst. Doch es gibt auch ein paar skeptische Stimmen. Die WR befragte Kulturschaffende und Kulturverantwortliche.

Seite der Westfälischen Rundschau zur Kulturhauptstadt-Entscheidung fürs Ruhrgebiet. (Repro: BB)

Seite der Westfälischen Rundschau vom 12.4.2006 zur Kulturhauptstadt-Entscheidung fürs Ruhrgebiet. (Repro: BB)

„Freude, nichts als Freude!“ So beschrieb Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann seine Gefühle nach der guten Nachricht aus Brüssel. Endlich werde das Ruhrgebiet anders wahrgenommen. Stüdemann zur WR: „Jetzt werden kulturelle Vorhaben enorm befördert, es wird eine große Dynamik entstehen.“ Dortmund werde sich nach Kräften beteiligen. Einige Projekte seien längst vorbereitet.

Glücklich und erleichtert ist auch Thomas Hengstenberg, Kultur-Fachbereichsleiter beim Kreis Unna. Die Entscheidung furs Ruhrgebiet sei vor allem klimatisch wichtig. Hengstenberg hofft: Jetzt wird es viel schwerer sein, bei der regionalen Kultur den Rotstift anzusetzen.“ Die Gefahr sei jetzt, dass Essen alle großen Projekte an sich ziehe.

Lünens Kulturbüro-Leiter Werner Althoff: „Dieses Votum ist so wichtig für unsere Region.“ Eine „riesige Chance“ fürs gesamte Ruhrgebiet sieht man auch beim Schwerter Kulturbüro. Dessen stellvertretende Leiterin Heike Pohl glaubt aber, dass das große Geld auch in die großen Städte fließen werde.

Hagens 1. Bürgermeister Hans-Dieter Fischer, zugleich Vorsitzender des Kulturausschusses beim Regionalverband Ruhr: „Ich bin begeistert. Olympia haben wir verloren, Wissenschaftsstadt haben wir verloren, bei der Kultur haben wir gewonnen.“

Der Dortmunder Verleger Bodo Harenberg: „Endlich hat mal ‚was geklappt! Jetzt hat die Kultur das geschafft, was die Politik nicht zustande bringt.“ Nun müsse schleunigst das gesamte Ruhrgebiet einbezogen werden: „Die Kulturhauptstadt darf keine Essener Lokal-Feier werden.“ Dortmund habe sich bislang viel zu wenig eingebracht, es werde höchste Zeit: „Morgen muss die Arbeit beginnen!“

Der Dortmunder Filmemacher Adolf Winkelmann ist nicht weiter überrascht: „Ich finde die Entscheidung toll – und zugleich absurd.“ Denn: „Das Ruhrgebiet war doch schon immer Kulturhauptstadt, es musste gar nicht eigens dazu ernannt werden.“

Tana Schanzara, „Revier-Duse“, hatte nie Zweifel am Erfolg. „Für mich war ganz klar, dass Essen stellvertretend für das Ruhrgebiet Kulturhauptstadt werden muss: Hier sind die Theater toll und knackevoll. Und das Publikum ist super.“

Tanas Chef, Bochums Theaterintendant Elmar Goerden: „Das Wort von der gewachsenen Kulturlandschaft, oft genug eine Floskel, ist hier im Ruhrgebiet an seinem einzigartigen Platz. Gibt es ein schöneres Durcheinander, Drunter und Drüber, Glück auf und ab? Also denn auf ein großes Fest-Essen!“

„Ich finde die Entscheidung ganz großartig für die Region“, sagt Dortmunds Schauspiel-Intendant Michael Gruner. „Jetzt ist die Chance gegeben, dass die Kultur mehr im Blickpunkt ist.“

„Die Entscheidung der Brüsseler Jury ist eine grandiose Bestätigung für die Region und ihre Menschen, denen es in den letzten Jahrzehnten gelungen ist, den dringend benötigten Strukturwandel voranzubringen“, befand unterdessen Christine Mielitz, Direktorin der Dortmunder Oper, mit internationalen Regie-Gastspielen zwischen Japan und Australien.

Auf Impulse, „von denen auch die Kulturszene und die Menschen in Dortmund profitieren werden“, hofft Dortmunds Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa. „Ich persönlich“, ergänzt er, „setze nun auf viele neue Projekte, die von den kulturellen Einrichtungen aller Ruhrgebietsstädte gemeinschaftlich getragen werden.“

Stellvertretend für die RuhrTriennale jubelt ihr Chef Jürgen Flimm: „Nun schauen wir also alle voller Freude auf das Jahr 2010 und hoffen auf kreative und unbürokratische Festspiele. Glück auf!“

Frank Hoffmann, Leiter der Ruhrfestspiele: „Ich bin regelrecht begeistert, glücklich über die Entscheidung. Ich war sicher, dass es Essen würde! Für die ganze Region ist das eine unheimlich große Chance, nach vorne zu kommen – für eine Region, die noch nicht so an einem Strang zieht, wie es sein sollte.“

Weiteres Highlight ist das Klavierfestival Ruhr. Franz Xaver Ohnesorg, der Intendant: „Das Ruhrgebiet kann sich in kultureller Hinsicht am Weltmaßstab messen. Wir müssen aber noch mehr Energie in die Vermittlungsarbeit stecken“. Dazu gebe es nun große Chancen.

„Gestern waren wir Papst, und heute sind wir Kulturhauptstadt – kein Problem Ruhrgebiet“, findet Christian Stratmann, Prinzipal des Mondpalast-Theaters in Wanne-Eickel. „Voraussetzung ist allerdings, dass wir drei ganz wichtige Dinge beachten: kommunizieren, kommunizieren, kommunizieren.“

Gefreut hat sich auch der Ruhrgebiets-Komödiant Uwe Lyko alias Herbert Knebel:„Das Revier hat’s verdient.“ Allerdings meint er auch: „Was mir auf den Senkel geht:In letzter Zeit hat sich hier eine seltsame Euphorie breit gemacht, gepaart mit einer gewissen Arroganz. Fast so, als könne einem keiner das Wasser reichen.“ Kultursparten wie die Kleinkunst würden ohnehin nicht profitieren: „Uns hat man nie gefördert.“

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HINTERGRUND

Verfahren war ziemlich langwierig

  • Die Ernennung Europäischer Kulturhauptstädte geht zurück auf eine Idee der früheren griechischen Kulturministerin Melina Mercouri.
  • Nach einer bis 2019 festgelegten Länder-Reihenfolge nennen die EU-Staaten ihre Favoritenstädte.
  • Im Falle der deutschen Auswahl für 2010 gab es ein langwieriges Ausscheidungsverfahren. Zuerst ließ Essen den Revier-Mitbewerber Bochum hinter sich. Landesweit erhielt Essen dann den Vorzug vor Münster und Köln.
  • Im März 2005 setzten sich Essen und das Ruhrgebiet sowie das sächsische Görlitz bundesweit durch gegen: Braunschweig, Bremen, Halle, Karlsruhe, Kassel, Lübeck, Potsdam und Regensburg.
  • So geht’s jetzt weiter: Nach dem Jury-Entscheid spricht die Europäische Kommission eine Empfehlung aus. Schließlich verleiht der Europarat den Titel. Bisher sind die Gremien stets der Jury-Entscheidung gefolgt.

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Der Beitrag stand am 12. April 2006 in ähnlicher Form in der Westfälischen Rundschau (WR)




Heute ist der Tag der Wahrheit – Essen oder Görlitz: Entscheidung über Kulturhauptstadt 2010 wird mittags in Brüssel verkündet

Von Bernd Berke

Dortmund. Heute gilt’s! Zur Mittagszeit werden wir wissen. ob Essen und das Ruhrgebiet oder das sächsische Görlitz Europas Kulturhauptstadt 2010 werden. Um 11.30 Uhr will die EU-Jury in Brüssel ihre Entscheidung verkünden. Spannender geht’s nimmer.

Jubel und Enttäuschung werden dann so dicht beieinander liegen wie sonst im Sport. Die fußballerische „T“-Frage (Torwart Lehmann statt Kahn als Nummer eins) ist unter großem Getöse geklärt worden. Jetzt steht also die K-Frage an – „K“ wie Kulturhauptstadt. Und man möchte lieber keine Wetten auf diesen Super-Dienstag abschließen, so offen scheint der Ausgang des Rennens zu sein.

Beide Städte bzw. Regionen haben jahrelang auf die heutige Entscheidung hingearbeitet. Immense Energien und Hoffnungen sind allseits eingeflossen. Beide Bewerbungs-Teams fühlen sich bestens gerüstet und glauben jeweils, die stärkeren Argumente auf ihrer Seite zu haben. Alles andere wäre ja auch erstaunlich.

Tritt mit Görlitz ein kleiner David gegen den Goliath Ruhrgebiet an? Sollte man in der siebenköpfigen Jury mehrheitlich so denken, wäre es vielleicht ein gefühlter Vorteil für die Sachsen, denn oft liegen die Sympathien in derlei Fällen beim „Kleineren“. Ängstliche Spekulationen…

Bei der Präsentation der Programme und Projekte am 15. März in Brüssel hat die Jury den Essenern eine Frage gestellt, die hellhörig macht. Sinngemäß: Wozu braucht ihr denn noch den Titel, ihr habt doch zwischen Dortmund und Duisburg schon so viele kulturelle Highlights? Ein verquerer Gedanke, bei dem man ins Grübeln gerät. Ebenso gut könnte man Görlitz vorhalten, dass es eine so schmucke Altstadt besitzt.

Eigentlich wäre in Sachen Kulturhauptstadt wohl „der Westen“ an der Reihe. Berlin und Weimar haben den Titel getragen. Käme nun Görlitz zum Zuge, so hätte die ganze Geschichte eine ziemlich deutliche Schlagseite. Görlitz de ist ja sogar die östlichste deutsche Stadt überhaupt.

Doch wir wollen hier nicht die fatale Ost-West-Konkurrenz aufbauschen, die längst auch auf finanzpolitischem Felde herrscht. Fest steht: Beide Bewerber könnten den Geld- und Image-Gewinn sehr gut gebrauchen, der mit der Kulturhauptstadt verbunden wäre. Wenn’s nur ums Gönnen ginge, müsste der Titel brüderlich geteilt werden. Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so.

Aus Sicht des Ruhrgebiets könnte einem etwas bang zumute werden, wenn man sich die Konzepte ansieht. Auf den ersten Blick scheint der deutsch-polnische Brückenschlag, den Görlitz mit der Partnergemeinde Zgorzelec plant, griffiger zu sein als das vielfältige Bestreben des Reviers, das als multikulturell geprägte „Industrieregion im Wandel“ eher eine gesamteuropäische Perspektive einnimmt. Jedoch: Kann denn Vielfalt Sünde sein?

Dass man in Essen heute – unabhängig vom Ausgang – auf jeden Fall groß feiert, hat sogar schon Gerüchten Raum gegeben: Wissen die Essener vielleicht doch schon etwas?Ist etwa ein mehr oder weniger vager Hinweis aus der Jury durchgesickert? Eigentlich kaum vorstellbar. Ganz klar: Auch eine etwaige „Niederlage“ muss zünftig begangen werden. Das (Kultur)-Leben geht jedenfalls weiter.

Gewiss steht die Entscheidung seit Tagen fest, sie wird just heute bekannt gegeben. Die Juroren scheinen ihrer Sache recht sicher zu sein. Sie haben auf Informations-Reisen in die Bewerberstädte verzichtet; ganz so, als hätte es da gar keinen Klärungsbedarf‘ mehr gegeben.

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HINTERGRUND

Gefeiert wird auf jeden Fall

  • Diese Delegation fährt heute früh um 7.30 Uhr in Richtung Brüssel:
  • Oliver Scheytt (Kulturdezernent von Essen und „Moderator“ der Kulturhauptstadt-Bewerbung), Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff (NRW-Kulturstaatssekretär), Heinz- Dieter Klink (Direktor des Regionalverbands Ruhr – RVR), Hans-Georg Küppers (Kulturdezernent von Bochum) und Jürgen Fischer (Leiter des Bewerbungsbüros).
  • Die Entscheidung über die Kulturhauptstadt wird um 11.30 Uhr in Brüssel verkündet. Im Essener Rathaus-Foyer wird das Ereignis live auf Großleinwand übertragen.
  • Gegen 17 Uhr kehrt die Delegation nach Essen zurück. Dann soll es eine Feier auf dem Kardinal-Hengsbach-Platz geben.
  • Ab 19 Uhr steigt eine Party auf der Essener Zeche Zollverein (Halle 5) – je nach Stimmungstage bis tief in die Nacht.‘



Essenzen von Liebe und Abschied – Charles Aznavour in der Essener Philharmonie

Von Bernd Berke

Essen. War es ein Abschied für immer? Man mag es kaum glauben.

Der große französische Chansonnier Charles Aznavour hat am Montag Abend in der ausverkauften Essener Philharmonie eine kurze Deutschland-Toumee triumphal beendet. Angeblich soll es sein letzter Bühnenauftritt in unseren Breiten gewesen sein. Doch schon mehrmals hat er auf ähnliche Weise Adieu gesagt. Warten wir’s ab.

Schwarzer Anzug, schwarzes Hemd. So existenzialistisch erwartet man es von ihm. Dann seine unvergleichliche Stimme, scharf umrissen und doch zartfühlend. Ganz wie früher. Der Mann soll 81 Jahre alt sein? Auch seine Bewegungen lassen beim zweistündigen Konzert keinerlei Müdigkeit erkennen. Er kann es sich leisten, mit vermeintlicher Vergesslichkeit („Wie hieß noch mal diese Zeile?“) zu kokettieren.

In seinen Chansons (rund 1000 hat er inzwischen verfasst) sind Essenzen von Liebesüberschwang, schmerzlichen Abschieden und vergänglicher Jugend auf höchst kultivierte Weise aufgehoben. Untröstliche Momente und die Feier einer wunderbaren Lebensfülle sind hier keine Widersprüche. Vor allem aber: Die Liebe kann niemals lächerlich sein …

Man traut ihm durchaus zu, dass er selbst noch erotisch entflammt. Wenn er auftritt, fühlt man jedenfalls ein aufregend charmantes Paris, seine Boulevards und Bistros immer mit. Klischees also, doch in Vollendung stilisiert.

Natürlich singt er auch einige seiner größten Erfolge: „Les comédiens“, „Sa jeunesse“, „II faut savoir“, „Tu te laisse aller“ (Du lässt dich geh’n), „She“ und „La bohème“. Er hat keine Scheu vor Pathos, vor den ganz großen Gefühlen, beinahe schon im Kitsch-Bezirk. Auch solche Grenzgänge kann sich einer wie Aznavour erlauben. Bei wem sonst erstrahlt selbst die Melancholie so herrlich und würdevoll?

Mit äußerst sparsamen, doch ungemein wirkungsvollen Gesten lenkt Aznavour den rauschenden Beifall des Publikums – und die Band, die zwischen Jazz, Swing, Chanson und gehobenem Schlager so manche Nuancen beherrscht. Zum musikalischen Begleitpersonal zählt auch seine Tochter Katia, mit der er im Duett „Je voyage“ vorträgt. Die junge Frau kann auf jene entzückend französische Weise naiv klingen – wie einst France Gall oder die frühe Françoise Hardy. Hach!




Krämpfe der Wirklichkeit – Fotografien von Diane Arbus im Essener Museum Folkwang

Von Bernd Berke

Essen. Von Erotik keine Spur: Einsam hockt die Stripperin zwischen zwei Auftritten im schäbigen Hinterzimmer. Von Glorie kein Schimmer: Ein namenloser US-Patriot hat sich mit Flagge und Anstecker („l’m proud“) gerüstet. Doch der „stolze“ Mann sieht erbärmlich aus; ganz so, als hätte er in dieser Leistungsgesellschaft nie eine Chance gehabt. Man glaubt ohne weiteres, dass er zum seelischen Ausgleich glühender Patriot werden musste.

Wenn man die Fotografien der US-Künstlerin Diane Arbus (1923-1971) anschaut, rieseln einem häufig Schauer über den Rücken. Hier begegnet man meist Menschen von den Rändern der Gesellschaft – ungemein frontal und unausweichlich. Jedes Bild scheint einem zuzurufen: Stelle dich der Wirklichkeit!

Oberflächlich betrachtet, summieren sich die rund 180 Schwarzweiß-Aufnahmen im Essener Folkwang-Museum zum Panoptikum wie auf längst vergangenen Jahrmärkten. Ist es Voyeurismus? Man sieht Transvestiten, Dominas mit devot winselnden Kunden, Nudisten, dicke Kinder, Kleinwüchsige, Behinderte, schräge Leute aus der High Society.

Viele der erfassten Momente sind sirrend, manche auch brüllend bizarr. Hier waltet ein Wille zur ungeschönten Wahrheit. „Diane Arbus – Revelations“ heißt die Schau. Enthüllungen also. Im Wörterbuch steht auch: Offenbarungen.

Die in New York geborene Diane Arbus war eine „höhere Tochter“ und schuf anfangs elegante Modefotografte. Dann aber suchte sie andere Welten auf. Wohl in einer Mischung aus Angst und Faszination hat sie sich auf die Schatten- und Nachtseiten der Gesellschaft begeben. In den 50er und frühen 60er Jahren war dies ein Tabubruch. Die Abweichungen, die Arbus gezeigt hat, erweisen sich als eine Art Vorschuss auf spätere, schrille Zeiten. Heute wimmelt jede Nachmittags-Talkshow von Freaks.

Das Bizarre wird allmählich „normal“

Bei Diane Arbus kann jedoch von Banalisierung noch keine Rede sein. Mit geradezu heiligem Ernst verwandelt sie all diese Randfiguren in Ikonen. Dies geschieht mit solcher Beharrungskraft, dass das Bizarre irgendwann beinahe alltäglich wird. Wenn Arbus sich hingegen dem Alltag der „schweigenden Mehrheit“ zuwendet, so entdeckt sie darin wiederum bestürzend krampfhafte Momente. Ein kleiner Junge auf der Straße schreit da unvermittelt existenzielle Not heraus. Und ein ganz junges Paar wirkt so desolat, als wäre es längst in ehelicher Ödnis erstarrt.

Mögliche Folgerung: All diese Menschen sind, in welcher Ausprägung auch immer, aus einem Holz geschnitzt. Ein humaner Ansatz, der auch abseitige Existenzen gleichsam eingemeindet. Dahinter lauert die Grundsatzfrage: Was ist überhaupt „normal“? Doch heute nimmt man diese Gesellschaftskritik in erster Linie als Kunst wahr. Ethik verschwindet hinter Ästhetik. Die Ausstellung war auf US-Toumee und hat nun ihre Europa-Premiere in Essen, es folgen London und Barcelona.

Die von RWE gesponserte Folkwang-Schau bietet mehr als nur die bloße Präsentation der (auf dem Kunstmarkt sehr hoch gehandelten) Fotografien. In drei atmosphärisch dicht gespickten Kabinetten blickt man in die Werkstatt der Künstlerin. Tagebücher, Notizen, Briefe, Lektüre, Handwerkszeug und dergleichen sind hier versammelt. Auch sieht man Kontaktabzüge ganzer Serien, so dass man nachvollziehen kann, welche Motive und Ausschnitte die Fotografin verworfen hat.

