Farben, Tänze und Etüden: Die Pianistin Beatrice Rana interpretiert in Essen Werke von Chopin, Ravel und Strawinsky

Die junge italienische Pianistin Beatrice Rana gab ein sehr eindrucksvolles Debüt in der Essener Philharmonie. (Foto: Marie Staggat)

Mit der jungen italienischen Pianistin Beatrice Rana erobert eine Neue Sachlichkeit die Konzertpodien. Der Befund gilt ihrer Außendarstellung, die so gar nichts von Gehabe hat.

Die Künstlerin wirkt ernst und konzentriert, doch münzt sie das nicht um in körperliche Akrobatik oder introvertiertes Abkapseln. Weder müssen die Hände unsichtbaren Girlanden nachspüren, noch spinnt Rana einen Kokon zum Zwecke des Abtauchens in einen Zustand der Trance. Stattdessen Schnörkellosigkeit, uneitles Interpretieren, Virtuosität wie naturgegeben. Und natürlich Emotion, Gestaltungskraft, kluge Gewichtung musikalischer Proportionen.

Jetzt hat Beatrice Rana in der Philharmonie Essen debütiert. Als leidenschaftliche Musikerin, die das Material beherrscht, ohne dabei eine das Spiel hemmende Dauerkontrolle zu benötigen. Die am Beginn, mit den 12 Etüden op. 25 von Frédéric Chopin, nichts überhitzt, sowieso jeden Kitsch meidet, den Komponisten vielmehr aus den Salonmusikklischees heraushebt.

Souverän fließt ihr alles technisch Vertrackte aus den Fingern, sodass sich der Fokus ganz auf den Gehalt dieser „Übungsstücke“ richten kann. Rana entdeckt hier die geradezu orchestrale Wucht mancher Passagen, lässt Diskantfigurationen bisweilen aufschimmern, als sei Chopin ein früher Wegbereiter des Impressionismus, und illustriert nicht selten den Revolutionston des polnischen Komponisten, dessen Land immer wieder, oft vergebens, gegen Okkupanten rebellierte.

Rana muss sich allerdings in ihre Interpretation erst einschwingen. Am Beginn steht viel gleichförmiger Fluss und wenig Kontur. Doch stets schwebt über allem eine sehnige Spannung, herausgekitzelt durch dynamische Variabilität. Der motivisch-thematische Verlauf wird schnell klarer und unschön manierierte Rubati bleiben außen vor. Manche Zuspitzung aus der Abteilung Attacke verweist direkt auf Liszt, andererseits haben wir die Schlusswendungen einiger Etüden, pendelnd zwischen Lakonik und melancholischer Subtilität, selten so berührend ausformuliert gehört.

Gleichwohl ist Chopins Musik nicht von transzendenter Natur. Um in diese Sphären vorzurücken, bedarf es etwa der Miroirs eines Maurice Ravel. Interpretiert von einer Solistin, die im rechten Moment die Zeit anzuhalten vermag. Beatrice Rana zeigt sich hier von ihrer sensiblen Seite, mit Sinn für die Klangfarbe. Wie mäandernde Gebilde stehen diese „Spiegelungen“ im Raum, tönende Reflexionen diffuser Bilder wie „Nachtfalter“ oder „Traurige Vögel“. Griffiger im doppelten Sinne ist hingegen das mit spanischem Kolorit ausgezierte Stück „Alborada del gracioso“, jenes „Morgenständchen eines Narren“, das markante Akkorde mit den rezitativischen Linien des andalusischen Cante jondo mischt. Aus diesem Ineinandergreifen schöpft die Solistin die Spannung dieser Miniatur, ohne jedoch in einen auftrumpfenden Machismo abzugleiten.