Diane Arbus hat den Freitod gewählt. Mit 48 Jahren schnitt sie sich die Pulsadern auf. Vielleicht hat sie die Trennung von ihrem Mann nicht verwunden. Medikamente, die sie gegen Hepatitis nehmen musste, haben vermutlich zusätzliche Depressionen ausgelöst. Oder hatte die Verzweiflung auch etwas mit den Motiven ihrer Fotografien zu tun? Wir werden es nie wissen, wir können nur schauen und ahnen.

„Diane Arbus – Revelations“. Museum Folkwang. Essen, Goethestraße 41. Bis 18. September. Geöffnet Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Katalog 49.80 €.




Freiraum der Frömmigkeit: „Krone und Schleier“ – eine prachtvolle Doppelschau über mittelalterliche Frauenklöster

Von Bernd Berke

Essen/Bonn. Sind Nonnenklöster im Mittelalter Bastionen einer frühen „Frauenbefreiung“ gewesen? Diese verblüffende Frage lässt jetzt die prachtvolle Doppelschau „Krone und Schleier“ in Essen und Bonn aufkommen.

Der Titel nennt Symbole himmlischer Vermählung, denn Nonnen sahen sich als „Bräute Christi“. Ruhrlandmuseum (Essen) und Bundeskunsthalle (Bonn) haben ihre Kräfte vereint, um das Thema erstmals in solcher Fülle zu behandeln. Die Essener kümmern sich ums frühe Mittelalter (6.bis 12. Jhdt.), dieBonner um die Ära zwischen 1200 und 1500, also bis an die Schwelle der Reformation.

Insgesamt 600 Leihgaben aus aller Welt sind, brüderlich (oder, dem Thema gemäß: schwesterlich) zwischen beiden Museen aufgeteilt. Wer nur die Zeit für einen der beiden Orte aufbringt, hat auch schon eine Menge davon.

Kulturblüte und Machtentfaltung

Kunst und Kult(ur)-Gegenstände aus mittelalterlichen Frauenklöstern belegen vielerlei. Beispielsweise, dass die Nonnen und Stiftsdamen versiert lesen, schreiben und übersetzen konnten. Das klingt banal, war aber damals beileibe nicht selbstverständlich.klingt banal, war aber damals beileibe nicht selbstverständlich.

Überhaupt mussten sich die Frauen hinter Klostermauern zwar kasteien, sie konnten sich aber kulturell entfalten wie sonst nirgendwo. So traten Klosterfrauen als Schöpferinnen ..(oder Auftraggeberinnen) bildlicher Bibeldarstellungen in Erscheinung. Das wiederum heißt: Sie bestimmten auch, so oder so, die ästhetische Richtung.

Überdies häuften sich auch im Umkreis der Frauenklöster die Zeichen weltlicher Macht.In der Ausstellung zeugen Dokumente über päpstliche und königliche Privilegien davon.So durften manche Klöster Märkte abhalten, Zölle einnehmen oder von Bauern Abgaben verlangen.

Ein Fächer gegen Insekten auf Opfergaben

Kostbare liturgische Gerätschaften sind in Essen ebenso zu bewundern wie unschätzbar wertvolle Schriften (Purpur-Evangeliar aus Brescia, Gebetbuch der Hildegard von Bingen) oder Wandteppiche.

Im Ganzen durch Prunk überwältigend, führt die Ausstellung zuweilen bis in kuriose Details. Da sieht man etwa den bronzenen Löwenkopf, der als Türklopfer an einer Klosterpforte diente. Oder man staunt über seltsame Relikte aus Meschede: Vasenförmige „Schallgefäße“ mit Luftauslässen dienten zur Verbesserung kirchlicher Akustik. Ob sie wohl auch für Philharmonien taugen würden?

Auch lernt man anhand vieler Exponate neue Begriffe hinzu. Wer weiß schon, was mit dem lateinischen „flabellum“ gemeint ist? Nun. es handelt sich um einen liturgischen Fächer, mit dem Insekten von Opfergaben vertrieben wurden.

Die in schützenden Vitrinen unter gedämpftem Licht aufgeschlagenen Bücher und Handschriften haben auf den ersten Blick „sieben Siegel“. Doch mit Begleittexten, Computerhilfe und ausführlichen Audio-Guides (gar in mehreren Varianten) geben sich die Macher alle Mühe, das Wissen des Besuchers zu mehren. Ganz zu schweigen vom üppigen Katalog, der schon jetzt als Standardwerk gelten darf.

Nur Äbtissinnen waren bildwürdig

Zurück zur Ausgangsfrage: Natürlich waren Stifte und Klöster keine gleichberechtigten Frauen-WGs. Es herrschten strenge Regeln, und es waltete eine spürbare Hierarchie. Ein Gesicht hatten in jenen Zeiten allenfalls die Äbtissinnen, nur sie waren „bildwürdig“. Zudem kamen dafür lediglich Damen von Stand in Frage. Und die Männer redeten zuweilen auch hinein: So sieht man ein frommes Brevier, das von Mönchen eigens für Nonnen verfasst wurde.

Ohne NRW-Kulturstiftung,  Krupp-Stiftung und weitere Förderer wäre das 3 Millionen Euro teure Ereignis undenkbar. Essens Ruhrlandmuseum hat (im 100. Jahr seines Bestehens) einen kläglichen Ausstellungs- und Sammlungsetat von 150.000 Euro.

• „Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern“. An beiden Orten 19. März bis 3. Juli. Gemeinsamer-Katalog (580 Seiten) 32 Euro, Eintritt jeweils 7 Euro.

Essen, Ruhrlandmuseum (Goethestraße). Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr.

Bonn, Bundeskunsthalle). Mo 10-19, Di-So 10-21; ab 2.Mai Di/Mi 10-21, Do-So 10-1-9 Uhr.




Zehn Städte wollen ins große Finale – Vorentscheid um die Europäische Kulturhauptstadt

Von Bernd Berke

Die Spannung wächst: Welche zwei bis vier Bewerber um die Europäische Kulturhauptstadt 2010 wird die Jury ins Finale lassen? Seit gestern tagt die Kultusministerkonferenz in Berlin, hier soll heute das Votum verkündet werden. Die WR hat nachgeschaut, wie die zehn Kandidaten ihre Vorzüge im Internet darstellen. Verschiedene Gewichtungen fallen auf.

Fast alle Kommunen führen nicht nur ihre kulturellen Schätze, sondern auch ihr wissenschaftliches oder wirtschaftliches Potenzial ins Feld. Sie hegen vielfach die Hoffnung auf Geldsegen und neue Arbeitsplätze, falls sie das Rennen gewinnen. Zuerst aber muss investiert werden. Wir bleiben neutral und gehen streng alphabetisch vor:

Braunschweig bezieht bewusst die Region mit ein, darunter Wolfsburg mit dem Kunstmuseum und VW als Sponsor. Die Stadt rühmt sich ihrer Baudenkmäler, will zudem ihr (1960 abgerissenes) Residenzschloss neu errichten. Die Kunstakademie, das Festival „Theaterformen“ und Forschungsstätten gelten als Pluspunkte.

Bremen kann gewachsene Kultureinrichtungen vorweisen. Man empfiehlt sich außerdem mit dem bereits errungenen Titel „Stadt der Wissenschaft“, nennt Rathaus und Roland als Weltkulturerbe und plant eine weitläufige „Neuerfindung der Stadt“, sozusagen im kulturell geleiteten Laborversuch.

Historisches Erbe ist nicht alles

Essen hat im Gegensatz zu vielen Mitbewerbern keine historische Silhouette. Es ist folgerichtig, dass man sagt: Wir haben unsere Kultur nicht geerbt, sondern sie uns erarbeitet. Aalto-Oper, Philharmonie, Folkwang-Museum und Zeche Zollverein sind Flaggschiffe, Industriekultur und Einbeziehung der Migranten setzen spezielle Akzente. Die anderen Revierstädte (Ausnahme Bochum) gehen den Weg offenbar noch nicht so recht mit. Das mag sich ändern, falls Essen in die Endrunde kommt.

Görlitz ist mit 60 000 Einwohncni die kleinste Bewerberstadt, preist sich aber selbstbewusst als schönste Gemeinde Deutschlands an. Schwerpunkt ist der Brückenschlag in die polnische Nachbarkommune Zgorzelec. Dies soll der EU in Brüssel, wo 2006 die endgültige Entscheidung fallen wird, als „europäische Vision“ einleuchten.

Halle will die Neugestaltung einer Stadt, die sich in einem Schrumpfungsprozess befindet, beispielhaft vorführen. Garten-Landschaften sollen wachsen, Plattenbauten menschenwürdig umgebaut werden. Kunst soll vor allem den Flusslauf der Saale zieren.

Karlsruhe wirbt für sich als Standort der Medienkunst, vor allem aber als Sitz desBundesverfassungsgerichts und somit Stadt des Rechts. Ob diese Setzung eine kulturell orientierte Jury überzeugt, wird sich zeigen.

Kassel stellt die alle fünf Jahre hier zelebrierte Weltkunstschau documenta insZentrum (deren Konzept man „weiterdenken“ will) und möchte Dialoge der Religionen stiften. Von Migrations-Themen bis zu den Gebrüdern Grimm reicht das durchdachte Spektrum der Projekte.

Lübeck beruft sich aufs schmucke Stadtbild sowie auf „seine“ Nobelpreisträger Thomas Mann, Willy Brandt und Günter Grass. Zudem will man den Ostseeraum bis zum Baltikum ins Bewusstsein riicken. Auch hier eine weite (ost)europäische Perspektive.

Potsdam kommt gar nicht umhin, mit Schloss und Parkanlagen zu prunken. Auch die Nähe Berlins wird in die Waagschale gelegt.

Regensburg, das Spott mit Christoph Schlingensiefs Anti-Werbung und einer Brezel-Abwurfakttion auf sich zog, wirbt liebenswert bescheiden, u. d. mit Studententheater und Altstadt-Szene.

 

 

Keine leichte Aufgabe für die Jury! Bleibt zu hoffen, dass auch die ausgeschiedenen Städte ihre einmal gefassten Ideen vorantreiben werden.




Zu den Ufern der Freiheit – Ausstellungen über Künstlergruppe „Die Brücke“ in Essen und anderswo

Von Bernd Berke

Essen. So wirken sich Gedenktage aus: Die Gründung der expressionistischen Künstlergruppe „Die Brücke“ jährt sich heuer zum 100. Mal. Deshalb holen viele, viele Museen ihre entsprechenden Bestände ans Licht.

In unseren Breiten sind es derzeit schon Münster und Duisburg, die ihren „Brücke“-Eigenbesitz zeigen. In Essen verhält es sich nun freilich anders. Die „Brücke“-Werke (von Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde und Karl Schmidt-Rottluff), die jetzt in Essen zu sehen sind, könnten tatsächlich dem Folkwang-Museum gehören. Doch man hat sie vom Frankfurter „Städel“ ausleihen müssen.

Die folgenreiche Vorgeschichte: Der 1867 in Essen geborene Chemiker Carl Hagemann wurde um 1910 zum passionierten Kunstsammler. Besonders enge Kontakte pflegte er mit dem „Brücke“-Künstler Ernst Ludwig Kirchner. Auch mit dem damaligen Folkwang-Direktor Ernst Gosebruch (im Amt 1906-1933) war Hagemann befreundet. Es schien beschlossene Sache, dass das Essener Haus einst die Sammlung Hagemann erhalten würde.

Frankfurter Städel-Direktor rettete die Sammlung Hagemann

Doch dann kamen die Nazis. die auch die „Brücke“-Bilder als „entartete Kunst“ verfemten und missliebige Museumsdirektoren zur Kündigung zwangen. In Essen wurde es für einen Sammler wie Hagemann vollends unerträglich. Er zog nach Frankfürt und begegnete dort gottlob dem standhaften „Städel“-Chef Ernst Holzinger. Der lagerte moderne Städel-Schätze mitsamt dem Hagemann-Besitz insgeheim in Kisten und rettete sie so vor Beschlagnahme und späteren Kriegswirren…

Nun also kehren Teile des Hagemann-Konvoluts auf Zeit nach Essen zurück. Noch nie hat sich das Frankfurter „Städel“-Institut bei der Ausleihe derart großzügig gezeigt. Andere Leihgeber, darunter das Dortmunder Ostwall-Museum, traten mit sinnvollen Ergänzungen hinzu.

Es ist trotzdem keine Schau, die ganz neue Horizonte aufreißt. Wie denn auch? Mit der „Brücke“ glauben sich viele Kunstfreunde einigermaßen auszukennen. Allerdings werden die „Brücke“-Künstler vorwiegend als Gruppe wahrgenommen, gar nicht so sehr als Einzelpersönlichkeiten. Vielleicht ist dies ein „Auftrag“, den solche Ausstellungen mit sich bringen: Mehr zwischen den Künstlern zu differenzieren, neben allen Gemeinsamkeiten auch Unterschiede zu bemerken. Auch und gerade im Überschwang eines Gedenkjahres.

Historischer Verlust für Essen wird spürbar

Fabelhafte Kunststücke finden sich hier, die den historisehen Verlust für Essen recht schmerzlich spüren lassen. Immer wieder gibt es beim Rundgang flammende Momente: Das exzessive Aufblühen der Farben rund um Karl Schmidt-Rottluffs „Turm im Park“ (1910); der sinnlich verwegene Schwung des Tanzpaares in Ernst Ludwig Kirchners „Varieté“ (1910); der freimutige Reigen natürlicher Nacktheit (Erich Heckels „Badende im Waldteich“, 1910). Sie strebten zu den Ufern der Freiheit, sei’s im Leben, sei’s auf der Leinwand.

Interessant auch einige Seitenlinien der „Brücke“-Schau (E. W. Nay, André Derain). Und dann Emil Nolde! Von ihm sieht man ein ungeheuerlich aufgewühltes „Herbstmeer“ (1910), Sinnbild eines Seelenzustandes,, unsicherer menschlicher Existenz überhaupt. Zudem hat Nolde einen leuchtenden „Christus in der Unterwelt“ (1911) imaginiert, der die Mühseligen und Beladenen zu sich ruft. Vor solchen Bildern kann man gläubig werden – oder bleiben.

• Essen: Künstler der „Brücke“ in der Sammlung Hagemann. Bis zum 15. Mai im Folkwang-Museum (Goethestraße). Geöffnet Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Eintritt 8 Euro, Katalog 16,80 Euro,.

• Münster: Westfälisches Landesmuseum (Domplatz). Bis 1. Mai. Di-So 10-18 Uhr.

• Duisburg: Lehmbruck-Museum (Düsseldorfer Str.). Bis 31. Juli. Di-Sa 11-17,So 10-18 Uhr.

 




Kulturhauptstadt 2010: Essen tritt offiziell an – Ruhrgebiet soll jetzt an einem Strang ziehen

Von Bernd Berke

Essen/Bochum. Eigentlich ging es „nur“ darum, welche Stadt mit ihrem Briefkopf für die Revier-Bewerbung zur europäischen Kulturhauptstadt 2010 einsteht. Dennoch lagen die Nerven der beiden Kulturdezernenten Oliver Scheytt (Essen) und Hans-Georg Küppers (Bochum) gestern ziemlich blank, als die KVR-Verbandsversammlung zur Abstimmung schritt.

Noch bevor das Resultat verkündet wurde, sah man dem Mienen- und Gebärdenspiel der „Kontrahenten“ an, wie die Sache ausgegangen war. Küppers blickte ein wenig betrübt drein und nahm tiefe Trost-Züge aus seiner Zigarette, Scheytt hingegen schwoll an vor Stolz. „Natürlich bin ich ein bisschen enttäuscht“, bekannte Küppers später: „Aber jetzt ziehen wir den Karren gemeinsam.“ Oh, friedliche Kultur! Wenn etwa Schalke die Dortmunder Borussen schlägt, gibt es danach weitaus weniger verbalen Schmusekurs.

Bochum unterlag nur knapp

Essen (z. B. mit Weltkulturerbe Zollverein, Aalto-Oper und Folkwang Museum) hat also Bochum (Schauspielhaus, Jahrhunderthalle usw.) in der Vollversammlung des Kommunalverbandes Ruhrgebiet (KVR) mit 23 zu 20 Stimmen bei einer Enthaltung knapp distanziert. Bei einem Patt wäre gelost worden.

Ganz gleich, wie das Ergebnis zustande gekommen ist (Gerüchte wollten sogar von telefonischer Einflussnahme im Vorfeld wissen): Nun möchten beide Städte, möglichst im Verbund mit dem gesamten Ruhrgebiet, an einem Strang ziehen. Zunächst gilt es, die weiteren NRW-Bewerber Köln, Münster sowie den Kreis Lippe (um Detmold) auf die Plätze zu verweisen.

Insgesamt noch 16 deutsche Kandidaten im Rennen

So geht’s jetzt weiter: Bis zum 30. Juni wird die NRW-Landesregierung, beraten von einem hochkarätigen Fachgremium, ihre Entscheidung über den Bewerber aus dem Lande fällen. Dann führt der Weg politisch weiter bergauf: Das Bundesaußenministerium ist am Zuge, es bereitet die Entscheidung des Bundesrates vor. Ist klar, welche Stadt (oder Region) deutschlandweit den Vorzug genießt, so wird der Europäische Rat der EU wohl Ende 2005 darüber befinden. Fest steht jedenfalls: 2010 ist Deutschland mit einer Kulturhauptstadt an der Reihe. Insgesamt sind derzeit noch 16 Kandidaten auf dem Parcours – von Bremen und Lübeck bis Augsburg und Potsdam. Harte Konkurrenz.

Kosten-Horizont von 48 Millionen Euro

Beim Kommunalverband Ruhrgebiet (ab 1. Oktober 2004: RVR = Regionalverband Ruhr) wertet man die gestrige Abstimmung als „historisch“. Verbandspräsident Gerd Willamowski versprach, im Erfolgsfalle werde nicht nur Essen profitieren: „Die gesamte Region wird Spielfeld der Kulturhauptstadt sein.“

Willamowski betonte, dass eine Ernennung zur Kulturhauptstadt „ein riesiges Stadtentwicklungsprojekt“ bedeute – fast so wie (dem Revier entgangene) Olympische Spiele. Essen müsste, wenn es die Palme fürs Revier erringt, für die Jahre 2007 bis 2010 eigens insgesamt 6 Millionen Büro bereitstellen. Dezernent Oliver Scheytt hält dies für machbar. Hinzu kämen rund 12 Mio. Euro vom Regionalverband, (vielleicht) ebenfalls 12 Mio. Euro vom Land, 8 Mio. Euro vom Bund und 1 Mio. Euro aus EU-Töpfen. Macht 39 Mio. Euro. Da das gesamte Projekt auf 48 Millionen taxiert wird, sollen Sponsoren etwa 9 Mio. Euro aufbringen.

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Kommentar

Ein neues Ziel

Eitel Zuversicht herrschte gestern in Essen, weil die Kommune als „Bannerträger“ (so die Sprachregelung) für die Revier-Bewerbung zur Kulturhauptstadt 2010 gewählt wurde. Von den wahrlich zahlreichen und gewichtigen Kandidaten aus anderen Landstrichen war da nur noch am Rande die Rede. Das Revier, so schien es, fasst überaus selbstbewusst ein neues, ein europäisches Ziel ins Auge. Salopp gesagt: Olympia war vorgestern, jetzt lautet die Parole eben: „Kulturhauptstadt“! Man darf sich auf spannende Debatten und eine hoffentlich faire Konkurrenz freuen.