Beatrice Ranas programmatischer Weg führt vom polnischen Emigranten Chopin im mondänen Paris über Ravel, der annähernd sein ganzes Leben in der französischen Metropole verbrachte, hin zum Russen Igor Strawinsky, der eben dort 1910 seinen „Feuervogel“ in die Welt setzte. Und über allem schwebt, in mehr oder weniger erfahrbarer Intensität, das Flair des Impressionismus. In Strawinskys Suite, von Guido Agosti für Klavier gesetzt, zeugt die Berceuse von jener Macht der zarten Andeutung. Doch Rana lässt es zunächst ordentlich krachen: Der „Danse infernale“ entpuppt sich unter ihren Händen als wahrhafter Höllenritt, wenn auch auf Kosten einer verwischten musikalischen Struktur. Fast majestätisch gelingt der Pianistin hingegen das machtvolle Finale.

 

 




Ohne Gedünst: Philippe Herreweghe versachlicht in Essen Bruckners Fünfte

Der Residenz-Künstler der Philharmonie Essen: Philippe Herreweghe. Foto: Bert Hulselmans

Der Residenz-Künstler der Philharmonie Essen: Philippe Herreweghe. Foto: Bert Hulselmans

Die Bruckner-Kritik bedient sich seit etwa einer Generation gerne bestimmter Begriffe, um einen neuen Zugang zu den schwer erklimmbaren Gipfeln des Spätromantikers zu markieren: Bruckner müsse man, so heißt es, vom „Weihrauch“ befreien, seine Klangmassen entschlacken, Pomp und Prunk seiner monumentalen Setzungen aufbrechen, ihn gar entmythisieren oder entkatholisieren.

Da ist was dran; Michael Gielen etwa hat es in seinen Aufnahmen exemplarisch und manchmal verstörend nüchtern gezeigt. Aber der Verdacht, mit solchem bilderstürmerischen Elan von einer in die andere Ideologie zu driften, lässt sich nicht ausräumen. Beispiel „Pomp“: Was soll man davon halten, wenn Bruckner im Finale seiner Fünften Symphonie für den Blechbläserchoral fortissimo bis zum Ende vorschreibt? Damit will er wohl nicht nur die Bedeutung des triumphierenden Hauptthemas aus dem Kopfsatz flankieren – dazu, rein strukturell gedacht, bräuchte er die Bläser nicht feierlich monumental bis an ihre physischen Grenzen fordern. An solchen Stellen darf wohl jenseits aller kompositorischen Notwendigkeit auch an einen Moment des Bekenntnisses gedacht werden – wie auch immer dieses wiederum zu deuten wäre: doch sicher kein leerer, auf bloße Überwältigung hin konzipierter „Pomp“.

Die Fünfte kommt den Vorstellungen, wie Bruckner zu klingen habe, überhaupt nicht entgegen. Er selbst hat sie sein „kontrapunktisches Meisterstück“ genannt und Simon Sechters Kontrapunkt-Abhandlungen lassen aus jedem Satz grüßen. Als wolle er trotzig seine Kritiker zum Schweigen bringen, demonstriert Bruckner wie nie mehr sonst, wie souverän er Sätze konzipiert und miteinander vernetzt.

Die große Klammer des Kopfsatzthemas ist ja nur die auffälligste dieser motivischen Verwandtschaften, die sich bis ins Detail hinein nachweisen lassen. Ganz zu schweigen von den Kombinationen von Formprinzipien wie Sonate und Fuge oder von der strukturellen Bedeutung des Rhythmus für die Wandlung von Themen.

Anton Bruckner auf einer historischen Photographie.

Anton Bruckner auf einer historischen Photographie.

Mit den Essener Philharmonikern macht Philippe Herreweghe durchaus deutlich, wie strukturbetont Bruckner in seiner Fünften denkt. Transparenz ist das Gebot der achtzig Minuten in der nahezu ausverkauften Essener Philharmonie. Die Orchestergruppen sind scharf herausseziert; kein Klanggedünst verschleiert wichtige Nebenstimmen. Selten dürfte sich die Doppelfuge des Schlusssatzes so deutlich konturiert verfolgen lassen. Herreweghe scheint in den Proben jedes Detail herauspräpariert, jeden Verlauf durchmodelliert zu haben. So kann er im Konzert gelassen und ohne Stab mit sparsamen Bewegungen führen. Hier gibt es keine pathetische Parade eines Dirigenten.

Auch die stetigen Tempi kommen dieser Lesart entgegen. Herreweghe meidet Schwankungen, die vermeintlich Höhepunkte markieren; er hetzt nicht und gibt der Polyphonie gebührend Raum. Daran liegt es, dass bei dem derzeitigen Artist-in-residence der Essener Philharmonie das Erhabene nicht in – falsche – Emphase driftet. Die Dynamik kostet Herreweghe aus: Der Gegensatz der sehr leise, aber deutlich markierten Pizzicati des Beginns mit der auffahrenden Fanfare und dem ersten Tutti-Hohepunkt ist ausgeschöpft, aber nicht übertrieben gespreizt. Kontraste sollten auch in den folgenden Sätzen heftig betont werden.

Bei Harmonia Mundi hat Herreweghe mehrere Bruckner-Symphonien aufgenommen, darunter auch die Fünfte.

Bei Harmonia Mundi hat Herreweghe mehrere Bruckner-Symphonien aufgenommen, darunter auch die Fünfte.

Was die Noten betrifft, ist also alles bestens für eine exzeptionelle Aufführung disponiert – selbst wenn das Blech manchmal nicht ganz intonationsrein scheint. Die Probleme beginnen jenseits der Noten – und sie führen dazu, dass Herreweghes Bruckner-Zugang, wie schon in seiner Aufnahme mit dem Orchestre des Champs-Èlysées, nicht befriedigt. Vor allem in den Mittelsätzen baut der Dirigent keine Spannung auf, gestaltet er keine Ereignisse, sondern reiht Zustände und Entwicklungen aneinander.

Es ist kein Widerspruch zu einer strukturell bewussten Sichtweise, etwa die basslosen Streicher einmal leuchten zu lassen; es schadet dem Blick durch das symphonische Geflecht nicht, einer Bläserstimme gestalterischen Atem zu gewähren. So schleppt sich das Adagio ohne Spannung dahin, bleiben die Ländler des Scherzos ohne Charme und tänzerischen Schwung.

So sympathisch bescheiden die Dirigierweise Herreweghes wirkt: Die Essener Philharmoniker machen den Eindruck, als bräuchten sie hin und wieder eine animierende, befeuernde Geste, als wünschten sie sich einen Ausbruch aus der Leisetreterei, hin zu einem Blühen des Klangs und zu einer expressiven Bewegung, die mit Passion das „vivace“ des Satzes erfüllt. Kein Weihrauch, wahrlich nicht, aber mit ihm hat Herreweghe der Fünften auch das Aroma weggelüftet.




Könner für Kenner: Das Belcea-Quartet in der Essener Philharmonie

Das Belcea-Quartet gehörte bei seiner Gründung 1994 zu den hoffnungsvollsten Gruppierungen auf diesem heiß umkämpften Markt. Die Erwartungen haben sich bestätigt: Corina Belcea, Axel Schacher, Krzysztof Chorzelski und Antoine Lederlin gehören heute zur Elite der Kammermusik. Das Quartett spielte zahlreiche Uraufführungen, kann sich aber auch mit seinen Aufnahmen im Repertoirebereich – etwa mit Gesamtaufnahmen der Quartette Beethovens und Mozarts – mühelos der Konkurrenz stellen.

In der Essener Philharmonie waren die Könner des Belcea-Quartets mit Liebhabern der Kammermusik unter sich: Streichquartettabende ziehen keine Massen an. Seit das Bildungsbürgertum schwindet, kommen die nicht mehr, die früher vielleicht noch einen Prestigegewinn erhofften, wenn sie sich zum Kreis der Kenner gesellten. Oder die eine besonders tiefe musikalische Bildung demonstrieren wollten. Das soll kein Mäkeln am Publikum sein: Das geistvolle Gespräch unter vier Instrumentalisten muss man sich erschließen. Mühe gehört dazu, Ausdauer, Geschmacksbildung. Das ist meist eine Sache gereifter Menschen. Wobei mir das Publikum des Belcea-Quartets jünger schien als das hochglänzender Sinfoniekonzerte. Reife muss keine Sache des Alters sein.