Indem die Versammlung des Kommunalverbands Rühr (KVR) die Wahlentscheidung traf, bekam das Geschehen tatsächlich einen überörtlichen, regionalen Anstrich. Doch wir wollen nicht gleich wieder von der ominösen „Ruhrstadt“ sprechen.

Heikle Frage der Finanzierung

Es ist noch nicht heraus, wie sehr sich die anderen Gemeinden des Ruhrgebiets für die Bewerbung ins Zeug legen werden. Mit immerhin 12 Millionen Euro will der Kommunalverband (und künftige Regionalverband Ruhr) die Stadt Essen unterstützen, sollte sie sich denn bundesweit durchsetzen. Heikel wird es, wenn’s um das bei den Kommunen so knapp vorhandene Geld geht. Per Verbands-Umlage müssten auch jene Mitglieds-Städte besagte Summe mitfinanzieren, die vielleicht gar nicht viel vom Ertrag spüren würden.

Gibt es etwa „Spielverderber“?

Wenn KVR-Verbandsdirektor Gerd Willamowski schon jetzt verspricht, das gesamte Revier werde „Spielfläche“ der Kulturhauptstadt sein, so richtet sich der darin verborgene Appell weniger an die kleineren Revierstädte, sondern vorwiegend an Dortmund und Duisburg, die sich von Essen (und Bochum) ein wenig an den Rand gedrängt fühlen könnten. Hier wie dort glaubt man beim KVR noch vornehme Zurückhaltung zu spüren, was die Bewerbung angeht. Sollte es sich da etwa um „Spielverderber“ handeln?

Wohl kaum. Doch man wird aus Dortmunder, Hagener oder Duisburger Sicht gewiss fragen und sorgsam prüfen dürfen, ob die Veranstaltung die in Aussicht gestellte regionale Breitenwirkung entfaltet. In diesem Sinne: Glückwünsche nach Essen, Daumendrücken fürs Revier. Fürs ganze Revier.

                                                                                                                       Bernd Berke

 

 




Erfindung der Landschaft – Flämische Meisterwerke von 1520 bis 1700 in der Essener Villa Hügel

Von Bernd Berke

Essen. Die Essener Villa Hügel hat’s weiter mit den flämischen Meistern. Vor Jahresfrist durfte man hier über zumeist intime barocke Stillleben aus den südlichen Niederlanden staunen. Jetzt schreitet der Besucher mit den Künstlern aus der Gegend um Antwerpen thematisch ins weit- und weltläufige Freie. Rund 130 Landschaftsbilder aus der Umbruchzeit zwischen 1520 und 1700 vereinen sich zum grandiosen Ereignis.

Schon in einzelnen, oft herrlich detailreichen Bildem kann man sich „umsehen“ wie in einer Wirklichkeit. Vor manchen Werken werden Blick und Atem spürbar geweitet, so etwa anhand von Jacques Fouquiers Bild „Bergige Flusslandschaft mit Jägern“. Welch eine duftige Transparenz! Man kann hier geradezu die einzelnen Luftschichten schweben sehen.

Zu Beginn der besagten Epoche ist die Landschaft allerdings noch bloße Staffage für religiöses Geschehen. Joachim Patinirs „Landschaft mit der Flucht nach Agypten“ und etliche andere Bibelszehen zeugen davon. Immerhin haben Wälder, Hügel und Auen den vormals herrschenden Goldgrund verdrängt. Die frommen Bilder werden also welthaltiger.

Erst ganz allmählich macht sich Realismus breit

Doch diese Landschaften sind noch Konstruktionen, innerlich geschaut und nicht real gesehen. Die Künstler arbeiten in Ateliers, nicht in freier Natur. Unwirklich etwa die ätherisch-bläulichen Fernen, vor denen sich die biblischen Gestalten meist in warmen Erdtönen abheben.

Mit der Zeit fließen aber realistische Beobachtungen mit ein, so dass die Landschaften „organischer“ wirken. Auch werden andere, nämlich weltliche Motive (Herri met de Bles: „Landschaft mit Bergwerk“, um 1555) aufgegriffen. Menschliche Eingriffe in die Gegend werden zum Thema, ganz gewöhnliche Leute betreten die Landschafts-Bühnen. Da zur gleichen Zeit die Kartographie Fortschritte macht, schärft sich das Bewusstsein für Örtlichkeiten. Schließlich treten Grundbesitzer als Auftraggeber hervor, welche ihren Besitz realistisch dargestellt sehen wollen.

Auch Kolportage und „Horror“ kommen vor

Ein erster Gipfel der wahrhaftigen Anschauung ist mit Pieter Bruegel d. Ä. erreicht. Man erlebt hier die „Erfindung der Landschafts-Ästhetik, die uns heute noch an gewissen Stätten auf den Foto-Auslöser drücken lässt.

Die in 13 Abteilungen weitgehend chronologisch gegliederte Schau verzeichnet auch Gegen-Bewegungen. Manche der „phantastischen“ Landschaften, deren Schöpfer auf dramatische Effekte setzen, könnten als Horrorfilm-Kulissen dienen. Gelegentlich drängt sich auch Kolportage (Frederik van Valckenborch: „Gebirgslandschaft mit Raubüberfall“, 1605) in den Vordergrund. Und die Seestücke mit ihren fürchterlichen Wellenbergen sind allemal symbolisch zu werten: Bedrohte Schiffe vergegenwärtigen die gefährliche Lebensfahrt. Erst recht erweisen sich die zahlreichen Höllen- und Paradies-Ansichten als pure Phantasie-Räume.

Bilder von Peter Paul Rubens als Krönung der Epoche

Die Ausstellung hat ein Ziel: Die Bilder von Peter Paul Rubens, so die nicht allzu gewagte These, bilden die geniale Summe und Überschreitung der Ära. Tatsächlich: Man schwelge nur in seiner mythologisch bevölkerten „Landschaft mit Meleager und Atalante“. Allein die Lichtführung, allein dieses Schimmern zwischen dunklen Bäumen – das ist größer als alle Wirklichkeit!

„Stadt Land Fluss“ – Die Flämische Landschaft 1520-1700. Villa Hügel, Essen (Haraldstraße). 23. August bis 30. November. Täglich 10-19, Di/Fr 10 bis 21 Uhr. Eintritt 7,50 Euro, Familie 15 Euro. Info-Telefon: 0201/61 62 90. Katalog 30 Euro. Internet: www.villahuegel.de




Das Zerbrechliche gar nicht antasten – eine brave Version von Tennessee Williams‘ „Glasmenagerie“ in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Es gibt noch ein Theater jenseits aller temporären Aufgeregtheiten um schrille Konzepte von „angesagten“ Regisseuren. Es gibt das „täglich‘ Brot“ der Bühnen. Ist es nur Graubrot?

Im Essener Schauspiel-Studio kann man jetzt eine Probe aufs Exempel machen. Dort hat Martin Schulze ein in der Erinnerung fast schon verblasstes Stück von Tennessee Williams inszeniert, und zwar derart konventionell, dass man meint, dergleichen schon vor Jahrzehnten gesehen zu haben.

Warum hier und jetzt dieses Stück?

Vom Mobiliar bis zu den Gesten ist eigentlich nichts erkennbar von heute. Manche mögen da aufatmen und sich befriedigt im Theatersessel zurücklehnen. Als sei der ganze Text so fragil wie seine Hauptfigur Laura Wingfield, hat man „Die Glasmenagerie“ kaum anzutasten gewagt. Man könnte dies als Behutsamkeit, als Zeichen des Respekts vor dem Autor auslegen. Dennoch beschleicht einen die Frage: Warum hier und jetzt dieses Stück, wenn man doch keinen speziellen Zugang gefunden hat? Man müsste dem Drama ja nicht gleich die Haut abziehen, um es zu durchleuchten.

Die körperlich leicht behinderte Laura (oft nur geistesabwesend dreinblickend: Anja Schiffel) ist überaus schüchtern. Sie hat sich vor der ach so robusten Weit zurückgezogen und in eine eigene Sphäre versponnen, in deren Zentrum jene Glastier-Sammlung steht. Zerbrechlich die Figuren, zerbrechlich die Seele – derlei Symbolhaftigkeit ist für heutiges Empfinden zu üppig aufgetragen. Doch auch solche zeitbedingten Unzulänglichkeiten nimmt die Regle ohne Abstriche in Kauf.

Es geht noch immer zu Herzen

Die dominant-redselige Mutter Amanda (Ute Zehlen), die angeblich schon viel bessere Zeiten gesehen hat (als ihr Mann sich noch nicht aus dem Staub gemacht hatte), sorgt dafür, dass endlich mal ein „Verehrer“ für Laura eingeladen wird. Obwohl dieser Jim (Georg B. Lenzen) sich redlich bemüht, Laura nicht zu verletzen, ist er doch letztlich ein schaler Propagandist seines eigenen Erfolgsstrebens. Außerdem hat er längst eine andere Braut.

Der Rest ist quälende Peinlichkeit, die immer noch seltsam zu Herzen geht, selbst in dieser kreuzbraven Version. Es wird einem angesichts all der wehen und welken Illusionen gelegentlich eng in der Brust, und man würde vor dem Verblühen einer solch heillosen Restfamilie am liebsten Reißaus nehmen – wie Lauras Bruder Tom (Nico Link), der sich abends immer ins Kino davonstiehlt.

Im Großen und Ganzen gibt es solides Schauspiel-„Handwerk“ zu sehen; kleine Seelenstudien der Beklommenheit, die sich jedoch kaum einmal wirklich verdichten. Wahrlich ein unaufgeregtes Theater. In Ordnung. Jetzt aber bitte wieder ein paar Anstöße! Oder auch: Mehr Butter aufs Graubrot.

Termine: 23., 24.,26. Oktober. 5., 6., 23. und 24. November Karten: 0201/8122-200.




Funkelnd und fruchtig: „Sinn und Sinnlichkeit“ – flämische Barock-Stillleben in der Essener Villa Hügel

Von Bernd Berke

Essen. Die Stillleben-Gattung gilt manchen als öde: Blumen über Blumen häufen sich da; allerlei Speisen, etliche tote Tiere und Krüge oder Trinkgläser füllen die Gemälde. Da regt sich doch nichts.

Doch wer so drauflos denkt, hat diese Ausstellung noch nicht gesehen: Die üppige Schau flämischer Stillleben von 1550 bis 1680, die nun in der Essener Villa Hügel gastiert, ist bunt und fruchtig wie das pralle Leben.

Hinter barocker Wohlstands-Pracht lauert zwar allemal die Vanitas, also Vergänglichkeit. Doch anders als die eher nüchternen Holländer, haben die katholisch geprägten Flamen dieser Einsieht die Krone der Hoffnung aufgesetzt – oft unscheinbar: Eine Ähre über dem Totenschädel, das bedeutete nach damaligem Verständnis die Gewissheit der Auferstehung.

110 Werke aus vielen großen Sammlungen der Welt kann die Kulturstiftung Ruhr jetzt vorweisen. Der entlehnte Titel „Sinn und Sinnlichkeit (Roman von Jane Austen, Verfilmung desselben) trifft den“doppelbödigen Sachverhalt recht gut: Die Bilder sprechen alle Sinne an, und dahinter verbergen sich tiefere Sinn-Schichten, mit denen Kunsthistoriker sich plagen.

Eine Frau bleibt lieber im Hintergrund

Aufschlussreich dargelegt werden auch Grenzbereiche zu anderen Gattungen wie dem Genrebild oder der Historienmalerei. Hier kommt Peter Paul Rubens zum Zuge, von dem u. a. eine wahre Horror-Vorstellung zum Medusa-Mythos zu sehen ist.

Bemerkenswert: Neben all den Brueghels, Hoefnagels und de Heems ist auch eine der seinerzeit raren Malerinnen vertreten: Clara Peeters hielt sich freilich persönlich im Hintergrund. Ein einziges Selbstbildnis hat sie geliefert – mikroskopisch klein als Spiegelung in einem Tischgefaß…

Gründungsbild der Stillleben-Gattung, die anfangs in der künstlerischen Hierarchie als „niedrig“ galt, ist Pieter Aertsens „Speisekammer mit Maria, Almosen verteilend“ (1551). Die Heiligen-Szene rückt hier weit in den Hintergrund, wird beinahe blasphemisch verborgen hinter einem Schweinskopf. Doch nicht das biblische Geschehen sollte geschmäht werden, sondern umgekehrt: Der Künstler staffierte Produkte des Fleischerhandwerks mit Zeichen allerhöchster Würde aus – zwiespältig genug.

Am liebsten in die Bilder beißen

Den frappanten Augentäuschungen, diesen Vexierspielen zwischen Realität und Abbildung (Fachbegriff: trompe l’oeil) widmet man eine eigene Raumflucht. Cornelis Norbertus Gijsbrechts fügte veritable Scharniere und Schlösser in seine Bilder ein – erstaunlich frühe Vorform des neuzeitlichen Materialbildes.

Doch so sehr die Gläser auf manchen Bildern auch funkeln, so mundgerecht die Trauben auch hängen und prangen (hie und da möchte man am liebsten in die Bilder beißen, was natürlich strikt verboten ist), so handelt es sich doch nur selten um bloße Natur-Nachahmung. Vermeintliche Insekten-Forscher unter den Malern haben in Wahrheit vielfach Phantasietiere ersonnen. Und wenn etwa Adriaen von Utrecht für ein Jagd-Stillleben erlegtes Wild arrangiert, so tut er dies ganz im Sinne künstlerischer Komposition, auf dass sich eine „schöne Linie“ ergebe.

Häufig erotische Hintergedanken

Apropos Tiere. Bei den sinnenfrohen Flamen gab es kaum ein Lebewesen ohne erotische Anspielung. In abendlicher Weinrunde hat man damals frivol über derlei Gemälde-Finessen geredet. Gewisse Fisch-Teile verweisen so unmissverständlich aufs weibliche Genital wie Artischocken oder Austern. Kein Witz: Der Hase weckte derbe Hintergedanken ans „Rammeln“, der Vogel gemahnte buchstäblich ans „Vögeln“ Da sieht man doch die Bilder von Fischmärkten und Tafelfreuden gleich mit ganz anders geweiteten Augen…

1. September bis 8. Dezember. Villa Hügel, Essen. Katalog 30 Euro.




Heilige in einer Gesellschaft der Eitelkeiten – Schillers „Jungfrau von Orleans“ in Essen

Von Bernd Berke

Ein paar Luftschlangen liegen noch herum, und manche Leute tragen noch Pappnasen. Doch jetzt ist erst mal Schluss mit lustig. Vorläufiges Ende der Spaßgesellschaft. Der übermächtige Feind steht vor den Toren der Stadt. Und so lange diese Bedrohung währt, müssen für eine gewisse Zeit wieder mal eherne Werte und Wunderglaube her. Dies ist die Stunde der „Johanna von Orleans“.

Volker Schmalöer inszeniert Friedrich Schillers Drama im Essener Schauspielhaus textnah und dennoch zeitgemäß. Geschickt hat er gekürzt und zugespitzt, doch nicht verfälscht. Der Regisseur hat einen seltsamen Datums-Zufall erkannt: Das Stück wurde am 11. September 1801 uraufgeführt, auf den Tag genau 200 Jahre vor den Terroranschlägen in den USA. Ist es bloße Zahlen-Mystik?

Manche Menschen glauben ja, es gebe keine Zufälle, sondern nur Fügungen. Und sieht sich jene Johanna etwa nicht als (christliche) „Gotteskriegerin“ im vermeintlich geheiligten Kampfe? Neuerdings hören wir ja, dass Selbstmordattentäter wähnen, im Jenseits von Jungfrauen empfangen zu werden…

Johanna dient nur noch als Maskottchen

„Gott und die Jungfrau!“ rufen die Höflinge des verzärtelten Franzosenkönigs Karl VII. (Maximilian Giermann) immer wieder. Das Hirtenmädchen Johanna, beseelt von „höherer-Sendung“, hat das Schlachtengeschick gewendet und Orleans vor englischer Besatzung bewahrt. Nun feiert man sie im Lorbeerkranze.

Die Festtafel für den satten und so faulen Frieden ist gedeckt. Die höfische Gesellschaft sonnt sich im gleißenden Blitzlichtgewitter. Mit hohl tönenden Phrasen und gravitätischen Posen wie fürs Geschichtsbuch spielen sie sich allesamt als Sieger auf. Johanna dient ihnen nur noch als Emblem, ja als Maskottchen. Diese Gesellschaft pfeift auf jede „Heiligkeit“. Selbst die scheinbar weihevollen Momente gleiten alsbald in süßliche Schlagerseligkeit („Ganz Paris träumt von der Liebe“) hinüber. Schon singen sie, als sei nichts geschehen.

Die Bagage, über der schon der Pleitegeier kreist, will rasch zurück zu ihren frivolen Späßen, zurück zum bodenlosen Luxus. Als wär’s ein Stück von heute. Sehr prägnant zeigt sich, wie Johanna (Strahlpunkt eines fast durchweg beachtlichen Ensembles: Sabine Osthoff) an dieser profanen, taktierenden und lavierenden Welt der kurzlebigen Zweckbündnisse zerbricht. Sie bleibt dabei eine durchaus zwiespältige Figur: Sichtbar wird ihre Größe, aber auch ihre tragische Lächerlichkeit in diesem Umfeld. Und auch sie selbst scheint ein wenig angekränkelt von Eitelkeit. Zumindest zeitweise gibt sie der Versuchung nach, sich auf den Glorienschild heben zu lassen. Da klingen manche ihrer martialischen Sätze nicht mehr inbrünstig, sondern nur noch blechern.

Der eigene Vater denunziert die Tochter als „Hexe“

Doch dann berührt es einen zutiefst, wenn Johanna dem Liebesblick von Lionel (Steffen Gangloff) erliegt, gleichsam ihre jungfräuliche Engelskraft verliert und ihr kämpferisches Aufstampfen danach zur trotzigen Groteske gerät. Ganz so, als sei mit der himmlischen Erleuchtung denn doch eine entscheidende Sinnquelle verlorenen gegangen.

Als „Hexe“ denunziert wird Johanna vom eigenen Vater (Volkert Matzen). Er kann offenbar nicht ertragen, dass sie sich der patriarchalen Verfügungsgewalt entziehen wollte. Zum Schluss legt er, anders, als im Original, selbst Hand an und schminkt ihr Gesicht weiß. Ein leiser, fast unmerklicher Tod, fernab von den Schlachtfeldern. Dann die Verklärung: Auf einem Podest fährt die sterbende Johanna aufwärts. Doch diese Erhebung ist nur ein Produkt der Mechanik. Woran sollen wir noch glauben?

Termine: 19. April, 5., 30. Mai. Karten: 0201/81 22-200




Gedrängtes, bedrängtes Dasein – Folkwang-Museum in Essen zeigt Arbeiten auf Papier von Max Beckmann

Von Bernd Berke

Dem Lebendigen ist alles lebendig, sogar Anzeichen der Langeweile kommen ihm aufregend vor. Selbst wenn Max Beckmann (1884-1950) eine Gruppe von Gähnenden zeichnete, geriet ihm dies zur halbwegs dramatischen Szenerie. Jede Figur gähnt anders, eine offenbar lauter als die Andere, als sei’s ein Wettstreit. Und alle zusammen wirken sie wie ein kakophones Gähn-Orchester. Oder gar wie Bestien, die einander mit weit offenen Mündern fressen könnten.

„Spektakel des Lebens“ heißt die neue Ausstellung im Graphischen Kabinett des Essener Folkwang-Museums. Sie versammelt 64 Beckmann-Arbeiten auf Papier; Zeichnungen und Aquarelle also. Diese eher intimen Genres dienten Beckmann als Proben auf die eigene Wirksamkeit. Die Blätter waren nicht zur Publikation gedacht, er behielt sie für sich. Erst viel später gerieten sie auf den Kunstmarkt. Irgendwann gehörten sie dann zur prachtvollen Privatsammlung Volhard, aus deren Fundus die Schau bestritten wird.

Die spontane Lust am Augenblick

Spontane Lust am Augenblick leuchtet da auf, doch auch ein nervös-fahriger Gestus wird sichtbar, der den wechselvollen Dingen des Lebens seismographisch nachzittert. Kein modulierend fließendes Licht besänftigt diese Beckmann-Darstellungen, die Umrisse treten meist hart und fest hervor. Es ist der direkte Weg zum Bild. Ohne Umschweife. Ohne symbolische Umwege.

Die Themen schöpfte Beckmann mitten aus dem prallen Menschenzirkus. Karnevaleskes Chaos steht neben schwülen Bordell-Szenen. „Die Schauspieler“ (1940) versprechen dem Künstler ebenso vitale Erregung wie das hektische „Redaktionszimmer“ (1924). Kriegslüsternheit („Die Letzten“, 1919) bricht sich so unvermittelt Bahn wie sexuelle Phantasien („Traum“, 1927) oder würgende Alpträume („Frauenkämpfe 1947). Düster drohende „Indianer in der Stadt“ (um 1949) erobern die Straße. Sogar gleich nach einer Beerdigung geht’s schrecklich heiter weiter: Lüstern winken die Trauergäste der am Straßenrand liegenden Hure zu. Spaßgesellschaft anno 1946, gleich nach dem Kriege…

Frontstellung zwischen den Geschlechtern

Ein Grundthema Beckmanns ist die manchmal gewaltsam ausartende Frontstellung zwischen Mann und Frau, die aus verschiedenen, einander feindlich begehrenden Weiten zu stammen scheinen. Umarmungen wirken verzweifelt und allemal unerfüllt, nicht etwa zärtlich. Auf Gedeih und Verderb aneinander gekettet, bleiben sich die Geschlechter fremd.

Wahrscheinlich rührt die ganze Misere aus biblisch-unvordenklichen Zeiten her. Eine geradezu in wilder Wut hingeworfene Zeichnung zeigt die aus dem Bauche Adams hervor schießende Eva, die sich bereits eitel gebärdet. Mit Schmerzen hat es also schon begonnen, könnte man folgern. Vielleicht war’s ja der Zorn des abgewiesenen Liebhabers Beckmann, der hier künstlerisch verrauchte. Doch Schluss mit der Küchenpsychologie.

Und hin zum Seh-Erlebnis: So dicht miteinander verzahnt und voneinander durchdrungen äußert sich hier das Leben, so ineinander gepresst, dass es zuweilen den Atem raubt. Gedrängtes, bedrängtes Dasein.

Max Beckmann: „Spektakel des Lebens“. Arbeiten auf Papier. Folkwang-Museum, Essen. Bis 7. April. Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Katalog 24,50 €.




Die ganze Fülle des Daseins beschwören – Juliette Gréco in der Essener „Lichtburg“

Von Bernd Berke

Essen. Manchmal sind ihre Hände wie kleine weiße Vögel. Sie flattern freudig auf oder sinken verzagt nieder; ganz wie die Gefühle zwischen Glück und Elend der Liebe, Glanz und Last der Freiheit. Juliette Gréco, die große Dame des Chansons, steht auf der Bühne der ausverkauften Essener „Lichtburg“. Ganz in Schwarz gekleidet, natürlich.

Seit über zwei Jahrzehnten ist die jetzt 74-Jährige nicht mehr im Ruhrgebiet aufgetreten. Man kann gar nicht umhin, sich die ganze Geschichte vorzustellen, wenn man sie nun hört und erlebt. Existenzialistische Nachkriegs-Nächte in Pariser Kellern wie dem „Tabou“, wo sie 1949 debütierte. Ihre berühmten Freunde wie Sartre, Camus, Cocteau. Diese speziell stilisierte Essenz französischer Lebensart.

Die Gréco sieht noch so aus wie „damals“. Ihre schlanke, von der Zeit nur ganz leicht gebeugte Silhouette, bleiches Gesicht; vom dunklen Haar umrahmt. Und sie wirkt noch wie ehedem. Freiheitsdurst, Hoffnungs-Glut, flüchtige Lüste und Abstürze der Liebe, der vitale Kosmos von Paris – all das ist präsent, wenn sie die klugen Texte von Jacques Brel, Jean-Claude Carrière oder Serge Gainsbourg vorträgt.

„La chanson des vieux amants“ (Das Lied der alten Liebenden) besingt Höhen und Tiefen eines gemeinsamen Lebens – und schließlich das große „Trotzdem“ der dauerhaften Liebe. „Deshabillez-moi“ (Zieh‘ mich aus) ist eine Miniatur zur erotischen Kultur. „Ne me quitte pas“ beschwört die Bestürzung einer Verlassenen. „Un jour d’été“ (ein Sommertag), dieser verwehende Liebestraum. Wenn Juliette Gréco da „Les yeux bleus“ (die blauen Augen) haucht, enthalten die Silben so viele fragile Sehnsüchte.

Bei aller melancholischen Tönung gerät der Auftritt zur Feier aller Schattierungen des wechselvollen Lebens, zur schmerzlichen Bejahung des Auf und Ab. Um Andre Heller abzuwandeln: Sie will, dass es das alles gibt, was es gibt. Einige Gesten sehen aus, als wolle die Gréco diese Fülle für die Ewigkeit festhalten. In innigen Momenten verkörpert sie jenes „Stirb und Werde“, das Goethe zu rühmen wusste.

Am 25. November tritt Juliette Gréco in der Kölner Philharmonie auf (Tel.: 0221/280 280).




Überbleibsel der erlebten Geschichte – Essener Ausstellung „Maikäfer flieg…“ über Kindheitserfahrungen 1940 bis 1960

Von Bernd Berke

Essen. Dinge, die uns umgeben, können Gefühle oder Erinnerungen speichern und beim Anblick freisetzen. Erst recht gilt diese Magie für Sachen aus der Kindheit. Auf dieser psychologischen Tatsache fußt jetzt eine alltagsgeschichtliche Ausstellung im Essener Ruhrlandmuseum.

„Maikäfer flieg… / Kindheitserfahrungen 1940 bis 1960″ versammelt, thematisch gut sortiert, schier tausend Gegenstände des damaligen Kinderlebens. Beispielsweise sieht man jede Menge charakteristisches Spielzeug vom abgewetzten Teddybär bis zum Stabilbaukasten; von der aus Lumpen notdürftig, doch erkennbar liebevoll gefertigten Puppe bis zur ersten elektrischen Eisenbahn. Welch ein Weg vom Elend bis zum bescheidenen Wohlstand – auch in der Kinderstube. Hier wird geschichtlicher Wandel so greifbar wie selten.

Wenn man einem der gemeinten Jahrgänge angehört, fühlt man sich von etlichen Gegenständen sogleich „angesprochen“, man könnte hie und da seufzen: Genau einen solchen Schulranzen hat man selbst mal auf dem Rücken bugsiert. Dieses spezielle Kasperltheater, jene Ritterburg, die Lego-Steine im knittrigen Pappkarton, Schiefertafel und Griffelkasten – sie kommen einem nicht nur bekannt, sondern geradezu verwandt vor.

Doch der historische Reigen beginnt schon einige Jahre früher, und da sieht man auch solche Exponate (Zitat): „1945, nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft aus einer zerrissenen Tarnjacke für den jüngeren Bruder hergestellter Teddybär – Höhe 24 Zentimeter“. Der Petz hat ‚was mitgemacht, er sieht aus wie ein Versehrter, herzzerreißend in seiner symbolischen Kraft. Sodann die unmittelbare Nachkriegszeit: dürftige Kleidung, Drill und frühes Leid in so genannten „Kinder-Kuren“.

Private Leihgeber plünderten Keller und Speicher

Die Ausstellungsmacher Mathilde Jamin (Jahrgang 1948) und Frank Kemer (1958) haben die mit den Jahren so kostbar gewordenen Lebenszeit-Schätze per Zeitungsaufruf erhalten. Rund 200 private Leihgeber (die meisten aus dem Revier), welche fürs Publikum anonym bleiben, haben Keller und Speicher geplündert, der Katalog enthält auch ihre zugehörigen, oft bewegenden Erzählungen.

Für die jeweilige Zeit aufschlussreiche Kinderbücher (in denen etwa bis in die 60er Jahre noch von „Negerbuben“ die Rede ist) kamen ebenso zutage wie etwa unscheinbare Zettel, die man damals aufhob und die nun Bruchstücke der Zeitgeschichte bezeugen. Etwa so: Auf der Vorderseite Mutters Liste des im Krieg verbrannten Besitzes, hinten drauf Tochters gemaltes Phantasiebild von einer Prinzessinnen-Hochzeit. Dicht an dicht: existenzielle Sorge und sorgloser Traum zweier Generationen.

Nachvollziehbare These der Museumsleute: All diese Erinnerungsstücke gehen längst nicht restlos in der großen Historie auf, sondern ragen irgendwie darüber hinaus, weil sie eine Aura entwickeln. Sie bewahren etwas auf, was dürre Geschichtsdaten niemals vermitteln können. Und noch eine triftige Behauptung: Bis in die 60er hinein gab’s die „altmodische“, seither eine ganz andere Form der Kindheit. Der Zeiten-Riss entzweite manchmal gar Geschwister.

„Maikäfer flieg“ – da fällt den Älteren sofort die Lied-Fortsetzung „Der Vater ist im Krieg“ ein. Viele Objekte stehen für schmerzliche Abwesenheit: Feldpostgrüße, letzte gemeinsame Fotos, Vermissten-Meldungen. Es sind Überbleibsel der an Leib und Seele erlittenen Geschichte.

Bis 6. Januar 2002. Ruhrlandmuseum (Essen, Goethestraße 41). Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Eintritt 10 DM, Katalog 35 DM.




Ein lachender Lenin galt schon als frech – Schau mit DDR-Plakaten in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Unverdrossene „Linksaußen“ dürften an dieser Ausstellung ihre Freude haben. So häufig wie jetzt im Essener Plakatmuseum sieht man die Konterfeis der Herren Marx, Engels, Lenin oder Thälmann in unseren Tagen selten.

Man fühlt sich fast in die rebellischen 60er Jahre versetzt, als solche Bilder auch hiesige Wände zierten. Doch eigentlich geht’s bei der neuen Ausstellung gar nicht um derlei Vergangenheits-Beschau der „Joschka Fischer-Generation“, sondern quasi ums Gegenteil, nämlich den Überdruss an plakativer Indoktrination, die den Alltag der DDR prägte.

Rund 140 Beispiele für „Agit-Prop“ aus dem verblichenen zweiten deutschen Staat sind zu besichtigen. Von „Kunst“ kann selten die Rede sein. Schon der Begriff „Kunstgewerbe“ würde mancher Hervorbringung schmeicheln. Meist hingen die Werke nicht etwa in privaten Haushalten (da träumte man wohl eher vom West-Konsum), sondern in öffentlichen Einrichtungen – pflichtschuldigst angepappt.

Erstaunlich, dass die überwiegende Anzahl der Exponate aus den 80er Jahren stammt. So selbstgewiss trumpfen sie auf, als wäre mit Staat und Partei noch alles in bester Ordnung. Nur mühsam hatte man sich von Stereotypen in Sprache („Vorwärts zu…“ / „Nieder mit..,,“) und Bildformeln gelöst: So erscheint etwa der Kommunistenführer ErnstThälmann mit gereckter Faust, immer und immer wieder. Nur zaghaft wird er auf späteren Plakaten mit farbigen Überblendungen verfremdet.

Friedenstauben und „glückliche“ Kinder

Ähnlich langsame Mutationen gab es in Sachen Marx. In den 80ern darf der Urahn des Kommunismus auch schon mal ein wenig „poppig“ dargestellt werden. Doch man hechelt der ästhetischen Entwicklung meist weit hinterher, und kaum einmal gelingen überzeugende grafische Lösungen. Welch ein Unterschied zur kritischen DDR-Malerei jener Jahre, die derzeit im Schloss Cappenberg gezeigt wird (die WR berichtete).

Der lachende Lenin, ein T-Shirt mit Marx-Motiv tragend (1983), galt schon als relativ „freches“ Motiv. Noch mutiger war man bisweilen in der Kulturszene: Ein Theaterplakat zeigt den nunmehr todernsten Lenin, ringsum garniert mit Einschuß-Löchern.

Sodann die Serien zum NATO-Doppelbeschluss. Wer zählt all die Friedenstauben, die zu Beginn der 80er Jahre der „ruhmreichen Sowjetunion“ zugeordnet wurden, und wer die Totenköpfe, die allemal auf die US-Aggression hinwiesen? Ganz so simpel lagen die Dinge ja wohl nicht…

Es muss nervtötend gewesen sein, ständig solche Plakate vor Augen zu haben: Junge Pioniere mit Fackeln, angeblich „glückliche“ vietnamesische Kinder mit roten Fahnen, muntere FDJ-Mädels mit dcm Spruchband „Die Partei – das werden wir“. Irrtum. Sie wurden’s nimmermehr.

Deutsches Plakatmuseum, Essen, Rathenaustraße 2. Bis 22. März. Di-So 12-20 Uhr




Ein Anti-Held aus der skeptischen Generation – Der Schauspieler Hansjörg Felmy wird heute 70 Jahre alt

Von Bernd Berke

Seine erste Rolle war in familiärer Hinsicht geradezu pikant: Hansjörg Felmy, damals gerade 18-jähriger Sohn eines Luftwaffen-Generals, betrat 1949 just in Zuckmayers Stuck „Des Teufels General“ die Bühne – in der Rolle eines Arbeiters. Am Beginn seiner Laufbahn stand das militärische Genre oft obenan. Heute wird Felmy 70 Jahre alt.

1956 hatte er sein Kino-Debüt er in Alfred Weidenmanns „Der Stern von Afrika“. Er spielte einen Fliegerleutnant, der keine Neigung zum „Heldentum“ zeigte. Felmy dürfte in jenen Jahren einiges zur Selbsterforschung der Nachkriegsdeutschen beigetragen haben, verkörperte er doch meist Männer, die entweder sarkastisch aufbegehrten (etwa in Kurt Hoffmanns Satire „Wir Wunderkinder“, 1958) oder die selbst in finsteren Zeiten aufrecht geblieben waren. Solche Streifen waren gewiss ehrenwerte Versuche, sich der Vergangenheit zu stellen. Sie entsprachen dem nüchternen Geist der „skeptischen Generation“.

Weitere Filmtitel aus seiner ersten großen Phase lassen ahnen, dass sich Felmy denn doch nicht auf ein Rollenprofil festlegen ließ: „Haie und kleine Fische“ (1957), „Der Greifer“ und „Herz ohne Gnade“ (beide 1958), „Rommel ruft Kairo“, „Buddenbrooks“, „Und ewig singen die Wälder“ (alle 1959), „Die zornigen jungen Männer“ und „Schachnovelle“ (beide 1960).

Unvergessen als Essener „Tatort“-Ermittler Haferkamp

Rückblick: Das Gymnasium in Braunschweig hatte er nur bis zur Mittelstufe besucht. Ab 1947 nahm er Schauspielunterricht. Nach Theater-Stationen in Braunschweig, Aachen und Köln lockte der Film. Hier errang Felmy frühen Ruhm und bekam in den 50er Jahren Traumgagen von bis zu 300 000 Mark. Das Geld dürfte ein Polster gewesen sein, als das deutsche Kino in den 60ern in eine tiefe Krise geriet und kaum noch tragbare Angebote kamen.

Felmy hielt sich seinerzeit auch mit Auftritten in zweitklassigen Streifen (Edgar Wallace-Adaptionen) im Geschäft, ansonsten kehrte er zur (Tournee-)Bühne zurück und trat ab 1966 (Dreiteiler „Flucht ohne Ausweg“) häufiger im Fernsehen auf, wo der wohl prominenteste Part seines Lebens noch auf ihn wartete.

Von 1973 bis 1980 spielte er den Essener Kommissar Haferkamp, einen der besten „Tatort“-Ermittler überhaupt, den man auch heute noch gern in Wiederholungen sieht. 1974 konnte ich Felmy für die WR bei „Tatort“-Dreharbeiten vor damals noch gängiger Hochofenkulisse in Duisburg beobachten. Es war ein relativ kurzer Termin, denn die Szene „saß“ sofort. Seither hat man so manchen Schauspieler gesehen, doch nur ganz wenige waren so professionell und dabei so angenehm uneitel.

Der erste richtige „Single“ im deutschen TV

Eine Spielanleitung brauchte dieser ungeheuer disziplinierte Darsteller kaum. Und so soll er denn auch einigen weniger erfahrenen Regisseuren das Leben recht schwer gemacht haben – wenn der Wählerische überhaupt noch Drehbücher akzeptierte.

In seiner „Tatort“-Rolle kultivierte Felmy vollends seinen Hang zum Understatement, zur sparsamen Geste, zur unaufdringlich-präzisen Charakterzeichnung. Und er war sozusagen der erste richtige „Single“ im deutschen Fernsehen. Die liebevoll ironischen Scharmützel des oft mürrischen Einzelgängers mit seiner Geschiedenen (Karin Eickelbaum) sind TV-Legende, ebenso wie der immergleiche Popeline-Mantel des Kommissars oder seine Vorliebe für Frikadellen und klaren Schnaps. Er war ein Anti-Held des Alltäglichen, von Melancholie umflort.

Zuletzt sah man Felmy in Mittelklasse-Produktionen wie „Abenteuer Airport“ (1990-93) und „Hagedorns Tochter“ (1994). Mit seiner zweiten Ehefrau Claudia Wedekind lebt er zurückgezogen in Bayern und Nordfriesland. Das Rauchen mag er trotz ernster Erkrankungen nicht aufgeben: „Ich will und werde mein Leben nicht verändern, nur um es zu verlängern. Wenn ich deswegen früher sterbe, habe ich eben Pech gehabt“, zitiert ihn eine Nachrichtenagentur. Vernünftig klingt das nicht. Aber es ist ein Standpunkt.

 




Suff und Ernüchterung – Bertolt Brechts „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Sie legen als Vorspiel einen Schuhplattler hin, sie juchzen und jodeln ein wenig. Gerät Brechts Stück „Herr Puntila und sein Knecht Matti“ etwa ins trübe Fahrwasser der volkstümelnden Unterhaltung? Nein, nicht einmal das!

Als wäre sie den Urhebern plötzlich selbst peinlich, bleibt diese Eingangs-Szene unerfindlich isoliert und folgenlos stehen, sie erstickt geradezu.

Der finnische Großgrundbesitzer Puntila (Claus Boysen) gibt sich als leutseliger Menschenfreund, sobald er besoffen ist. Doch wehe, er wird „sturzhagelnüchtern“ (Brecht). Dann verfolgt er seine Klassen-Interessen, entlässt reihenweise Knechte, beschimpft Matti als Aufwiegler und beleidigt alle Welt.