Deswegen ist es schade, dass die vier Musiker mit Mozarts dritten „preußischen“ Quartett und Schuberts „Rosamunde“ in vertrauten Gewässern fischten. Auch Anton Weberns fünf Sätze für Streichquartett gehören inzwischen zur „älteren“ Musik. Weberns fragile Gebilde machen exemplarisch deutlich, was den Rang des 1994 gegründeten Quartetts ausmacht: unglaubliche Disziplin bei der Bildung der Klänge, vom gehauchten Flageolett in äußerstem Pianissimo bis hin zu dunkel getöntem, sanftem Aufschwung. Und eine wie selbstverständliche Kultur der Abstimmung.

Bruchstücke des Alten in der Moderne

Webern klingt wie ein Rückblick auf die Musik von Mozart, die in der Moderne nur noch bruchstückhaft zu beschwören ist. Dessen F-Dur-Quartett (KV 590) lebt aus der Spannung der Dynamik, aus geistvollem Spiel mit kompositorischen Möglichkeiten. Der weiche Ton im eröffnenden Allegro moderato widerspricht nicht dem dezidierten Aufbauen dynamischer Spannung schon in der Eröffnungsgeste. Das Cello spielt eine prominente Rolle im spielerisch wirkenden Hin und Her der Motive. Kein Wunder: König Friedrich Wilhelm II. von Preußen, bei dem sich Mozart auf seiner Reise nach Berlin Gunst erhoffte, war ein begabter Cellist.

Sehr ruhig und langsam, mit Blick auf die vollstimmige Harmonie, eröffnet das Belcea-Quartet den Andante-Satz. Dabei bleibt die Tongebung leicht und schwebend, werden Linien nicht dramatisch verdichtet. Aber an dem provozierenden Akzent der Violine kurz vor dem Ende, auf den die anderen ebenso unwirsch antworten, merkt man, dass die Musiker um Primgeigerin Corina Belcea den dramatischen Aufbau des Satzes nicht aus den Augen verloren haben.

Das Allegretto des dritten Satzes erklingt lebhaft, aber gepflegt; auch der vierte Satz mit seiner diskreten Beweglichkeit hat etwas von britischem Understatement, zeigt aber, dass die Vier eher mit Blick auf das reizvolle Jonglieren mit kompositorischen Möglichkeiten musizieren als mit der von der früheren Kritik forcierten Einfühlung in mögliche persönliche Befindlichkeiten Mozarts.

Schuberts berühmtes a-Moll-Quartett dagegen hätte mehr Energie jenseits des herrlich diskreten Vortrags vertragen. Der eröffnende Satz könnte – auch als Kontrast zu Mozart – mehr melodischen Schwung entfalten; erst im letzten Satz gehen die vier Musiker, vielleicht angeregt durch die „ungarische“ Motivik, mehr aus sich heraus. Worin sich das Quartett treu bleibt, ist der sagenhaft souveräne Blick auf die inneren Strukturen der Komposition. Ein Wesenzug, der den Interpretationen eine dramatische und intellektuelle Tiefe gibt – und der wohl auch der eingehenden Beschäftigung mit moderner und zeitgenössischer Musik zu verdanken ist.

Quartettabende sind nicht häufig, daher noch einige Hinweise:

Im Konzerthaus Dortmund sind am 14. März mit dem Matosinhos String Quartet und Quatour Ardeo zwei junge Formationen zu erleben. Das Matosinhos Quartet ist am 8. März bereits in der Philharmonie Köln zu Gast. Wer zeitgenössische Musik mag, wird am 18. März im Museum Ludwig fündig: Dort spielt das JACK Quartet Musik von Matthias Pintscher. In Essen tritt das Mannheimer Streichquartett am 31. Mai traditionsgemäß auf Zollverein auf.