Matti lässt das Wechselspielchen für eine Weile über sich ergehen, doch er durchschaut die Lage gleich: Den Herrschenden kann man nie trauen. Das Bühnenbild (Monika Gora) im Essener Grillo-Theater zeigt’s ja schon: Man spielt unter einem Viadukt, das in der Mitte geborsten ist. Brückenschlag unmöglich.

Seltsamer Öko-Visionär auf einem Podest aus Stühlen

Matti-Darsteller Wolfram Bölzle leiert seinen Part lapidar herunter. Er kennt ja das Gehabe aller Besitzenden bis zum Überdruss. Boysens Puntila ist da schon (trotz aller Leibesfülle) etwas beweglicher: Wie er auf Freiersfüßen tänzelt und im Handstreich drei Verlobungen mit verwelkten Dorfmädchen unter Dach und Fach bringt, das ist die vielleicht noch beste Sequenz des Abends, der besonders nach der Pause in Langwierigkeit abgleitet. Am Schluss wird Puntila mit einer Kurbel auf (wackelige) Denkmalshöhe geschraubt und darf auf seinem Stuhl-Gebirge vom ländlich-schönen Finnland schwärmen. Ein Oko-Visionär? Ach was!

Theatralische Mangelwirtschaft: Vor allem den Nebenfiguren ist ein schmales Spektrum an Tonfällen und Gesten zugeordnet. Damit müssen sie halt auskommen. Der verschuldete Attaché (Rezo Tschchikwischwili), den Puntilas Tochter Eva (zickig aus lang unterdrückter Geilheit: Sabine Osthoff) nicht heiraten will, muss eben stets auf die gleiche Weise exaltiert sein, der Probst (Arno Kempf) allweil frömmelnd die Hände ringen. So versackt man in den schalen Konventionen der Typenkomödie. Wer gerade nicht redet, steht hilflos herum. Da hilft auch das ausgiebige Kreisen der Drehbühne mitsamt Schwimmbecken, Sauna-Hütte und Beiwagen-Motorrad wenig.

Gestaltloses Wabbeln wie im Alkohol-Nebel

Regisseur Matthias Kniesbeck hat Bertolt Brechts „Volksstück“ also ziemlich „un-brechtisch“ zugerichtet. Er lässt uns arg spüren, dass der Text in seiner ständigen Abfolge von Suff und Ernüchterung durch Monotonie bedroht ist, wenn man nicht hellwach bleibt und ihn entschieden packt. Mal plätschert diese Inszenierung nahezu operettenhaft dahin, dann wieder ergeht sie sich nur noch in haltlosem Geschrei, wobei ganze Text-Passagen akustisch auf der Strecke bleiben. Wie denn überhaupt mit der Sprache gehudelt wird.

Hier werden Haltungen nicht mit Lust am Erkennen hergezeigt, hier lässt man’s gestaltlos wabbeln und treiben wie im Alkohol-Nebel, von dem Puntila umwölkt ist. Doch ein rechter Sinn fürs Chaos entwickelt sich auch nicht, die Komik erreicht niemals den absurden Überschlag-Punkt, sondern fräst sich immer schnell fest.

Lang, lang ist’s her, es war im Januar 1985, doch man erinnert sich noch mit Freuden an die Köstlichkeit der Peymann-Ära: Damals richtete Alfred Kirchner denselben Text mit Traugott Buhre (Puntila) und Branko Samarovski (Matti) in Bochum ein – herrlich prall, schräg, als deftiges und doch sinnreiches Vergnügen. Aber man sollte nicht ungerecht sein: Das war eine völlig andere Liga.




Robert Frank: Bilder aus den Randzonen des Sichtbaren – Arbeiten des Filmemachers und Fotografen in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Beim Umgang mit den vielen Bildern, die täglich auf einen einstürmen, befindet man sich zwangsläufig im Zwiespalt. Auch einem Manne wie dem Fotografen und Filmemacher Robert Frank (76) ergeht es nicht anders.

Er kennt den Impuls, aus dem Rauschen der unendlichen Bilder-Flut gültige, dauerhafte Momente festzuhalten. Doch vom Film her weiß er, dass es d a s eine Bild, welches für sich genommen alles aussagt, gar nicht geben kann. Denn alles ist im Fluss.

Das Museum Folkwang widmet Robert Frank jetzt eine anregende Ausstellung, die künstlerische Wegstrecken zwischen Überfülle und Zerfall der Bilder ausmisst. Zu sehen sind vor allem Fotografien und experimentelle Filme. Titel des Ganzen: „Hold still – keep going“, also etwa: Bleib da – geh‘ weiter. Da haben wir ihn wieder, diesen Zwiespalt.

Robert Frank, 1924 in Zürich geboren, wanderte 1947 in die USA aus. Anfangs verdiente er dort sein Geld u. a. mit Modefotos für „Harper’s Bazaar“, mit journalistischen Aufgaben und Werbung. 1958 machte in den Staaten sein Bildband „The Americans“ Furore. Er enthielt spontan und radikal subjektiv wirkende, freilich hinterrücks treffende, im Kopf flirrend nachwirkende Beobachtungen des dortigen „way of life“ und seiner Idole. Die Haltung oszilliert zwischen Sentiment und ironisch-kritischer Distanz. Daraus erwuchs eine Ästhetik, die mindestens in die 60er Jahre voraus deutete.

Erst aus der Sequenz erwächst so etwas wie „Wahrheit“

Frank misstraute längst den „dokumentarischen“ und erzählerischen Ansprüchen des Metiers. Nicht das Einzelbild verhieß ihm eine Annäherung an die „Wahrheit“, sondern –dem filmischen Beispiel folgend – ganze Sequenzen, oft scheinbar chaotisch collagiert, mit Schriftzügen unterlegt oder von ihnen durchkreuzt.

Nicht um vermeintliche objektive Anschauung geht es hier, sondern um Intuition, Gespür für den Moment und Sinn für den Zufall, für die Randzonen des Sichtbaren. Da darf ein Bildmotiv ruhig unscharf sein, es darf in die Schräge kippen, Gesichter dürfen mittendrin angeschnitten werden oder verwackelt aussehen. gekoppelt. Es wirkt bei Robert Frank umso authentischer, wie im frischesten Moment beim Schopfe gepackt und noch nicht von Reflexion überlagert. Wie Filmstreifen sind manche dieser Bilderfolgen gekoppelt. Das Auge des Betrachters irrt hin und her zwischen den fragmentierten Sekunden. Eine ungerichtete, zuweilen ratlos schwankende Wahrnehmung, wie sie ja eigentlich auch den Alltag prägt.

Karge Inventuren bis zum gähnenden Nichts

Karge Inventuren: hier eine bloße Hand, dort einfache Gerätschaften, nahezu leere Zimmer. Aufmerksamkeit im Wartestand, bereit zum Sprung. Manche Bilder sind Umkreisungen der Trostlosigkeit und des gähnenden Nichts. Doch sie künden auch von der Suche nach dem Einfachen, an das man sich halten kann.

Seltsam der Sog der Filme, wenn man sich auf die Fährnisse der Handkamera einlässt: Man sieht scheinbar banale Szenen wie die vom Farbigen, der fiebrig zwischen Autos umherläuft und an der roten Ampel für ein paar Cents Scheiben reinigen will. Immer wieder. Oder man leidet mit an der Einsamkeit jenes Mannes. der in der U-Bahn schwadroniert, während alle anderen betreten schweigen. Partikel von Sozialdramen, mit dem Seziermesser herausgelöst.

Robert Frank, der auch mit dem verrufenen Beat-Poeten Jack Kerouac unterwegs war, treibt es mitunter weit mit seinen Zumutungen: Über die „Rolling Stones“, für die er das Plattencover zu „Exile on Main Street“ entwarf, hat er 1972 Film „Cocksucker Blues‘ gedreht. Er war den Stones „zu hart“. Mick Jagger & Co. verboten die Aufführung. Die Jungs haben trotz aller Exzesse immer aufs Image geachtet.

Bis 11. Februar 2001 im Folkwang Museum, Essen (Goethestraße). Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Katalog 40 DM.

 

 




Woran die stärksten Frauen scheitern mussten – Jürgen Bosse inszeniert Schillers „Maria Stuart“ in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Das soll Maria Stuart sein? Mit kahl geschorenem Haupte betritt sie die Essener Schauspielbühne. Schottlands Königin, die in Friedrich Schillers Drama als Schönheit sondergleichen gepriesen wird, sieht aus wie eine blasse Büßerin in Sack und Asche.

Doch sobald die junge Darstellerin Sabine Osthoff in Jürgen Bosses Inszenierung zu sprechen anhebt, weiß man’s besser: Nicht bußfertig, sondern so selbstgewiss und fordernd klingt ihre rasche Rede, als stehe sie auf feministischen Barrikaden. Aber derlei „Möblierung“ gibt’s in Wolf Münzners kargem, sehr spieldienlichem Bühnenbild nicht.

Mit Maria verglichen, wirkt Englands Regentin Elisabeth (höchst differenziert: Heike Trinker) geradezu sanftmütig, nachdenklich – und damenhaft elegant. Gleichsam als moderne Business-Frau hat sie auch seelische Kältezonen. Dass sie am liebsten jungfräuliche Amazone bliebe, möchte man ihr trotzdem (und trotz eines kraftvollen Bogenschusses) kaum glauben.

Aus Angst vor Volksaufruhr und königlich-weiblicher Konkurrenz hält Elisabeth jene Maria in England schmählich gefangen. Doch sie wirkt hier keineswegs harscher als ihre so mutwillige Widersacherin. Das gilt selbst für die zentrale Szene, die Begegnung der beiden Monarchinnen. Auch der feuerköpfige Mortimer (Benjamin Morik), der Maria aus dem Kerker befreien will, kommt anders daher als sonst. Zwischen all den steifen Staatsräten Englands (besonders imposant: Berthold Toetzke als Burleigh) tollt er in kurzen Hosen hemm und entfacht als wirrer Heißsporn eine Hektik, die mehr und mehr auch komische Züge trägt.

Ungemein rasch gesprochener Text

Apropos Hektik: Man hat zwar in Essen einige Rollen gegen den Strich besetzt, spielt jedoch den Text getreulich nach. Aber in welcher Eile! Hätte man sich doch nur dreieinhalb statt drei Stunden Aufführungsdauer gegönnt, so hätte man Sinn- und Denkpausen setzen können. Man sollte Schillers wunderbare Verse sorgsamer gliedern. Die Inszenierung hat also gewisse Schwachpunkte. Dennoch kommen die Qualitäten der Vorlage zur Geltung: Es ist und bleibt eben schlichtweg genial, wie Schiller die Wechselwirkungen hoher Staatspolitik, religiöser Gegensätze (Elisabeth ist anglikanisch, Maria katholisch) und erotischer Rivalitäten im Intrigenspiel verflochten hat. Das Drama von 1800 ist spannend bis auf den heutigen Tag.

Man ahnt ja auch den redlichen, durchaus tragfähigen Ansatz der Regie: Offenbar will Jürgen Bosse Möglichkeiten weiblicher Autonomie unter patriarchalischen Verhältnissen, im letztlich doch von Männern beherrschten Polit-Getriebe erkunden. Und so erscheinen Maria und Elisabeth wie zwei widerstreitende Seelen in einer vom selben Zwang beengten Brust. Man kann sich ungefähr ausmalen, wie stark die zwei Frauen gemeinsam wären. Zumindest in diesem (historischen) Kontext scheinen sie aber beide zum Scheitern verurteilt. Wenn das keine Tragödie ist…

Am Ende, nach Marias Hinrichtung, schwankt Elisabeth im golden schimmernden Kleide auf ihren Thron. Von allen Ratgebern verlassen, sitzt sie ganz einsam im langsam verlöschenden Licht. Ein wirklich einprägsames Schlussbild.

Termine: 23., 24. Sep. / 8., 14., 29. Okt. Karten: 0201/8122-200




Die nüchterne Schönheit – Essener Ausstellung erkundet Einflüsse des Bauhauses in Nordamerika

Von Bernd Berke

Essen. Als neue Vereinigung der spezialisierten Künste verstand sich das ruhmreiche „Bauhaus“ in Weimar und später in Dessau. Alle Kunstformen sollten, auf der Basis soliden Handwerks, in der Architektur wieder zusammenfinden – fast wie in einer mittelalterlichen „Bauhütte“, doch den Ansprüchen des technischen Zeitalters gemäß.

Das Essener Folkwang-Museum führt nun vor, dass die Entwicklung inhaltlich und geographisch weite Kreise gezogen hat. Am liebsten hätten die Bauhaus-Meister (Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Josef Albers, Laszlo Moholy-Nagy, Paul Klee, Wassily Kandinsky und etliche andere) mit ihren Künsten wohl das gesamte Leben erfasst. Es sollte keine Schnörkel mehr geben, alle Formen sollten sich an die Funktion schmiegen, und zwar in sämtlichen Sparten: Baukunst, Technik, Werbung, Mode, Theater, Fotografie, industrielle Formgebung…

Schon in der Weimarer Republik war das politisch-soziale Klima fürs Bauhaus widrig, es ließe sich da eine wahrhaft dämonische Geschichte von Plüsch-Verlogenheit und Präfaschismus erzählen. Die Nazis vertrieben das Bauhaus 1933 endgültig aus Deutschland. An diesem Wendepunkt setzt die Essener Schau mit über 350 Exponaten an. Sie erkundet den nachhaltigen Einfluss jener Bauhaus-Künstler, die in die Vereinigten Staaten emigrierten.

Beruhigend zweckmäßig oder kühl abweisend

Am Beginn des Rundgangs finden sich einige Objekte und Dokumente aus der Dessauer Zeit, z. B. die berühmten Stahlrohrmöbel von Marcel Breuer, Klee-Gemälde oder ein Textil-Musterbuch – und schon geht es flugs über den großen Teich. Der US-Schwerpunkt der Ausstellung lässt ahnen, wie tiefgreifend die Bauhaus-Lehre in Chicago und New York gewirkt hat. Die gelegentlich Furcht erregenden Fluchtlinien amerikanischer Wolkenkratzer-Architektur lassen sich durchaus beziehen auf Gebäude, die die deutschen Emigranten dort errichteten. Die nüchterne Reduzierung aufs Wesentliche, oft so wohltuend schmucklos und beruhigend zweckmäßig, zeigt hier mitunter ihr anderes, kühl abweisendes Gesicht.

Zahlreiche Arbeiten amerikanischer Bauhaus-Schüler, die etwa im Geiste Mies van der Rohes stadtplanerische Visionen entwarfen, bezeugen direkte Einflüsse. Die Schau hält hier auch Überraschungen bereit: Wer hätte etwa gedacht, dass ein Josef Albers dem späteren Pop-Art-Heroen Robert Rauschenberg erste Wege gewiesen hat? Bekannter ist schon dieses familiäre Gespann: Andreas Feininger, Sohn des Bauhaus-Malers Lyonel, prägte als Bildredakteur e der Illustrierten „Life“ und als Fotograf die ästhetischen Vorgaben auf diesem Felde mit.

Der Essener Baukonzern Hochtief finanziert die Schau und begeht damit sein 125-jähriges Bestehen. Es durfte also einiges kosten, musste aber huschhusch gehen, weil die Idee erst vor einem Jahr aufkam, als Hochtief das Klee-Haus in Dessau restaurierte. So ließen sich Honorare für eine Kölner Designfabrik abzweigen, die die Schau eilends durchgestylt hat. Edel hat man rahmenlose Bilder und Fotos in die Stellwände eingesenkt, die überall umlaufenden Schriftzüge künden von Eleganz. Ob sich die Exponate dadurch besser erschließen, steht aber auf einem anderen Blatt.

„Bauhaus: Dessau – Chicago – New York“. Museum Folkwang. Essen, Goethestraße. 12. August bis 12. November, Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Eintritt 15 DM, ermäßigt 10 DM, Familie 30 DM. Katalog 50 DM.

 

 




Die Besinnung nach den wilden Zeiten – Ernst Ludwig Kirchners erstaunliches Spätwerk in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Als der Künstler Ernst Ludwig Kirchner 1923 nach Davos kam, war er völlig entkräftet, teilweise gelähmt und drogensüchtig. Die vitalen und manchmal wilden Jahre des Expressionismus in Dresden und Berlin lagen hinter ihm. Nun begab er sich in dauerhafte ärztliche Obhut, suchte in der stilleren Schweiz Ruhe und Besinnung, übte als einzigen Sport das eher meditative Bogenschießen aus.

Derlei Lebens-Wandel musste sich auch aufs bildnerische Schaffen auswirken. Wenn jetzt das Essener Folkwang-Museum Kirchners Schweizer Spätwerk (bis zum Freitod des von den Nazis als „entartet“ Verfemten im Juni 1938) ins Zentrum rückt, so können wir einen anderen Kirchner entdecken, als er uns aus Zeiten der Künstlergruppe „Die Brücke“ vertraut ist.

Der Abgesang auf den Expressionismus hatte sich verbal um 1919 angekündigt. Der endgültige Abschied hatte dann zunächst praktische Gründe: Kirchner ließ sich aus Berlin etliche Bilder nach Davos schicken. Die Leinwände wurden für den Versand gerollt und datbei vielfach beschädigt. Also galt es, sie eigenhändig zu restaurieren. Der selbstkritische Kirchner nahm gleich eine Revision vor.

Beispiel: Das 1910 angefertigte Bild „Eisenbahnüberführung in Dresden-Löbtau“ übermalte Kirchner 1926 derart gründlich, dass es seinen Charakter änderte. Er tilgte den nervös-expressionistischen Gestus und setzte ruhige Flächen, wo vorher fahrige Striche gewesen waren. Das ganze Bild wirkte nun weit weniger spontan, dafür umso klarer und monumentaler. In ähnlicher Weise, glättend und besänftigend, verfuhr er mit weiteren Werken.

Unterwegs zur symbolischen Darstellung

Daraus entwickelte sich auch bei Neuschöpfungen jener Stil, welcher (nach einem prägnanten Wort Kirchners) nicht mehr schauend sondern bauend vorging, sprich: Das unmittelbar Gesehene trat zurück hinter sorgsam arrangierte Form-Additionen, die sich zusehends symbolisch verdichteten.

Tänzerinnen (ein Hauptmotiv in dieser Phase) sind nun nicht mehr so sehr lebendige Wesen, sic verkörpern stattdessen ein allgemeineres Prinzip bunt umrankter Freude. Schweizer Bergbauern stehen fürs entbehrungsreiche, in Traditionen verwurzelte Leben schlechthin.

Häufig breitet sich nun rund um die Figuren eine Aura von Farbfeldern aus. Dies hat nicht nur esoterischen Beigeschmack, sondern erweist sich auch als Mittel zur psychologischen Durchdringung.

Auf solch abstrahierende, aber doch „lesbare“ Art vermag Kirchner zwei Seiten einerPersönlichkeit zugleich darzustellen. Einen Mäzen zeigt er halb im Schatten – die helle Seite bezeichnet das öffentliche Wirken, die dunkle die Homosexualität, die der Mann verbarg. Fast eine triviale Fügung. Ähnlicher Fall: Mutter und Sohn, einander fast feindlich gegenüber gestellt, sind in doppeltem Umriss sichtbar. Bittere Realität und Wunsch nach besserem Einvernehmen sind als simultane Überblendung gegenwärtig.

Die Schau lässt durch punktuelle Vergleiche mit anderen Künstlern (Picasso, Max Ernst, Le Corbusier) Verwandtschaften erkennen. Zuweilen befindet sich Kirchner ihn ihrem Kielwasser, dann wieder schreitet er voran. Manchmal herrscht in ein und demselben Bild derart unbekümmerter Stil-Pluralismus, als habe Kirchner bereits die Heraufkunft yon Pop-Art und Postmoderne beschleunigen.

Ernst Ludwig Kirchner: „Farben sind die Freude des Lebens. Essen, Folkwang-Museum (Goethestraße). 9. April bis 18. Juni. Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Eintritt 8 DM, Katalog 42 DM.




Eine schrille Zicke namens Iphigenie: Durchs Wasser patschen und Worte hervorwürgen – Wie Regisseur Volker Lösch mit Goethe umspringt

Von Bernd Berke

Essen. Im Essener Theatercafé trug eine Kellnerin zur Premiere ein T-Shirt mit der offensiven Aufschrift „Zicke“. Doch wer hätte gedacht, dass dieses Wort hernach auf der Bühne so konkrete Gestalt annehmen würde? Da gebärdete sich Goethes „Iphigenie auf Tauris“ als kreischiges Furienwesen. Überhaupt wurde Goethe im Zerrspiegel gezeigt.

„Wasser – Der Film“. So etwas gab’s vor einigen Jahren mal im Kino. Jetzt haben wir gleichsam „Wasser – Das Stück“. Denn Volker Löschs barsche Inszenierung des Goethe-Klassikers führt uns in einen ringsum turmhoch eingemauerten Bezirk. Dort tut sich vor dem Sockel, auf dem Iphigenie als Diana-Priesterin waltet, ein Planschbecken auf, in dem die Darsteller fortan immer wieder herumpatschen.

Mit Goethe an den Baggersee

Iphigenies Bruder Orest taucht einmal sogar minutenlang unter. Bei allem Staunen über die sportlich-technische Leistung (Atemgerät unter der Oberfläche?): Da ersäuft jeder Sinn. Es tobt sich ein blosses Körpertheater aus, dem der Text nur noch ein vager Anlass zu sein scheint. Mit Goethe an den Baggersee…

Beim Dichter ist Iphigenie, die sich aus dem Barbarenstaat des Königs Thoas nach Griechenland zurücksehnt, eine sanftmütig Leidende. Sie hat Thoas überredet, die Menschenopfer am Altar der Göttin Diana abzuschaffen. Überhaupt steht sie für eine Abkehr von wilden Rache-Mythen, von hin und her wogenden Geschwister-, Gatten- und Elternmorden in des Tantalus‘ Geschlecht. Unter Gefahr für Leib und Leben scheut sie schließlich gar die Lüge, die ihr und ihrem Bruder Orest zur Flucht vor Thoas‘ wachsendem Zorn verhelfen könnte. Derlei Lauterkeit und Edelmut galten schon Goethe selbst als „verteufelt humanistisch“.

Vulgäre Psychopathologie

Nun aber die Essener „Iphigenie“, die von Hannah Schröder verkörpert wird. Sie nölt, jault und quiekt dermaßen drauflos, dass man sich fragt, warum Thoas diese – mit Verlaub – Zîcke zur Frau nehmen will. Thoas (Claus Boysen) tappt wie ein trüber, tumber Tanzbär einher. Er und Iphigenie würgen vielfach einzelne Worte und Sätze hervor, brechen sie brachial aus dem Verstext heraus, als seien sie nicht mehr sagbar. Dabei ist es doch nur unsäglich, was man hier mit der Vorlage anstellt!

Orest (Benjamin Morik) und sein Gefährte Pylades (Denis Petkovic) kommen als offenbar schwules Duo wie zwei Preisboxer daher. Mit seinem Schwesterlein darf Orest auch schon mal hospitalistisch schaukeln. Vulgäre Psychopathologie der Sagenwelt.

Damit sie wach bleiben, werden die Zuschauer nach jeder Szene mit Missionen traktiert und von der Bühne her grell angestrahlt. Am Schluss ahnt man auch, warum sich Iphigenie so schrill benimmt – wegen der argen Männerwelt. Thoas, bei Goethe am Ende zur Friedfertigkeit überredet, brüllt hier sein finales „Lebt wohl!“ nur widerwillig heraus. Orest und Pylades gefallen sich beim stummen Nachspiel in bewaffneten Posen, während Iphigenie verzweifelt ein Schlupfloch in jener großen Mauer sucht. Die Männer sind eben nicht friedensfähig, und daran leiden auf ewig die Frauen. Dachten wir’s uns doch…

Termine: 24. Sept., 1. und 2. Okt. Karten: 0201 /8122-200. 




„art open“ in Essen: Mumpitz des Jahres oder mutiges Durcheinander?

Von Bernd Berke

Essen. Plakate in der Stadt? Fehlanzeige. Irgendein Hinweis am Messegelände? Nichts. So klammheimlich wollen die Veranstalter der als Weltkunstschau angepriesenen „art open“ bis zum 8. August über eine Million Besucher nach Essen locken?

Plakatflächen seien ausgebucht, hieß es gestern zur Pressekonferenz. Vielleicht hätte man sich ja frühzeitig darum kümmern müssen. Zu sehen gab’s nur wenige der angeblich 900 Kunstwerke von der Steinzeit bis heute, die man in fünf Messehallen zeigen will. Zwei Tage vor Eröffnung herrschte vielfach gähnende Leere, in etliche Bereiche wurden die Journalisten wohlweislich gar nicht geführt. Ein Katalog war auch noch nicht fertig.

Selbst ein Mikrofon, mit dem man die versammelten Berichterstatter akustisch hätte erreichen können, war nicht vorhanden. Derweil übertönte eine Voodoo-Kultgruppe aus Benin jedes unverstärkt gesprochene Wort. Das sei ein Ritus, den man nicht einfach abbrechen könne, hieß es.

Voodoo als Schwerpunkt

Voodoo ist ein, wenn nicht d e r Schwerpunkt dieser obskuren Schau. Voodoo-Figürchen durfte man also bestaunen, es folgten diverse russische Ikonen, sodann vorwiegend zweit- bis drittklassige Bilder zwischen Barock und 19./20. Jahrhundert, offenbar größtenteils aus kleineren osteuropäischen Museen geliehen, die über ein paar Devisen-Scherflein froh sein dürften.

Je ein Bild von Rubens („Gottvater, von den Evangelisten verehrt“) und El Greco („San Juan“) sollten „später“ noch eintreffen. Ist dies nun der Mumpitz des Jahres, oder kann die Regellosigkeit und billige Beliebigkeit gar befreiend wirken? Lassen wir die Antwort gnädig offen.

Von 30 auf unter 10 Mio. DM ist der Etat abgespeckt worden. Auf Veranstaltungen im Freigelände hat man völlig verzichtet, wobei man sich von der Messe Essen eh stiefmütterlich behandelt fühlt.

Verzehr soll das Finanzrisiko mindern

Dieter Walter Liedtke, Mentor des Ganzen, der unser aller Bewußtsein mit der Ausstellung und seiner simplen Kunst-Erklärungsformel erweitern will, tapste etwas ratlos durch das, was er da (nicht) angerichtet hat. Angeblich steht Liedtke für finanzielle Risiken gerade. Mit über 1 Million Besuchern (ob diese Zahl wohl je erreicht wird?) soll sich die Sache selbst tragen; bei freiem Zugang (Konzert-Eintritte kosten aber kräftig) rund um die Uhr. Gewinn bringen soll ein Verzehr von etwa 30 DM pro Kopf. Dann zahlt man für Bier oder Saft also 10 DM? Nein, gerade mal 3 DM. Höchst rätselhaft.

Der weltbekannte Ausstellungsmacher Harald Szeemann (documenta, Biennale in Venedig), nicht mehr mit der „art open“ befaßt, war gestern gleichwohl zugegen. Vieles, so Szeemann, mißfalle ihm an der Schau. Doch Liedtke selbst, der ein mutiges Durcheinander angestiftet habe, sei das eigentliche Kunstwerk; seine „Spinner-Potenz“ gehöre in ein „Museum der Obsessionen“. Da sagt’s mal einer.




Erlöst vom Streit der Welt – Essener Villa Hügel gibt Einblicke in Koreas Schatzkammern

Von Bernd Berke

Essen. Mit Schätzen aus Japan und China haben hierzulande bereits viele Ausstellungen geprunkt. Korea blieb stets im „toten Winkel“ unserer Wahrnehmung. Rare Ausnahme war 1985 eine Schau in Hildesheim und Köln. Doch die wird nun durch „Korea – Die alten Königreiche“ in der Essener Villa Hügel an Umfang und Bedeutung übertroffen.

Sicher: Kulturgeschichtliche Ausstellungen solcher Art überwältigen oft mit 500 oder mehr Exponaten. Essen gibt mit 200 Prachtstücken einen vergleichsweise konzentrierten Einblick. Doch darunter befinden sich etliche „Nationalschätze“ der Halbinsel, die noch nie außer Landes gegeben wurden. Prof. Berthold Beitz und Prof. Paul Vogt von der hochkarätigen Kulturstiftung Ruhr haben wohl nicht nur Renommée, sondern auch Überredungsgabe in die Waagschale geworfen. Sie konnten zudem auf die Erfolgsgeschichte der Villa Hügel verweisen, wo z. B. 1995 rund 250000 Menschen Kleinode aus China bewundert haben.

Das feine Lächeln des Nachdenklichen

Eingangs der Korea-Schau wird man in erhabener Stille empfangen: Der sitzende Buddha (10. Jhdt.), sichtlich weit hinaus über allen Zwist der Welt, strahlt die ganze Seelenruhe des Erlösungsweges aus. Vollkommen entspannt wirkt auch ein „Nachdenklich sitzender Miruk (Maitreya)“ (frühes 7. Jhdt.) aus vergoldeter Bronze. Sein feines Lächeln stimmt den Betrachter mild.

Bis vor wenigen Jahrzehnten hat man vielfach geglaubt, die koreanische Kunst sei eher ein Seitenzweig der chinesischen. Doch neuere Funde und Forschungen belegen die eigenständige Schöpferkraft im „Land der Morgenfrische“. Kultur kommt auch in Korea von „Kult“, sie speist sich aus religiösen Sphären. Drei Wurzeln hat die Kunst, und aus allen sprießt bis heute vielfältige Inspiration: aus dem Schamanismus, dem Buddhismus und dem Konfuzianismus.

Aus der frühen Schamanenzeit, die alle Dinge als beseelt begriff, sieht man vor allem Gerätschaften zur Beschwörung guter und böser Geister, z. B. verzierte Ritual-Rasseln und einen Steindolch (4. Jhdt. v. Chr.). Keramik-Vögel oder ein Horn in Pferdeform dienten als Behältnisse für den Opfertrank, der wohl in Trance versetzte. Auch Menschenopfer waren üblich. Zuweilen folgten Hunderte einem Herrscher in die Gruft.

Masken-Umzüge gegen das Unrecht

Prachtvoll vergoldete Kronen, Hauben, Ohrgehänge oder gar güldene Schuhsohlen sollten als funkelnde Grabbeigaben die Gunst höherer Mächte auch im Jenseits bewirken. Weltlicher verwendete man jene grotesken Holzmasken (12./13. und 19. Jhdt.), die bei gleichsam satirischen Umzügen gegen jederlei politisches und familiäres Unrecht getragen wurden. Auch Korea hatte seinen „Karneval“. Daß der Geist des Schamanismus noch sehr lange wach blieb, besagt ein buntes Gewand, das eine erst 1993 verstorbene Schamanin trug.

Eleganter und filigraner wirken jene Schöpfungen, die aus dem Buddhismus erwuchsen, der in den damaligen, bis weit ins heutige China sich erstreckenden drei Reichen (anno 668 vereinigt) nacheinander zwischen 372 und 528 n. Chr. zur Staatsreligion wurde. Die Reliquien, Buddhas sterbliche Überreste, wurden in reich dekorierten Pagoden und Schreinen aufbewahrt.

Sittenstreng und gesetzestreu

Ein monumentales Gemälde („Ritual für die hungrigen Geister“, 1759) schildert den Weg der Ahnen aus dem Jammer des bisherigen Lebens ins höhere Dasein. Steinplatten mit Tierkreiszeichen (Hase, Schwein) zeugen ebenso von überlegener Materialbeherrschung wie Keramik, etwa ein zierlicher Pinselständer in Drachenform.

Die moralische Entschiedenheit des (Neo)-Konfuzianismus bewirkt eine oft berückend schlichte formale Klarheit in der Kunst. Das Augenmerk richtet sich hier auf den ausgeprägten Ahnenkult und auf eine edle Gilde von Literaten, die als Beamte öffentlich wirkten, sich hernach aber zunehmend in die Askese zurückzogen. Hauchzarte Tuschzeichnungen vergegenwärtigen ein Treffen der Zunft, ein Literatenzimmer aus Bambus lässt uns einen Schritt weit in diese sittsame Welt eintreten.

 

Ein höfisches Zeremonialgewand (19. Jhdt.) läßt auf selbstbewußte Machtentfaltung schließen, ein königliches Edikt (776) wurde eigens in einer kostbaren Dose verwahrt. Es muß eine Zeit gewesen sein, in der Gesetze über alle Zweifel erhaben waren.

„Korea – Die alten Königreiche“. Villa Hügel, Essen. 5. Juni bis 17. Oktober. Täglich 10-19, Di 10-21 Uhr. Eintritt 12 DM, Katalog 50 DM.




Über die Schädelstätte zur großen Philosophin gehen – Markus Lüpertz‘ kraftvolle Studien der Vergänglichkeit in der Essener Zeche Zollverein

Von Bernd Berke

Mit der Vergänglichkeit allen Lebens kann man verschieden umgehen: Manche schicken sich drein und werden vielleicht fromm, andere überlassen sich dem Trübsinn, wieder andere machen auf Erden das beste daraus und schlürfen jede kostbare Minute. ZumStamme dieser sinnlichen Leute gehört wohl auch der Künstler Markus Lüpertz.

Der 58jährige, der sich als Erbe der „Malerfürsten“ geriert, präsentiert in der kulturell umtriebigen Essener Zeche Zollverein rund zwei Dutzend zumeist neuere Ölbilder unter dem Leitbegriff „Vanitas“, was just Vergänglichkeit bedeutet. Es sind vorwiegend Stilleben, die das Bewußtsein vom Tode wachhalten, die ihm in ihrer kraftvollen Machart aber auch entschieden widerstehen. Gerade wenn man sich die Endlichkeit stets vor Augen hält, ist man vielleicht eher bereit, den Tag zu ergreifen – und das Schöne zu pflücken; zumal, wenn man auf die 60 zugeht und dem nahenden Alter kraftstrotzend trotzen will.

Die Ausstellung ist eine wahre Schädelstätte. Mal liegt der allgegenwärtige Totenkopf gleichsam grinsend auf dem Tische, mal hat er frech auf dem Hintern einer ausgelassen sich bewegenden Figur („Totentanz“, 1997) Platz genommen, als wolle er sich auch in frohen Lebenslagen nicht abweisen lassen. Geradezu liebevoll schmiegt sich der hohle Schädel an ein wabbeliges Organ („Tod küßt Lunge“), er leistet einem Kürbisgesicht zu „Halloween“ (1987) gespenstische Gesellschaft, zeigt sich mit Ratten oder Fischen – und manchmal vollführt er seine Grimassen solo, ohne alle Beigaben. Zuweilen wird Gevatter Tod in Gitterstrukturen eingesperrt: Bleib drinnen!

Barocke Stilleben sind die Vorbilder, doch deren Inventar wird bei Lüpertz schon mal wild verwirbelt. Hier stürzt eine Kerze, dort brennt ein raketenförmiger Fisch. Das ist oft wirklich kraftgenialisch „hingefetzt“, wirkt wie nur halbwegs fertig, sich selbst und dem Betrachter überlassen.

Bemerkenswert eine Bilderserie, in der Lüpertz realistische Landschafts-Ansichten zwischen abstrakte Strukturen einblendet, als seien es Fenster-Ausblicke. Nur ein simpler Effekt der Gegenüberstellung oder ein subtiles Spiel, in dem die Darstellungsweisen einander wechselseitig befragen und deutlicher hervortreiben?

In der Nachbarhalle finden sich vier Lüpertz-Skulpturen, die auf dem ungeheuer weiten Areal so recht zur Geltung und zu eigenem „Atem“ kommen. Drei bunt bemalte, ineinander verschlungene, ja nahezu neurotisch in sich verkapselte Bronze-Figurationen stehen unter dem Motto „Männer ohne Frauen“ (1995). Man meint, die seelischen Windungen der Einsamkeit zu sehen, als hätten sie organische Form angenommen. Turmhoch über das unbeweibte Trio erhebt sich, triumphal aufragend, „Die Philosophin“, deren massiver Leib freilich eher an eine Kugelstoßerin gemahnt. Vielleicht betreibt dieser bronzene Gast aus matriarchalischen Zeiten ja das Denken als Hochleistungssport.

Markus Lüpertz: „Vanitas“. Bis 22. August. Essen, Zeche Zollverein. Hallen 5 und 6 (Gelsenkirchener Str. 181). Mi 15-18, Do/Fr 15-20, Sa/So 11-18 Uhr.




Wo gar nichts harmlos ist – Essen: „Belgrader Trilogie“ / Biljana Srbljanovićs bittere Emigranten-Komödie

Von Bernd Berke

Essen. Sie hassen die geistige Enge und die materielle Dürftigkeit ihrer Heimatstadt – und verzehren sich doch vor Sehnsucht, diese einmal (in besseren Zeiten) wiederzusehen. Biljana Srbljanović zeigt in ihrer „Belgrader Trilogie“ Menschen, die vor Milosevic und dem entfesselten serbischen Nationalismus in alle Welt geflüchtet sind. Aufgebrochen sind sie, doch nirgendwo angekommen.

Die drei Episoden des Stückes, jetzt als deutsche Erstaufführung im Essener Grillo-Theater zu sehen, spielen jeweils zu Silvester (oft Prüftag menschlicher Beziehungen) in Prag, Sydney und Los Angeles.

Rasch wird der Schmerz betäubt

Die serbischen Emigranten führen ein eher bescheidenes Leben. Die Brüder Kica und Mica schlagen sich in Prag mit einer unfreiwillig grotesken Eintänzer-Nummer durch, die sie in ihrer kläglichen Behausung proben. Schlimme Nachricht per Telefon: Micas Geliebte Ana hat daheim anderweitig geheiratet. Zur raschen Betäubung des Schmerzes kommt ein leichtes Prager Mädchen gerade recht.

In Sydney treffen sich zwei Ehepaare, die einander in Belgrad nie leiden mochten. Nun fechten sie die Animositäten zwischen Suff und schnellem Sex am Eßtisch so quälend aus, als kämen sie geradewegs aus dem „Virginia Woolf“-Stück von Edward Albee. In Los Angeles schließlich, also im Dunstkreis Hollywoods und seiner Verheißungen, werden eine Pianistin, die hier als Barfrau arbeitet, und ein Schauspieler, der sich als Möbelpacker verdingt, Opfer einer absurden Gewaltorgie.

Die Autorin, die in Jugoslawien mit einer Fernseh-Comedyreihe debütierte, filtert aus ihren im Grunde bitterernsten Szenen kein düsteres Lamento, sondern entwirft verblüffend theaterwirksame Szenen von zuweilen grauslicher Komik. Und siehe da: Es berührt einen starker als ein Klagelied.

Der Text ist schnell hart und rüde wie eines jener neueren britischen Stücke. 1995 geschrieben, drängt er ganz von selbst zur jetzigen Aktualität. Kein Wunder, daß Regïsseur Jürgen Bosse das Silvesterfeuerwerk am Schluß ins Getöse eines kriegerischen Infernos münden läßt. Man kann das Wort „Belgrad“ derzeit (und auf längere Sicht) nicht harmlos denken.

Auch sonst verleiht die Inszenierung, als stünde sie unter Dampf, den Dingen heftig Nachdruck. Überdeutlich agieren die Zicken, Schlampen, Memmen und Brutalos. Grell werden die Figuren herausgestellt, der Abend gerät fast zur Typenkomödie.

Völlig aus der Zeit gefallen

Doch das Leid der Gestalten wird nicht etwa verkleistert. Das starke Ensemble arbeitet zwei Grundmotive der Verzweiflung heraus: Ständig wollen diese Menschen die Uhrzeit wissen, als seien sie aus der Zeit gefallen. Und so elend gierig stürzen sie sich aufeinander, als spürten sie sonst ihre Existenz nicht. All ihre Beziehungen bleiben freilich schal.

Man lacht also viel, aber man leidet auch mit. Und irgendwann fühlt man das Selbstverständliche: Serben sind keine Monster, sie werden höchstens ins Finstere getrieben. Wie wundervoll wäre es, könnte dieses Volk einmal heimkehren nach Europa!

Die 29jährige Biljana Srbljanović, entschiedene Gegnerin des Milosevic-Regimes (aber auch der NATO-Strategie), kam nicht zur Essener Premiere. Sie harrt am Ort des Schreckens aus/ denn sie fürchtet, daß sie hernach nicht mehr nach Belgrad einreisen darf und ihren Gefährten nicht mehr wiedersieht.




Sprache frißt Liebe auf – Goethes Trauerspiel „Clavigo“ im Essener Grillo-Theater

Von Bernd Berke

Essen. Mit seinem Trauerspiel „Clavigo“ machte Goethe 1774 nicht viel Federlesens. Nach einer Art Wette im traulichen Kreise hat er das Drama binnen einer Woche sozusagen „hingefetzt“. Doch das Stück hat Bestand. Goethe war eben gut. Nun eilt ihm das Essener Schauspiel hinterher und hält sich an die alte Fußball-Weisheit: „Das Spiel dauert 90 Minuten“. Schöne Kurzweil?

Clavigo (Denis Petkovic) befindet sich auf dem Karrieretrip, er rechnet sich Chancen beim spanischen Hofe aus. Als Star-Autor läßt er sich gern von liebenden Musen beflügeln, doch rasch langweilen sie den Sturm- und Drang-Menschen auch wieder. Folglich hat er die süße Französin Marie sitzenlassen, also schmählich entehrt.

„Daß man so veränderlich ist!“, staunt der Wankelmütige über sich selbst. Denn zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust. Auch ein romantischer Träumer glaubt er zu sein und als solcher meint er Gewissensbisse zu haben. Doch die werden ihm vom Einflüsterer Carlos (stark: Manfred Meihöfer) geradezu mephistophelisch ausgeredet – im Sinne schrankenloser Selbstverwirklichung, die dem Genie zustehe. Frauen schänden? Na, klar! Wenn’s dem eigenen Fortkommen dient…

Der Rechthaber als Springteufel

Gegenspieler Beaumarchais schnellt in Essen wie ein Springteufel auf die Bühne. Der Ehrenmann ist nach Madrid geeilt, um seine Schwester Marie (puppenhaft naiv: Sigrid Burkholder) zu rächen. Anders als bei Goethe, läßt er sich hier in diesem brennenden Wunsch nie erweichen. Seine erste Unterredung mit Clavigo beginnt mit gewundenen diplomatischen Floskeln, doch bald fällt die Maske: Mit blutroten Handschuhen angetan, will sich der Rechthaber am Feinde nur gewaltsam gütlich tun. Überhaupt verbirgt die schöne Sprache diesmal nur Falschheit, ja, sie erweist sich im Lichte der wahren Triebe und Interessen als Gesülze. Deutlich wird die liebes- und lebensfressende Gewalt wohlgesetzter Worte bei gleichzeitiger Seelenkälte.

Versöhnung gibt‘ s in der Essener Inszenierung (Regie: Erich Sidler) nicht, höchstens Kumpanei. Und wo bei Goethe die finalen Todesfälle empfindsam beredet werden, ist’s in Essen flugs getan: ein Stich, ein Satz, vorbei.

Am Ende die rohen Tat-Sachen. Unbehauste Welt: keine Möbel, fast keine Gegenstände (Bühne: Miriam Möller). Man sieht anfangs nur einen breiten, ganz flachen „Cinemascope“-Ausschnitt mit blaßblauem Hintergrund. Dieser Einblick, der Distanzen und Künstlichkeit betont, weitet sich langsam, zugleich sinken die Figuren allmählich zum Bühnenboden herab. Vom Himmel des Idealismus werden sie herabgeholt, stellenweise auch etwas achtlos herabgezerrt. Doch einen interessanten Ansatz, das Stück bei den Hörnern zu packen, hat man gefunden. Der Text hält es aus.

Termine: 9., 23. April, 2., 17. Mai. Karten: 0201/8122-200.




Was ist echt, was ist falsch? – Vom Unbekannten mit Schlapphut und der Essener „Jawlensky-Ausstellung“

Von Bernd Berke

Essen. Ein richtiger kleiner Kunst-Krimi verbirgt sich hinter der neuen Ausstellung im Essener Folkwang-Museum. Man stelle sich vor: Da tauchte vor Jahren ein anonymer Herr mit tief ins Gesicht gezogenem Schlapphut auf und führte dem deutschen Markt Hunderte von Aquarellen des modernen Klassikers Alexej von Jawlensky (1864-1941) zu. Von der Existenz einer solchen Werkgruppe hatte bis dato auch die Fachwelt nichts gewußt oder auch nur geahnt.

Spurlos ist der „große Unbekannte“ mit dem Schlapphut dann wieder verschwunden – und er hat ein bisher ungelöstes Rätsel hinterlassen: Sind die angeblich zwischen 1906 und 1920 entstandenen Aquarelle echt, oder handelt es sich um raffinierte Fälschungen?

Die Frage konnte nicht einmal naturwissenschaftlich geklärt werden. Stichprobenartige Materialuntersuchungen (Papier- und Farbsorten usw.) ergaben zwar keine Hinweise auf Fälschungen, doch die Herkunft des Riesenkonvoluts von 600 Aquarellen (waren sie in Revolutions- und Kriegswirren versteckt worden?) ist nun einmal höchst dubios. Einige Experten haben die Echtheit heftig bestritten.

Ein Wagnis fürs renommierte Museum

Es bedeutet also ein gewisses Wagnis, wenn jetzt das renommierte Folkwang-Museum diese Dinge ausstellt. Das Unterfangen könnte den guten Ruf ankratzen. Andere Häuser mochten dergleichen nicht riskieren, die Ausstellung hat keine weitere Station.

Museumsdirektor Georg-W. Költzsch sah sich denn auch zu Klarstellungen genötigt: Keinesfalls werde die Schau von Privat-Galerien mitfinanziert, die an einer Aufwertung der Aquarelle interessiert sein könnten. Man wolle selbst an der Klärung mitwirken und sei für alle Thesen empfänglich. Eine hochkarätig besetzte Fachtagung könne womöglich erste Aufschlüsse geben. Im Falle eines Nachweises werde man auch Fälschungen zugestehen. Költzsch: „Wir stellen uns dem Härtetest.“

„Wir wollen es wissen!“ sagt auch Prof. Michael Bockemühl (Kunsthistoriker an der Privatuni Witten/Herdecke), der die Ausstellung maßgeblich mitbetrieben hat und die Bilder für echt hält. Bockemühl: „Bisher gibt es kein stichhaltiges Argument dagegen.“ Man habe einen Briefwechsel zwischen Alexej von Jawlensky und seinem Bruder aufgefunden, in dem von einer Vielzahl von Aquarellen die Rede sei.

Ratlose Parole: „Das Auge ist der Richter“

Die Ausstellung führt eine Auswahl von 37 Ölgemälden (darunter Leihgaben aus dem Hagener Osthaus- und dem Dortmunder Ostwall-Museum), welche unstreitig von Jawlensky stammen, mit 150 der zweifelhaften Aquarelle zusammen. Motto der Auswahl: „Das Auge ist der Richter“. In aller Ratlosigkeit stellt man die Frage nach Original und Fälschung jetzt auch subjektiver Betrachtung anheim.

Es befinden sich ersichtlich einige dermaßen unausgereifte Aquarelle in der Ausstellung, daß sie wohl schwerlich von Jawlensky stammen können. Zugleich sind solche minderen Stücke aber auch ein Argument gegen die Fälschungs-Hypothese. Welcher Nachahmer würde solche Werke in die Welt setzen, wenn er doch den Eindruck erwecken will, sie stammten von einem großen Künstler? Und welcher Kopist würde überhaupt 600 Aquarelle produzieren und damit die Preise per Überangebot wieder nach unten drücken?

Etliche Aquarelle zeugen aber von meisterlichem Duktus, der auf Jawlensky hindeutet. Hier und da weist die Strichführung auf den sicher zugeschriebenen Ölbildern und den motivisch vergleichbaren Aquarellen (Porträts, Mittelmeer-Landschaften usw.) frappierende Ähnlichkeiten auf. Nur: Auch dies könnte auf einen geschickten Fälscher schließen lassen…

Museum Folkwang, Essen (Goethestraße / Tel.: 0201 / 884 53 14). Bis 22. März. Di-So 10-18, Do 10-21 Uhr. Katalog 45 DM.

 




Im Theater steckt der Teufel – Grabbes „Scherz, Satire, Ironie…“ als Essener Lokalposse

Von Bernd Berke

Essen. Was kann der Christian Dietrich Grabbe denn dafür, daß zum Saisonende das „Junge Theater Casa Nova“ in Essen geschlossen wird? Selbstverständlich nichts, denn der Mann hat von 1801 bis 1836 gelebt. Und jetzt?

Jetzt läßt das „Casa Nova“ (kleinste Spielstätte der Theater & Philharmonie GmbH) den Dichter aus Detmold flugs antreten, um die kulturpolitische Misere der Stadt Essen erbost zu kommentieren. Man spielt Grabbes Stück „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“, und man modelt es – unter Verzicht auf tiefere Bedeutung – streckenweise zur Lokalposse um. Regisseur Peter Siefert hat grobkörnige kommunale Zutaten beigemischt.

Schrubb, schrubb, in der Hölle ist großer Hausputz. Also flüchtet der darob genervte Teufel zur Erde und stiftet hier Verwirrung – nicht nur in Liebesdingen. Die Gesellschaft überhaupt erweist sich unter seiner Fuchtel als Tollhaus der Eitelkeiten, aber auch der zugehörigen Depressionen.

Figuren wie der Dichter „Rattengift“ (Hans-Dieter Heiter), der im komischen Weltschmerz an seiner Feder knabbert, weil ihm partout nichts einfallen will, oder der trunksüchtige Schulmeister (Carlo Lauber) mit seinen ausgeklügelten Sauf-Ritualen (vorher dickes Tuch um die Stirn wickeln, damit der Schädel hernach nicht so hart auf der Tischkante aufschlägt) sind als „Theater-Futter“ derbe Vollwertkost.

Lächerliche Sparkommission

Köstlicher Beginn: Die in grotesken Turbulenzen wie geölt aufeinander reagierenden Ensemble-Mitglieder servieren den ellenlangen Stücktitel als fulminantes Sprechkonzert der zerhackten Worte. Dann dampft es kräftig, und man sieht: Der Teufel ist eine Frau (Christiane Heinicke). Ihm auf dem Pferdefuße folgt eine gravitätisch lächerliche „Struktur-Fusionierungs-Sparkommission“, die just auch dem Theater „Casa Nova“ den Garaus machen will, woraufhin sich ein leider sehr explizites Spott-Gewitter über Stadtspitzen, Kulturdezernent und Kritiker entlädt. Teuflisch, teuflisch? Nein, allzu offenkundig.

Trotzdem wird s noch ein leidlich unterhaltsames Spektakel. Das Stück, ein früher Vorläufer des absurden Theaters, ist eben in seinen Grundzügen unverwüstlich. Der Teufel wird zwischenzeitlich im Käfig eingefangen, als Köder dienen Kondome. Und weil Beelzebub schon einmal im Bühnenreich gewütet hat, wird das diabolischste aller Übel bloßgestellt: das Musical in seiner Essener Spielart. Das Grabbe-Finale besteht in einer bittersüßlichen Joseph“-Parodie. Ein Wink mit dem Zaunpfahl: Seht her, an solch schnöder Unterhaltung geht unser schönes Theater kaputt. Auf den Gedanken wären wir ja nie gekommen!

Termine: 31. Dezember 1997, 7., 9. und 30. Januar 1998. Karten 0201 / 81 22-200.




Sprachphilosophie aus der Bauernstube – Brian Friels Stück „Translations“ zum englisch-irischen Konflikt in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Anno 1833 in einem irischen Dorfe. So weltfremd sind die Leute, daß sie nur Gälisch reden und als Erwachsene lieber lateinische und griechische Brocken hinzulernen, als sich die Sprache der englischen Kolonisatoren anzueignen. Oder ist dies schlaue Verweigerung?

Brian Friel hat seinem Stück „Translations“ (Übersetzungen) auch eine quasi politische Dimension gegeben. Doch darüber hinaus entwirft der Text eine staunenswert vielschichtige Reflexion über Sprache – und dies anhand von Dialogen in einer bäuerlichen Stube. Leider müssen wohl etliche Nuancen des englisch-irischen (Sprach-)Konflikts im Deutschen verlorengehen.

1991 spielte man in Freiburg den Text des irischen Autors unter dem interpretierenden Titel „Sprachstörungen“. In Essen (Regie: Katharina Kreuzhage) bleibt es beim Original „Translations“. Ort der Handlung ist besagte Dorfschule, in der der versoffene Hugh (liebenswert knorrig und knarzig: Berthold Toetzke) auch Knechten und Mägden die antiken Sprachen beizubiegen sucht. Hei, wie quietschen da die Griffel auf den Schiefertafeln!

Verbale Vorzeichen der Gewalt

Doch das seltsame, eigentlich schon verstörte Idyll der rückständigen Verschrobenheit wird bedroht, wenn zwei Engländer als Landvermesser auftauchen. Sie machen sich, als militärischer Vortrupp, die Gegend nicht nur kartographisch untertan, sondern erobern sie auch sprachlich, indem sie die urtümlichen gälischen Kehllaute der Orts- oder Flurnamen durch hier eher platt und geschäftlich klingende englische Neuschöpfungen ersetzen. Sprache als Enteignung, als „Entsorgung“ von Geschichte und Herkunft, als Vorbotin künftiger Gewalt.

Während der englische Leutnant Yolland (Michael Schütz) dabei gelinde Skrupel verspürt, hat sich der Ire Owen (Axel Holst) dem Zeitenwandel anbequemt. Der Mann, der den Engländern als Übersetzer assistiert, bleibt freilich wortkarg, wenn das Eigentliche gesagt werden müßte. Er täuscht seine Landsleute über ihre desolate Lage hinweg. Sprache als Lüge.

Eine unsagbare Liebe

Schon eingangs hat man gesehen, wie die junge Irin Sarah (Katrin Brockmann) ihren Namen hersagen soll und sich jeden einzelnen Laut abringen muß. Schmerzlich erfährt sie die Sprache als Zwang. Und als sich zwischen Yolland und Maire (Marie Therese Futterknecht), die einer des anderen Sprache nicht reden, eine englisch-irische Liebe anbahnt, sind sie ganz auf ihre hilflosen Gesten zurückgeworfen. Buchstäblich unsagbar ist diese Liebe – in der quälenden Szene mischen sich Komik und Verzweiflung.

Am Ende wird die Sprache in wahnhaftes Gebrabbel ausufern. Sie ist nun gleichsam geisterhaft allgegenwärtig, doch ihre herkömmliche Bedeutung ist zerstört, denn inzwischen haben die Engländer mit soldatischer Gewalt gedroht. Im Bühnenhintergrund lodert schon das Feuer.

Gottlob hat die Regie der Versuchung widerstanden, die sprachliche Kolonisation etwa auf west-ostdeutsche Verhältnisse umzumünzen. Überhaupt enthält sich die konzentriert zu Werke gehende Inszenierung aller Mätzchen. In einem schlichten, just spieltauglichen Bühnenbild (Wolf Münzner schuf einen grünlich schimmernden Raum mit himmelwärts weisender Leiter) stellt sich das homogene Ensemble ganz in den Dienst des Textes. Beachtliche Vergegenwärtigung einer lohnenden Vorlage.




Bilder wie lockende Früchte – Essener Retrospektive zum Werk von Félix Vallotton

Von Bernd Berke

Essen. Mit Superlativen sollte man vorsichtig sein. Trotzdem: In Essen ist jetzt die weit und breit wohl schönste Kunstausstellung des Jahres zu sehen. Zumindest im Ruhrgebiet hat es heuer nichts gegeben, was der Essener Retrospektive über Félix Vallotton gleichgekommen wäre.

Vallotton wurde 1865 in Lausanne geboren. Zwar kam er schon 1882 nach Paris, doch dort malte er anfangs noch nach Schweizer Art: Alpen-Motive, gelegentlich auch mit weidenden Kühen. Mag sein, daß die Franzosen dies ein bißchen rückständig gefunden haben. Alsbald jedenfalls verlegte sich Vallotton auf Porträts, mit denen man im wohlhabenden Paris mehr Geld verdienen konnte. Daraus erwuchs ein erster Gipfel in Vallottons Schaffen: Intérieurs, also Bildnisse, deren Gefühlswerte mit atemberaubender Genauigkeit von Zimmern und deren Einrichtung bestimmt werden. Es ist, als atmeten diese Bilder ihre Stimmungen leise aus.

Vielsagender Hut auf dem Stuhl

Wie konnte dieser Mann die Stofflichkeit erfassen und betörend sinnlich wiedergeben! Im „Bildnis der Eltern“ (1886) glaubt man den samtenen Sesselbezug mit Händen greifen zu können, so haarfein ist er gemalt. Wunderliche Versteckspiele, die eigentlich Enthüllungen waren: Auf dem Gemälde „Der Besuch“ (1887) ist kein lebendes Wesen zu sehen. Nur ein Hut liegt auf dem Stuhl. Und doch ist der ganze, unterschwellig erotische Charakter der Visite im Requisit atmosphärisch eingefangen.

In der Graphik, die gleichfalls mit herausragenden Beispielen vertreten ist, erprobte Vallotton die Wirkung flächiger Darstellung. Von der Figürlichkeit ließ er sich durch derlei Experimente nicht abbringen. Nach und nach schmolzen freilich alle überflüssigen Details weg, und Vallotton gelangte zu einer prägnanten Formensprache, in der die gezeigten Menschen und Dinge nur noch sie selbst zu sein scheinen – ganz ungestört und doppelt wirklich. Wie Früchte, die unmittelbar vor einem liegen und in die man sogleich hineinbeißen kann.

So rinnt denn der Sand wie ein Urbild jeden Sandes, und das Gebirgsmassiv wird zur reinen Struktur, zum allzeit gültigen Zeichen. Die prallen Akte scheinen majestätisch aus den Rahmungen steigen zu wollen. Für Momente vergißt man, daß diese Bilder aus Ölfarbe und Leinwand bestehen.

Ausflüge bis ins Traumreich

In Vallottons Universum haben etliche Stilrichtungen Platz. Manche Landschaften sind symbolistisch behaucht, späte Aktbilder haben die Neue Sachlichkeit angeregt, wieder andere Werke deuten voraus auf surrealistische Traumwelten oder gar auf die abgründige Leere in den Entfremdungs-Szenen eines Edward Hopper. Drei badende Frauen scheinen in einer Art Teersuppe zu versinken, ein Rückenakt im giftgrünen Wasser und vor schwarzblauem Himmel wirkt wie ein monumentales Phantom der Körperlichkeit. Solch visionäre Kunst stößt Pforten der Wahrnehmung auf. Weiche Drogen fürs Auge.

Museum Folkwang, Essen (Goethestraße). 26. November bis 18. Februar 96. Di.-So. 10-18 Uhr, Do. 10-21 Uhr. Mo. geschlossen. Eintritt 10 DM, Katalog 39 DM.




Die Geschichte des Reviers mit den Ohren erleben – Tondokumente der Nachkriegszeit im Essener Ruhrlandmuseum

Von Bernd Berke

Essen. Mit mehreren Sinnen kann man jetzt in Essen die Vergangenheit des Reviers erleben. Als Ergänzung zur Fotoausstellung „Bildberichte – Aus dem Ruhrgebiet der Nachkriegszeit“ gibt es seit gestern ein akustisches Archiv zum selben Thema. Es macht im Essener Ruhrlandmuseum Originaltöne aus der Zeit hörbar. als die Region in Schutt und Trümmern lag.

Die auf historische Rückblicke spezialisierte Redaktion „Zeitzeichen“ des Westdeutschen Rundfunks hat tief in den Radio-Fundus gegriffen. Dabei kamen uralte Hörbilder und Reportagen zum Vorschein. So etwa die Straßenumfrage eines Hasso Wolf bei Schwarzmarkthändlern, die bereits im Kindesalter Zigaretten, Schnaps oder Nähgarn feilboten. Übrigens gingen damals stets die kompletten Namen der Beteiligten über den Sender. „Datenschutz“ war noch ein Fremdwort.

Museumsbesucher können sich nun anhand einer Liste eine Art „Wunschprogramm“ zusammenstellen lassen. Mitarbeiter des Hauses steuern dann die gefragten Tondokumente via DAT-Rekorder sekundenschnell an – und sogleich ertönen historische Stimmen von A wie Konrad Adenauer bis Z wie Peter von Zahn. Insgesamt stehen acht Stunden Bandmaterial an fünf Hörplätzen zur Verfügung.

Da kann man zum Beispiel noch einmal jene bangen und frohen Minuten nachempfinden, in denen zu Weihnachten 1955 die Züge mit den Kriegsheimkehrern aus der Sowjetunion eintrafen. Fußballfreunde werden vielleicht einen Stadion-Kommentar von anno 1945 abrufen. Nur die Spielpaarung (Auswahl Westdeutschland gegen Süddeutschland) ist bekannt. Wie das Match ausgegangen ist und wer der enthusiastische Reporter war, weiß niemand mehr. Immerhin ist das Band noch vorhanden. Etliche andere Zeitzeugnisse, weiß Hasso Wolf, sind unwiederbringlich verloren. Anfangs löschte und überspielte man zahlreiche Dokumente wegen Bandmangels, später sortierte man aus Platzgründen aus.

Aufschwung und Krise der Kohleindustrie, Personen und Probleme der ersten NRW-Landesregierungen, aber auch die Entstehung der heutigen Kulturlandschaft sind weitere Felder der akustischen Rückschau. Und schließlich gibt es auch echte Raritäten wie die Stimme jenes Autokonstrukteurs in Neheim-Hüsten, der dort nach 1949 mit der Produktion des Sauerland-Wagens „Kleinschnittger“ begann: Kaufpreis rund 2000 DM, 60 km/h Spitze und 2 Liter Kraftstoffverbrauch auf 100 Kilometer. Da hatten wir es also schon, das Öko-Mobil…

Ausstellung „Bildberichte – Aus dem Ruhrgebiet der Nachkriegszeit“ (Ruhrlandmuseum Essen, Goethestraße 41; verlängert bis 17. September, di-so 10-18 Uhr, do 10-21 Uhr, Eintritt 5 DM, Katalog 29,80 DM). Bis einschließlich 20. August: Hörarchiv (Audiothek) zur Geschichte des Ruhrgebiets, zugänglich in den Öffnungszeiten des Museums.




Musik mit tiefen Wurzeln – Michelle Shocked in der Essener „Zeche Carl“

Von Bernd Berke

Essen. Manchmal singt sie glockenrein und mädchenhaft wie einst Joan Baez, dann wieder schwillt ihre Stimme an wie die einer Janis Joplin. Die Texanerin Michelle Shocked, jeder musikalischen Festlegung abhold, ist nach wie vor ein Geheimtipp. Sie hat aber eine treue Gemeinde um sich geschart. So auch jetzt in der Essener „Zeche Carl“.

Ihre Songs sind keine künstlichen Produkte. Wenn sie einen Refrain wie „I’ve come a long way“ singt, glaubt man ihr den langen Weg, den Staub auf den Stiefeln. Und wenn sie jenen „Cotton-eyed Joe“ hochleben läßt, fühlt man sich auf ein ländliches Fest in den südlichen US-Staaten versetzt.

Sie hat viel zu erzählen. Oft spricht sie sich in die Anfänge der Lieder hinein, oder sie unterbricht mittendrin den Fluß einer Melodie, berichtet von persönlichen Dingen, breitet ihr Leben vor dem Publikum aus.

Im braunen bodenlangen Kleid steht sie zwischen ihren beiden Begleitmusikern, eine schneeweiße E-Gitarre umgeschnallt, die sie hingebungsvoll handhabt. Sie wirkt zugleich verletzlich und doch „bodenständig“, kraftvoll, erdnah. Tatsächlich haben ihre Kompositionen tiefe Wurzeln im Blues und im Country-Genre. Doch Michelle Shocked verwandelt sich etliche Stilrichtungen an – vom Folk wie aus den 70er Jahren bis hin zu Anklängen an den ruppig-rauhen Lou Reed.

Erstaunliche Furcht auf offener Bühne

Ihre besten Songs aber klingen einfach wie Kinderlieder, gebaut aus wenigen einprägsamen Riffs: Aber sie kann eben auch entspannt swingen, schmerzhaften Blues von ganz unten heraufholen oder Rocknummern wahrhaftig „rollen“ lassen. So soll es sein. Auf eine solche Reise gehen wir mit.

Erstaunlich, daß sie ihrer eigenen Wirkung so wenig sicher zu sein scheint. Obwohl Songs wie „Anchorage“, „Homestead“ oder das wunderbar schwebende „5 a.m. in Amsterdam“ reichlich bejubelt werden, fürchtet sie plötzlich, „daß ich hier eure ganze Zeit vergeude“. Sie hoffe nur, haucht sie verlegen ins Mikro, daß ihr Auftritt „irgend einen Sinn“ habe. Wie untröstlich sich das anhört!

Doch wie um ihre eigenen Ängste zu bekämpfen, legt sie gleich darauf noch beherzter los. Und dann scheppern die zwei Gitarren mit dem Baß so grandios, daß keiner die Drums vermißt.

Vielleicht hat ihr Selbstbewußtsein unter dem Streit mit der Plattenfirma gelitten. Den Bossen war sie nicht kommerziell genug – und sie erhielt Studioverbot. Nun kann sie ihre auf eigene Faust aufgenommene CD „Kind Hearted Woman“ lediglich bei den Konzerten verkaufen. Das Elend einer Kreativen.




Harte Zeiten für Kämpfer – Jürgen Bosse inszeniert Brechts „Im Dickicht der Städte“

Von Bernd Berke

Essen. Schaut nach Mafia-Überfall aus, was sich da in Chicago abspielt: Mit Wortsalven wie aus Maschinengewehren dringen der malaiische Holz-Magnat Shlink und seine Leute in die schäbige kleine Leihbibliothek ein und kujonieren den Angestellten Garga. Ein paar Bücher werden auch zertrampelt. Es ist Kampfeszeit, und Bert Brechts frühes Stück „Im Dickicht der Städte“ ergeht sich in Kampfeslust.

Gestritten werden soll ohne Grund und Motiv, es dreht sich alles um taktische Finessen. Brecht war damals ein Anhänger des Boxsports. Doch Jürgen Bosses Inszenierung in Essen kommt uns nicht mit läppischen Anspielungen auf Henry Maske & Co. Sie ähnelt eher einer fernöstlichen Zen-Meditation über Sinn und Sinnlosigkeit des Kämpfens in kapitalistischen Zeiten. Zumal „Shlink“-Darsteller Matthias Kniesbeck, beleibt und kahlköpfig, hier beinahe wie eine Buddha-Figur wirkt.

Die Bühne (Wolf Münzner) ist zumeist in fahles Licht getaucht; dazwischen ein paar Exotika wie jener asiatische Wandschirm, auf dem sich manchmal die Menschen im Schattenspiel abzeichnen. Die Szenen changieren zwischen überscharfen Umrissen und leicht verhuschten Traumgesichten.

Verlöschendes Feuer im Schneegestöber

Das noch glühende, jugendwilde, aber schon erkennbar genialische und oft außerordentlich sprachkräftige Stück setzt einer Inszenierung Widerstände entgegen. Es handelt ja zu allem Überfluß nicht nur vom Kampf, sondern auch von dessen Unmöglichkeit: Denn die Menschen seien einander so entfremdet, daß sie nicht einmal zur Reibungsnähe eines wirklichen Streites sich zusammenfinden können. Der Regisseur läßt Ungereimtheiten gelegentlich einfach stehen und geschehen.

Nicht sonderlich kühn, aber doch einigermaßen beherzt, schlägt Bosse einen großzügig weiten Bogen über den Text. Und er hält einen gewissen Spannungsgrad bis zum Schluß aufrecht.

Achtbare Leistung des Ensembles, das eben nicht kurzerhand „alle Register zieht“, sondern die vielfach aufs absurde Theater vorausweisende Typen-Komödie mit der nötigen Trennschärfe versieht. Sehr plastisch werden vor allem die Wirkungen des listig-bösen Rollentauschs herausgearbeitet: Shlink überschreibt Garga seinen Holzhandel, er will damit dessen Lebenskonzept zerstören, gewohnte Liebes- und Familienbindungen unterhöhlen. Wir sehen nun, wie sich Shlink zum Philosophen der Macht(losigkeit) wandelt und wie andererseits Garga (Michael Schütz) vom fahrigen Underdog zum stolzierenden Hahn wird – einprägsames Körperspiel.

Am Ende ist „das Chaos aufgebraucht“, wie es im Text heißt. Und das letzte Bild wirkt ganz leer und erschöpft: verlöschendes Feuer im Schneegestöber. Der Kampf ist vorbei, der Mensch ganz allein.

 




Blutrünstiges aus dem Soziallabor – Jürgen Bosse inszeniert Edward Bonds „Ollys Gefängnis“ in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Klingt wie eine jener mysteriösen, weil arg verkürzten Mord-Meldungen auf bunten Seiten: „Weil sie eine Tasse Tee nicht trinken wollte, hat Mike X. seine Tochter Sheila erdrosselt.“ In Edward Bonds neuem Stück „Ollys Gefängnis“ erfährt man, wie es dazu kommen konnte. Aber ist man danach schlauer?

In Jürgen Bosses Essener Inszenierung sitzt jene Sheila (Jennifer Caron) bereits bei laufendem Fernsehgerät im Spießbürger-Zimmer auf der Bühne, wenn sich der Zuschauerraum allmählich füllt. Doch sie schaut gar nicht hin; weder aufs TV-Programm (Comedy-Shows) noch auf ihren Vater Mike (Matthias Kniesbeck).

Der Witwer hat sich rührend bemüht, hat für die Tochter gekocht und gebügelt, will nun auch mal ein paar Takte mit ihr reden. Doch so sehr er auch schnurrt, säuselt, bettelt, brüllt oder droht – sie bleibt stumm und stiert nur vor sich hin. Und den Tee will sie auch nicht trinken. Da rastet er schließlich aus und erwürgt sie. Das sonstige Repertoire der menschlichen Annäherung war halt ausgeschöpft. Psycho-Experiment vorerst beendet.

Danach verwischt Mike nicht etwa die Spuren der Untat, sondern fällt in einen Dämmerschlaf. Als die Wohnungsklingel ihn nach Stunden weckt, hat er seine Tat glatt „vergessen“. Später, als er im Knast seine Strafe verbüßt, passiert ihm erneut etwas Seltsames. Wiederum ist es, als sei er aus der Zeit gefallen: Er will sich umbringen und hat seinen Strick schon geknüpft, da muß er noch mal pinkeln. Als er von der Toilette zurückkommt, hängt schon ein Mithäftling in der Schlinge, der es eiliger hatte mit dem Ableben.

Ein Sozial-Report mit aufgepfropften Alptraumszenen? Schonungsloser Realismus, der sich dann doch ins Unfaßbare hochstemmen will? Dies und leider noch mehr. Denn Edward Bond unterlegt dem Ganzen noch eine müßige These. Im Original heißt das Stück „Ollys Prison“, sprich „All is Prison“. Merke also: Nicht nur im Gefängnis ist man eingesperrt, sondern auch in sich selbst, ins Schicksal, in die Einsamkeit der eigenen Wohnung usw. Wie zum Mitsingen: „Das gaaanze Leben ist ein Knast“.

Und so sehen wir denn, wie sich die Figuren – ob als Täter oder Opfer – in diesem Drama unglückselig miteinander verketten und einander im Gitter der Gewaltsamkeit gefangen halten. All das gipfelt in einer Schock-Szene mit dem titelgebenden „Olly“. Der logiert – typische Verquickung – bei der Mutter seines früheren Peinigers, welcher sich (siehe oben) im Knast erhängt hat. Nun wird ihm mit bloßem Finger das noch verbliebene Auge aus dem Kopf geschält. Man sieht dies auf Bildschirmen vervielfacht. Theater à la Horror-Video. Soll man nun über mediale Verstärkung von Gewalt nachdenken?

Mit blutverschmiertem Gesicht kriecht jedenfalls der seines Augenlichts beraubte „Olly“ (Michael Schütz) über die Bühne und stammelt immerzu: „Ich seh‘ nichts.“ Woraufhin Mike nochmals die finale Moral verkündet, ein jeder sei in sich eingekerkert. Nun aber Vorhang zu!

Man müht sich in Essen redlich. dem kruden Text tiefere Bedeutung einzuhauchen. Die Schauspieler können diesen Soziallabor-Traktat, das aus der Retorte zu stammen scheint, nicht so recht beglaubigen. Es wirkt alles wie zufällig hergestellt und herbeigezwungen. Bosses Regie erschöpft sich meist in vorschnellen Effekten. Da erklingen zwar immer mal wieder apokalyptische Stampf-Geräusche, auf daß man erschrecke. Doch wirklich erschüttert wird man nicht. Nur hin und wieder schockiert.

Weitere Vorstellungen: 28. Dez. / 14. und 27. Jan. – Karten: 0201/8122-200.




Dieser „Woyzeck“ sollte sich mal um die Papiertiger kümmern – Jürgen Bosse inszeniert Büchners Stück in Essen

Von Bernd Berke

Essen. Die Bühne ist grau, und das Spiel dauert 90 Minuten. Am Ende steht es bei Büchners „Woyzeck“ im Essener Grillo-Theater gewissermaßen immer noch unentschieden. War’s denn spannend?

Woyzeck wird bekanntlich von Militär und Medizin mißbraucht, seiner Menschenwürde schändlich beraubt. Am Ende treibt ihn seine Geliebte Marie in mörderische Eifersucht hinein. Kein Hund möchte so leben. Das immer noch verstörende Stück von 1836/37 deutet auf Greuel des 20. Jahrhunderts weit voraus.

Doch in Essen, wo sich zum Saisonauftakt Schauspielchef Jürgen Bosse des fragmentarischen Dramas annimmt, ist es offenbar halb so schlimm. Der klobige Woyzeck (Matthias Kniesbeck) muß, so scheint es, weniger leiden. Denn rings um diesen Riesenkerl gibt es hier nur Popanze und Papiertiger. Der Doktor (Klaus-Peter Wilhelm), der Woyzeck aus „wissenschaftlichen“ Gründen ausschließlich mit Erbsenkost traktiert, kommt als lachhafter Wicht daher, als Karikatur eines wahnwitzigen Forschers.

Auch der Hauptmann (Claus Boysen), der Woyzeck strammstehen läßt, ermuntert hier eher zur medizinischen Diagnose: Als Asthmatiker mit Überfettung und Bluthochdruck, ja vielleicht sogar Infarktgefährdung, ist er dem Kollaps viel näher als sein Opfer. Hoffentlich ist er in der richtigen Krankenkasse.

Auf der üblichen Bühnenschräge

Es sieht überhaupt so aus, als müsse – seltsame Umkehrung – Woyzeck seine Peiniger schonend behandeln und sich als eine Art Pfleger um sie kümmern. Wenn alle Machthaber so harmlos wären, wären die Woyzecks dieser Welt besser dran.

Bleibt als Grund für den Untergang noch das barfüßige Vollweib Marie (Tatjana Clasing), das mit dem schmucken Tambourmajor turtelt und damit Woyzeck zur Weißglut bringt. Mit der plötzlichen Zwangsläufigkeit einer altbekannten Moritat findet nunmehr alles sein blutiges Ende. Woyzeck sticht zu wie auf dem Schlachthof, das Finale ist vollbracht.

Auf der theaterüblichen Bühnenschräge erlebt man das Geschehen wie ein allmähliches Steigen und Sinken der Figuren. Konturenschärfe und Spannkräfte gewinnen dieseSzenen kaum. Der Stoff wird nicht entschlossen gefaßt, man läßt ihn halbherzig dahingleiten. Nicht so sehr Zerrissenheit, die man doch wohl zeigen wollte, sondern Zerfaserung ist allenthalben zu spüren. Auch die Schauspieler wecken jeweils nur für Momente tieferes Interesse, dann ist es schon wieder vorbei. Büchners Sprachmacht kommt gleichfalls nur verdünnt zum Ausdruck.

Trotz des relativ kurzen Durchgangs von eineinhalb Stunden kann es einem so vorkommen, als bringe man etliche Zeit hin. Als hätten sie den Text nur deshalb gekürzt, um die verbliebenen Einzelteile desto behäbiger auszurollen. Wie gesagt, es ging unentschieden aus. Ob Regisseur, Schauspieler oder Publikum – keiner muß sich nun furchtbar grämen. Aber gewonnen hat auch keiner.

Weitere Aufführungen: 3. und 12. Okt. (0201/8122 172).